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Armin Thurnher

Seinesgleichen geschieht Der Kommentar des Herausgebers

Katastrophen, Tipping-Points und ein Zentrum, das nicht hält

mmer wenn Hochwasserkatastrophen eintreten,

Iergreift mich zuerst Empathie. Wer selbst einmal so etwas erlebt hat, Schlamm schippte, dem unausweichlichen Steigen des Wassers ausgeliefert war, den Heroismus von Feuerwehr und Bundesheer dankbar annahm, die Hilfsbereitschaft von Nachbarn und Unbekannten freudig bestaunte, kann das verstehen.

Es ergreift mich aber auch Besorgnis. Die Klimakatastrophe wird der härteste Test für unsere gemeinsame Basis, dass es in wichtigen Dingen (was ist wahr, was ist falsch) allgemein akzeptierte Übereinkunft gibt. Die Klimaforschung kennt den Begriff des Tipping-Point, des Kipppunkts, nach dessen Erreichen Entwicklungen irreversibel sind. Den gibt es, fürchte ich, nicht nur beim Klima, den gibt es auch in der Entwicklung der Demokratie.

Ich fasse mir manchmal an die Nase und frage mich, warum ich so anhaltend auf die ÖVP einprügle. Die Antwort ist leicht und doch mehrschichtig. Erstens wurde ich als Schwarzer sozialisiert, in einem Bundesland und einer Schule (Bundesgymnasium Bregenz), wo es nichts erkennbar Rotes gab, das auf einen grünen Zweig kam (an anderen Farben existierte nur das Braunblau).

Zweitens gibt es dennoch gute Gründe, von einer bürgerlichen Mitte eine gewisse Festigkeit bei der Bewahrung des demokratischen Systems zu erwarten; hierzulande so etwas wie einen rheinischen Kapitalismus oder gar die ökosoziale Marktwirtschaft. Die Sozialdemokratie hat sich demgegenüber in eine Art kleinbürgerlichen Ableger, eine Variante der demokratischen Mitte entwickelt, weltanschaulich offener, wie man seit Kreisky meint, aber im Prinzip halt nur eine Schattierung liberaler.

Deswegen auch der Schock, wenn die halluzinierte Mitte sich als leer erweist (und das betrifft eben nicht nur die ÖVP). „The centre cannot hold“, heißt es im prophetischen und von der vorletzten Pandemie beeinflussten Gedicht „The Second Coming“(Das Jüngste Gericht) von William Butler Yeats. Dabei trifft in Österreich stets mit Verzögerung ein, was Konservative in den angelsächsischen Ländern vormachen. Betrachtet man diese gewesenen Vorbilder, wird der Schock nicht kleiner, eher größer.

Boris Johnson und Donald Trump sind nur Exponenten eines vielschichtigen großen Plans. Trump freut sich gerade, dass ihm die FBI-Durchsuchung seines Horror-Kitsch-Anwesens Mar-a-Lago nach geheimen, von ihm vermutlich widerrechtlich aus dem Weißen Haus exportierten Dokumenten einen Popularitätsschub verleiht. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Im hegemonialen demokratischen Rechtsstaat der Welt führt eine Ermittlung der Justizbehörden gegen einen Politiker nicht zu einem Vertrauensverlust für diesen, sondern zu einem Popularitätsgewinn. Der Kern von Trumps Botschaft besteht darin, Skepsis gegen den Vorgang demokratischer Wahlen an sich zu säen. Wider jede Evidenz behauptet er, der Wahlsieg 2020 sei ihm von Joe Biden gestohlen worden. Die Demokraten wissen nicht genau, wie sie sich demgegenüber verhalten sollen; der Hinweis darauf, dass ihrem Kandidaten Al Gore die Wahl 2000 tatsächlich gestohlen wurde, indem der Oberste Ge-

ARMIN THURNHER ist Mitbegründer, Herausgeber und Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung Falter

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Der Autor digital: Tägliche Seuchenkolumne: falter.at Twitter: @arminthurnher

richtshof die erneute Auszählung der Stimmen in Florida einfach stoppte, nützt gar nichts. Auch nicht der Verweis darauf, dass Gore in demokratischer Tradition den Sieg seines Kontrahenten George W. Bush dennoch anerkannte.

Der neue Begriff in Trumps Anhängerschaft lautet „election denier“. Analog zum Corona-Leugner gibt es also nun den Wahlleugner. Das Mindestmaß an Vertrauen, das an Beisitzer, Zettelzähler und Wahlmaschinen delegiert wird, ist damit gekündigt. Wo aber gegenseitiges Misstrauen herrscht, kann keine Verständigung existieren, also auch kein Rechtsstaat. Dass die kommunikativen Verhältnisse derart erodierten und ein kompletter Relativismus nun alles infrage zu stellen scheint, ist paradoxerweise auch auf die Marktliberalisierung des Demokraten Bill Clinton und dessen Begünstigung der Tech-Konzerne zurückzuführen. Aber das Ergebnis, ein totaler Relativismus, liegt voll in der Absicht der neuen „Konservativen“, die längst zu rechten Revolutionären mutiert sind.

Sieht man diese Entwicklung nur durch den Filter der neoliberalen Gehirnwäsche, die hier immer wieder gern kritisiert wird, greift man deutlich zu kurz. Die neoliberale intellektuelle Offensive war mit ihrem sehr langen Atem und ihrem unerschöpflichen finanziellen Hintergrund doch einigermaßen rational. Sie wollte einen starken Staat erhalten, damit der den freien Markt garantiere. Ausrutscher ihres Erfinders Friedrich August Hayek, der den freien Markt zum Beispiel im Chile des Diktators Pinochet für weit wichtiger ansah als freie Wahlen, hielt man eben für Ausrutscher innerhalb eines doch im Ganzen demokratisch orientierten Gedankensystems, das eben für Unternehmerrechte und Kapitalistenfreiheit eintrat.

Das gilt nicht mehr. Karl-Heinz Otts interessantes neues Buch „Verfluchte Neuzeit. Eine Geschichte des reaktionären Denkens“ zeigt völlig unmissverständlich, worum es der neuen amerikanischen Rechten und ihren Ideologen geht: Es geht gegen die Welt des Rationalismus, gegen die grundlegenden Denker der Aufklärung, gegen Thomas Hobbes und René Descartes, ja selbst gegen John Locke, der doch von vielen sogenannten Liberalen als Galionsdenker kapitalistischer Erwerbsfreiheit verehrt wird.

Hobbes stellte staatspolitische Vernunft gegen die Autorität der Kirche. Er postulierte souveräne Bürger, die ihre Macht freiwillig an einen Souverän delegieren, der sie dann davor bewahrt, einander im Krieg aller gegen alle die Schädel einzuschlagen. Glauben sollte jeder können, was er will. Descartes’ Methode rationalen Denkens wiederum zog der Autorität der Kirche den Boden unter den Füßen weg.

Genau dorthin wollen die amerikanischen Rechten aber zurück: zu einer unbefragbaren Autorität, die Schluss macht mit dem allseitigen Anzweifeln und mit dem Infragestellen von allem und jedem. Peter Thiel, der Arbeitgeber unseres investorgewordenen Junior-Alt-Kanzlers, hat als ein Sprecher dieser knallharten Konservativen klar gesagt, worum es geht: im Zweifel für einen, der entscheidet, und gegen eine lahme, sich selbst anzweifelnde Demokratie. TippingPoints sind in Sicht. Ein Zentrum, das uns vor ihrem Passieren bewahren möchte, eher nicht.

„Übrigens, wir mögen den Falter.“