FALTER Bücherherbst 2010

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FALTER

Bücher-Herbst 2010 Nr. 39a/10

ILLUSTR ATION: ANDREAS DÜRER

94 Bücher auf 56 Seiten

Schwerpunkt: Argentinien +++ In English, please: Franzen, Pynchon & Co +++ Heavy: Der 1000-Seiter hat Saison Philosophie und Politik: Was ist gerecht? +++ Rohstoffe: Die Gier nach Öl +++ Vampire: Der Durst auf Blut Erscheinungsort: Wien P.b.b. 02Z033405 W Verlagspostamt: 1010 Wien laufende Nummer 2268/2010

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IN HALT

Liebe Leserin, lieber Leser Mit einigen Büchern mag der Falter ein bisschen später dran sein als andere, die Buchbeilage erscheint dafür eine Woche vor den meisten und ist definitiv umfangreicher als alles, was hierzulande auf dem Sektor zu haben ist. Apropos Umfang: Die wirklich dicken Dinger der Saison haben über tausend Seiten (siehe S. 24 ff.), da nimmt sich der Hype des Herbsts mit seinen 733 Seiten fast schmal aus (siehe S. 4). Der Schwerpunkt zum Buchmessengastland Argentinien schließt den Literaturteil insofern logisch ab, als er auch eine Seite mit Sachbüchern umfasst. Im Sachbuch wird dieses Mal auf vielfältige Weise (scheinbar) Widersprüchliches kurzgeschlossen: Gerechtigkeit für nichtmenschliche Tiere, böse Mütter, essende Asketen, menschliche Schwarmintelligenz, eine Philosophie der Vampire, Zombies und Werwölfe ... Wir wünschen eine erhellende Lektüre! K IR STIN BR EITENFELLNER , K L AUS NÜCHTERN

Illustrationen

Das ist Andreas Dürer. Er hat diese Beilage durchgängig illustriert. 1982 in Halle geboren, lebt und arbeitet er heute als Illustrator und Grafikdesigner in Jena. Der oben angeführte Link führt zu seinem aktuellen Portfolio Inhalt

Literatur In english, please! Seite 4—7 Parlez-vous français? Seite 8 Man schreibt deutsch Seite 9—21 Aus heimischem Anbau Seite 15—21 Drei dicke Dinger Seite 24—27 Schwerpunkt Argentinien Seite 28—31 Sachbuch Gerechtigkeit Seite 32—34 Die Stadt im 20. Jahrhundert Seite 36—37 Geschichte des Öls Seite 40 Vampire Seite 50—51 Kochen Seite 54 Besprochene Autoren

Christian Adam 14 Laura Alcoba 29 Margaret Atwood 6 Otto Basil 15 Frédéric Beigbeder 8 Alina Bronsky 12 Félix Bruzzone 29 Martín Caparrós 29 Dorothee Elmiger 22 Rodolfo Fogwill 30 Jonathan Franzen 3 William Gaddis 26

Tristan Garcia 8 Günter Grass 9 Wolfgang Hermann 21 Wolfgang Herrndorf 10 Martín Kohan 29 Hilary Mantel 5 Leila Marouane 8 Colin McAdam 7 Hanno Millesi 20 Alice Munro 6 Haruki Murakami 24 Sofia Oksanen 23 Thomas Pynchon 7 Angelika Reitzer 19 Joseph Roth 16 Thomas Sautner 18 Ferdinand von Schirach 12 Thomas Steinfeld 9 Wilfried Steiner 17 A.F.Th. van der Heijden 27 Tanguy Viel 8 Peter Wawerzinek 13 Roger Willemsen 11

Sachbuch Allegra Antinori 54 Florence Aubenas 37

Elisabeth Badinter 35 Roland Barthes 44 Senta Berger 54 Thilo Bode 53 Pierre Bourdieu 44 Kurt Bracharz 54 Bertram Brökelmann 40 Günter de Bruyn 48 Christopher Dell 50 Christine Ferber 54 Len Fisher 52 Barbara Goldsmith 42 Richard Greene 50 Hans Haid 51 Stephen Hawking 41 Andrea Heistinger 53 Florian Hertweck 36 Christian Hesse 39 Renate Hücking 53 Daniela Ingruber 39 Claire Joyes 54 Michio Kaku 42 Rainer M. Köppl 50 Nicholas D. Kristoff 34 Vitt orio M. Lampugnani 36 Jaron Lanier 46 Claude Lanzmann 47 Frédéric Lenoir 47

Konrad Paul Liessmann 45 Toby Lester 38 Mario Livio 35 Thomas Macho 36 Margré Mijer 54 Peter Miller 52 Leonard Mlodinow 41 K. Silem Mohammad 50 Toni Mörwald 54 Wolfgang Müller 54 Paul Murdin 38 Martha C. Nussbaum 32 Cornelia Polett o 54 Wolfgang Reiter 54 Frank Rosin 54 Alex Rühle 46 Hanni Rützler 54 Amartya Sen 32 Wibke van der Scheer 54 Alfons Schuhbeck 54 Chr. Schulte-Richtering 49 Ayelet Waldman 35 Stefan Wiertz 54 Sheryl WuDunn 34 Sarah Zierul 40 Loel Zwecker 49

Impressum Falter, Zeitschrift für Kultur und Politik. 33. Jahrgang. 1011 Wien, Marc-Aurel-Str. 9, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912, E: wienzeit@falter.at Herausgeber: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H. Medieninhaber: Falter Zeitschrift en Gesellschaft m.b.H. Redaktion: Kirstin Breitenfellner, Klaus Nüchtern Layout: Barbara Blaha, Reinhard Hackl, Raphael Moser Korrektur: Helmut Gutbrunner, Anna Szyma Druck: Goldmann Druck AG, 3430 Tulln, DVR-Nr. 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten.

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Editorial

Literatur

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A. Punkt, Fischerstiege 1–7, 1010 Wien Aichinger Bernhard, Weihburggasse 16, 1010 Wien Berger, Kohlmarkt 3, 1010 Wien Freytag & Berndt, Kohlmarkt 9, 1010 Wien Frick, Kärntner Straße 30, 1010 Wien Herder, Wollzeile 33, 1010 Wien Kuppitsch, Schottengasse 4, 1010 Wien Leo & Co., Lichtensteg 1, 1010 Wien Lia Wolf, Bäckerstraße 2, 1010 Wien Löwelstraße, Löwelstraße 18, 1010 Wien Morawa & Styria, Wollzeile 9, 1010 Wien ÖBV, Schwarzenbergstraße 5, 1010 Wien Schottentor, Schottengasse 9, 1010 Wien tiempo, Johannesgasse 16, 1010 Wien Facultas im NIG, Universitätsstraße 7, 1010 Wien Winter, Landesgerichtsstraße 20, 1010 Wien Frick International, Schulerstraße 1–3, 1010 Wien Lhotzkys Literaturbuffet, Taborstraße 28, 1020 Wien tiempo nuevo, Taborstraße 17a, 1020 Wien Thalia, Landstraßer Hauptstraße 2a/2b, 1030 Wien Ebbe und Flut, Radetzkystraße 11, 1030 Wien Laaber, Landstraßer Hauptstraße 33, 1030 Wien Jeller, Margaretenstraße 35, 1040 Wien Malota, Wiedner Hauptstraße 22, 1040 Wien Lehrmittelzentrum Technik, Wiedner Hauptstr. 6, 1040 Wien Thalia, Mariahilfer Straße 99, 1060 Wien Hintermayer, Neubaugasse 27, 1070 Wien Krammer, Kaiserstraße 13, 1070 Wien Posch, Lerchenfelder Straße 91, 1070 Wien Walther König, Museumsplatz 2, 1070 Wien Bernhard Riedl, Alser Straße 39, 1080 Wien Eckart, Josefstädter Straße 34, 1080 Wien Lerchenfeld, Lerchenfelder Straße 50, 1080 Wien Buch-Aktuell, Spitalgasse 31, 1090 Wien Leporello, Liechtensteinstraße 17, 1090 Wien Löwenherz, Berggasse 8, 1090 Wien Management Bookservice, Augasse 5–7, 1090 Wien Reisebuchladen, Kolingasse 6, 1090 Wien Yellow, Garnisongasse 7, 1090 Wien BVG-Bücherzentrum, Schönbrunner Straße 261, 1120 Wien Bestseller, Hietzinger Hauptstraße 22, 1130 Wien Hartleben, Hütteldorfer Straße 114, 1140 Wien Morawa V.I.C., Hackinger Straße 52, 1140 Wien Buchkontor, Kriemhildplatz 1, 1150 Wien Book Point 17, Kalvarienberggasse 30, 1170 Wien Hartliebs Bücher, Währinger Straße 122, 1180 Wien Baumann, Gymnasiumstraße 58, 1190 Wien Fritsch Georg, Döblinger Hauptstraße 61, 1190 Wien Stöger, Obkirchergasse 43, 1190 Wien Thalia, Q19, Kreilplatz 1, 1190 Wien Thalia, SCN, Ignaz-Köck-Straße 1, 1210 Wien Bücher Am Spitz, Am Spitz 1, 1210 Wien LeseZeit, Stockholmer Breitenfurter Straße, 1230 Wien BVG-Bücherzentrum, SCS, Top 155, 2331 Vösendorf Morawa & Styria, SCS, Top 49A, 2331 Vösendorf Berthold, Hauptstraße 51, 2340 Mödling Dietz GmbH, Bahnstraße 1, 2351 Wiener Neudorf Valthe, Wiener Gasse 3, 2380 Perchtoldsdorf Hikade, Schulgasse 2a, 2700 Wiener Neustadt Mitterbauer, Wiener Straße 10, 3002 Purkersdorf Sydy’s, Wiener Straße 19, 3100 St. Pölten Thalia Kremsergasse 12, 3100 St. Pölten Schmidl, Obere Landstraße 5, 3500 Krems/Donau Alex, Hauptplatz 17, 4020 Linz Thalia, Landstraße 41, 4020 Linz Thalia, Schmidtgasse 27, 4600 Wels Thalia, Pfarrgasse 11, 4820 Bad Ischl Michael Neudorfer, Hinterstadt 21, 4840 Vöcklabruck Thalia, Wohlmeyrgasse 4, 4910 Ried/Innkreis Motzko, Rainerstraße 24, 5017 Salzburg Höllrigl, Sigmund-Haff ner-Gasse 10, 5020 Salzburg Morawa & Styria – Europark, Europastraße 1, 5020 Salzburg Morawa & Styria SCA, Alpenstraße 107, 5020 Salzburg Rupertusbuchhandlung, Dreifaltigkeitsg. 12, 5020 Salzburg Facultas NAWI-Shop, Hellbrunner Straße 34, 5020 Salzburg Engelhard Brandstätter, Marktplatz 15, 5310 Mondsee Morawa & Styria Sillpark, Museumstraße 38, 6020 Innsbruck Tyrolia, Maria-Theresien-Straße 15, 6020 Innsbruck Thalia Buchhandlung Wagnersche, Museumstr. 4, 6020 Innsbruck Jöchler, Malserstraße 16, 6500 Landeck Eulenspiegel, Marktstraße 42, 6845 Hohenems Ananas, Marktplatz 10, 6850 Dornbirn Brunner, Montfortstraße 12, 6900 Bregenz Brunner, Dr.-Schneider-Straße 22, 6973 Höchst Dradiwaberl Uni-Shop, Zinzendorfgasse 25, 8010 Graz Pock, Hauptplatz 1, 8010 Graz Leykam, Europaplatz 4, 8010 Graz Leykam, Stempfergasse 3, 8010 Graz Moser Ulrich, Herrengasse 23, 8010 Graz Leykam, Hauptplatz 2, 8330 Feldbach Heyn Johannes, Kramergasse 2, 9020, Klagenfurt

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Come and meet the Berglunds Jonathan Franzens großer Familienroman „Freiheit“ ist der Hype des Herbstes. Zu Recht? Eigentlich schon

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ass Jonathan Franzens neuer Roman auf Seite 730 in ein nach vielen Lektürestunden eigentlich unvorstellbares Happy End mündet, mag ein besonders aufmerksamer Leser bereits ein paar Seiten vorher erahnen. Da klebt Walter Berglund, eine der tragischen Hauptfiguren, einen Obama-Sticker ans Heck seines Autos. Noch sitzt George W. Bush im Weißen Haus. Doch als sich Walter und Patty, die sich in einem mehrjährigen Ehekrieg keine Scheußlichkeit erspart haben, ein gutes Jahr später recht überraschend wieder in den Armen liegen, sind auch die dunklen Jahre der republikanischen Regierung zu Ende. Hat Obama diese Ehe gerettet? Das wirkt, bei aller Subtilität in der erzählerischen Umsetzung, doch wie ein Wink mit dem Zaunpfahl.

Das Ende einer Ära Nun ist Jonathan Franzens „Freiheit“ tatsächlich eine große, epische Abrechnung mit der Ära Bush. Mit diesem Roman findet sie ihren definitiven Abschluss, wechselt sie von unserer Gegenwart in die Vergangenheit über. Die bösen Geister sind gebannt. Auch wenn die Republikaner eines Tages zu früherer Stärke zurückfinden, nichts wird mehr so sein wie in jenem Jahrzehnt, das politisch erst am 11. September 2001 begann. Obama konnte gar kein anderes Buch in die Sommerferien mitnehmen, und die Nachricht von der präsidialen Ferienlektüre hat den internationalen Hype noch einmal kräftig ange­t rieben. Die deutsche Übersetzung erscheint nur wenige Wochen nach dem Original, das es in den USA auf Anhieb auf den Spitzenplatz der Bestsellerliste schaffte. Auf der Spiegel-Liste, maßgeblich für den deutschsprachigen Buchmarkt, wird es nach der ersten Verkaufswoche immerhin auf dem zweiten Platz stehen. Man meint, ein Nachbeben der Begeisterung zu spüren, die Obamas Wahlsieg vor zwei Jahren auslöste. Dabei ist dieses Buch keinesfalls ein Tendenzroman, der noch einmal die politischen Irrtümer und moralischen Verfehlungen der Ära Bush nacherzählt. Wie schon in den „Korrekturen“, mit denen Franzen 2001 zum internationalen Star aufstieg, geht es um eine Familie. Die Berglunds, von der Seite des Vaters her schwedische Einwanderer der dritten Generation, haben immer nur die Demokraten gewählt.

Walter, Patty, Joey und Jessica Walter liebt die Menschen so sehr, dass er sich aus Verzweiflung über ihre Unzulänglichkeiten von ihnen fernhält. Am wohlsten fühlt er sich, wenn er Vögel beobachtet. Ein Glück, dass er schon zu Beginn des Romans eine Stelle bei einer ÖkoStiftung findet. Walters Frau Patty war eine erfolgreiche Basketballspielerin, aber zum ganz großen Durchbruch hat’s eben, wie so oft, nicht gereicht. Ihren Kindern Joey und Jessica will sie eine Supermutti sein, aber das führt – ebenfalls nicht selten – erst recht in die Katastrophe. Denn wo Patty steht, bleibt für niemand anderen Platz. Ihre

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Freunde erschlägt sie mit rücksichtsloser Nettigkeit, ihre politische Korrektheit erstickt jedes Gespräch. Man kann es Joey eigentlich nicht übelnehmen, dass es ihn zu den Nachbarn zieht. Zum einen wohnt da Connie, ein Mädchen, das ihm gefällt (und das er auch eines Tages heiraten wird), außerdem kann man dort in der umgebauten Garage am Computer spielen, Fox-TV gucken und ungesund essen.

Die Kleinbürger von nebenan

Jonathan Franzens „Freiheit“ ist eine große Abrechnung mit der Ära Bush. Wenige Seiten vor dem Ende des Romans klebt der Protagonist einen Obama-Sticker ans Heck seines Autos

Kurz und gut: Die Monaghans sind ordinäre Kleinbürger, die natürlich die Republikaner wählen. Das übersteigt Pattys ansonsten hochentwickelte Toleranz für abweichende Lebensformen. Joeys Beziehung zu Connie bringt die geschlossene, heile Welt der Berglunds zum ersten Mal ins Wanken. Dass sie, je mehr sie gegen die Monaghans wettert, ihren pubertierenden Sohn erst recht in deren Arme treibt, kommt Patty wohl gar nicht in den Sinn. Aber vielleicht stört sie an dieser Beziehung noch viel mehr, dass sich Joey einfach die Freiheit nimmt, das Mädchen zu lieben, das ihm gefällt. Natürlich liebt sie ihren Walter, aber in Wirklichkeit liebt sie dessen besten Freund Richard, einen ehemaligen Punk-Rock-Gitarristen, der jetzt sein Geld damit verdient, reichen New Yorkern schicke Dachterrassen zu schreinern. Als junge Frau fehlte ihr der Mut, sich für Richard zu entscheiden, stattdessen hat sie dessen biederen Freund geheiratet. Eine Lebenslüge, die auch Strindberg oder Ibsen interessiert hätte, der Keim einer familiären Katastrophe, die Franzen den Stoff für seinen Roman liefert.

Alles da, alles drin

Ist das noch Familie oder schon WG? Dass „Freiheit“ überall als Familienroman gefeiert wird, lässt erhellende Rückschlüsse darauf zu, was man heute unter Familie versteht. So umfassend und variantenreich liest man selten, wie eine solche in Trümmer fällt, und wenn es auch mit Thomas Manns Buddenbrooks kein gutes Ende nimmt, hatten die immerhin eine Vorstellung davon, was eine Familie sein sollte oder könnte. Die Berglunds hingegen nehmen sich nicht als Abfolge von Generationen wahr, eher als eine WG, die bessere und schlechtere Tage kennt. Bezeichnenderweise gibt es in diesem Roman jede Menge Sex: Masturbation, Telefonsex und abgebundene Eileiter sind der Entwicklung eines Familienromans im traditionellen Sinn dann aber doch eher hinderlich. Und noch etwas unterscheidet eine WG von einer Familie: Sie bildet nie jenen Raum von Privatheit aus, der den Einzelnen notfalls auch vor Angriffen der Außenwelt schützt. Familien orientieren sich nach innen, und deshalb ist es dort manchmal ausdrücklich unerwünscht, beim Essen über Politik zu sprechen: Es könnte ja Streit geben. Die Berglunds aber leben in diesem Sinn mit offenen Türen und Fenstern. Pattys Kampf mit den Monaghans ist nur der erste, grundsätzliche Konflikt, der die Widersprüche der konservativen USA zwischen 2001 und 2009 in die Familie trägt.

Dass Joey zu den republikanischen Nachbarn zieht, ist mehr als eine pubertäre Episode, er wird als Student bei konservativen Thinktanks jobben und schließlich versuchen, mit betrügerischen Lkw-Geschäften vom Irakkrieg zu profitieren. Sein Vater dagegen hat die Warnungen Al Gores bis zur Lebensuntüchtigkeit verinnerlicht. Schadstoffemissionen, Artensterben, Überbevölkerung: Walters innere Uhr tickt nach den Statistiken der Apokalypse. Wer Tag und Nacht das drohende Ende der Welt berechnet, wird für seine Umgebung unerträglich, sogar für Patty, die vom alternativ-feministischen Lebensgefühl der 70er-Jahre geprägt wurde, was ihr in den „Nullerjahren“ freilich nicht mehr viel weiterhilft.

Jonathan Franzen schaffte es ins glorreiche Dutzend jener US-Autoren, die schon einmal auf dem Cover des Time Magazin waren

Franzen, so kommt es einem in den schwächeren, weil nicht ganz so zwingenden Passagen dieses Romans manchmal vor, arbeitet die Themen der Bush-Jahre in enzyklopädischer Vollständigkeit ab, vom Hass auf den Islam bis zu den kleinen Sparern, die ihre Häuser verlassen müssen, weil sie ihre Hypotheken nicht mehr bedienen können. Ein gigantisches politisch-soziales Sittenbild, gegliedert in perfekt detaillierte Episoden, bevölkert von unzähligen Nebenfiguren, mal aus großer Höhe, dann wieder aus nächster Nähe festgehalten. Das alles ist weit entfernt von schlichter Rollenprosa, mit der sich ein Autor vom Format Franzens nicht zufriedengeben würde. Der Titel liefert den verblüffend einfachen Schlüssel zu diesem Roman. „Freiheit“ meint erst einmal das zweifelhafte Versprechen, mit dem Bush den Krieg gegen den Terror im Allgemeinen und gegen den Irak im Besonderen gerechtfertigt hat. „Freiheit“ fordern aber auch die fanatischen amerikanischen Rechten ein, die den Staat an sich lieber heute als morgen abschaffen wollen. Und „Freiheit“ ist schließlich auch die Losung der Berglunds: die Freiheit, sein Leben ganz nach den eigenen Vorstellungen zu leben, am Ende um einen hohen Preis. Ein vieldeutiger, schillernder Titel also, der ganz abstrakt benennt, was die unzähligen Episoden und Figuren dieses Romans miteinander verbindet – und en passant die Frage stellt, welche Abgründe sich hinter einem zentralen Grundsatz der amerikanischen Verfassung auftun.

Fortbestand vorerst gesichert

Jonathan Franzen: Freiheit. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld. Rowohlt, 733 S., € 25,70

Eine American Novel also? Natürlich – aber zugleich Weltliteratur im wahrsten Sinne des Wortes. Franzen gelingt es in einer meisterhaften Komposition, all die unzusammenhängenden Geschichten und Tragödien, die uns Zeitung, Fernsehen und Internet erzählen, zu einer einzigen, in sich schlüssigen Geschichte zu verbinden. Diese Geschichte lässt sich am Ende von vier Personen her erzählen: Vater, Mutter, Sohn und Tochter Berglund. In dieser archaischen Konstellation wird die Familie wenigstens noch eine Weile überleben – und mit ihr vielleicht auch der Familienroman als ein Versuch, erzählend ein bisschen Ordnung in die Welt zu bringen. TOBIAS HE YL

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Gerechtigkeit für Thomas Cromwell Booker-Preisträgerin Hilary Mantel holt mit „Wölfe“ die Tudors aus der Fernsehschmonzetten-Ecke

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n der Frick Collection in New York hängen ihre Porträts einander gegenüber, gemalt vom jüngeren Holbein: Thomas Morus, der Lordkanzler, und Thomas Cromwell, der allmächtige Minister König Heinrichs VIII. Morus, der von Historikern und Vatikan gleichermaßen heiliggesprochene, durchgeistigte Humanist, Erasmus-Freund und Verfasser von „Utopia“, und Cromwell, der Sohn eines Grobschmieds und Bierbrauers aus Putney, mit seiner Mördervisage, ein Schriftstück in der Faust geballt wie einen Dolch, am Zeigefinger den protzigen Ring seines Förderers, des Metzgersohns Kardinal Wolsey.

illustr ation: andreas dürer

Um das Charakterbild der beiden Erzfeinde am

englischen Tudor-Hof der 1530er-Jahre, das seit Jahrhunderten festgeschrieben ist, vollständig und glaubwürdig umzuschreiben, dazu bedarf es der hohen Kunst einer Meisterin des Historienromans wie Hilary Mantel. In „Wölfe“ nimmt sich die Booker-Preisträgerin einer von Seifenopern und Trivialschmökern scheinbar völlig abgenudelten Epoche an – des Zeitalters des notorischen achten Heinrich, der für seine Scheidung von Königin Katherine und seine Ehe mit Anne Boleyn den Bruch mit Rom in Kauf nahm und in der Folge vier seiner sechs Ehefrauen verstieß und zwei zudem enthaupten ließ. Hilary Mantel erzählt die gewalttätige, krawallige, gefährliche und farbenprächtige Epoche der englischen Reformation aus einer überraschend neuen und frischen Perspektive: strikt aus dem Blickwinkel Thomas Cromwells, den sie von seinem üblen Leumund als Wolseys Bluthund und skrupelloser, machtgieriger Machiavellist befreit. Sie macht aus Cromwell eine faszinierend vielseitige Gestalt: einen Mann der Aufklärung und Sympathisanten der Reformation, einen modernen Skeptiker, einen genialen Staatsmann und Politiker, Verwaltungsreformer, Manager, Finanzund Wirtschaftsminister – brillant, belesen, vielsprachig, weitblickend, kosmopolitisch und loyal.

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Mantels Held ist ein Selfmademan, der aus dem Nichts und Nirgendwo in den 1520erJahren plötzlich als Anwalt und Agent des Lordkanzlers Kardinal Wolsey im innersten Machtbereich auftaucht, argwöhnisch beäugt vom höfischen Klüngel der alten Feudalherren, all dieser Herzöge von Norfolk, Suffolk und Northumberland, denen er ebenso ein Dorn im Auge ist wie seinem Rivalen Thomas Morus. Dass Cromwells Biografie viele Leerstellen aufweist, zu denen den Historikern die Dokumente fehlen, kommt Hilary Mantel dabei zupass. Diese Lücken kann sie mit all den blendenden Talenten, abenteuerlichen Karrieresprüngen und genialen Schachzügen füllen, mit denen sie ihren Cromwell als den Vorläufer einer neuen Meritokratie überreich ausstattet. Mit dem Kommando „Und jetzt steh auf“ lässt die Autorin ihren Roman einsetzen und ihren Helden hochkommen, in Putney an der Themse im Jahr 1500. Thomas Cromwell ist da ein halbwüchsiger Tunichtgut, sein brutaler Vater, der Schmied, hat ihn im Suff soeben beinahe totgeschlagen. Der Junge rappelt sich auf, brennt von zu Hause durch und heuert als Soldat in Frankreich an. Als wir ihn 15 Romanseiten später im zweiten Kapitel wiedertreffen, sind 27 Jahre vergangen und Cromwell tritt uns bereits als wohlbestallter Rechtsanwalt in der Londoner City und als Wolseys Protegé und Strippenzieher entgegen. Was der Held in der Zwischenzeit gemacht hat, erfahren wir ganz beiläufig in verstreuten Flashbacks, während wir Wolseys Sturz – der Kardinal ist daran gescheitert, beim Papst in Rom die Scheidung des Königs durchzudrücken – und Cromwells Aufstieg zum mächtigsten Mann am Hofe verfolgen. Offenbar war er Soldat und Koch auf dem Kontinent, Banksekretär in Florenz und Rom und Wollhändler an der Textilbörse in Antwerpen. Von daher weiß Cromwell (im Gegensatz zu den tumben Haudraufs des englischen Adels), dass die

Renaissancewelt nicht von Burgmauern aus gelenkt wird, sondern von Überseehäfen wie Lissabon und Antwerpen, nicht von Schlachttrompeten, sondern vom Klicken des Abakus in den Bankhäusern Italiens und Flanderns, nicht von den Denkverboten der korrupten römischen Kurie, sondern vom neuen Buchdruck mit seinen Bibelübersetzungen und lutherischen Flugblättern. Aus diesem Blickwinkel sieht auch Thomas Morus ziemlich alt aus. Bei Hilary Mantel ist er ein hochmütiger Frömmler, Fanatiker und Folterer, der gerne Ketzer auf dem Scheiterhaufen brennen sieht und aus Starrsinn und Prinzipienreiterei im Tower den Kopf verliert. Vom Pragmatiker Cromwell, der hier zwar sein Gegner, aber nicht sein Feind ist, lässt er sich schon gar nicht retten.

Hilary Mantel: Wölfe. Aus dem Englischen von Christine Trabant. Dumont, 767 S., € 23,60

Hilary Mantel erzählt ihr Historienpanorama – einer ihrer Kunstgriffe – durchgängig in einem atemberaubend rasanten Präsens, einem Idiom, gemischt aus archaischer und kraftvoll heutiger Sprache. Am liebsten setzt sie auf elastisch federnde Dialoge, eine Minimalistin und Freundin der intelligenten Ellipse trotz der fast 800 Romanseiten, die doch bloß die acht Jahre von Cromwells Aufstieg umfassen. Der Band endet mit der Hinrichtung von Morus und sieht Cromwell auf dem Höhepunkt seiner Macht. Er hat für seinen König, der so wendisch ist wie das englische Wetter, nur lebensgefährlicher, die Drecksarbeit gemacht: Er hat die Klöster aufgelöst, Heinrichs Scheidung und die Ehe mit Anne Boleyn organisiert, Cromwells einzig ebenbürtiger Gegenspielerin, einer Frau von alarmierender Zielstrebigkeit und Tücke. Am Ende des Romans hat Anne noch ein Jahr, Cromwell noch fünf Jahre zu leben, ehe im Tower das Beil des Henkers in Aktion treten wird. Als Leser kann man den zweiten Band von Hilary Mantels TudorGroßroman vor Ungeduld kaum erwarten. SIGR ID LÖFFLER

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Schenk mir deine Zyste in Formaldehyd Die Kandierinnen Alice Munro und Margaret Atwood erweisen sich einmal mehr als Meisterinnen der kleinen Form ie Erzählerin in der ersten GeD schichte von Alice Munros „Tanz der seligen Geister“ ist ein Mädchen. Kein kleines Kind mehr, aber noch weit davon entfernt, eine Frau zu sein. Sie hat bereits einen Blick für die Seltsamkeiten ihrer Umgebung; und sie spürt, wie das Leben durch sie hindurchfließt, wie die Zeit ihre unsichtbare Arbeit tut. Das Mädchen begleitet den Vater, der als

Vertreter für die Drogeriefirma Walker Brothers arbeitet. Als sie bei einer alten Freundin des Vaters Halt machen, entdeckt die Erzählerin eine

unbekannte Seite an diesem Mann: Man darf vermuten, dass der „Walker Brothers Cowboy“ einmal in die Frau verliebt war. Er trinkt bei ihr Whisky, ist ausgelassen; er tanzt sogar. Plötzlich nimmt das Mädchen eine neue Facette an ihm wahr, entwickelt ein untrügliches Gespür für die Intimität dieses Geschehens: „Mein Vater verbietet mir mit keinem Wort, zu Hause etwas zu erzählen, aber ich weiß, allein von der Bedenkzeit, bevor er die Lakritze herumreicht, dass es etwas gibt, das nicht erzählt werden soll.“ Das ist auch das Geheimnis der Storys von Alice Munro: Es gibt

nichts Heimliches, aber doch Dinge, die nicht erzählt werden dürfen – und die gleichwohl im Textraum schweben. Schon in diesen ihren ersten Erzählungen aus dem Jahr 1968 ist dieser einmalige Ton da: Es sind Geschichten, die bis in die 30er-Jahre zurückreichen, in Provinzstädten im Südosten Kanadas spielen. Es sind Geschichten über den Vater, der Silberfüchse züchtet; über die verwirrenden Irritationen, die entstehen, wenn man in eine andere Lebensphase hinüberschlüpft und die alte Haut noch nicht ganz abstreifen kann; über flüchtige Liebeleien.

Besuchen Sie die Kulturhauptstadt. Umgekehrt geht leider nicht. Komm zUr rUHr!

Munro, 1931 in Ontario geboren, gehört zu den großen Schriftstellerinnen der Gegenwartsliteratur. Das hat sie mit ihrer kanadischen Landsfrau und Freundin Margaret Atwood gemein. Es ist ein schöner Zufall, dass zugleich auch von Atwood Short Storys erschienen sind: „Tipps für die Wildnis“ wurde im Original bereits 1991 veröffentlicht. Bei Atwood, 1939 in Ottawa geboren, stehen ebenfalls Frauen im Mittelpunkt. Auch sie versteht sich auf leise Töne, aber doch sind ihre Geschichten ausgeschriebener, weniger geheimnisvoll. Manchmal blitzt in ihnen so etwas wie Sarkasmus auf: Wenn etwa eine toughe Chefredakteurin eines Modemagazins, die – während ihr im Krankenhaus eine Zyste entfernt wird – nicht nur ihren Job, sondern zugleich ihren Liebhaber verliert. Das aus ihr entfernte „Wollknäuel“ bewahrt sie anschließend in Formaldehyd auf und stellt sich vor, es sei ihr ungeborenes Kind: Er symbolisiert ein verpasstes Leben und ein Menetekel, das sie ihrem Exlover und dessen nichtsahnender Gattin als Geschenk hinterlässt. Atwood ist eine genaue Beobachterin der emotionalen Widrigkeiten, die zwischen Mann und Frau entstehen können. Sie bezieht keine Position, auch wenn die Perspektive der Heldinnen nie verlassen wird: Die Unwägbarkeiten und das Scheitern, die Beziehungskonstruktionen, die immer mit Macht und Ohnmacht zu tun haben, werden genauestens registriert. Den Übersetzerinnen Heidi Zerning

und Charlotte Franke ist es jeweils gelungen, die Sprache der Autorinnen zu bewahren, sowohl das Verschwiegene bei Munro als auch das Witzige und Bittere bei Atwood. Beide Sammlungen sind auf je eigene Weise faszinierend: Sie zeigen, was aus der kleinen Form, die hierzulande noch immer unterschätzt wird, herauszuholen ist. Es braucht nur wenige Seiten, um ein Leben zu erzählen. Und es braucht das literarische Können von Schriftstellerinnen wie Alice Munro und Margaret Atwood. U l r i ch Rüde n aue r

Margaret Atwood: Tipps für die Wildnis. Aus dem Englischen von Charlotte Franke. Berlin Verlag, 298 S., € 15,50

Bilder einer metropole. Die Impressionisten in Paris Sehen Sie Bilder und Fotografien der ersten Metropole der Moderne. Bis 30. Januar 2011, Museum Folkwang, Essen mord am Hellweg – Tatort ruhr. Europas größtes internationales Krimifestival 400 mörderische Lesungen an außergewöhnlichen Orten mit Topstars aus über 35 Ländern. Bis 13. November 2010 in der Metropole Ruhr Gesellschafter & Öffentliche Förderer

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Alice Munro: Tanz der seligen Geister. 15 Erzählungen. Aus dem Englischen von Heidi Zerning. Dörlemann, 380 S., € 24,60

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Zwei Brüder und ein schönes Mädchen

Die Angst vor dem Verglimmen des Joints

Der Kanadier Colin McAdam stattet seinen ambitionierten Internatsroman „Fall“ mit mehr Drama aus, als er nötig hätte

Thomas Pynchons Kriminalroman „Natürliche Mängel“ ist ein nostalgischer und psychedelische Hippietrip

s gibt Bücher, die man in erster E Linie loben möchte; Bücher, die es wagen, einen reichlich durch die

as Jahr ist 1970, der Ort Los AngeD les. Der Held der Geschichte heißt Larry „Doc“ Sportello, ein 30-jähri-

Mangel gedrehten Stoff neu zu erzählen; Bücher, die sprachlich so originell sind, dass man an manchen Stellen am liebsten in die Hände klatschen würde; Bücher, die einen schließlich dazu bringen, sich an Dinge zu erinnern, an die man sich vielleicht nicht so gerne erinnert, an den ersten Sex zum Beispiel. „Fall“, der neue Roman des 39-jährigen Kanadiers Colin McAdam, von Eike Schönfeld ganz ausgezeichnet ins Deutsche übersetzt, hätte ein solches Buch sein können.

Noel und Julius, zwei Diplomatensöhne,

beziehen in ihrem letzten Jahr in St. Ebury, einer Eliteinternatsschule bei Ottawa, dasselbe Zimmer. Julius ist gutaussehend, erfolgreich, von offenem Wesen. Noel ist introvertiert bis sozialphobisch, teils überreflektiert, teils impulsiv. Julius ist der Star, Noel der Outcast mit dem bösen (amblyopischen) Auge, der von den anderen „Zwinkie“ genannt wird. Die beiden teilen Freunde und die derben Rituale des Internatsalltags und vergaffen sich, wie es in einer derartigen Geschichte wohl passieren muss, in dasselbe Mädchen. Fallon, genannt Fall, ist eine Schönheit von kastanienbraunem Haar, klug, aus neureichem Haus und nicht allzu schwer herumzukriegen. Für Julius zumindest, der das Rennen macht und mit Fall all jene Dinge tun darf, die man in der Adoleszenz so tut. Noel bleibt auf der Strecke und entwickelt eine fantastisch-obsessive Beziehung zu dem Mädchen: „Als ich für einen Aufsatz die Höchstnote erhielt, war das ein Anzeichen dafür, dass Fall mich später einmal lieben würde. (…) Es war nicht nötig, dass sie mich gleich bemerkte. Ich wusste, dass sie mein Innerstes irgendwann kennen würde.“

Die Sache kann nicht gut ausgehen, man

spürt die Katastrophe nahen. Wie sie dann eintritt, wie Noel von einem vernachlässigten, einsamen, unglücklichen Jugendlichen, der von sich selbst sagt „du bist Dreck“, zum berechnenden, kalten Psychopathen mutiert, entbehrt sowohl der psychologischen Plausibilität als auch einer nachvollziehbaren Entwicklung innerhalb der Erzählung. Dass die Leere in einer Persönlichkeit unter anderem durch den Einsatz narrativer Leerstellen illustriert werden kann, mag man gelten lassen; wenn man von Biografie und Milieu einer Figur gar nichts erfährt, wird die Angelegenheit allerdings frustrierend.

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Fall jedenfalls verschwindet, bevor man sich allzu viele Fragen zu ihrer Person stellt, und bringt damit eine Art Krimiplot in Gang, der im letzten Drittel des Buches auch noch einem Columbo-artig gezeichneten Kriminalinspektor zu seinem Auftritt verhilft. Die Ermittlungen fördern nichts Rechtes an den Tag; das ist wenigstens schlüssig. Dass der Psychopath klüger zu sein hat als die Polizei, wissen wir seit Mister Ripley. Erzählt wird die Geschichte alternie-

rend aus den Perspektiven der beiden Hauptfiguren. Das funktioniert ziemlich überzeugend, sowohl hinsichtlich des Blickwinkels als auch sprachlich. Julius ist, ganz entsprechend den vorwiegend intimen Situationen, nah dran an der Welt und an Fall, er artikuliert sich in einem teils assoziativen, teils lautmalerischen inneren Monolog. Noel, voller Berechnung und Paranoia, blickt aus weit größerer Distanz auf die Dinge, stellt Zusammenhänge her, beschreibt und analysiert, alles in einer akribischen und mit seiner eigenen Bibliophilie kongruenten Sprache. Warum einige kurze Kapitel aus der Sicht Williams, des Chauffeurs, der seine Wohnung als Liebesnest zur Verfügung stellt, dargestellt werden, erschließt sich allerdings nicht.

Den Schlüsselsatz des Romans spricht jedenfalls Fall zu Noel. Die beide stehen gerade in einem Fluss – sie mit einem verstauchten Knöchel und auf Krücken gestützt, er im Furor seiner kranken Leidenschaft. „Ich mag dich nicht“, sagt sie zu ihm, bevor sie stürzt. Man mag Noel nicht. „Ich bin das, was ihr nicht angeblickt habt“, sagt er im letzten Kapitel über sich selbst, „ich bin alles, was ihr ignorieren wolltet. Die Beule an eurem Bein. Das Stirnrunzeln im Fenster hinter euch, wenn ihr euch abwendet.“ Man mag Noel nicht, das ist wohl erzählerisches Kalkül und daher in Ordnung. Dass man in Wahrheit auch die anderen Figuren nicht so recht mögen will, dass man sich am Ende eher stirnrunzelnd abwendet, das ist das Elend dieses Buches. PAULUS HOCHGAT TER ER

Colin McAdam: Fall. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Wagenbach, 392 S., € 25,60

ger Hippie mit gutem Herz und einer schlechtgehenden Privatdetektei. Eine Art Strand-Marlowe mit Afro und Joint, bekommt Sportello zwar ausreichend Aufträge, allerdings stammen die meisten direkt oder indirekt von „Bigfoot“ Bjornsen, einem schwedischstämmigen Polizeiermittler mit dubiosen Kontakten. Er macht Doc das professionelle Leben schwer, so gut er kann, und schickt ihn gleichzeitig gern vor, um sich von ihm Drecksarbeit erledigen zu lassen. Irgendwann im letzten Drittel des Romans fragt sich Sportello nachvollziehbarerweise, für wen oder was er eigentlich arbeite. Seine – ebenso verständliche – Angst besteht darin, „dass die psychedelischen Sechziger, diese kleine Parenthese aus Licht, ja vielleicht doch zu Ende und komplett verschüttgingen, in Dunkelheit zurückgeholt wurden“ – und zwar so schnell, „wie man einem Kiffer den Joint abnimmt und ihn endgültig ausdrückt“. Thomas Pynchon meldet sich nur drei Jahre nach dem gigantomanischen „Gegen den Tag“ mit einem weitaus kleineren Roman zurück. Nicht nur, dass die knapp 500 Seiten „Natürliche Mängel“ für seine getreue Lesergemeinde einen literarischen Snack darstellen; das Buch kommt darüber hinaus auch noch ebenso unverrätselt wie unterhaltsam daher.

Pynchon interessiert sich seit jeher für den Moment, in dem Systeme kippen. Hier ist es der Hippietraum, der durch Charles Manson auf einmal ausradiert wurde. Wenn er nicht von jeher eine Illusion war: „War es möglich, dass (...) finstere Gestalten schon immer, bei jeder Zusammenkunft – Konzert, Friedenskundgebung, Love-in, Be-in und Freak-in hier, im Norden, im Osten, ganz gleich wo – eifrig damit beschäftigt gewesen waren, die Musik, den Widerstand gegen die Macht, jedes sexuelle Verlangen von episch bis alltäglich, alles, was sie erwischen konnten, für die alten Kräfte von Gier und Angst zu reklamieren?“ Doc kämpft in der an Hard-BoiledKrimis angelehnten Handlung stellvertretend für alle seine Kifferfreunde, Musiker, Filmfreaks und Groovy Girls gegen das Böse, das ihm in vielerlei Gestalten entgegentritt. Da wäre ein Immobilienfinsterling namens Mickey Wolfmann, der seine deutschen Wurzeln hochhält und durchdreht, wenn sein Name mit nur einem „n“ geschrieben wird. Das sind zahlreiche Gangmitglieder, darunter solche einer arischen Bruderschaft und Unterstützer der Black Panther; natürlich das FBI; eine Surfband, die

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aus Zombies besteht – sowie eine dubiose Vereinigung von Zahnärzten, zu der auch ein Schmuggelschiff zu gehören scheint. Neben immer neuen, zum Teil gewalttätigen Widersachern hat Doc aber auch sein eigenes Erinnerungsvermögen zum Feind: Die Dauerkifferei hinterlässt gewisse Lücken, und es passiert schon mal, dass er im entscheidenden Moment wegdöst oder zu halluzinieren beginnt. „Natürliche Mängel“ ist ein Trip voller Sex (die betreffenden Szenen sind erfreulich bodenständig!), Drogen (jeglicher Art) und Rock ’n’ Roll (sowie ein paar Schnulzen), und der inzwischen 73-jährige Pynchon lässt wenig Gelegenheiten aus, den 16-Jährigen in sich von der Leine zu lassen. Wie in allen seinen Werken hat er Spaß daran, sich absurde Namen auszudenken: Sauncho Smilax für einen Marineanwalt, Spotted Dick für eine Band, Fritz Drybeam für einen Internetpionier, eine passende Bezeichnung für Docs Büro: „Lokalisierungen, Sicherheitschecks, Detektei“. Und wie immer brechen seine Figuren gern in alberne Lieder aus oder erfreuen sich an alten Witzen. Ein Hippie beim Betreten eines Drugstores: „Ja, Tag, ich hätte gern paar Drogen, bitte.“ Die an den Dude in „The Big Lebowski“ erinnernde Hauptfigur und der Kifferhumor können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um einen höchst nostalgischen, wehmütig zurückblickenden Roman handelt. Auch Pynchon soll um 1970 in Los Angeles gelebt haben und dürfte wohl ein paar eigene Erfahrungen verarbeitet haben. Um diese Zeit herum ließen sich immer mehr Exponenten der Gegenkultur als geheime Spitzel auf die Gehaltsliste des FBI setzen, um nicht ins Gefängnis zu wandern. Gleichzeitig wurde Heroin in Kalifornien nicht nur in der Musikszene zu einem Riesenproblem. Der Spaß war vorbei. Und irgendwo in einem Schuppen zapften die ersten Freaks das (ursprünglich von der Luftwaffe entwickelte) Arpanet an – das allerdings die Erwartungen auf schockhafte Weise enttäuscht: „Das System kann mit Seelen nichts anfangen. So funktioniert es nicht.“ SEBASTIAN FASTHUBER

Thomas Pynchon: Natürliche Mängel. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt, 478 S., € 25,70

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Die Vorhaut im Gurkenglas Die junge französische Literatur bietet Sex and Crime – und die Nabelbeschau eines ewigen Buben

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itelkeit, Geilheit und Todessehnsucht sind die Triebfedern des Romans „Der beste Teil der Menschen“, dessen Cover anstelle des Eiffelturms auch ein barockes Vanitas-Stillleben mit Totenschädel zieren könnte. 2008 erregte das Debüt des damals 26-jährigen Philosophiestudenten Tristan Garcia gehörig Aufmerksamkeit im Pariser Bücherherbst. Die Geschichte dreier Vertreter der Intellektuellen- und Schwulenszene im Paris der 80er-Jahre ist nämlich (auch) ein Schlüsselroman: Die Starphilosophen Alain Finkielkraut und Bernard-Henri Levy, der Schwulenaktivist Didier Lestrade und der Skandalautor Guillaume Dustan sind unschwer hinter den Romanfiguren auszumachen. Garcia verknüpft seine Intellektuellensatire mit kruden Schilderungen morbider schwuler Erotik im Angesicht von Aids. Barebacking, ungeschützter Analverkehr, wird zur fatalen Mode. Trotz einiger wuchtiger Passagen und viel Lust am Groben ist Garcias Roman alles andere als Unterhaltungslektüre, und das liegt nicht nur am Ernst des Themas: Die subtile Brutalität dieses Pariser Jahrmarkts der Eitelkeiten wird detailliert ausgebreitet und stellt die Geduld von landeskundlich womöglich nicht ganz so interessierten Lesern auf eine harte Probe. Auch der langwierige Grabenkrieg zwischen Barebackern und Kondombenutzern zermürbt wohl nicht nur manche Romanfigur. Am gelungensten ist der Roman dort, wo die Erzählerin und Geliebte des mediengewandten Philosophen Jean-Michel den Betrieb, der sie selbst gnadenlos aufreibt, mit etwas Distanz kommentieren darf. So definiert sie etwa das in Frankreich beliebte Genre der Autofiktion als „über sich selbst sprechen, um Macht zu erlangen“, das ein prähistorischer Mensch erfunden haben müsse, „und schon damals hörte keiner zu, worüber er redete, sondern man sah ihm zu, wie er redete“. Genau nach diesem Prinzip funktionieren die Romane des schriftstellernden Medienphänomens Frédéric Beigbeder, der – in diesem Zusammenhang tatsächlich zufällig – vor Jahren einmal den oben erwähnten Guillaume Dustan zu einer „Nackt-Nummer“ seiner Literaturfernsehsendung einlud. 2008 verbrachte Beigbeder wegen öffentlichen

Koksens zwei Nächte in Polizeigewahrsam, was er in seinem neuen Buch zur Rahmenhandlung für literarische Ausflüge in die eigene Kindheit und Familiengeschichte macht. Von „Autobiografie“ steht nirgends was zu lesen, also wird „Ein französischer Roman“ wohl wieder einmal „Autofiktion“ sein. Deren Vorteil besteht darin, dass sie zwar wie eine Autobiografie aussieht, der Autor aber stets auf die Gat-

tungsbezeichnung „Roman“ verweisen kann und dabei gegebenenfalls ganz laut „ätsch!“ sagen darf: Wer einer Romanfigur ihre Anschauungen vorhält, versteht ja bekanntlich nichts von Literatur. Wozu also soll man sich über die Mischung aus Selbstverliebtheit, Pathos und Hysterie, verbrämt mit WickieSlime-und-Paiper-Nostalgie, ärgern? Die Romanfigur Frédéric Beigbeder vergleicht sich jedenfalls mit Charles Baudelaire, von Nazis verfolgten Juden und iranischen Regimegegnern, ist stolz auf Papas prominente Freunde und erinnert sich ans Schwarzweißfernsehen. Autor Beigbeder lässt die Figur Beigbeder ein paar richtig schlimme Dinge sagen. Und das Lustige: Die im Buch namentlich genannten Romanfiguren gibt es auch in echt, aber eh nur so ähnlich. Schade nur, dass das Buch so schlecht geschrieben ist. Leïla Marouane hingegen, die in den 90er-Jahren vor der Gewalt in ihrer algerischen Heimat nach Frankreich geflohen ist, ist zurückhaltend genug, dem Alter Ego in ihrem neuen Roman einen anderen Namen zu geben. Ob es besonders elegant ist, der Schriftstellerin „Loubna Minbar“ eine zentrale Rolle im eigenen Roman zuzuschanzen und die Handlung zum Schauplatz einer Privatfehde mit Schriftstellerkollegen zu machen, ist eine andere Frage. „Das Sexleben eines Islamisten in Paris“, so der peppige Titel, bietet aber wesentlich mehr als Selbstinszenierung. Seine Hauptfigur Mohamed ist ein erfolgreicher Banker mit algerischem Migrationshintergrund, streng religiöser Vergangenheit und akuter Sinnkrise. Er ist 40, noch Jungfrau und wohnt im Hotel Mama in der Banlieue. Das soll nun anders werden. Seinen Namen hat er franzisiert, die Haare geglättet, die Haut gebleicht. Anders hätte er keine Chance im nur scheinbar egalitären Frankreich, weder auf dem Arbeits- noch auf dem gnadenlos brutalen Pariser Wohnungsmarkt. Auch bei französischen Frauen hofft er nun endlich auf Erfolg. Marouane tänzelt sichtlich vergnügt durch gesellschaftspolitische Minenfelder. Mohamed mag eine Karikatur sein – nichtsdestotrotz sind Diskriminierung, Assimilierungszwang sowie die Zerrissenheit zwischen alter und neuer Heimat eben auch in Frankreich Realität, woran nicht zuletzt die gelegentlichen Gewaltausbrüche in den Vorstädten erinnern. Besonders hat es die Autorin aber auf die in patriarchalen Traditionen und übertriebener Religiosität gefangenen Einwanderer abgesehen: Mohameds Mutter etwa bewahrt die Vorhaut ihres zum Islam übergetretenen Schwiegersohns im Gurkenglas auf, nur, um bei den Nachbarn ja keine Zweifel an der Rechtgläubigkeit des neuen Familienmitglieds aufkommen zu lassen.

Tristan Garcia: Der beste Teil der Menschen. Aus dem Franz. von Michael Kleeberg. Frankfurter Verlagsanstalt, 320 S., € 20,50

Frédéric Beigbeder: Ein französischer Roman. Aus dem Franz. von Brigitte Große. Piper, 320 S., € 20,60

Leïla Marouane: Das Sexleben eines Islamisten in Paris. Aus dem Franz. von Marlene Frucht. Edition Nautilus, 224 S., € 19,50

Tanguy Viel: ParisBrest. Aus dem Franz. von Hinrich Schmidt-Henkel. Wagenbach, 144 S., € 17,40

Nur scheinbar gelingt es Mohamed, die als Fesseln empfundenen Wurzeln zu kappen. Er zieht zwar aus und erscheint nicht mehr zum sonntäglichen Couscous bei Muttern, doch sind alle Frauen, die er von nun an kennenlernt, Exilalgerierinnen. Sie haben aufwühlende Geschichten von Gewalt, Flucht, Exil und dem Kampf um die eigene Würde zu erzählen; bloß will Mohamed von all dem nichts mehr hören und stattdessen endlich Sex haben. Im Vergleich mit den Büchern seiner Landsleute nimmt sich Tanguy Viels Ansatz ausgesprochen bescheiden aus: Der neue Roman des 37-jährigen Erfolgsautors, der für seine formvollendeten und spannungsreichen Kurzromane bekannt wurde, ist „nur“ eine Familiengeschichte, und bekanntlich interessiert sich „kein Schwein“ für Familiengeschichten, wie eine der Figuren weiß. Ein koketter Satz, der seinen Zweck erfüllt – man möchte ihm natürlich sofort widersprechen. An der Stelle, an der er fällt, steckt man schon bis über beide Ohren in einer virtuos konstruierten Geschichte rund um Erbschaften, Millionenbetrug, falsche Freunde, innerfamiliäre Machtspiele und zerstörte Lebensentwürfe, die sich so spannend liest wie ein Krimi und im Tonfall nach Lust und Laune zwischen Situationskomik und bitterem Ernst changiert. Ein Verbrechen gibt es zwar auch, die Frage nach dem whodunit stellt sich aber nicht. Schicht für Schicht werden die Geheimnisse sichtbar, die hinter der properen Fassade einer nicht ganz alltäglichen bretonischen Familie lauern und diese schließlich zur Implosion bringen. Da gibt es eine Großmutter, die sich auf ihre alten Tage noch einmal verliebt und unerwartet Millionärin wird, einen Vater, der Millionen veruntreut und in den verhassten französischen Südwesten ziehen muss, bis Gras über die Sache gewachsen ist, einen Bruder, der Fußballstar wird und dabei seine Homosexualität entdeckt, eine übertrieben ehrgeizige, hartherzige Mutter, die an der Nervenkrankheit Tetanie leidet und sich bei Stress, in den sie leicht gerät, einen Plastiksack über den Kopf stülpen muss. Und es gibt schließlich den Ich-Erzähler, einen sensiblen, nicht eben selbstbewussten jungen Mann, der sich von einem falschen Freund viel zu oft zu Dingen überreden lässt, die ihm später leidtun werden. Gerade einmal 140 Seiten braucht Tanguy Viel für das alles. „Paris-Brest“ ist ein feinmechanisches Meisterstück, bei dem jedes Wort millimetergenau sitzt. Und sogar ein paar schlaue Bemerkungen zum Roman an sich und zur Autofiktion gehen sich noch aus. GEORG R ENÖCK L

Die Falter-Buch-Rezensionen. Nachlesen und alle Bücher online bestellen. balken fashop rezensionen 448.indd 1

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Sprachverführung und Selbstverklärung Warum Günter Grass von Thomas Steinfeld keine besonders guten Zensuren bekommt

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eine Sprache ohne Sorge um „Sprachverfall“. Seit damals in Babel der Herr die Sprachen verwirrte und sie über die Erde verstreute, macht sich die Menschheit Sorgen um die Sprache, vor allem um die jeweils eigene. Ob dazu Grund gegeben ist oder nicht, ob wir uns auf die Widerstandsfähigkeit der Sprachen verlassen dürfen oder sie durch sprachpolitische Interventionen retten und pflegen müssen, ist jederzeit strittig gewesen. Wahrscheinlich wird Sprachen, und vor allem der eigenen, am wirkungsvollsten dadurch geholfen, dass man sie spricht, und zwar „gut“. Das hört sich banal an, aber nur für einen Au-

genblick. Sind nicht überall Sprachverderber und Sprachverbrecher zugange, Politiker, Journalisten, Manager und andere Helden (oder Schurken) des öffentlichen Sprachgebrauchs? Thomas Steinfeld gibt in seinem „Sprachverführer“ ein Beispiel für „Phrasen und Monster“: Der deutsche Wissenschaftsrat, heißt es da, gehe „davon aus, dass die Einübung wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens ein unverzichtbares Prinzip jeglichen Studierens bildet und als konstitutives Qualitätsmoment auch eines berufsorientierten Studiums zu betrachten ist“. Das ist die quallige, anschauungsferne Sprache der modernen Verwaltungen, und, was viel schlimmer ist, das kann jederzeit unsere Sprache sein, wenn nämlich wir ein Exposee, eine Zielvereinbarung, einen Handlungsplan oder Schlimmeres zu schreiben haben. Die (Für)Sorge um die deutsche Sprache und ihre Verbesserung fängt mit unserer eigenen Praxis an. Daran erinnert Steinfelds Buch, das man als zeitgemäße Version der früher populären „Stilfibeln“ lesen kann, das aber daneben auch noch eine kleine Sprachgeschichte (und eine Geschichte der Sprachgeschichte) sowie eine Literaturkritik bietet – denn wo wird die Sprache gereinigt, erweitert und reflektiert, wenn nicht in der Literatur? Manche Autoren bekommen bei Steinfeld, der zu uns spricht wie ein – sehr guter – Deutschlehrer, gute Noten (zum Beispiel Handke, Kafka und Goetz) andere schlechte (etwa Elfriede Jelinek).

What’s wrong with Jelinek? Sie misstraut der Sprache, deshalb herrsche in ihren Büchern „das Ideal einer unbedingt wahrhaftigen und deswegen beschädigten Sprache, die ihren Lesern deutlich zeigen soll, dass sie beschädigt ist“. Gegen den Geist der Avantgarde, mit ihrer Sprachkritik und Sprachzertrümmerung, setzt Steinfeld den Imperativ des Übens. Seit jeher besteht das literarische Sprechen in der übenden Nachahmung und

Fortschreibung, manchmal auch Überschreibung des schon Geschriebenen. Wahrscheinlich gilt das sogar für Elfried Jelinek. Die Konventionen sind also nicht da, um gebrochen, sondern um befolgt zu werden. Der Konventionsbruch, aus dem sich dann das „Neue“ ergibt, muss nicht herbei geschrieben werden, er ereignet sich ganz von selbst – und meistens als Unfall. Thomas Steinfeld liebt die Avantgarde (oder was von ihr übrig ist) nicht, er liebt den guten deutschen Satz, und liefert für ihn herrliche Beispiele. Man möchte nach Lektüre dieses Buches gern besser schreiben, man möchte gute Sätze schreiben, in denen ein plastisches Verb regiert und die Gespenster des Nominalstils verscheucht sind. Wenn sich alle Sprecher und Schreiber der deutschen Sprache bemühen würden, jeden Tag nur die eine oder andere Sprachdummheit zu vermeiden, könnte das der „Kultursprache“ Deutsch womöglich mehr helfen als alle Sprachpolitik und gewiss mehr als jeder schlecht formulierte Kulturpessimismus.

Bei Günter Grass findet Thomas Steinfeld einen „Duktus des Schraubens und Bastelns, als ob einer, dem das Schreiben fremd ist, versucht, sich im Schriftlichen zu bewähren“

Günter Grass bewunderte die Grimms nicht

Günter Grass gehört zu jenen Schriftstellern,

die in Steinfelds Buch eher nicht so gut wegkommen. Ihm bescheinigt Steinfeld einen „Duktus des Schraubens und Bastelns, als ob einer, dem das Schreiben fremd ist, versucht, sich im Schriftlichen zu bewähren“. Ein Nobelpreisträger, dem das Schreiben fremd ist, bei dem sich „Bürokratie und Pathos“ verbünden? Günter Grass würde das, wenn er es läse, nicht erschüttern. Sein Verhältnis zur deutschen Sprache ist so wenig zu erschüttern wie sein Verhältnis zu sich selbst. Von Günter Grass lässt sich sagen, dass er geübt hat, dass er nachgeahmt und sich Konventionen einverleibt hat. So sehr, dass uns aus seinen Büchern ein bestimmter „altfränkischer“ Kunstton entgegenschlägt, auch da, wo es um die Gegenwart und Günter Grass persönlich geht. Wir lesen: „Ich heiratete zweimal. Zwischen dem Ende der ersten und dem Beginn der zweiten Ehe erregten mich leidenschaftliche Entscheidungen, die Wirrnis durch übereilten Ortswechsel, endlosen Streit und wiederum Trennung zur Folge hatten.“ Günter Grass liebt es kompliziert, das Aussprechen ist zugleich ein Verschleiern, die Bürokratie des Stils verbindet sich mit dem Pathos des Selbstrespekts. Das Zitat stammt aus „Grimms Wörter“, einer „Liebeserklärung“ an die Brüder Grimm, an die deutsche Sprache und, man muss es sagen, an Günter Grass selbst. Sehr anschaulich vereint das neue Buch – der letzte Band der autobiografischen Trilogie, die mit „Vom Häuten der Zwiebel“ begann – die Tugenden und Untugen-

den dieses Schriftstellers. Da gibt es viel Sprachfreude oder mehr noch Wort- und Wörterfreude: Adebar, Briefbote, Cäsur, Daumesdick, Erbsenzähler, Fabelhans, Geldgeber ... Am liebsten, so scheint es, würde Grass einfach das Grimm’sche Wörterbuch dahersagen. Das aber brach 1862 mit dem Tode Jacob Grimms mit dem Eintrag „Frucht“ ab und wurde erst 1961 von fleißigen Nachfolgern fertiggestellt. Grass’ Idee war es nun, den Grimm’schen Wörtern – bis zum Buchstaben F und dann nur noch den Buchstaben K, U und Z – nachzuschmecken, vom Leben und Forschen der Brüder Grimm zu erzählen und im geeigneten Moment sich selbst ins Bild zu bringen.

Thomas Steinfeld: Der Sprachverführer. Die deutsche Sprache: was sie ist, was sie kann. Carl Hanser, 272 S., € 18,40

Günter Grass: Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung. Steidl, 368 S., € 30,70

nur, weil sie Gründerväter der deutschen Philologie sind, sondern noch mehr, weil sie als zwei der „Göttinger Sieben“ in ihrer Protestation vom November 1837 dem Landesherrn die Stirne boten. So einer ist Grass auch gewesen, so einer will er gewesen sein, weshalb die imaginierte Begegnung mit Jacob und Wilhelm Grimm ein Treffen unter Gleichen ist. „Zu dritt sitzen wir auf einer Bank“, im winterlichen Tiergarten anno 1960 – ganz so wie Grass in „Ein weites Feld“ Fontane als „Fonty“ auferstehen ließ und sich mit ihm im Tiergarten traf, um die Wiedervereinigung zu beklagen. Günter Grass hat Fantasie, er hat Themen, Stoff, Bildung und Sprachfreude für zwei – woran also mangelt es ihm? Warum spielt er in Thomas Steinfelds Sprachbuch nicht die Heldenrolle, warum muss er sich Bürokratie und Pathos nachsagen lassen? Das mag an Sätzen liegen wie den gleich folgenden. Erst spricht Grass von der Trauerrede, die Jacob Grimm „Über meinen Bruder Wilhelm“ gehalten hat; dann räsoniert er darüber, wie diese Rede wohl aufgenommen wurde und kommt sodann auf sich selbst als öffentlichen Redner zu sprechen: Ihm sei „aus der Jahre Distanz in leicht verwackelten Momentaufnahmen erinnerlich, wie meine Reden, gehalten vor den Mitgliedern der Berliner Akademie der Künste – dazumal am Hanseatenweg im Berliner Tiergarten –, teils Gehör fanden, teils Anstoß erregten“. Wer so gedrechselt formuliert, in Anlehnung an eine Konvention, die es nie gab; wer, in nur vorgeschützter „Distanz“, derart ins eigene Wirken verliebt ist; wer sich auf sein Tun gar keine Alternative zu „Gehör finden“ und „Anstoß erregen“ denken kann; wer so überhaupt nicht von sich und seiner Wichtigkeit absehen kann, der kann auch keine guten Sätze schreiben und, noch weniger, ein Sprachverführer sein. CHR ISTOPH BARTMANN

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Der schönste Sommer meines Lebens In einem herzergreifenden Roadmovie schickt Wolfgang Herrndorf zwei 14-jährige Buben auf große Fahrt

Maik Klingenberg aus Berlin-Marzahn rauscht seit höchstens einer Stunde mit seinem Klassenkollegen Andrej „Tschick“ Tschichatschow verbotenerweise über die Landstraße. Schon sind seine Augen wie geblendet vor der unfassbaren Schönheit der Welt, wie er sie mit seinen Eltern im Auto noch nie erfahren hat. Maik ist 14, und während er am Anfang des in „Tschick“ durch seine Brille geschilderten Sommers noch fast ein Kind ist, wird er sich am Ende beinahe erwachsen fühlen. Wolfgang Herrndorf (geb. 1965), der Autor der pfiffigen Popbücher „In Plüschgewittern“ und „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“, hat eine klassische Comingof-Age-Story geschrieben. Es ist die wohl schönste und herzergreifendste Geschichte, die Jugendliche wie Erwachsene sich heuer erzählen lassen können – „Der Fänger im Roggen“ zwischen Autobahn, Herzschmerz und brachliegenden Feldern im Osten Deutschlands. Die Ausgangslage ist trist. Maik hält sich selbst für einen langweiligen Typen und hat kaum Freunde („ich bin nicht wahnsinnig gut im Kennenlernen“). Nicht mal zu einem Spitznamen hat es gereicht. Nur ein Schuljahr lang hieß er „Psycho“, weil er in einem Deutschaufsatz unverblümt über den Alkoholismus seiner Mutter geschrieben hat – die abgesehen davon aber nett ist, wohingegen der Vater, ein gescheiterter Immobilienheini, der sich für was Besseres hält, den Ungustl des Buchs geben muss. Man lebt – noch – in einem schönen Haus mit Pool. Halbwegs bessere Verhältnisse.

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chard Clayderman“ als einziger musikalischer Nahrung an Bord führt über Autobahnen und Feldwege, in Kreiskrankenhäuser und verlassene Dörfer. Unterwegs trifft das Duo, das immer mehr Gemeinsamkeiten feststellt, Menschen. Eine wahnsinnig nette Ökofamilie, die alles weiß, nur nicht, wo der nächste Supermarkt zu finden ist, dafür aber zu komisch aussehendem und wunderbar schmeckendem Essen einlädt. Ein frühreifes Mülldeponiemädchen, in das sich Maik gleich wieder verliebt. Einen alten Mann, der als letzter Bewohner in seinem Dorf verharrt und vom Krieg erzählt. Lauter merkwürdige, aber hilfsbereite Zeitgenossen. Dabei hatten der Vater, die Lehrer und das Fernsehen Maik doch eingebläut, dass die Welt schlecht sei und der Mensch auch. „Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war. (...) Auf so was sollte man in der Schule vielleicht auch mal hinweisen, damit man nicht völlig davon überrascht wird.“

Maiks Angebetete heißt Tatjana Cosic. Sie mag Beyoncé. „Sie sieht super aus. Und ihre Stimme ist auch super. Sie ist einfach insgesamt super. So kann man sich das vorstellen.“ Mehr weiß Maik nicht über sie zu sagen und ist damit ein sehr glaubwürdiger Repräsentant seines Geschlechts und seiner Altersklasse. Er kriegt eigentlich kaum was mit von dieser Tatjana, er ist einfach nur Gefühl. Es könnte genauso gut jede andere sein, die „voll Porno“ aussieht und zufällig vor ihm sitzt. Eines Tages kommt ein Russe in die Klasse.

Tschick. Der Typ hat morgens öfter mal eine Fahne. Ansonsten zeigt er sich im Unterricht vollkommen unbeteiligt. Im Unterschied zu seinen Mitschülern versucht er nicht einmal, Coolness zu markieren, muss also, wie Maik mutmaßt, einfach verrückt oder unglaublich cool sein. Was der Leser bald ahnt: Tschick ist, kleinkriminelle Anwandlungen hin oder her, wirklich ein lässiger Kerl – nicht zuletzt, weil er das verborgene Lässigkeitspotenzial des gehemmten Maik erkennt. Als die beiden herausfinden, dass sie beide nicht zu Tatjanas großer Geburtstagsfeier eingeladen sind – dabei hat Maik in wochenlanger Arbeit ein Beyoncé-Porträt für sie angefertigt –, fusionieren sie zu einem Gespann. Die Sommerferien beginnen. Maiks Mutter ist wieder mal in der Beautyfarm vulgo Entzugsklinik, der Vater mit seiner jungen Assistentin auf Reisen. Also beschließen Tschick und Maik, ebenfalls Urlaub zu machen. In einem gestohlenen Lada geht’s los, ungefähr in Richtung Walachei, wo Tschick Verwandte haben soll. Weiter als ein paar hundert Kilometer in den deutschen Osten gelangen die beiden in den nächsten zwei Wochen zwar nicht vor, trotzdem wird es die Reise ihres Lebens. Die Fahrt in dem verbeulten Gefährt und mit „The Solid Gold Collection von Ri-

Irgendwo da draußen im Niemandsland fällt

Wolfgang Herrndorf: Tschick. Rowohlt Berlin, 256 S., € 17,50

dem Buben dann sein altes Leben in Berlin wieder ein. „Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ich da zur Schule gegangen war, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ich es einmal wieder tun würde.“ Natürlich wird er es wieder tun, denn klarerweise wird seine und Tschicks große Fahrt bald gestoppt. Aber Maik kehrt doch als ein anderer zurück. Ob Herrndorf den 14-Jährigen in sich wachgerufen hat, oder wie er es sonst angestellt hat, spielt keine Rolle: Er hat den Maik in uns allen getroffen, mit genau dem richtigen Maß an Selbstzweifel und Selbstüberschätzung in der bisweilen vor Aufregung zitternden Stimme des Pubertierenden.

illustr ation: andreas dürer

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ch hatte meinen Arm aus dem Fenster gehängt und den Kopf daraufgelegt, wir fuhren Tempo 30 zwischen Wiesen und Feldern hindurch, über denen langsam die Sonne aufging, irgendwo hinter Rahnsdorf, und es war das Schönste und Seltsamste, was ich je erlebt habe.“

SEBASTIAN FASTHUBER

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Händewaschen in Hongkong auf dem Klo Die Reisereportagen des grandiosen Talkmasters Roger Willemsen sind dort am besten, wo’s um Frauen geht

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as Genre der Reisereportage hat seine Tücken. Nicht selten erinnert es an jene unerträglichen Fotoschauen, in deren Rahmen Freunde oder Verwandte nach dem letzten Urlaub ihnen teure Erlebnisse ausgiebig erläutern, die sonst freilich niemanden wirklich interessieren. Dem entziehen sich die besseren einschlägigen Autoren auf zweierlei Weise: Die einen versuchen, den Aufenthalt in der Fremde möglichst unterhaltsam darzustellen. Ein gutes Beispiel dafür sind die gelungeneren Arbeiten von Bill Bryson. Die anderen nehmen die Reise als Ausgangspunkt für philosophische oder politische Betrachtungen. Ryszard Kapuscinski wäre hier als ein Meister zu nennen. Allerdings kann auch entweder alles verblödelt werden oder prätentiöses Pathos Überhand nehmen.

Roger Willemsen hätte die besten Vorausset-

zungen für eine erfolgreiche Synthese. Er ist nicht nur enzyklopädisch gebildet, sondern gleichzeitig unerhört witzig. Unter Beweis gestellt hat er dies insbesondere als bester deutschsprachiger Talkmaster der letzten Jahrzehnte. Unvergesslich etwa bleibt ein Interview mit dem Sänger Hermann Prey, der völlig unvermittelt über seine bislang unbekannten Depressionen zu sprechen begann. Die Empathie Willemsens, mitsamt seiner präzisen Vorbereitung, ermöglichte eine ergreifende Sternstunde des Fernsehens. Dass es mit Madonna schiefging, spricht für Willemsen, dass er sich dem ZDF entfremdete, spricht jedenfalls nicht für den Sender. Seit dem Rückzug vom Fernsehen ist Willemsen in Hilfsorganisationen aktiv, tritt auf der Bühne auf und schreibt vor allem erfolgreiche Bücher, darunter eines über das US-Internierungslager in Guantánamo. „Die Enden der Welt“ wird sich in diese Liste einschreiben. Nicht zu Unrecht.

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Reisen aus 30 Jahren sind Gegenstand des Buchs, und ein scharfsinniger Beobachter und kenntnisreicher Formulierer vermag natürlich für mehr als 20 Destinationen vom Kap der guten Hoffnung bis zum Nordpol Wahrnehmungen zu dokumentieren, die selbst jenen, die viele der beschriebenen Orte kennen, neue Perspektiven eröffnen.

geht in Hongkong aufs Klo und wäscht sich die Hände. Das liest sich dann so: „Ich drehe ein paar Hähne auf. Allmählich befreundet sich die Haut mit jeder Temperatur. Das erinnert an etwas Vergessenes, den Jahreszeitenfluss, wie er über eine Baumkrone hingeht, wie er sich den Stoffen mitteilt, dem Stein, dem Leder, dem Wachs.“ In Anbetracht von Willemsens Fernsehkarriere erstaunt eines nicht: Am besten ist der reisende Talkmaster, wenn er Menschen beschreibt, am allerbesten, wenn es Frauen sind, die sein volles Interesse haben. Da ist die Dokumentarfilmerin Christa, mit der er nach Gibraltar aufbrechen wird. Sie erklärt ihm ihr neues Projekt. „Die Erzählung dazu war so verästelt, dass ich alle Zeit hatte, ihr Gesicht zu studieren, dieses großzügige, sommersprossige Gesicht mit der breiten Stirn, dem zu großen Mund, dem Ich-kann-dir-Dingezeigen-Blick. Meines Schweigens wegen hatte sie mich am Ende des Abends einen guten Zuhörer genannt – der ich nicht gewesen war.“

Willemsen reist ohne Luxus, allein, manch-

mal mit einer temporären Partnerin oder Leuten, die er im Laufe der Tour kennengelernt hat. Es zieht ihn eher an die zwar extremen, aber auf ihre Weise auch unspektakulären Orte. Dort sind es meist die Wege abseits des klassischen Tourismus, die ihn reizen. Es ist ein düsteres Buch. „Die Enden der Welt“ bezeichnen nämlich nicht bloß fernab liegende Gegenden, sie beziehen sich auch auf Tod, Selbstmord, Wahnsinn oder das Ende einer Liebe. Dem unwirtlichen Nichts der Sahelzone oder der Kamtschatka entsprechen Personen wie Marga, die sich im Eismeer ertränkt, oder Bernadette aus Denver, die in einer geschlossenen Anstalt landet, oder auch Mumtaz, die aidskranke Hure in Indien, mit ihren markerschütternden Schreien. Der erwähnten Gefahr des Prätentiösen widersteht Willemsen nicht ganz. In seiner Orvieto-Geschichte schrammt das Buch bei der Analyse des Jüngsten Gerichts von Signorelli hart am Kunstreiseführer vorbei, das Trompetenkonzert von Charpentier wird als Hintergrundmusik vom Autor ebenso sofort erkannt wie ein Szenenfoto aus Taverniers Film „Saustall“ – von den historischen Exkursen einmal ganz abgesehen. Bildung ist wunderbar, man sollte sie aber nicht ununterbrochen unter Beweis stellen. Ähnlich ist es mit der Sprache, die da und dort ruhig weniger preziös hätte ausfallen dürfen. Ein extremes Beispiel: Willemsen

Roger Willemsen: Die Enden der Welt. S. Fischer, 550 S., € 23,60

Eine besondere Freude sind jene Passagen, in denen das Pathos in Komik umschlägt, wo die genannte Synthese gelingt. In einem Zug in Birma sitzt Willemsen einem Ehepaar samt Truthahn gegenüber. Der hymnischen Beschreibung des Lachens der Frau kontrastiert der Blick auf den Vogel: „Der Truthahn ist eine hässliche Kreatur, die dauernd dünkelhaft aus dem ­Fenster sieht und jeden Augenkontakt vermeidet.“ Etwas mehr von solch lakonischem Humor hätte dem Buch gutgetan. Dennoch, wenn man das etwas Schwurbelige verzeiht, dann wird der Blick auf das vorangestellte schöne und treffende Motto von John Steinbeck frei. „Vielleicht ist das der Grund für meine Rastlosigkeit: Ich habe noch nicht jedes Zuhause gesehen.“ K AR L DUFFEK

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l i t e r a t u r   U n s ere d eut s c h e n freu n d e

Die erbarmungsloseste Omi der Welt Darf man das überhaupt – eine derartig schlimme Geschichte so unterhaltsam erzählen? Alina Bronsky kann es jedenfalls ass man beim Lesen eines zu rezenD sierenden Romans schlichtweg vergisst, die Unterstreichungen zu machen, die bei der Zusammenfassung des Inhalts und bei der Charakterisierung des Erzählstils so hilfreich sind, kommt eigentlich so gut wie nie vor. Alina Bronsky hat es mit ihrem zweiten Roman, „Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche“, geschafft. Und das spricht schon einmal für die Erzählkunst der in Frankfurt lebenden Schriftstellerin, die hier so rasant, ja fulminant einsetzt, dass man schon mal seine Pflichten vergessen kann. Schlagartig bekannt wurde Bronsky, 1978 im

damaligen Swerdlowsk, heute Jekaterinburg, geboren und seit ihrer frühen Jugend in Südhessen aufgewachsen, vor zwei Jahren mit ihrem Debütroman „Scherbenpark“, in dem die altkluge und abgebrühte 17-jährige russische Migrantentochter Sascha als Erzählerin auftritt und den man sich nur allzu gerne als autobiografisch vorgestellt hat. In ihrem neuen Roman, der ebenfalls zu einer solchen Lesart verführt, hat Bronsky die Perspektive gewechselt: Hier berichtet eine Großmutter von ihrem Leben in der Sowjetunion und der schließlichen Emigration nach Südhessen mit ihrer Enkelin Aminat, die am Ende des Romans ungefähr gleich alt ist wie Sascha. Und dieser Bericht kennt keine Gnade – außer mit sich selbst.

schung und Selbstherrlichkeit. Mehrmals verheiratet sie ihre unter der dominanten Mutter still leidende Tochter, der Ehemann hat so wenig zu melden, dass er sich – wodurch sich die letzte Lücke des Matriarchats schließt – in eine zweite Ehe verabschiedet. Die „geliebte“ Enkelin fungiert vor allem als Spiegelbild des eigenen Narzissmus und wird zum Behufe der Emigration nach Deutschland eiskalt mit zwölf Jahren an einen Pädophilen verschachert, der sich deswegen zu einer Ehe mit Sulfia überreden lässt.

Statt des bitterernst-sarkastischen Tons der frühreifen Jugendlichen herrscht nun ein heiter-unheimlicher Zynismus, der kaum noch hinter die von ihm inszenierten Kulissen blicken lässt. Doch zurück zum Anfang. Wir schreiben das Jahr 1978, Rosalinda, in einem Kinderheim aufgewachsen und kulturell entwurzelt, sodass sie tatarische Gerichte allenfalls erfinden kann, lebt mit ihrem sympathischen, aber willensschwachen Ehemann Kalganow und ihrer als Ausbund an Dummheit und Hässlichkeit diffamierten Tochter Sulfia ein typisches Sowjetleben zwischen Parteiprivilegien (Kalganow ist überzeugter Kommunist) und überlebenswichtiger Durchtriebenheit, als Sulfia, kaum geschlechtsreif, schwanger wird. Rosalindas mit einer Stricknadel misslingt partiell, das heißt, der zweite der beiden in Sulfias Bauch befindlichen Zwillinge überlebt und erhält den Namen von Rosalindas Großmutter, Aminat. Ein tragikomischer Kampf von Großmutter und Mutter um das Kind entbrennt, bei dem Sulfia kaum Chancen hat. Überhaupt hat kaum jemand irgendwelche Chancen neben dieser Großmutter. Eine derart erbarmungslose, empathieresistente, um nicht zu sagen böse Heldin hat die deutsche Gegenwartsliteratur noch nicht gesehen: machthungrig und manipulativ, ein Ausbund an Selbstbeherr-

Der eigenhändige Abtreibungsversuch

Alina Bronsky: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche. Kiepenheuer & Witsch, 317 S., € 19,50

Wobei die Dramatik der Geschichte in krassem Gegensatz zur burlesken Unterhaltsamkeit des Erzähltons steht. Es taucht die Frage auf, ob man mit solchen Dingen literarischen Schabernack treiben darf oder ob Alina Bronsky das gar nicht tut, sondern das heiße Thema über den Umweg von Sarkasmus und Ungesagtem nur umso tiefer unter die Haut des Lesers bringt, wo es tatsächlich schmerzhaft weiter schwelt. Immerhin gelingt es Aminat in Deutschland, sich (vermutlich endgültig) aus dem Gravitationsfeld ihrer Großmutter zu befreien, die sie nur einmal als Siegerin von einer Sendung à la „Deutschland sucht den Superstar“ im Fernsehen wiedersieht. Aminats Gefühle aber bleiben die große, dunkle Leerstelle, um die das Buch munter und rücksichtslos kreist. K IR STIN BR EITENFELLNER

Am Abgrund der deutschen Mittelschicht Mit seinem Erzählband „Schuld“ knüpft der Jurist Ferdinand von Schirach souverän an sein zu Recht bejubeltes Debüt an in Volksfest in einer deutschen KleinE stadt, es riecht nach gebrannten Mandeln und Zuckerwatte. In einer Blaskapelle

spielen „ordentliche Männer“ mit „ordentlichen Berufen“, Familienväter, Steuerzahler. Niemand hätte ihnen so ein Verbrechen zugetraut. Die Musiker sitzen verkleidet auf einer Bühne, sie tragen Perücken, sind von ihren Frauen mit weißem Puder und Rouge geschminkt worden. Die Musiker schwitzen, hinter einem schwarzen Vorhang trinken sie in einer Pause Bier. Eine Kellnerin, 17 Jahre alt, serviert. Sie stolpert, schüttet sich Bier aufs T-Shirt, sie trägt keinen BH, die Männer blicken sich an. Dann springt einer nach dem anderen auf. Am Ende liegt das Mädchen „nackt und im Schlamm, nass von Sperma, nass von Urin, nass von Blut“. Die Musiker haben nach der Tat noch auf sie uriniert. Als die Polizei eintrifft und das Mädchen findet, spielt das Orchester wieder Polka.

Mit dieser Kurzgeschichte beginnt Ferdinand von Schirachs grandioses Buch „Schuld“. Die Geschichte endet mit einem Freispruch aller Musiker. Ein Freispruch, juristisch korrekt, eigentlich ein Erfolg für einen Strafverteidiger. Aber Schirach, der als Anwalt in Berlin arbeitet und einen der Musiker in dem Vergewaltigungsprozess vertrat, saß nach der Verhandlung in seinem neuen Anzug, mit

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seiner neuen Ledertasche mit seinen Anwaltskollegen auf der Heimreise im Zug, er hatte die Bilder des weinenden Vaters des Opfers im Kopf und wusste, „dass wir unsere Unschuld verloren hatten“. Schuld, so lautet der Titel des – nach dem Debüt „Verbrechen“, das im Vorjahr erschien – zweiten Erzählbands von Ferdinand von Schirach. Schuld? Was ist das eigentlich? Die Strafrechtler haben die Figur des „Maßmenschen“ erfunden, eines mit den „Grundwerten der Rechtsordnung ausgestatteten Menschen“, um diese Schuld zu definieren.

Juristen schaffen es, dies so eindringlich zu vermitteln. Schon im hymnisch bejubelten Debüt skizzierte Ferdinand von Schirach in lakonischen und knappen Miniaturen, wer wieso zum Verbrecher wird. Da ertränkt eine Schwester ihren Bruder, weil sie ihn so innig liebt. Da sticht ein junger Landgrafensohn nächtens den Schafen des Bauern die Augen aus und legt sie in eine Schatulle zum Bildnis eines Mädchens – die Ankündigung eines großen Verbrechens, das kein Strafgericht verhindern kann.

An diesem Maßmenschen müsse man das

Baldur von Schirach und Spiegel-Kolumnist, mit „Schuld“ neue Fälle vor. Wieder sind es vor allem Geschichten aus Deutschlands Mittelschicht, wieder ist es ein Blick in jene Abgründe, Schicksale und Zufälligkeiten, die Schulmädchen, Manager, Hausfrauen und Familienväter ins Verbrechen treiben. Jeder kann schuldig werden, Kriminelle sind Menschen, keine „Bestien“. Seiner Frau mit der Axt den Schädel zu spalten, das kann für manch gequälten Ehemann der einzige Ausweg in die Freiheit sein. Schirach schildert nicht nur die Hintergründe von Verbrechen, er beschreibt darüber hinaus die Strafjustiz als eine um Gerechtigkeit ringende Institution, die das Recht im Ernstfall so auszulegen weiß, dass es auch gerecht bleibt.

Verhalten von Kriminellen messen. Der Mensch, so die Idee der Aufklärung, kann frei entscheiden, ob er Verbrechen begehen will oder nicht. Die Hirnforscher wiederum vermuten, dass das mit dem freien Willen nur eine Selbsttäuschung des Menschen ist: Der Homo sapiens handle so, wie es ihm seine Synapsen befehlen, er sei Sklave der Biochemie. Verloren für die Resozialisierung. Doch so leicht ist das alles eben nicht. Es gibt eben doch „so ein Ding wie Gesellschaft“, das Menschen zu Verbrechen treibt oder zumindest schuldig aussehen lässt. Es gibt sogar hässliche Verbrechen, für die wir Maßmenschen Verständnis aufbringen. Das ist auch die (von Scharfmachern gerne geleugnete) Erkenntnis der Kurzgeschichten Schirachs. Nur wenige

Nun legt der Enkel des NS-Reichsjugendführers

Ferdinand von Schirach: Schuld. Piper, 199 S., € 18,50

FLOR IAN K LENK

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Der lange Winter seines Missvergnügens Peter Wawerzinek erzählt von sich und seiner gefühlskalten Mutter, die ihn als Bub in der DDR zurückließ

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s gibt Bücher, die nur schwer zu ­besprechen sind, weil alles, was sich gegen sie vorbringen lässt, zum Vorwurf gegen die Person des Autors zu werden droht. Das ist immer dann der Fall, wenn Erzähler und Autor identisch sind, wenn eine Lebensgeschichte aus­ gebreitet wird, die weniger literarisch zu be­werten, als unter biografischen Aspek­ ten zur Kenntnis zu nehmen ist. Lebens­ läufe sind nun mal nichts, was sich beno­ ten ließe. Ein solches Buch ist „Rabenliebe“ von Peter Wawerzinek, der darin – wieder ein­ mal – seine eigene Geschichte erzählt. Die Mutter ließ den Zweijährigen in der DDR zurück, als sie 1956 in den Westen ging. Das ist die unüberwindliche Urkatastro­ phe. Der Bub wächst zunächst in Heimen auf, dann in einer Adoptivfamilie, und ob­ wohl er sich über die Verhältnisse hier wie dort nicht wirklich beklagen kann, lebt er doch in fortgesetzter emotionaler Obdach­ losigkeit, immer getrieben vom Mutter­ mangel, von einer existenziellen Ver­ lassenheit.

Und doch dauert es 50 Jahre, bis der Sohn es wagt, die Spur der Mutter aufzunehmen und sie zu besuchen. In Ebersbach am Ne­ ckar trifft er eine kleine, böse, gefühllo­ se, alte Frau, die ihn begrüßt, als käme er bloß vom Einkaufen zurück. Sie haben sich nichts zu erzählen und sitzen nebeneinan­ der in der kleinen Küche, „wie Leute in ei­ nem Wartesaal, die eine Nummer gezogen haben“. Mit dieser Mutterfindung könnte der lebenslange Zwang zur Muttererfindung beendet werden. Das Kind ist endlich er­ wachsen geworden, indem es die Mutterlo­ sigkeit akzeptiert. Schlimmer als im Heim (das gar nicht so schlimm war) wäre es je­ denfalls gewesen, bei dieser Mutter geblie­ ben zu sein. Dieser Besuch, bei dem auch noch acht Halbgeschwister auftauchen, steht ganz am Ende und braucht einen über 400 Sei­

ten langen Anlauf. Die eingebaute Angst­ bremse macht den Erinnerungsmarathon zu einer einzigen Mutterverzögerung. Jede Ausflucht nimmt der Erzähler dank­ bar an, jeder Umweg wird gegangen, jede Erinnerung ausgebreitet, als käme es auf die Masse der Details an, um zu begreifen, was Mutterlosigkeit bedeutet. So nachvollziehbar diese Taktik psycho­ logisch ist, so quälend ist sie als literari­ sche Strategie – zumal viele Figuren und Ereignisse schon aus Wawerzineks sehr viel schlankerer Erzählung „Das Kind das ich war“ aus dem Jahr 1993 bekannt sind. „Ich möchte mein Thema wie einen Bom­ bengürtel tragen, mich mit ihm in die Luft jagen. Anders gelingt der Roman zur Mut­ ter nicht“, schreibt er nun, und der Verlag macht daraus einen fetten Werbetext. Soll man es bedauern, dass die Bombe nicht zündet? Wawerzinek erzählt bildhaft, assozi­ ativ und sprunghaft. Er durchsetzt den Text mit Kinderreimen und Volksliedern und romantischen Versen, die ihm – pas­ send oder auch nicht – in den Sinn kom­ men. Er montiert Zeitungsausschnitte von verlassenen Kindern und andere Zitate da­ zwischen, ohne dass klar würde, was da­ mit bewiesen werden soll, und bläht ihn durch überstrapazierte Metaphern im­ mer noch weiter auf: An allen entschei­ denden Lebensstationen setzt pünktlich der Schneefall ein, denn in diesem Leben „ist ewig Winter“ – inklusive Nebel und Nebelkrähen.

Den Ingeborg-Bachmann-Preis hat Peter Wa­

Peter Wawerzinek: Rabenliebe. Roman. Galiani, 430 S., € 23,60

Die dermaßen erzeugte Redundanz aber führt

nicht nur zu einem Verlust der Konzentrati­ on, sondern bewirkt auch, dass die Anteil­ nahme, die die Geschichte erwecken soll­ te und möchte, sich bald in Überdruss und Langeweile verwandelt. Dabei stecken in diesem Buch großarti­ ge Szenen und schmerzhaft genaue Sätze – die man freilich suchen muss wie Perlmu­ scheln auf dem Grund des Ozeans –, Sätze wie etwa dieser: „Das Schicksal eines

23. september 2010 Wiedereröffnung der Gemäldegalerie

werzinek mit seinen Auszügen vom An­ fang des Romans durchaus zu Recht ge­ wonnen, denn die Schwächen treten erst auf der längeren Strecke zutage, wohin­ gegen einen einzelne kurze Abschnitte durchaus ergreifen können. Der Autor ist jedenfalls immer dann am besten, wenn er sich von seiner eigenen Geschichte löst. Er sei Schriftsteller geworden, um eines Ta­ ges über seine Mutter zu schreiben, ge­ steht der Erzähler. Tatsächlich schreibt er aber nicht über die Mutter, sondern vor allem über sich und seine Mutterillusionen. Auch der äu­ ßere, historische Rahmen, die Geschichte der DDR und der deutschen Teilung, bleibt seltsam blass, denn neben dieser einen schreienden Ungerechtigkeit der eigenen Mutterverlassenheit muss alles andere verblassen. Ein „psychologisch arbeitender Mensch“, der einmal kurz zu Wort kommt, hält so manches, was den Autor charakteri­ siert, für eine bedenkliche Folge seiner Kinderheimkindheit: seine Redelust, sein Plappern, die Sucht im Mittelpunkt zu ste­ hen, Kontrollverlust, Streitlust, unver­ nünftige Spenderfreude und manische Verschwendung, Schüchternheit, Ober­ flächlichkeit und so weiter – von Haaraus­ fall, Entengang und nervtötendem Party­ genöle ganz zu schweigen.

Peter Wawerzinek scheint dieser Einschät­

Peter Wawerzinek: Das Kind das ich war. 1993, Transit, 130 S., € 15,30

zung nicht unbedingt widersprechen zu wollen. Es könnte aber sein, dass er sich mit diesem Buch freigeschrieben und das bloß Biografische endlich hinter sich gelas­ sen hat. Vielleicht wird er nun anfangen können zu erzählen – jenseits der Erinne­ rungen, die bislang auf ihm lasteten. JÖRG MAGENAU

Monika Helfer

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Menschen auf dem Weg zu einer großen Sache ist, dass er unterwegs untergeht, auf dem Weg, den er eingeschlagen hat, um seinem Untergang zu entgehen.“

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15 Millionen Reichsmark für Autor Hitler Die Untersuchung von Christian Adam zeigt, was unter den Nazis wirklich gelesen wurde

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rich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ war der erste große Bestseller der deutschen Literaturgeschichte. Im Erscheinungsjahr 1929 wurde eine Million Exemplare verkauft. Als dann der Film herauskam, wurde die Popularität noch größer. Die Nazis schäumten, Remarque avancierte mit Buch und Film zum literarischen Lieblingsgegner der NS-Bewegung – und zugleich zum Maßstab für die eigene literarische Produktion. Bestseller wollten auch die Nazis. Bucherfolge sollten Einfluss auf Haltungen und Stimmungen nehmen, entsprechend drehten sie an den Schrauben des Literaturmarkts, verbrannten Bücher, konzentrierten das Verlagswesen, „arisierten“ jüdische Verlage, zwängten die Autoren in die Reichsschriftumskammer, lenkten durch Vorgaben und Verbotslisten, schoben den NS-Verlagen große Aufträge zu. Besonders konzis war diese Politik allein schon aufgrund des Kompetenzwirrwarrs nicht. Zu viele Organisationen kümmerten sich um die Leser und Leserinnen. Und dann gab es, bei allen enggehaltenen Freiräumen, immer noch so etwas wie einen freien Literaturmarkt. Weil ihnen die Buchhändler die Treue hielten, überlebten kleinere Verlage abseits des NS-Mainstreams. Wie die Ausleihe in den kommerziellen Leihbüchereien (nicht in den kommunalen Volksbüchereien) zeigt, gab es allerdings auch viele Nischen, wurden zum Teil sogar verbotene und verbrannte Autoren weiterhin in Umlauf gehalten. Christian Adam nimmt die Erfolgsbücher und

Foto: © Isolde Ohlbaum

die Erfolgsautoren des Dritten Reichs unter die Lupe und kommt in seiner materialreichen, gut lesbaren Studie zu unerwarteten Ergebnissen. Untersucht wurden jene rund 350 Bücher, die in mehr als 100.000 Exemplaren gedruckt wurden. Wobei sich Adam dabei nicht nur auf Romane ­beschränkt, sondern auch Sachbücher, Ratgeber oder die Heftchenliteratur mit einbezieht und das Bild durch quanti-

tatives Zahlenmaterial wie Lektüreerfahrungen anreichert. Dass die rechten Kriegsbücher hoch im Kurs waren, erstaunt nicht: Die Vorbereitung zum Krieg erfolgte auch auf dem Buchmarkt. Dass Hitler ein begeisterter Karl-May-Leser ist, ist ebenso bekannt wie die Liebe der NS-Literaturpolitiker zur sogenannten Blut-und-Boden-Literatur. Allerdings rückt Adam die Dimensionen zurecht und macht die Komplexität der Branche wie des Lektüreverhaltens sichtbar.

Hitlers „Mein Kampf“ gab es in den Standesämtern für jedes Brautpaar, wodurch es eine Auflage von insgesamt 12,5 Millionen Exemplaren erreichte und Hitler ein Honorar von 15 Millionen Reichsmark bescherte. „Kampf um Deutschland“; eine Geschichte der NSDAP, erzählt vom Euthanasieexekutor Philipp Bouhler, musste in sämtlichen Schulen und Jugendverbänden gelesen und deshalb 1,5 Millionen Mal gedruckt werden. Joseph Goebbels verschaffte sich mit seinem Buch zur Machtergreifung „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“ Bestsellerehren und kam auf 600.000 Stück. Auch unkonventionelle Vertriebswege wurden zur Propaganda in Anspruch genommen: Reemtsma, Kooperationspartner von Goeb­bels’ Ministerium, fügte den Zigarettenschachteln Fotos bei, die in millionenfach verbreiteten Alben eingeklebt wurden.

Die Lieblingsgenres des Publikums deckten

sich nicht unbedingt mit dem, was die Politik vorsah. Die Blubo-Literatur erwies sich eher als Ladenhüter. Und unter den Kriegsbüchern waren auch solche erfolgreich, die für die deutsch-französische Verständigung warben. Bemerkenswert auch der Erfolg von Margaret Mitchells „Vom Winde verweht“. Georges Simenon wurde beworben. Dass Hamsun gefiel, war angesichts dessen politischer Einstellung nicht verwunderlich; dass aber Antoine de SaintExupéry, der gegen die Nazis Flugeinsätze flog, mit seinem Besteller „Wind, Sand und Sterne“ bis April 1945 in den Läden erhältlich war, verblüfft doch. Viel ideologisch unauffällige Literatur kam zu Leseehren. Die in der DDR beliebten „Heiden von Kummerow“ von Ehm Welk kamen schon in der Nazidiktatur gut an. Von einer erfolgreichen Gleichschaltung der deutschen Lektüre kann man jedenfalls nach dem Befund von „Lesen unter Hitler“ nicht sprechen. Selbst die Nazibosse labten sich an englischen Krimis, an Jules Verne oder Hermann Hesse. „Ein bisschen Entspannung, das tut so gut“, notierte Goebbels 1940. Nach der Machtergreifung wollten zwar viele Nazis am großen Kuchen des Buchmarkts mitnaschen, aber nicht alle machten mit Nazibüchern gute Geschäfte. Wenn die Käufer nicht wollten, halfen die NS-Organisationen durch Geschenke, Pflichtankäufe oder penetrantes Marketing nach.

Christian Adam: Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich. Galiani, 284 S., € 20,60

Eine Stunde null gab es nicht. Adam veranschaulicht die merkwürdigen Kontinuitäten zwischen der Nazi- und der Nachkriegszeit, beschäftigt sich intensiv mit dem Werdegang vieler Autoren. Während Hans Zöberlin, Autor des erfolgreichen Buchs „Glaube an Deutschland“, von seiner Hitler-Begeisterung nicht abließ, waren die meisten Autoren wendiger und umtriebiger, strichen Passagen und veränderten leicht den Titel, um ihre Erfolgsbücher, wie „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ (nach 1945 ohne „deutsche“), im Rennen zu halten. Auch die höchst erfolgreichen Doku-Fictions um deutsche Erfinder und Erfindungen, um Rohstoffe und Rohstoffhandel (Schenzingers „Anilin“ verkaufte 1,6 Millionen Exemplare) blieben, nach leichten Eingriffen, weiterhin gut im Geschäft. Der Bertelsmann-Konzern verstand sich schon während der NSZeit ganz ausgezeichnet auf die Produktion von Bestsellern und konnte dieses Knowhow auch nach 1945 nutzen. ALFR ED PFOSER

Monika Helfer »Ein Liebessehnsuchtsbuch, eine unvergleichlich schön beschriebene Mischung aus Schmerz und Aggression, Träumerei und Einsiedelei, Zukunftshoffnung und kleinen Stützritualen.« Julia Kospach, Format

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Götterdämmerung in Stadl-Paura Otto Basils Alternate-History-Groteske „Wenn das der Führer wüßte“ ist die Wiederentdeckung der Saison

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in wahnwitziger, apokalyptischer Roman ist wiederzuentdecken. Geschrieben hat ihn einer der wichtigsten Literaturkritiker und Kulturpublizisten der jungen Zweiten Republik: Otto Basil (1901–1983), Herausgeber der Literaturzeitschrift Der Plan und langjähriger Kulturredakteur des Neuen Österreich. Basils eigenes literarisches Schaffen, zu dem sein einziger Roman, „Wenn das der Führer wüßte“, zählt, ist weitgehend unbekannt, woran der Umstand, dass dieses Buch eine der literarischen Sensationen des Bücherherbstes 1966 und damals ein veritabler Verkaufserfolg war, wenig ändert. Dass der Milena-Verlag das Werk nun neu auf den Markt gebracht hat, ist ein Glücksgriff, denn Basils krude Geschichtsfantasie, die eine Satire auf den Nationalsozialismus, aber auch eine bittere Parodie auf die weltpolitischen Verhältnisse der Nachkriegszeit ist, hat sich sehr gut gehalten und ist auch deshalb frisch und lesbar geblieben, weil der Autor sich trotz seines Themas in kein moralisches Korsett zwängen ließ.

Dank eines Atombombenabwurfs auf London hat Hitler-Deutschland den Krieg gewonnen. In den beginnenden 60er-Jahren, in denen der Roman spielt, ist die Welt in zwei Machtsphären geteilt: Das Germanische Großreich umfasst neben Europa ganz Afrika und bezieht als einen Vasallenstaat die ehemaligen USA mit ein; im fernen Osten hat „Magna Iaponica“ es zu eigener Größe gebracht, die beiden Blöcken befinden sich im Kalten Krieg. Die Pläne der Nazis (Basil ließ sich von authentischen Dokumenten inspirieren, die die Nürnberger Prozesse zutage brachten), erscheinen verwirklicht: Durch ein Netz von Wehr- und Trutzsiedlungen wurde der Osten kolonialisiert. In Mutterburgen züchtet man an der Herrenrasse, aber auch diese Unternehmung scheint etwas ermattet: Der tatsächliche Verkehr (in den Anfangszeiten der Bewegung: die reine Freude) wurde durch künstliche Befruch-

tung ersetzt. Die „Untermenschen“ aus den kolonialisierten Gebieten wurden zu einem Volk von Dienstboten gemacht, besonders hartnäckige Fälle erzieht man in eigenen Lagern zu bedingungslos gehorsamen Tiermenschen heran. Die ehemaligen Konzentrationslager liegen unter grünen Hügeln – ihr Vernichtungswerk ist abgeschlossen. 30 Jahre Nationalsozialismus haben ihre Spuren hinterlassen. Die heroischen Geschichten der Kampfzeit werden als „Naphtalin“ verspottet, Hitlers persönliche Macht scheint gebrochen. Tatsächlich stirbt der Führer gleich im ersten Kapitel – Mord aus den eigenen Reihen, wie sich herausstellt. Daraufhin bricht unter den Nachfolgern ein unerbittlicher Kampf aus. Das Reich wird währenddessen von außen durch japanische Atombomben attackiert. Die höheren Kader flüchten nach Norden, wo sie sich eine Polarfeste als letztes Refugium eingerichtet haben. Mitten hinein in den ganzen Wahnwitz jener (auch im Orwell’schen Sinn) eiskalten und technisierten Welt stellt Basil seine Hauptfigur. Der Mann heißt Albin Totila Höllriegl und stammt aus der Ostmark, was ihn in seiner Hitler-Verehrung nur noch schlimmer macht. Höllriegl ist ein Experte für das „Auspendeln von Lebensumständen“ und für „nordische Lebensberatung“, vor allem aber ist er Nationalsozialist aus sexueller Überzeugung. Höllriegls unverstellte Begierde gilt dem ersten Weib des Reichs, einer gewissen Ulla von Eycke, die Basil als ultimatives NS-Pin-up modelliert. Ein sadomasochistisches Spiel zwischen den beiden treibt die Handlung des Romans an, bis der Zusammenbruch des Nazistaates die Rollen umkehrt: Der Ostmärkler rettet die auf ihrem Landsitz von Untermenschen geschundene, willenlose Frau und flieht mit ihr Richtung Norden. Stärker noch als an den pornografischen Akzenten hat die zeitgenössische Kritik an

einer Figur aus dem zweiten Kapitel des Buchs Anstoß genommen. Höllriegl wird hier ans Sterbebett des sogenannten Erzjuden des Dritten Reichs gerufen, eines Monopolkapitalisten der übelsten Sorte, der mit seinem Geld Hitler an die Macht gebracht hat und sich seiner Lebensbeichte nun in einer absurden Stürmer -Diktion entledigt. Dass ausgerechnet ein Jude so spricht, verleiht diesem ungeheuren Textstück seine ganze Schärfe.

Otto Basil: Wenn das der Führer wüßte. Milena, 376 S., € 23,90

Die Vermeidung jeglicher Zurückhaltung gehört zum Programm von Basils Buch und macht auch dessen Qualität aus. Hier schreibt einer so, als hätte er nichts zu verlieren. In einer langen Sequenz über einen Philosophen namens Gundlfinger etwa parodiert Basil den gezwirbelten Stil Heideggers, und mit der Figur eines Henricus Arbogast Edler von Schwerdtfeger entwirft er ein Porträt von Heimito von Doderer, das eigentlich recht realistisch ist, aber aufgrund seines Kontextes ziemlich unfreundlich wirkt. In einem unpubliziert gebliebenen „Idiotenführer durch den Führer“, der sich im Nachlass findet1, hat Basil seinen Kritikern die Wirkungsweise des Buchs – didaktisch einwandfrei – erklärt: Alles, was in einem solchen Roman vorkommt, erscheine per se negativ. Die besten Ideen aber, so wäre zu ergänzen, erscheinen lustig. Beispielsweise verlegt Hitler die „Statthalterei der Ostmarktgaue“ vom ungeliebten Wien ausgerechnet nach Stadl-Paura. Die kleine Gemeinde in Oberösterreich wird nicht recht wissen, wie ihr geschieht. Das gilt auch für den Leser, der relativ spät merkt, dass alles gut, sprich: in einem höllischen Untergang mit immensem Getöse ausgeht – eine Götterdämmerung, wie nur die Nazis selbst sie hätten erfinden können. K L AUS K ASTBERGER 1 Vgl. dazu: Wendelin Schmidt-Dengler/Volker Kaukoreit (Hg.): Otto Basil und die Literatur um 1945. Wien: Zsolnay 1998

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»Karl-Markus Gauß durchwandert die Kulturgeschichte Europas. Eine Geschichte voll gescheiterter Utopien und vergeudeter Möglichkeiten – glänzend geschrieben und durchdacht.«

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liter atur aus heimischem anbau

Der Humanismus eines Hotelpatrioten Was Joseph Roth als Journalist schrieb, gehört zum Besten, was das deutsche Feuilleton hervorgebracht hat

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erken Sie sich, Klötzel: Bei der Frankfurter Zeitung schreibt man nicht für die Leser, sondern für die Nachwelt“, stutzte Joseph Roth einst einen Kollegen zurecht. Dieser hatte sich über den scheinbar geringen Eifer des prominenten Berichterstatters gewundert, der gerade im Auftrag der Frankfurter Zeitung Albanien bereiste. Als prompt ein Telegramm der Frankfurter Redaktion einlangte, hatte Klötzel mit der Frage „Mahnt die Nachwelt?“ die Lacher auf seiner Seite. Die Auftraggeber wollten Artikel sehen, Roth machte sich mit einem Krug Raki bewaffnet an die Arbeit. Die Episode stammt aus dem Band „Ich zeich-

ne das Gesicht der Zeit“, einer Auswahl der journalistischen Arbeiten des berühmten Romanciers. Ein großer Teil der darin versammelten Texte stammt aus der Frankfurter Zeitung – so gesehen gibt die bloße Existenz des Bands Joseph Roth im Nachhinein Recht. Aus den über 3000 Druckseiten, die Roths Feuilletons in der Werkausgabe füllen, wählte Herausgeber Helmuth Nürnberger gut 500 Seiten (inklusive Anmerkungen und Nachwort) aus. Damit ist das journalistische Werk des Autors von „Radetzkymarsch“ auch für die Nichtfachleute unter den Bewohnern der Nachwelt zugänglich. Eine überaus begrüßenswerte Initiative: Die über 80 Essays, Glossen und Reportagen Joseph Roths gehören zum Besten, was das deutschsprachige Feuilleton bis heute zu bieten hat. Ihr Verfasser war ein begnadeter Mystifikateur in eigener Sache. Herkunft und Werdegang verschleierte er im Lauf seines Lebens so oft und so konsequent, dass nach seinem Tod Unklarheit darüber herrschte, ob er nach jüdischem oder katholischem Ritus zu begraben sei – weswegen vorsichtshalber beides erledigt wurde. Auf dem Grab lag ein schwarzgelber Kranz, den Otto von Habsburg geschickt hatte, neben einem Strauß roter Nelken des Bundes Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller. Umso bemerkenswerter ist, dass beim Lesen der Texte ein erstaunlich klares Bild ihres Autors entsteht. Joseph Roth zeichnete nicht nur das Gesicht seiner Zeit, wie es seiner Auffassung nach die Aufgabe des Feuilletonisten war, auch das Gesicht des Schreibenden wird dabei Seite für Seite deutlicher erkennbar. Es ist das eines melancholischen Humanisten, der den Glauben an die Menschlichkeit zwar verloren hat, aber nicht aufgibt. Anfangs noch spürbar von den großen Wiener Vorbildern Alfred Polgar und Peter Altenberg geprägt, verwandelte sich Roth zwischen den Weltkriegen vom „roten Joseph“, als der er zu Beginn seiner Laufbahn signierte, zum Verfechter einer Restaurati-

on der Habsburger, ohne sich dafür sonderlich verbiegen zu müssen. Zu beidem wurde er aus Umständen, von denen er einmal meinte, „ein destruktiver Satiriker“ müsse sie geschaffen haben. Das am eigenen Leib erlebte Massenelend im Habsburgerreich machte ihn zum scharfen Kritiker der Monarchie, die geistige Enge des nunmehr nach nationalen Kriterien eingeteilten Kontinents verschafften ihm Anfang der 20erJahre die Einsicht: „Nationale und sprachliche Einheitlichkeit kann eine Stärke sein, nationale und sprachliche Vielfältigkeit ist es immer.“ Ein Aphorismus, der die spätere K.-u.-k.-Nostalgie Roths bereits erahnen lässt. In den Sozialismus hatte Roth große Hoffnungen, Zweifel an dessen Zukunftsfähigkeit kamen ihm aber schon während einer ausgedehnten Russlandreise im Jahr 1926, die ihn auch zu einer Kritik am sowjetischen Schulwesen inspirierte: „Sie (die Revolution, Anm.) protegiert in der Schule das ,Praktische‘, das ohne Zweifel für morgen taugt, aber nicht mehr für übermorgen. Sie verzichtet auf das fundamentale Material, auf dem sie ihre Häuser bauen könnte, wie die alte Welt ihre Tempel und Paläste gebaut hat.“

Neben ihrer Eleganz und ihrem – oft tieftraurigen – Witz beeindrucken die Texte Joseph Roths durch ihre Hellsichtigkeit, was die Entwicklung Europas in der Zwischenkriegszeit betrifft

Leitmotivisch zieht sich das Lebensgefühl ei-

ner Lost Generation, die den Ersten Weltkrieg überlebt hat, aber nicht überwinden kann, durch Roths journalistisches Werk. Zu den berührendsten Texten, die er je geschrieben hat, zählt der in Südfrankreich entstandene Reportagenzyklus „Die weißen Städte“, der zu seinen Lebzeiten jedoch unveröffentlicht blieb. Die ganze persönliche Tragik des damals gerade 30-Jährigen ist darin bereits enthalten: einerseits die tiefe Desillusionierung des jungen Veteranen, der das „wissende Lächeln derjenigen, die Ursache, Werkzeug und Opfer einer großartigen Zerstörung gewesen sind“; lächelt, andererseits seine Sehnsucht nach für immer verlorener Kontinuität und Geborgenheit in einem größeren Zusammenhang. Über die Bewohner der Provence schreibt Roth: „Getränkt mit dem Kulturbewusstsein vergangener Zeiten stehen sie kritisch und gewaffnet den neuen Entwicklungen gegenüber. Nichts kann sie so erschrecken, wie uns. Uns wirft jede Zeitungsnachricht aus dem Gleichgewicht. An diesem Land ist selbst der Weltkrieg vorbeigegangen, ohne mehr zu hinterlassen, als Trauer und Tränen. Uns aber bereitete er das Chaos.“ Die ersehnte Stelle als Korrespondent der FZ im geliebten Frankreich blieb Roth verwehrt. Die Zeitung beauftragte ihn stattdessen mit Korrespondentenberichten aus Russland, Polen, Italien, Deutschland und verschiedenen Ländern des Bal-

Joseph Roth: Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Essays, Reportagen, Feuilletons. Hg. v. Helmuth Nürnberger. Wallstein, 500 S., € 41,10

kans. Die dabei entstandenen Reportagen und Reisebriefe sind Meisterwerke an Prägnanz und Originalität, ob es sich nun um die Beschreibung eines polnischen Grenzbeamten handelt („Und obwohl er selbstverständlich zu Fuß durch den Korridor geht, sieht es doch so aus, als ritte er an den offenen Coupétüren vorbei und als wollte er die Pässe auf einer Lanze aufspießen, um sie dann draußen vielleicht zu braten“) oder darum, die gefährliche Lächerlichkeit der italienischen Faschisten durch genau beobachtete Details sichtbar zu machen, ohne sie beim Namen zu nennen. Den Gipfelpunkt von Roths Tätigkeit als Reiseberichterstatter stellt der Zyklus „Hotelpersonal“ dar, eine grandiose Liebeserklärung an die Heimat des zum „Hotelpatrioten“ gewordenen Schriftstellers, der um 1930 auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens steht. „Hiob“ ist gerade veröffentlicht, „Radetzkymarsch“ in Vorbereitung. Neben ihrer Eleganz und ihrem – oft tieftraurigen – Witz beeindrucken Roths Texte durch ihre Hellsichtigkeit, was die Entwicklung Europas in der Zwischenkriegszeit betrifft. Den Zweiten Weltkrieg sieht er bereits 1925 heraufziehen. Über die Intentionen der Nationalsozialisten, in denen er früh „eiserne Mörder auf tönernen Sockeln“ erkennt, ist er keinen Augenblick im Unklaren, ebenso wenig über die Verlogenheit der Appeasement-Politik: „Es kann mir nicht verwehrt sein, in das Haus meines Nachbarn einzudringen, wenn er im Begriff ist, seine Kinder mit der Hacke zu erschlagen.“ Roths Texte aus dem Exil sind Dokumente zunehmender Verzweiflung angesichts des Siegeszugs der Barbarei. Den Kampf mit publizistischen Mitteln führt der von der Alkoholkrankheit schwer Gezeichnete zwar weiter, der Tonfall wird jedoch bitterer. Ein poetisches Grillparzer-Porträt aus dem Jahr 1937 kreist um die bekannte Formel des österreichischen Klassikers „Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität“. Laut Roth ein „Angstschrei“ Grillparzers angesichts des aufstrebenden Preußentums. Für den kakanisch geprägten Weltbürger Joseph Roth, der zu dieser Zeit versucht, Schuschnigg von der Notwendigkeit einer Wiederkehr der Habsburger zu überzeugen, auch ein Warnruf vor dem bevorstehenden Anschluss Österreichs an Hitlers Deutschland. Roths Versuch scheitert kläglich. Über den von einem Ast erschlagenen Ödön von Horvath schreibt er im Juni 1938: „Gewiß ist dieser Tod besser, als ein Leben im Österreich Hitlers.“ Ein Jahr später stirbt Joseph Roth elend in Paris. GEORG R ENÖCK L

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Ich glaub, mich streift ein Sandwurm Wilfried Steiners Kunstthriller „Bacons Finsternis“ liest sich mitunter wie eine ganze Arte-Serie

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er Oberösterreicher Wilfried Steiner hat ein Faible für die dunkleren Seiten der englischen Romantik. Zuletzt ist sein Roman über den Dichter William Taylor Coleridge erschienen („Der Weg nach X ­ anadu“, 2003), nun hat er sich in die Gegenwart vorgearbeitet und sich des sowohl für seine Gemälde als auch für seinen ausschweifenden Lebensstil berüchtigten Francis Bacon (1909–1992) angenommen.

illustr ation: andreas dürer

Nachdem ihn die Freundin nach 15 Jahren

gleichsam aus dem Blitzblauen verlassen hat (tatsächlich wechselte der Himmel über Kreta gerade von Blaugrau „zu einem düsteren Anthrazit“), ist der IchErzähler Arthur Valentin verständlicherweise angeschlagen. Eine solche Erfahrung macht dünnhäutig, sodass sogar der Besuch einer Kunstausstellung dazu angetan sein kann, einen bis in die Grundfesten zu erschüttern. Es sind allerdings auch die in der Tat ziemlich aufwühlenden Gemälde Bacons, die Valentin im Kunsthistorischen Museum (wo vom Oktober 2003 bis zum Jänner 2004 die Schau „Francis Bacon und die Bildtradition“ zu sehen war) wie ein Blitz treffen. Vor allem ein 1973 fertiggestelltes Triptychon, in dem auf allen drei Tafeln der zwei Jahre davor durch Suizid aus dem Leben geschiedene Geliebte des Malers, George Dyer, figuriert, wird zum existenziellen Erlebnis: „Ich wollte aufstehen, ich

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war fertig. Da merkte ich, dass der Boden nicht trug. Unter mir näherte sich in gewaltigen Wellen der große Sandwurm, mitten in den Prunksälen des KHM.“ Mit den Tiermetaphern übertreibt es der Autor ein wenig. 17 Seiten davor ist es ein „Saugwurm, der sich (…) in mein Rückgrat bohrte“, auf Seite 83 ist es dann ein „Zitteraal“. Man muss fairerweise aber dazusagen, dass der Sandwurm nicht ganz so weit hergeholt ist, wie es scheinen mag: Valentins Ex Isabel ist Spezialistin für Horrorund Science-Fiction-Filme und trägt den Spitznamen Ripley – so wie die von Sigourney Weaver dargestellte Ellen Ripley in der „Alien“-Tetralogie. Valentin zufolge hat sie immer schon wie Sigourney Weaver ausgesehen, „nur schöner“ – was allerdings ziemlich unglaubwürdig klingt (Anm. d. Rezensenten).

Ob solchen Beziehungsreichtums wundert es dann nicht mehr allzu sehr, dass Valentin seine Isabel zufällig dabei beobachtet, wie diese in der Tate Britain vor Bacons „Portrait of Isabel Rawsthorne 1966“ steht und offenbar einen Kunstraub mit einem gewissen Lohmeier plant, den Valentin aus Wien kennt. Wilfried Steiner ist ein sehr belesener und ge-

Von „Alien“ wiederum ist es nicht weit zu Da-

vid Lynchs Verfilmung von Frank Herberts Science-Fiction-Roman „Dune“ („Der Wüstenplanet“), in dem ein Sandwurm prominent figuriert. Und von Officer Ellen Ripley ließe sich wiederum eine assoziative Brücke zu Patricia Highsmiths talentiertem Mr. Ripley schlagen (der Roman selbst tut dies nicht), der unter anderem auch einen Kunstfälscherring aufgebaut und ein Faible für den französischen Maler Chaim Soutine hat, dessen Bilder geschlachteter Tiere wiederum als Vorwegnahme Bacons gesehen werden können.

Wilfried Steiner: Bacons Finsternis. Roman. Deuticke, 286 S., € 20,50

bildeter Autor. Dass es ihm nicht um eitles Bildungsgeklingel geht, sondern ihn authentischer Enthusiasmus antreibt – nicht nur für Bacon, sondern auch für Lucien Freud oder Hans Henny Jahnn (um nur die wichtigsten Rerferenzgrößen des Romans zu nennen) –, merkt man. Dass er in seiner Begeisterung aber auch kein Detail auslassen kann, macht die Lektüre nicht unbedingt kurzweiliger und den art-thriller turned audioguide „Bacons Finsternis“ komplizierter, als der es notwendig hätte. Überzeugender als die angesammelten Exkurse zu den beiden Dioskuren der figurativen englischen Malerei aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind nämlich die ganz persönlichen (Selbst-)Beobachtungen des Erzählers: „Das Gefühl der Vergänglichkeit, das einen beschleicht, wenn man sich die Lesebrille aufsetzen muss, um den richtigen Take auf einer Platte von Iggy Pop zu finden, ist niederschmetternd.“ Davon hätte man doch sehr gerne mehr gelesen! K L AUS NÜCHTERN

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liter atur aus heimischem anbau

Observiert, kontrolliert und gehirngewaschen In „Fremdes Land“ hat sich Thomas Sautner für einen kruden, aber flotten Mix aus Satire und Science-Fiction entschieden ür Thomas Sautner ist es offenbar nur F ein kleiner Sprung von der Kultur der Jenischen zu einem dystopischen Europa. Nach seinen ersten zwei Romanen, „Fuchserde“ (2006) und „Milchblume“ (2007), die das „fahrende Volk“ thematisierten, meldet er sich nun mit einer Science-Fiction-Geschichte zurück. „Fremdes Land“ heißt der neue Roman des Österreichers, der in einer nahen Zukunft spielt und in der die gefährlichste Ausprägung der digitalen Technik, die Überwachung, zur Perfektion getrieben wurde.

Sautners moderat futuristisches Szenario be-

schreibt eine kontrollierte Welt, deren Bürger keine weltlichen Freuden mehr kennen, in der das Pensionsalter auf 80 Jahre erhöht wurde und ein Drittel der Bevölkerung unter dem Existenzminimum lebt. Der Rest ist von den Medien gehirngewaschen und hauptsächlich damit beschäftigt, nicht unangenehm aufzufallen. Als ein Politiker mit dem sprechenden Namen Jack Blind zusammen mit seinem Chef an die Macht gelangt, besteht ihr oberstes Ziel darin, das Land noch „sicherer“ zu machen und nebenbei sich selbst zu bereichern. Das hat man doch alles schon irgendwo gelesen – und tatsächlich bedient sich der Autor ungeniert bei den großen Vorbildern des Genres von Aldous Huxley bis Stanisław Lem: Nicht nur die „Feelgood-

Pillen“, mit denen Jack seine gelegentlich aufflackernde Humanität sediert, erinnern an Klassiker wie „Schöne neue Welt“ oder „Der futurologische Kongress“. Auch George Orwells Roman „1984“ oder Philip K. Dicks Shortstory „Der Minderheiten-Bericht“ lassen sich als Paten ausmachen: In „Fremdes Land“ versucht eine Art „Gedankenpolizei“, zukünftige „Verbrechen“ mittels implantierter Chips zu verhindern. Über weite Strecken sind diese literaturgeschichtlichen Aus- oder Streifzüge aber gar nicht nötig, denn für den Autor liegt der Stoff ohnedies zum Greifen nahe: Das Feindbild der Moslems, die von der Regierung in Kontrollbezirke übersiedelt werden und die man „Zug um Zug im Wirtschaftskreislauf durch Einheimische zu ersetzen und sie dann ganz zivilisiert abzuschieben“ gedenkt – das ist Science-Fiction, wie sie derzeit in Frankreich vor der Verwirklichung steht. Und auch für den Umstand, dass sich die Regierung praktisch in der Hand einiger weniger Konzerne befindet, werden sich in den meisten Ländern durchaus realitätsnahe Analogien finden lassen.

meint ist, sondern auf eine in der Welt des Romans längst vergessene Regung hingewiesen werden soll: die selbstlose Liebe des systemkritischen Vaters zu seinem korrupten Sohn Jack, die er diesem wie eine „freundliche Einladung, gleich einer Brücke in ein fremdes Land“, zugänglich machen will.

Bei so viel „Gesellschaftsanalyse“ kann einem

allerdings auch angst und bange werden. So muss man etwa am Ende des Buchs erfahren, dass mit dem „fremden Land“ keineswegs die dystopische Projektion gegenwärtiger Zustände in die Zukunft ge-

Thomas Sautner: Fremdes Land. Aufbau, 250 S., € 20,60

Eine derart schlichte Geschichte ist leider nicht davor gefeit, entsprechend plakative Botschaften zu produzieren: „Angst akzeptiert radikale Maßnahmen gegen vermeintliche Risiken ebenso wie gegen Mitmenschen, von denen angeblich Risiko ausgeht. Angst akzeptiert auch persönliche Einschränkungen. Angst führt zum Wunsch nach staatlicher Ordnung, nach Kontrolle, nach Prävention, nach konsequenter Sicherheit und nach strengen Reglements. Angst, Jack, macht die Menschen obrigkeitshörig, demütig und biegsam. Zu all dem führt Angst.“ Zahlreiche solcher Gemeinplätze werden hier der Schlechtigkeit der Welt entgegengeschleudert. Erträglich gemacht wird das durch den satirischen Plauderton, der zwischendurch zum Glück die Oberhand gewinnt. Und so gelingt es Sautner, immer wieder die Kurve zu einem kurzweiligen und erfolgversprechenden Unterhaltungsroman zu kratzen, in dem die Menschen fröhlich-selbstvergessen ihrem Untergang entgegenschreiten. JULIA ZAR BACH

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Wenn man das Leben nur noch mitmacht Von der Postpubertät ins Prekariat: Angelika Reitzer liefert mit „unter uns“ eine großartige Mileustudie

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ie seligen Zeiten des Forum Stadtpark sind lange vorbei, doch zuletzt hat die Grazer Literatur wieder ein kräftiges Lebens-, ja Blütezeichen gegeben: Olga Flor und Clemens J. Setz leben nach wie vor in Graz, Angelika Reitzer ist – wie Thomas Glavinic und Gerhild Steinbuch – nach Wien übersiedelt. Mit ihrem neuen Roman hat Reitzer das Versprechen ihres Debüts „Taghelle Gegend“ und des Erzählbands „Frauen in Vasen“ erfüllt: „unter uns“ gehört zu den besten Neuerscheinungen der letzten Jahre. Würde das nicht allzu sehr an die Sprache des Obstbaus erinnern, dem Reitzer eine schöne Erzählung gewidmet hat, könnte man sagen: Es ist das Buch einer reifen Autorin. „unter uns“ zeigt die Licht- und noch mehr die Schattenseiten eines Milieus. Die Kleinschreibung des Titels, deutet auf die Offenheit des Romangebäudes wie des darin ausgebreiteten Beziehungsgeflechts. Man kennt sich untereinander, zumindest

von früher, zumindest vom Sehen: lauter Paare, Expaare, Derzeitsingles um die 40, die sich viel jünger fühlen, obwohl ihre Kinder schon recht groß sind, vielleicht auch, weil die meisten ihr Studentenleben weiterführen – prekäre Existenzen im Präkariat. Am Beginn steht ein Rückzug: Im Garten des ehemals elterlichen Gasthauses, ist man unter sich – eine „fröhliche, leicht disparate Familie“. Die Geburtstagsfeier der Mutter ist angesagt, findet aber nicht statt; vor den staunenden Kindern und Anverwandten verabschieden sich die Eltern stattdessen in den emotionalen Ruhestand: Hinkünftig wollen sie sich nur noch dem eigenen Wohlergehen widmen. Wenige Monate später trifft man sich beim Begräbnis des Vaters. Von Clarissa, der heimlichen Hauptfigur des Romans, erfahren wir, dass die Eltern als Haudegen des Gastgewerbes eigentlich immer schon abwesend waren. Die Toch-

mit anderen Leben ergeben sich – so sitzen Selma und Vera im selben Lokal, denken an Kevin, bemerken die Müdigkeit der anderen, ohne einander zu (er)kennen. Angelika Reitzers Figuren reden und rauchen und sagen und denken Kluges und Banales, ganz wie im wirklichen Leben: „Wie Tauben und Katholiken sollten sich die Menschen fürs Leben zusammentun. Lust und Obsession ist doch das beste von allem; die Zeit vergeht trotzdem.“ Über Clarissas Zwillingsbrüder heißt es: „Wie immer sind sie wie immer, das ist ihr ganzes Leben schon so.“ „unter uns“ ist durch und durch realistische Literatur, aber weder handfest noch einfach. Die Perspektiven und die Zeiten wechseln, das Personal ist unübersichtlich, der Plot tritt hinter dem Atmosphärischen, hinter der leuchtenden Klarheit der Details zurück. Immerhin ragen Globalisierungsdemonstrationen und Studentenproteste ins psychodynamische Geschehen. Die schlichte Beschreibung des Status quo gerät zur Gesellschaftskritik.

ter ist als „Assistentin der Geschäftsführung“ an ihrem Perfektionismus und ihrer Dünnhäutigkeit gescheitert und lebt nun als Untermieterin im Haus von Klara und Tobias (der in irgendeiner Branche erfolgreich ist). „unter uns“, das kann man also auch räumlich verstehen: Clarissa ist die Souterrainexistenz, die den dräuenden Untergrund der glücklichen Familie bildet, an die niemand so richtig glaubt. Ein Generationsroman lässt sich so natürlich nicht zustande bringen: Hier haben alle Familien ein Ablaufdatum, sind „zum Untergang bestimmt, (…) waren lauter kleine Inseln im weiten Wasser“. Clarissa schwimmen die Felle davon, wie ihre Namensvetterin Clarisse in Musils „Mann ohne Eigenschaften“ taumelt sie zwischen Normalität und Abgrund: „Ich war schon halbwegs flüssig.“ Regenwasser dringt in ihr Zimmer ein, sie sagt nichts. Es ist ein Panorama des Sich-Verlierens und Verschwindens, das Angelika Reitzer hier eröffnet. „How to Disappear Completely and Never Be Found“ heißt der Film, den die Kinder von Freunden sehen. Clarissa kommt der Welt mehr und mehr abhanden, nicht nur das Wasser, auch die Erde lockt, die „unter uns“ ist und mit der sie auf Augenhöhe wohnt.

Großartig ist die sprachliche Präzision, ist der

Reitzer beschreibt das Bröckeln und Bröseln al-

lenthalben, das Lose der durchaus freundlichen Beziehungen kühl und mit berückender Suggestivkraft. Natürlich: Es gibt auch glückliche und vitale Menschen in „unter uns“, wie den Filmjournalisten Kevin („Er kann sich aufsplitten und ist in allen Rollen ganz da“), der einen berühmten Regisseur (wohl Woody Allen) interviewt und die Schulfreundin Marie wiedertrifft, obwohl er mit Vera, ihrerseits Kleinverlegerin in großen Finanznöten, wie man so sagt, gut verheiratet ist. Außerdem flirtet Kevin mit Clarissas älterer Schwester Selma, einer Schriftstellerin, die er für eine Drehbuchidee gewinnen will. Ungeahnte Berührungspunkte

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bald fließende, bald insistierende Rhythmus des Ganzen. Großartig sind jene Kapitel, in denen Clarissa in der ersten Person zu Wort kommt. An ihr zeigt Reitzer, wovor ihre anderen Figuren sich fürchten – dass die „Demonstration von Zukunft“ eines Tages nicht mehr gelingt und wie das ist, wenn man das eigene Leben nur noch mitmacht, Schwäche mit Intensität verwechselt. Dass es mit Clarissa kein gutes Ende nimmt, wird niemanden überraschen. „unter uns“ ist nicht deprimierender, als gute Literatur sein muss, nicht tröstlicher, als gute Literatur sein darf. Ob es so kommen musste? Die Autorin legt sich nicht fest, sie lässt alles in der Schwebe. Das verstünde man auch ohne den Doppelpunktmanierismus, den Reitzer sich von Friederike Mayröcker abgeschaut hat. DANIEL A STR IGL

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Je höher die Latte, umso größer die Fallhöhe Sehr vergnüglich: Hanno Millesi führt vor, wie Schreiben eher nicht geht – zum Glück mithilfe von fiktiven Kollegen ich interessiert Transformation, M ­diesen Satz habe ich … mit Kreide auf eine abwaschbare Unterlage geschrieben

und kurz darauf mit Wasser wieder heruntergewaschen. Im Anschluss daran habe ich das Wasser samt Buchstaben und Satz getrunken und auf eine aus dem ­Inneren kommende Inspiration gewartet.“ Von solchen und anderen zufällig im Radio aufgeschnappten Äußerungen versucht sich der Ich-Erzähler in Hanno Millesis Erzählung „Ich durchsuche Feldcharakter“ beim Schreiben inspirieren zu lassen. Da die einfallslose Schriftstellerfigur diese „Stimme der Abgedroschenheit“ in Eulenspiegel’scher Manier wortwörtlich nimmt, gibt er sich der Lächerlichkeit preis, macht sich zugleich aber auch über klischeehafte Vorstellungen vom Schreibprozess lustig.

In Ermangelung jeglicher Eingebung muss der Schriftsteller etwa den Namen seines Protagonisten per Zufallsprinzip im Telefonbuch suchen, aus Gründen falsch verstandener Authentizität dessen Identität selbst überprüfen. Die Begegnung mit dem Namensträger führt unweigerlich zur nächsten Enttäuschung: So hat er sich seinen Protagonisten nun wirklich nicht vorgestellt. Mit allerlei Tricks versucht der Unglückliche seine Schreibblockade zu überwinden und nicht aufzugeben, auch wenn die Qualität seines Schreibens dabei unwillkürlich auf

der Strecke bleiben muss: „Hauptsache ein Werk.“ Mit der Grundproblematik des Schreibens steht der Mann allerdings nicht alleine da. In seinem neuen Erzählband „Das innere und äußere Sonnensystem“ versammelt der Wiener Schriftsteller Hanno Millesi Schriftsteller in der Krise, denen keine Idee zu skurril und keine Assoziation zu abwegig ist, um ihr nicht in der Hoffnung auf neuen Erzählstoff nachzugehen.

Fitzgerald volltrunken mit dem Schreibtischsessel umzukippen. Ein weiterer wiederum lässt sich aus dem Jenseits von André Breton surrealistische Anweisungen erteilen oder telefoniert mit Sylvia Plath. Das größte Ausmaß an Skurrilität und Situationskomik erreicht Millesi, wenn er seinen schreibblockierten Ich-Erzähler die Schreibregeln des Beatniks Jack Kerouac in die Praxis umsetzen lässt. Millesis Erzählungen sind eine verzweifelte, woodyalleneske Parodie auf den Beruf des Schriftstellers, ein aberwitziges Spiel mit Schreibreflexion und Poetik und eine kluge literarische Anverwandlung der Theorien von Intertextualität, die seit geraumer Zeit zirkulieren und viel diskutiert werden, ohne dass die gelunge Dramaturgie des Bands oder die souveräne sprachliche Qualität darunter je zu leiden hätten.

Das zugrunde liegende Prinzip dieser amü-

santen wie klugen Versuchsanordnungen ist die Übertragung: die antikapitalistischen Radikalthesen der RAF, Jack Kerouacs Schreibregeln oder Kernszenen bedeutender Filme – die völlig unpassende Anwendung diverser Theorien auf die banale und kleingeistige Erfahrungsebene des Ichs bringt die Fallhöhe groß angelegter Ideen zum Ausdruck und führt verlässlich zu komischer Wirkung. Dabei ist den in ihrer Lektüre aufgehenden Schriftstellern das literarische Universum so allgegenwärtig, dass es ihm sogar gelingt, vom Faktum des Todes abzusehen. So befindet sich etwa ein Erzähler auf der verzweifelt-hartnäckigen Suche nach verstorbenen Schriftstellerkollegen in Wien, wohingegen ein anderer versucht, seine Dichteridole an deren Jahrestagen durch Nachahmung ihres Lebensstils wiederauf­ erstehen zu lassen – auch wenn dies für ihn bedeutet, am Geburtstag von Scott

Hanno Millesi: Das innere und äußere Sonnen­s ystem. Luftschacht, 172 S., € 19,–

Vielleicht lassen sich die skurrilen Verwicklungen der Protagonisten mit einem Raymond Queneau, der experimentierfreudige Umgang mit dem Ballast der literarischen Tradition mit einem Roberto Bolaño vergleichen; von beiden könnte – wenn man den Autor schon mit diesem Maß messen möchte – die große Leichtigkeit seines Duktus stammen. Mit anderen Worten: „Das innere und äußere Sonnensystem“ garantiert ein großes Lesever­g nügen. ALE X ANDR A MILLNER

manuskripte ZEITSCHRIFT FÜR LITERATUR SEIT 1960 „...jene maßstabbildende Literaturzeitschrift, die unermüdlich neue Talente entdeckt und gefördert hat und weiterhin fördert.“ (Thomas Rothschild) „...die manuskripte mischen ja im gesamten deutschsprachigen Literaturraum mit.“ (FAZ)

Seit 50 Jahren Erstveröffentlichungen

In den letzten vier Heften u.a. von: Urs Allemann, Jürg Amann, Michael Buselmeier, Günter Brus, Lidija Dimkovska, Michael Donhauser, Erwin Einzinger, Günther Freitag, Forrest Gander, Arno Geiger, Helga Glantschnig, Ernst-Wilhelm Händler, Iris Hanika, Paul Jandl, Oleg Jurjew, Jürg Laederach, Olga Martynova, Friederike Mayröcker, Valzhyna Mort, Richard Obermayr, Gerhard Ochs, Markus Pak, Angelika Reitzer, Evelyn Schlag, Julian Schutting, Clemens Setz, Thomas Stangl, Gerhild Steinbuch, Krzysztof Siwczyk, Lucija Stupica, Urs Widmer, Andrea Winkler Preise: Österreich: € 10 Ausland: € 11,70 Jahresabonnement: Österreich: € 27 Ausland: € 32 Jährlich erscheinen vier Hefte. MANUSKRIPTE Sackstraße 17, A-8010 Graz, Tel. (0316) 82-56-08 Fax (0316) 82-56-05 E-Mail: lz@manuskripte.at www.manuskripte.at

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Ein schönes Leben ohne „Schöner Wohnen“ Wolfgang Hermann ist ein Meister der kleinen Form und gerade deswegen auch ein Verlagsnomade

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in hochgewachsener, hagerer Mann, mit großer brauner Lederjacke und blauem Regenschirm steht mit suchendem Blick vor dem Bregenzer Theatercafé. Dass dieser Mann Wolfgang Hermann ist, verrät sein erwartungsvoller Ausdruck zwischen Zurückhaltung und Neugier, der an seinen sympathischen Zeitdieb Herrn Faustini erinnert, mit dem er vor einigen Jahren in zwei Bänden Erfolge gefeiert hat. Lieber als das unpersönliche Café ist ihm ein Spaziergang um den Bodensee. „Zeitdiebe haben es locker“, meint er lächelnd. Mit seinem simplizianischen Helden, der in „Herr Faustini verreist“ (2006) das Vorarlberger Dorf verlässt, um die Weite des Meeres zu sehen, hat der 1961 in Bregenz geborene Autor aber noch manch anderes gemein. Denn auch Hermann hat es immer wieder in die große Welt hinausgezogen: „Nach dem Abschluss meines Philosophiestudiums wollte ich dringend weg aus Wien, denn mir war ganz klar, dass ich im Ausland leben musste. Eigentlich war Italien mein Ziel, aber es ist alles anders gekommen und ich bin 1987 in Berlin gelandet. Die grauen Berliner Wintermonate habe ich in Sizilien und Tunesien überbrückt. Berlin hat mich fasziniert, aber ebenso der Süden.“ Danach verschlug es den Autor nach Paris und Aix-en-Provence, bis ihm eine Stelle als Lektor in Tokio angeboten wurde. Heute lebt Hermann wieder in Bregenz, und in ihm der Drang nach einem neuerlichen Aufbruch.

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Lyrik, Prosa, Theaterstücke und Hörspiele ge-

hören zu Hermanns vielseitigem Œuvre der letzten 20 Jahre. Sein Debüt „Das schöne Leben“, knappe und präzise Momentaufnahmen des Alltags, erschien 1988 im Hanser Verlag und war ein von der Kritik gelobter Erfolg, der in Folge mit dem Jürgen-Ponto-Preis ausgezeichnet wurde. „Ich habe mit Miniaturen begonnen, mit komprimierten kleinen Büchern, mit minimalen, stillgestellten Welten – wie Schüttelgläser. Das hat mich fasziniert“, erinnert sich Hermann an seine literarischen Anfänge und geht in gelassenem Schlendergang, den er ebenfalls mit Herrn Faustini teilt, die Uferpromenade entlang. Mit seinem ambitionierten Stil stieß der Autor aber nicht nur auf Zuspruch. Schon

bald sollte sich sein Verlag von ihm abwenden: „Der Lektor, den ich bei Hanser hatte, wollte eigentlich meine Sachen nicht. Der Verleger hat mein Buch aber gemacht, doch beim zweiten Buch hat er sich nicht mehr darum gekümmert, und der Lektor hat einfach gesagt: ‚Schreib mal was OrdentliWolfgang Hermann: ches, alles was du da schreibst, ist nix!‘“ Unfreiwillig und häufig wechselt Hermann

„Wenn man nur überlegt, was ein Erfolg werden könnte, dann ist man sowieso erledigt“

Zu einem neuen Ton findet Hermann in seinem ebenfalls heuer erschienenen Roman „Mit dir ohne dich“. Erzählt wird darin die Geschichte von Richard Martens, einem ausgebrannten Bestsellerautor, der in seiner Krise auch noch von seiner Frau verlassen wird. „Er konnte die zweite Haut, die ihn mit den Dingen des Lebens in Berührung gebracht hatte, deren Vibration in ihm schöpferische Begeisterung ausgelöst hatte, nicht mehr spüren“, heißt es da. Zu allem Überfluss erhält Martens auch noch Briefe einer Unbekannten, in denen diese über ihre sexuellen Abenteuer berichtet, und die ihn in Versuchung führen, sie für seine eigenen schriftstellerischen Zwecke zu verwenden. Seine künstlerische Krise indes kann er auf diese Weise nicht überwinden. Erst ein ganz anderer Schicksalsschlag sorgt für die Relativierung des eigenen Künstleregos. „Das bin nicht ich!“, sagt Hermann über seinen Protagonisten, obwohl auch ihm, wie er eingesteht, Schreibkrisen nicht fremd sind. Mit „Mit dir ohne dich“ hat der notorische Nomade jedenfalls wieder einmal einen neuen Verlag gefunden, und hofft, bei Haymon nun endlich angekommen zu sein. Sicher ist er sich mittlerweile nicht mehr, denn „man weiß nie bei einem Verlag, wie weit sie einem ‚treu‘ bleiben“.

die Verlage und veröffentlicht, nach einigen kurzen Intermezzi bei Verlagen wie Suhrkamp und Deuticke, hauptsächlich in Kleinverlagen: „Das sind oft Sachen, die verlegerisch so uninteressant sind, Bücher, die so eine feine Struktur ohne Plot haben, die kann der Verleger praktisch nicht verkaufen und dann muss man froh sein, dass sie irgendjemand druckt, und das hat halt manchmal 20 Jahre gedauert.“ So auch bei seinen „Konstruktionen einer Stadt“, das Hermann als 27-Jähriger in seiner Berlin-Zeit schrieb, und das letztes Jahr im kleinen Hohenemser Limbus Verlag erschienen ist. Stadtbeschreibungen spielen in Hermanns Werk immer wieder eine Rolle, wovon unter anderem der Band „Paris, Berlin, New York“ (1992) zeugt. „Konstruktionen einer Stadt“ ist eine Sammlung „tastender Protokolle“, in denen dem Autor einfache Ansichten, ein Blick auf Spaziergänger etwa oder eine Frau am Fenster, als Der „große Wurf“ ist Hermann bislang noch Ausgangspunkt für tiefgründige Reflexinicht gelungen, und um sich sein Leben fionen dienen. Eine Unendlichkeit von parnanzieren zu können, nimmt er auch imzellierten Geschichten, die philosophisch mer wieder Auftragsarbeiten an. Eben unauflösbar sind, spiegeln sich in diesen hat er ein Libretto für eine Oper am ErfurMomentaufnahmen wider: „Für mich water Theater verfasst, und ein Lehrauftrag ren das Versuche, hinzuhören und die in Ohio steht auch ins Haus: „Als SchriftStadt zum Sprechen zu bringen – als Stadtsteller ist das Einkommen ein Puzzle aus wanderer, der ich damals war, in diesem Von Wolfgang verschiedensten kleinen Dingen. Man Mauer-Berlin.“ darf nicht den ‚Schöner Wohnen‘-Katalog Seine Miniaturen führten Hermann Hermann zuletzt durchblättern und sagen: ‚So will ich leschließlich auch zu längeren Formen: „Zu erschienen: ben‘, aber ich will auch freier Lyriker sein, Beginn war es schwierig für mich, die Konstruktionen das geht halt nicht.“ Sehnsucht nach dem lyrischen Ton mit ei- aus liest Verbiegen will sich Hermann dennoch ner Geschichte zu verbinden.“ Heute be- einer Stadt. nicht: „Wenn man nur überlegt, was ein Erherrscht er auch diese Kunst meisterhaft, Limbus, S. 112, folg werden könnte, dann ist man sowiewie seine beiden zuletzt erschienenen Bü- € 14,90 so erledigt. Der Betrieb verlangt aber, dass cher beweisen. In dem heuer erschienenen In Wirklichkeit man so denkt. Ich möchte einfach das schErzählband „In Wirklichkeit sagte ich sagte ich nichts. reiben, was ich schreiben will“, erklärt er. nichts“ lässt sich der Autor Zeit, um genau Edition Laurin, Noch immer geht er langsamen Schrittes hinzusehen, auf eine schnelllebige, geistig S. 128, € 15,90 Montag, Uhrden hastig Entgegenkommenden vorMit 4. dirOktober ohne dich.2010, 19an meist abwesende Gesellschaft und scheint Hauptstraße bei. 2a-2b, 01/718 93 53,der Eintritt frei Haymon, S. 152, Neben ihm leuchtet Bodensee. sich so, ähnlich seinen Figuren, selbst3., au-Landstraßer JULIA ZAR BACH ßerhalb des Lebensspiels zu positionieren. € 16,90

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Im Bergwerk der Bedeutsamkeit

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Ein Mann zwischen zwei Frauen, zwei Kontinenten und drei Sprachen. Voller Ausund Abschweifungen erzählt Federmair von der großen Suche nach Wahrhaftigkeit, Neubeginn und dem Gefühl des rastlosen Heimkehrens.

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genfurt zwar nicht den BachmannPreis, aber den für Nichteinheimische kaum ortbaren, also besonders verdienstvollen Kelag-Preis gewonnen hat. „Einladung an die Waghalsigen“ ist dennoch wie ein Siegertext gefeiert und gepriesen worden – vor allem in der Schweiz, wo (nur) das Feuilleton seit Jahren schon mit dem Zustand der neuesten Literatur des Landes hadert und jetzt also gleich einen Star ausrufen muss. Dieses überbordende Lob vor Ort ist der Beschreibung dieses Textes, der trotz seiner locker gedruckten 140 Seiten ein Roman zu sein hat, eher hinderlich. Dem Absatz wird es indes nicht schaden und das ist der begabten Autorin auch zu gönnen. Der Titel spricht eine Einladung aus, und entsprechend ist der Text auch rhetorisch instrumentiert. Aber welcher sitzende Leser möchte sich von der sitzenden Autorin nicht gern zu den Waghalsigen rechnen lassen? Sprechakte der Einladung neigen zu Hyperbel und Redundanz. Im vorliegenden Fall ist solches Sprechen freilich auch eine Form der Autosuggestion. Der Text setzt auf Jugend und Aufbruch; das Jetzt ist öde und trostlos, ein „verwüstetes Land“. Die evozierte Szenerie der Landschaft ist zwar mit allen Insignien des Postapokalyptischen versehen, aber die Bilder zeigen eher an: das bleierne, erstarrte Jetzt der Welt. Der Text unternimmt alles, um voreilige Territorialisierungen zu unterbinden; ein forciertes Name-Dropping schielt auf die ganze weite Welt. Der horizontalen Expansion korrespondieren nicht minder suggestive Andeutungen von Tiefe: Genealogisches und Archäologisches, vor allem aber extensiv zitiertes Wissen über Bergbau, Verkarstung und „Desertifikation“ suggerieren eine verlorene Tiefe der Jahre und eine entsprechend abgeräumte Oberfläche des Jetzt. Ausgerechnet die Schwestern Stein, Töchter des Polizeikommandanten dieses toten Reviers, die eine als Erzählerin, die andere als Feldforscherin, suchen die Vergangenheit und in eins die Zukunft zu buchstabieren: Kein Wunder, dass es beim postulatorischen Sprechen bleibt. Behauptet wird eine Triftigkeit, die sich gerade in ihrer bürokratischen Sprache mehr als auktoriale Verordnung denn als anarchisches Manifest offeriert: „Wir planen eine Konferenz, die zu einem ausufernden Fest werden wird.“ Apropos Ausufern: Die poststrukturale Tätigkeit der Auto-

rin lässt kaum eine Verschiebung, Anspielung, Wiederholung ungenützt – nichts wäre diesem Erstling unan­ gemessener als eine Inhaltspara­ phrase. Die Suche nach dem verschwundenen (bzw. inexistenten) Fluss mit dem suggestiven Namen Buenaventura verknüpft Feld- und Erzählforschung: also das Erzählen der Entdeckung der Vergangenheit mit dem Aufbruch in die Zukunft. Nur dass das Erzählen nicht stattfindet. Was aber stattfindet: eine Einladung. Wahrscheinlich hat die Rhetorik wider

die Versteinerung die Unterwürfigkeit der Kritik begünstigt: Welcher (naturgemäß: ältere) Literaturkritiker will sich schon einem Manifest der Jugend verweigern, das hier noch dazu so plakativ als Antwort auf Ferdinand Bruckners „Krankheit der Jugend“ aus dem Jahre 1928 angedeutet wird? Mit dem Namen des Flusses Buenaventura, der natürlich auch den berühmten Erzählfluss meint, ist das Versprechen eines Abenteuerromans verbunden. Den gibt es nicht, wohl aber dessen Bestandteile: Es wird aber Zeit, dass wieder einmal einer erzählt wird; hier wird immerhin dazu eingeladen. Zu den Ärgernissen des Textes gehört die vom Flussnamen gesteuerte Assoziation des spanischen Anarchisten Buenaventura Durruti, ein Verfahren, das etwas von der Substanzlosigkeit des in diesem „Roman“ umworbenen Anarchismus verrät. Ähnlich papieren sind die Spielereien mit Butch Cassidy oder Rosa Luxemburg. Wie wieder üblich, schließt das Buch mit

dem Hinweis auf (teilweise fiktive) Quellen und also mit der Einladung zum Dechiffrieren. Die schönste Einladung, die dieser Text ausspricht, ist jedoch die zur Lektüre von Joseph Conrads Erzählung „Youth“, in der übrigens die unterschwellig glosenden Kohlen schon vorkommen: als die sich selbstentzündende Schiffsladung in der 1898 erschienenen Erzählung eines der zur Zeit meistgeplünderten Klassikers der Moderne, der hier erstmals seinen fiktiven Erzähler Marlow aus „Das Herz der Finsternis“ auftreten lässt. K AR L WAGNER

Dorothee Elmiger: Einladung an die Waghalsigen. Dumont, 140 S., € 17,50

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„Jung? Was soll das heißen?!“ Mit ganz altmodischen Anliegen hat es Sofi Oksanen zum Shooting Star der finnischen Literatur geschafft

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iese Frau ist ein Punk. Oder ein Goth? Ältere Menschen erinnert ihr Outfit an Nina Hagen in ihren besten Jahren, jüngere denken wahrscheinlich eher an Lady Gaga. Den tiefdunklen Lippenstift jedenfalls verwendet sie in ähnlich dicken Schichten, und hinten am Kopf sind etwa ein Kilo Rastalocken befestigt, mit knallbunten Strähnen drin. Sie raucht und hustet abwechselnd, in störrischer Konsequenz.

Tatsächlich aber ist Sofi Oksanen ganz anders.

foto: Toni Härkönen

Das ahnt man, wenn man in ihren jüngsten, rasanten Roman hineinliest, der einen sofort davonträgt. In Skandinavien hat „Fegefeuer“ sämtliche Literaturpreise abgeräumt und wurde zum Bestseller. Eben ins Deutsche übersetzt ist das Buch auch hierzulande mit Lob bedacht worden (Rezension in Falter 37), in New York kommt demnächst eine Theaterversion auf die Bühne. Ein durchschlagender Erfolg auf der ganzen Linie – a star is born. Aber wie geht sich das aus, bei einer derart sperrigen Person? Noch dazu, wo diese sperrige Person derart sperrige Anliegen hat? Oksanen nämlich geht es um so unsexy Anliegen wie zeitgeschichtliche Wahrheit, Menschenrechte, Feminismus oder um Identität – alles Begriffe, die sie vollkommen ironiefrei ausspricht. Sie hat über Stalin geschrieben, über die sowjetische Okkupation Estlands, über Frauenhandel und Zwangsprostitution. Sie entwirft historische Panoramen; sie springt mit souveräner Detailkenntnis durch drei Jahrhunderte, als sei sie in jedem einzelnen dabeigewesen. Und ist doch gerade einmal 33 Jahre alt. Sofi Oksanen sitzt auf der Bühne des Wiener Rabenhof, zieht misstrauisch eine expressiv schwarzgemalte Augenbraue hoch, und wehrt sich gegen den Vorwurf, „noch verdammt jung“ zu sein. „Jung? Was soll das heißen?!“, schnauzt sie zurück, wo-

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bei nicht der leiseste Hauch von Koketterie zu spüren ist. „Mittelalt bin ich. Alt genug jedenfalls.“ Spätestens jetzt weiß man: Diese Frau will gar nicht spielen. Es ist ihr ernst. Sofi Oksanen interessiert sich für Macht. Sie will wissen, wie sich Herrschaftsverhältnisse auf die privaten Beziehungen auswirken; was sie mit Liebe, Neid und Gewalt zu tun haben. Sie schaut ganz genau hin, um zu verstehen, was in Zeiten politischer Umbrüche passiert: wie Opfer zu Tätern werden und umgekehrt. An welchen Gesten man ablesen kann, wer gewinnen und wer verlieren wird. „Es gibt eine Sorte Menschen, die immer oben landen“, sagt sie. „Das sind die Opportunisten.“ Historisch betrachtet waren sie meistens Männer und trugen schwarze Stiefel. Heute fahren sie schwarze Autos. Um zu recherchieren, verbringt Oksanen viele Wochen in staubigen Archiven. Etwa, um die Spitzelakten des sowjetischen Inlandsgeheimdienstes NKWD zu durchforsten. „Erst als ich mich auf die Sprache in diesen Akten eingelassen habe, auf den Tonfall, in dem Menschen zu Dingen gemacht werden, habe ich verstehen können, wie das System funktioniert.“

gabe ganze Stapel von Frauenzeitschriften aus vorsowjetischer Zeit.

Sofi Oksanen: „Wir müssen wissen, was passiert ist, bevor wir halbwegs normal miteinander leben können“

Ähnlich gewissenhaft geht sie vor, um sich

vom Alltagsleben an fremden Orten, zu fremden Zeiten ein Bild zu machen – vom alten Estland zum Beispiel. Sie selbst hat noch vage Kindheitserinnerungen an diese Welt. Ihre Großeltern mütterlicherseits wohnten in einem kleinen Dorf im Westen Estlands, militärisches Sperrgebiet, das Ausländern nicht zugänglich war. Die Geräusche und Gerüche aus den Ferien kann sie noch abrufen – das Marmeladenkochen mit der Oma etwa. Mit Sicherheit kann Oksanen sagen, dass es im Kommunismus wesentlich mehr Fleischfliegen gab als in den Zeiten der estnischen Unabhängigkeit. Für alle anderen Details – übers Melken, Gurkeneinlegen, Deckchensticken – studierte sie mit Hin-

Sofi Oksanen: Fegefeuer. Kiepenheuer & Witsch, 395 S., € 20,60

„Die Aufgabe von Schriftstellern besteht darin, neue Dinge herauszufinden und der Welt davon zu erzählen“, sagt Oksanen. Das klingt altmodisch. Man kann auch Aufklärung dazu sagen. Sie selbst verwendet lieber das Wort „Gerechtigkeit“. „Wir müssen genau wissen, was passiert ist, bevor wir halbwegs normal miteinander leben können“, meint sie. Was den Kommunismus anbelangt, ist sie davon überzeugt, dass große Teile seiner wahren Geschichte noch nicht rekonstruiert sind – insbesondere jene aus der Perspektive von Frauen. Und: „Irgendwer muss diese Teile ja erzählen.“ Das ist im neuen Russland, das gern an autoritäre Traditionen des alten Russland anschließt, naturgemäß nicht allen recht. Und damit, dass sich Oksanen konsequent und selbstverständlich als „Feministin“ bezeichnet, macht sie sich sogar im aufgeklärten, fortschrittlichen Finnland Feinde. Ja, sie habe schon gehört, dass sie in Onlineforen beschimpft werde. Oksanen zuckt nur mit den Achseln: „Daran muss man sich gewöhnen, wenn man öffentlich auftritt. Und daran, dass Frauen wie ich öffentlich auftreten, müssen sich eben die alten Männer gewöhnen.“ In solchen Momenten beneidet man Sofi Oksanen um die Coolness, mit der sie alles an sich abrinnen lässt. Man beobachtet, um wie viel leichter das fällt, wenn man sich vorher verkleidet hat. Und wird blitzartig von einer Ahnung gestreift: Vielleicht ist Sofi Oksanen gar kein Punk – oder was auch immer. Vielleicht sitzt hier einfach eine ernsthafte, gebildete, belesene Frau, die sich ihr schrilles Outfit nicht zugelegt hat, um gesehen zu werden, sondern um von sich abzulenken. Damit sie dahinter ihre Ruhe hat. Und Zeit für Wichtigeres. S ib y ll e H ama n n

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Jedem sein eigener Darkroom Haruki Murakami gelingt mit „1Q84“ ein zauberhafter Balanceakt zwischen Traum und Wirklichkeit

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aruki Murakamis Bücher haben schlank angefangen, als feine, schmale Erzählbände und Novellen. Im Lauf der Jahre sind sie – vielleicht auch mit zunehmendem Selbstbewusstsein, Erfolg ihres Erfinders – immer dicker geworden. Inzwischen kann man sie ohne Übertreibung adipös nennen. Einen neuen Fettleibigkeitshöhepunkt erreicht nun Murakamis neuer Roman „1Q84“ mit 1023 Seiten. An dieses ziegelschwere Format hat sich der japanische Autor, Jahrgang 1949, langsam angeschlichen – über „Tanz mit dem Schafsmann“ (461 Seiten) und „Kafka am Strand“, das bereits beträchtliche 637 Seiten auf die Waage brachte. In einem Interview vor ein paar Jahren hat Murakami bekannt, dicke Bücher zu mögen. Für ihn seien sie, in der Nachfolge der großen russischen Erzähler des 19. Jahrhunderts, die „totalen Romane“. Nun hat er die magische 1000-Seiten-Grenze kühn überschritten. Wie man dieses „1Q84“ auszusprechen hat, erschließt sich allerdings auch nach über 1000 Seiten nicht. „Hast du Eins-ku-vierundachtzig schon gelesen?“ „Wie hat dir Eins-ku-acht-vier gefallen?“ Also nein, das geht wirklich nicht und wird auch nicht besser dadurch, dass es etwas mit George Orwells „1984“ zu tun hat und im Jahr 1984 spielt, in einer Nebenrealität zu diesem Jahr, um genau zu sein, in die Murakamis Helden nach und nach hineinwachsen.

Diese Parallel- und Unterwelten gehören mitt-

lerweile zum fixen Bestandteil von Murakami-Romanen. Über das 16. Stockwerk eines Hotels oder einen Notausgang der Stadtautobahn betreten die Figuren Sphären, in denen andere Gesetze gelten als im gewohnten Leben. Dabei geht es weniger um die Erfindung ganzer Science-FictionWelten, sondern um die Konfrontation mit dem eigenen Inneren: Als stiegen sie hinab in den Keller ihrer selbst, dorthin, wo ihre Leichen liegen, ihre geheimen Wünsche und verschütteten Erinnerungen. „Jeder hat seinen persönlichen Darkroom“, weiß Murakami, dessen Parallelwelten aus dem gleichen Material gemacht sind wie die Träume, in denen man sich im Schlaf bewegt: befremdend, zauberhaft, mitunter beunruhigend, aber in sich

immer schlüssig, solange man sich innerhalb ihres Systems aufhält – also nicht aufwacht. Man könnte sagen, Murakami lesen ist wie in wachem Zustand träumen. Im Kontrast zu diesem fremdartigen atmosphärischen Licht steht die Erzählkulisse des modernen Großstadt-Japan. Für Europäer noch immer fern genug, verliert Japan bei Murakami endlich seinen Exotismus. Es rückt näher, wird vertrauter und alltäglicher. Auch das ist eines seiner Verdienste. Auch in „1Q84“ gibt es wieder einmal zwei große Erzählstränge, die wie ein immer schmaler werdender Zopf miteinander verflochten werden. Eine junge Frau namens Aomame ist die Heldin des einen. Sie ist Fitnesstrainerin und Profikillerin im Dienst einer guten Sache: Im Auftrag einer alten, reichen Frau schafft sie gewalttätige Ehemänner und Vergewaltiger aus der Welt. Es ist allerdings auch ein Beruf, der übertriebene Geselligkeit vereitelt: Aomames Kontakt zur Außenwelt beschränkt sich auf gelegentlichen schnellen Sex mit in Bars aufgerissenen Geschäfts­ männern.

Für die Europäer noch immer fern genug, verliert Japan bei Murakami endlich seinen Exotismus, wird vertrauter und alltäglicher

Aomame und Tengo sind Einzelgänger, leben

Im zweiten Erzählstrang spielt der Mathema-

tiklehrer und Amateurschriftsteller Tengo die Hauptrolle. Im Auftrag einer Literaturzeitschrift schreibt er den Roman eines geheimnisvollen 17-jährigen Mädchens um, der daraufhin zum Bestseller avanciert und die Ereignisse in Schwung bringt. „Puppe aus Luft“ heißt der Roman im Roman. Darin taucht das seltsame Volk der „Little People“ auf, die nachts aus dem Maul einer toten Ziege kriechen und aus Luftfäden einen Kokon – oder eben eine Puppe – spinnen und allerlei Unheil anrichten. Als Kinder sind sich Aomame und Tengo schon begegnet, als Erwachsene sehnen sie sich nach einander und kommen sich über Ahnungen, Zufälle und aus allmählich enthüllten Gründen auch immer näher. Dass sie in eine Parallelwelt übergetreten sind, wird ihnen erst nach und nach bewusst. Als erster Hinweis darauf zeigen sich ihnen mit einem Mal zwei Monde am nächtlichen Himmel. Auch in dem Roman „Puppe aus Luft“ gibt es dieses Doppelgestirn. Darüber wird klar, dass die darin beschriebene Welt keine fiktive ist und sie darin bestimmte Rollen zu spielen haben.

Günther Zäuner liest aus

„El Austríaco“ Donnerstag, 21. Oktober 2010, 19 Uhr 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei

In vielerlei Hinsicht ist „1Q84“ ein klassischer Murakami-Roman, gemacht aus genau jenen Zutaten, die auch seine bisherigen Romane auszeichnen. Murakami kreiert surreale Bilder mit dem Zweck, das riesige Möglichkeitsspektrum der Wirklichkeit fassbar zu machen. Denn zumeist geht es um die Bewältigung moderner ­Lebenskrisen, am Ende steht man vor einem klassischen Entwicklungsroman, den man nicht gleich als solchen erkannt hat, weil er in ein fantastisches Gewand gehüllt ist.

Haruki Murakami: 1Q84. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont, 1022 S., € 32,90

ein nicht verzweifeltes, aber doch einsames und seltsam abgeschottetes und außenseiterartiges Leben, sodass sie die ­Seltsamkeiten, die ihnen begegnen, erstaunlich gelassen hinnehmen. Dass sektenhaft organisierte Religionsgemeinschaften eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen, darf einen nicht weiter wundern: Das ist ein Gebiet, auf dem Murakami sich auskennt. Er hat ein Buch über den SarinAnschlag der Aum-Sekte auf die Tokyoter U-Bahn im Jahr 1995 geschrieben und dafür Dutzende Interviews mit Überlebenden des Attentats, aber auch mit Mitgliedern der Sekte geführt. Die Dynamik von Sekten gibt auch „1Q84“ seinen Schwung. Sie schafft einsame Kindheiten, abgeschottete Räume und Platz für wilde Gerüchte. Wunderlich und wundersam in einem ist auch das Personal der Nebenrollen: Da ist ein der Vergewaltigung kleiner Mädchen verdächtiger Sektenführer, der anderer Leute Gedanken lesen kann. Da ist die 17-jährige Jungautorin Fukaeri, die betörend schön und nicht von dieser Welt ist, ohne jede Intonation spricht und niemals überflüssige Fragen beantwortet. Da ist ein Bodyguard namens Tamaru, der über ungeheure körperliche Kräfte verfügt und zu Aomames Beschützer wird, da gibt es eine junge Polizistin mit Sinn für Sexabenteuer, in denen Handschellen eine fatale Rolle spielen oder Tengos jazzaffine ältere Geliebte.

Wie so oft bei Murakami ist Sex ein wichtiger

Schlüssel zu jenen verborgenen Innenräumen, an deren Beschreibung er interessiert ist (es war übrigens ein Streit zwischen Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler über das Thema Sex in Murakamis Roman „Gefährliche Geliebte“, der einst das Literarische Quartett implodieren ließ), und auch in „1Q84“ geht es irgendwie dauernd um Sex. Das Angenehme daran ist, dass Sex bei Murakami kein verschwitzt, verschämt und metaphernreich umzingeltes Gebiet ist, sondern ein selbstverständlicher Zeitvertreib, der in dem Maß frei von Schuld und Verlegenheit ist, in dem er wesentliche Einsichten gewährt. Gerade auf diesem Gebiet agiert Murakami mit allergrößter Leichtigkeit und hält auch in „1Q84“ seine Geschichte zielsicher und elegant in einer magischen Balance, die irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Wachheit und Schlaf angesiedelt ist. Dass der Roman über 1000 Seiten hat, fällt da gar nicht weiter auf. JULIA KOSPACH

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illustr ation: andreas dürer

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Klassenfahrt ins Herz des Finanzkapitals Der „Krise“ sei dank: William Gaddis’ tausendseitiger Dialogroman „JR“ wurde neu aufgelegt

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n allen Kunstsparten drängen die Künstler sich ins Bild, oder sie werden mehr oder weniger widerstrebend ins Bild gedrängt; kaum lugt noch irgendwo ein Zipfel des eigentlichen Werkes hervor. Das mag mit dem steigenden Bedürfnis nach Orientierung zu tun haben und dem Bedürfnis nach Unterhaltung. Wer könnte das besser wissen als ein Autor, der sich als Produkt der amerikanischen (Medien-)Gesellschaft versteht und der zugleich über einen analytischen Blick und über einen verzweifelt-sarkastischen Witz verfügt, die ihresgleichen suchen. „Den schöpferischen Künstler zum Künstler-Darsteller degradieren, das ist der Albtraum“, sagte William Gaddis in einem 1995 geführten Gespräch mit seinem deutschen Übersetzer Klaus Modick (wiederabgedruckt in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Volltext).

Gaddis, der 1922 in New York geboren wurde und 1998 in New York starb, hat mit seinen alle Grenzen sprengenden Romanen die moderne westliche Gesellschaft seziert wie kaum ein anderer Autor vor oder nach ihm: Schon sein erster Roman, „Die Fälschung der Welt“ („The Recognitions“, 1955), bringt es auf fast tausend Seiten; der Wille zum Kunst-Werk ist unübersehbar. Es geht um Kunstfälschungen und die Wahrheit der Kunst, um Erlösung und Erkenntnis. Nach dem mit völligem Unverständnis aufgenommenen ersten Roman veröffentlichte Gaddis erst 20 Jahre später ein zweites, wieder ultimatives Buch: den Roman „JR“, der die bizarren Auswüchse einer völlig entgleisten Finanzwelt beschreibt, weshalb wohl das Buch nun in einer überarbeiteten Übersetzung neu herausgebracht wurde, was ein Glücksfall ist. Der elfjährige JR bringt das Finanzsystem mit seinen völlig irrsinnigen und deswegen eine Zeitlang ungemein erfolgreichen Finanztransaktionen an den Rand des Kollapses. Am Schluss, nach tausend Seiten, bricht sein nur auf dem Papier bestehendes Imperium in sich zusammen. Dass Finanzwerten irgendwelche realen Werte gegenüberstehen sollten, dieser Gedanke ist JR fremd, und wie auch anders: Eine Klassenfahrt ins Herz des Finanzkapitals, die Wall Street, und das genaue Studium von Investmentbroschüren lehren ihn ein Verhalten, das ausschließlich mit virtuellen Optionen, Schuldverschreibungen, Obligationen und so weiter operiert. JR macht aus Schrott Gold. Er kauft abgewer-

tete Anleihen von Firmen auf, die er nie gesehen hat. Nachdem diese Firmen Bankrott gemacht haben, sind die Papiere wertlos, JR ist plötzlich Mehrheitseigentümer.

Durch Abschreibungen und diverse Finanztricks saniert er die Firmen, belastet sie sofort mit Krediten, um weitere Bankrottfirmen zu kaufen. Dass sein jugendliches Alter dabei kein Problem darstellt, erklärt JR folgendermaßen (der bundesdeutsche Slang der sehr guten Übersetzung mag für österreichische Ohren befremdlich klingen): „aber ich meine, bei diesem Obligations- und Aktienzeugs, da siehste keinen, da kennste keinen, außer per Post oder Telefon, und alles, weil man das eben so macht, du brauchst nie jemandem zu begegnen, da kannste noch so komisch aussehen und irgendwo auf’m Klo wohnen, das wissen die doch gar nicht (…) Denen ist es doch scheißegal, wem die gehören, die kaufen und verkaufen die Sachen bloß für irgend’ne Stimme am Telefon, warum sollte denen das nicht scheißegal sein, ob man hundertfünfzig Jahre alt ist?“ Die Spielregeln, das weiß JR, gelten nur für die, die auf Sieg spielen. Gaddis hat als Subtext seines Romans die Geschichte von Alberich, dem Zwerg aus Richard Wagners „Rheingold“, verpackt, in der das Gold zum Selbstzweck in einem Spiel um Macht und Reichtum wird. Mit resignativer Gnadenlosigkeit quittiert Gaddis die völlige Absenz von sozialer Verantwortung und das Scheitern alternativer Lebensentwürfe, vor allem von Künstlern.

Orte auf der Welt. Überall Müll. Unglaublich“, meint Gaddis in dem bereits erwähnten Gespräch. Der Komponist Bast in „JR“ wohnte wie Gaddis selbst in einer windschiefen Scheune, einem Refugium am bedrohten Rand der Villengebiete und Erschließungseldorados – bis auch sein Haus abgerissen wird, eine eindrückliche Metapher für Basts Abgewracktheit als Komponist, der, anstatt sein Werk zu schaffen, nur noch Auftragsjobs erledigt. Bei Gaddis bringt der elfjährige Titelheld das Finanzsystem mit seinen völlig irrsinnen Transaktionen an den Rand des Zusammenbruchs

So auch in seiner hinreißenden Satire auf das

amerikanische Rechtssystem, dem Roman „Letzte Instanz“ („A Frolic of His Own“, 1994). Gleich mehrere Prozesse werden in diesem Buch geführt, das seinen Ausgangspunkt in einem Missgeschick der Hauptfigur nimmt: Oscar Crease schafft es, beim Versuch, sein Auto zu reparieren, von diesem überfahren zu werden; es entwickelt sich ein unendlicher Streit um Haftungsfragen. Ein anderer Prozess konfrontiert die Freiheit der Kunst mit dem Recht von Tieren. Ein kleiner Hund hat sich in einer künstlerischen Installation im öffentlichen Raum verfangen, nur um den Preis der Zerstörung des Kunstwerks kann er wieder daraus befreit werden. Es gibt fast nichts, was William Gaddis nicht schon vorweggenommen hätte – seine Romane altern nicht. Das trifft auch auf seinen 1985 erschienenen Roman „Carpenter’s Gothic“ („Die Erlöser“) zu, in dem religiöse Wahnvorstellungen von einem skrupellosen Fernsehprediger schamlos ausgenützt werden. Dazu kommt autobiografisch motivierte Kritik am naturzerstörerischen Fortschrittsdenken: Die Familie von Gaddis besaß in dem kleinen Ort Massapequa auf Long Island ein Haus. Heute steht an der Stelle eine Bank. „Die Stadt ist jetzt einer der hässlichsten

William Gaddis: JR. Aus dem amerikanischen Englisch von Marcus Ingendaay und Klaus Modick. Deutsche VerlagsAnstalt, 1039 S., € 30,90

Mit seinem letzten Buch schließt sich der Kreis von Gaddis’ Werk: „Agape, Agape“ („Das mechanische Klavier“), 2002 posthum erschienen, geißelt die Verheißung, auf mechanischen Klavieren ohne jegliche musikalische Vorkenntnisse und ohne große Anstrengungen besser spielen zu können als professionelle Pianisten. Das Buch entwickelt einen wüsten, kulturpessimistischen, gleichwohl von höchstem Formwillen getragenen Monolog eines im Sterben liegenden Erzählers, unverkennbar William Gaddis selbst. Wie seine Vorgänger attackiert es die amerikanische Ideologie des „Alles mehr und alles besser“, die stets begleitet wird von der Angst vor dem eigenen Ungenügen. In der Gaddisformel „The Self that could do more“ steckt die Überzeugung, dass unsere Potenziale brachliegen, wir mehr könnten, als wir tatsächlich hervorbringen. Aber auch im Roman „JR“ wird das bessere Selbst der Figuren korrumpiert durch Medien, Ersatzreligionen und Geld. Es geht um Bildung: „JR“ enthält die Satire auf ein Bildungssystem, in dem der persönliche Unterricht an Lehrfilme zweifelhaften Inhalts im schuleigenen TV-Kanal delegiert wird. Was dabei herauskommen kann, ist die unschuldige Skrupellosigkeit eines elfjährigen Brokers. An die Leser gelangt all dies in Form von Dialogen, die sich der Echtzeit annähern und bei denen oft unklar ist, wer spricht. Die Erzählerfunktion ist auf ein Mindestmaß reduziert, es gibt keine letzte Instanz, die uns das Geschehen kommentierend erklärt. Auch deshalb gilt Gaddis als der eigentliche Erfinder der literarischen Postmoderne. Der Roman „JR“ fordert konzentrierte Lektüre-Aufmerksamkeit. Sobald man die Gewässer kennt, nimmt das Buch aber plötzlich Fahrt auf. Die Figuren werden zunehmend plastischer, der Witz, der im Detail steckt, ist unerschöpflich. „JR“ ist kein Buch für ermattete Feierabendleser und -leserinnen, ohne Wachheit geht es nicht. Im Gegensatz zu vielen anderen Dingen ist dieses Buch über das Geld sein Geld mehr als wert. BERNHAR D FE T Z

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Wie die Beatles Sharon Tate ermordeten „Das Scherbengericht“ von A.F.Th. van der Heijden ist der dickste und irrste Roman dieses Herbstes

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as wird noch ein hartes Stück Arbeit, so wie’s aussieht. Nachdem die vor drei Jahren erschienenen „Movo-Tapes“ mit ihren 762 Seiten spaßigerweise als „Band 0“ deklariert worden waren, ist nun mit „Das Scherbengericht“ der nächste Teil des auf insgesamt acht Bände angelegten Romanzyklus „Homo duplex“ erschienen. Umfang: 1167 Seiten. Das ist selbst für Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden, den Marathonmann der niederländischen Literatur, unüblich umfangreich und damit vorerst dessen Opus maximum – vorausgesetzt, man rechnet „Der Gerichtshof der Barmherzigkeit“ und „Unterm Pflaster der Sumpf“, die als Teil 3.1 und 3.2 des 1996 abgeschlossenen und insgesamt rund 3500 Seiten umfassenden Zyklus „Die zahnlose Zeit“ erschienen sind, tatsächlich als zwei Romane.

A.F.Th. van der Heijden will keine Wahrheit aufdecken, sondern die Welt neu erschaffen. Da ist ein Rätsel? Mach ein neues draus!

„Ich hatte einen guten Einfall für Band drei,

dann wusste ich plötzlich, wie alles enden sollte, habe also sofort an Band sieben geschrieben, bin dann wieder zu Band zwei zurückgegangen ... Das hat eine starke Struktur geschaffen, die nicht als Plan an der Wand hängt, aber sehr fest in meinem Kopf sitzt.“ So beschrieb van der Heijden in einem Falter -Interview seine Arbeitsweise an seinem neuen Zyklus. Als oberste aleatorische Autorität behält sich der Autor die Entscheidung über die Abfolge allerdings bis zuletzt vor: Mit Ausnahme von Band 0 werde er die einzelnen Romane „erst nach Abschluss und Erscheinen des vollständigen Zyklus in eine zwingende Reihenfolge stellen“, teilt er in einer „Nachbemerkung“ zum „Scherbengericht“ mit. Der ideale Leser, der an das stupende Erinnerungsvermögen des Autors heranreicht, wird dann die einzelnen Bände in der imaginären Bibliothek seines Oberstübchens neu ordnen und allerlei neue Bezüge und Verbindungslinien entdecken. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Leser tatsächlich existiert, tendiert allerdings gegen null. Der ambitionierte Leser wird sich den Zyklus also wohl noch einmal in der dann feststehenden Reihenfolge vornehmen müssen. Schon nach zwei Bänden ist es schwierig genug, aus den losen Handlungsfäden erste Beziehungsgeflechte zu knüpfen. Schon klar, der Ödipus-Mythos liefert die Folie für „Homo duplex“, aber was hat der noch mal genau mit den berüchtigten bestialischen Morden zu tun, die Mitglieder der Manson Family am 8. August 1969 in Bel Air an der Schauspielerin Sharon Tate und deren Freunden vollstreckten? Wir erinnern uns noch dunkel, dass der in den „Movo-Tapes“ aufgebaute Spannungsbogen auf eine willentlich herbeigeführte megamäßige Klopperei zwischen Rotterdamern und Amsterdamern Hooligans (Feyenoord versus Ajax, naturgemäß) hinausgelaufen war, im Zuge derer sich möglicherweise das bekannte Orakel vom ödipalem Vatermord erfüllen wird; denn Tibbolt Satink (*4.11.1973) und dessen mutmaßlicher Vater Tonnis Mombarg (*13.10.1955) stehen im jeweils anderen Lager. Es käme allerdings einer veritablen narrativen Ejaculatio praecox gleich – Tibbolts Existenz verdankt sich übri-

gens allem Anschein nach einem vermasselten Cumshot während eines Lederhosenpornodrehs –, wollte der Erzähler just mit der Lösung dieses Rätsels vorschnell herausrücken. „Das Scherbengericht“ umfasst sieben, Tag für Tag und Kapitel für Kapitel heruntergezählte Wochen in den Jahren 1977/78 und spielt zu großen Teilen im Hochsicherheitstrakt einer kalifornischen Strafanstalt, in dem zwei auffallend kleinwüchsige Insassen als Reinigungsteam einen bizarren Paarlauf veranstalten, der durch den Umstand, dass der eine von ihnen hauptsächlich aus Verbandsmull besteht, noch gleich um einen Grad grotesker wird. Das Ungeheuerlichste an dem Paar aber ist,

dass sich hinter den Namen Remo Woodehouse und Scott Maddox niemand anderer verbirgt als Roman Polanski und Charles Manson. Beide soll die Deckidentität vor gewaltsamen Übergriffen ihrer Mithäftlinge schützen, mit denen sie im Falle ihrer Entlarvung wohl zu rechnen hätten: der berühmte Regisseur, weil er wegen der Verführung einer Minderjährigen einsitzt, und Manson sowieso, wie das Brandattentat mit Nitroverdünnung beweist, das tatsächlich auf ihn verübt wurde, bloß dass es van der Heijden um einige Jahre früher ansetzt, wie er überhaupt zahlreiche Versatzstücke aus Mansons Biografie verwendet, um diese seiner mytho-manischen Übeschreibung historischer Tatsachen zu unterwerfen. Was an diesem größenwahnsinnigen schriftstellerischen Unterfangen fasziniert, ist das gleiche, was einen mitunter auch verzagen und in Robert Gernhardts bekannten Ausruf ausbrechen lässt: „Mein Gott ist das beziehungsreich, ich glaub, ich übergeb mich gleich.“ A.F.Th., als welcher er seit dem Beginn des neuen Großprojekts am Cover firmiert (was in den Niederlanden erstaunlicherweise ausreichte, um Empörung über die „Eitelkeit“ des Autors zu erregen), will keine historische Wahrheit aufdecken, sondern die Welt neu erschaffen. Da ist eine Metapher? Setz eine weitere drauf! Da ist ein Rätsel? Mach ein neues draus! Kaum zupft der Leser am Zipfel eines Zusammenhangs, schon schürzt er einen frischen Knoten undurchschaubarer Verstrickungen.

Apollo/QX-Q-8 aka Spiros vulgo „der Grieche“

ist auch derjenige, der die hochmaniriert und wortreich inszenierte Begegnung zwischen Maddox/Manson und Woodhouse/ Polanski eingefädelt hat, nachdem er dem verbürgtermaßen von den Beatles besessenen Manson durch einen „Eggman“ genannten Straßenhändler im Hippiestadtteil Haight-Ashbury das Unikat einer Bootlegsingle des unveröffentlichten BeatlesSongs „Hurly Burly“ zugespielt hatte, der auf John Lennons Verarbeitung der Hexengesänge aus Shakespeares „Macbeth“ beruht, die ihrerseits von Apollo in die Wege geleitet wurden, um – ja was eigentlich in die Wege zu leiten? Fest steht jedenfalls, dass Mansons grausam krauses „Hurly Burly“-Manöver (das in der Realität unter dem Namen „Helter Skelter“ bekannt wurde) nicht ganz im Sinne des orakelfreudigen Gottes verlaufen ist. Alles klar?! Nun ja, zumindest so viel: Mit „Das Scherbengericht“ hat van der Heijden seinen bislang pynchoneskesten Roman geschrieben; wobei ihm im Unterschied zu seinem US-amerikanischen Kollegen (siehe Seite 7) Hippienostalgie einigermaßen fremd sein dürfte. Und noch eines kann als gesichert gelten: Wer dranbleiben will an „Homo duplex“, hat noch ein hartes Stück Arbeit vor sich. K L AUS NÜCHTERN

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Da, auf Seite 511 ff. fällt ein neues Licht auf die Identität des Ich-Erzählers, des Gefängniswärters Spiros Agraphiotis, von den Insassen stets nur „der Grieche“ genannt. Haha, guter Witz! Jetzt, wo wir erfahren, dass er die Nutzung seines Namens „für exakt hundert Jahre exklusiv“ an die NASA abgetreten hat, erinnern wir uns daran, dass dieses peinliche Missgeschick niemand Geringerem widerfahren ist als dem obersten Chefbeleuchter des klassischen Altertums, Gott Apollo himself, dem wir in den „Movo-Tapes“ unter dem Namen QX-Q-8 (die Typenbezeichnung einer Überwachungskamera) als Beleuchter beim Pornofilm begegnen durften, und über den hier auch The Dutch Connection läuft: Den Briefen an einen gewissen Olle Tornij in Amsterdam entnehmen wir, dass er der Vormund des mittlerweile vierjährigen Tibbolt (= Ödipus) ist.

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Vertuschen, v Die Literatur Argentiniens, das heuer Gastland bei der Frankfurter Buchmesse ist, kreist zum überwiegenden Teil um die Traumata der jüngeren Geschichte

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rgentinien ist eine Bruchzone zwischen Europa und Lateinamerika“, bemerkt Jorge Luis Borges. „Europäisch sind die Traditionen und das Lebensgefühl, lateinamerikanisch ist die Politik.“ Die Stichworte zur lateinamerikanischen Politik lauten seit jeher: Revolution, Staatsstreich, Junta, Caudillo, Diktatur. Allenfalls sind die autokratischen Regimes der Putschgeneräle und Militärdiktatoren zwischendurch von demokratischen Intermezzi durchsprenkelt – und immer dann kommen in Lateinamerika die europäischen Traditionen von Vergangenheits- und Erinnerungspolitik zu ihrem Recht, immer dann ist „Memoria“-Literatur angesagt.

Und nirgends ist diese eindringlicher und nachdrücklicher als in Argentinien. Die meisten aktuellen Romane aus dem diesjährigen Gastland der Frankfurter Buchmesse sind Erinnerungsliteratur. Thematisiert werden die nationalen Traumata der jüngeren argentinischen Geschichte: die sieben Terrorjahre nach dem Militärputsch von 1976 mit ihren willkürlichen Verhaftungen, geheimen Foltergefängnissen und Zehntausenden von „Verschwundenen“ bis hin zur Niederlage der Junta im Falklandkrieg gegen England, die 1983 zum Sturz der Militärs und zur Wiedererrichtung der Demokratie führte. Seither wollen die einen die geschehenen Verbrechen vertuschen und verschweigen, während die anderen sie offengelegt und gesühnt sehen wollen. Wie die argentinische Tageszeitung Clarín neulich feststellte: „Die Militärdiktatur ist unsere Shoah.“ Der Staatsterrorismus, der die systematische Ausrottung der politischen Linken im Lande zum Ziel hatte, ist das Hauptthema der Vergangenheitspolitik im postautoritären Argentinien. Davon zeugt auch die umfangreiche „Memoria“-Literatur, ein gewaltiger Erinnerungsspeicher, der den Frankfurter Auftritt des Gastlandes Argentinien beherrscht und prägt. Dabei könnten die Sichtweisen und die literarischen Darstellungsformen gar nicht unterschiedlicher, die Gestaltungsweisen des Themas gar nicht vielfältiger sein – aus der Sicht der Opfer, aus der Sicht der Täter, aus der Sicht der Nachgeborenen; realistisch, dokumentarisch, allegorisch; als Thesenroman, als Politparabel, als autobiografische Erinnerung. Die neuen Romane von Laura Alcoba und Martín Kohan sind gute Beispiele für ganz unterschiedliche literarische Annäherungen an das Thema. Laura Alcoba wurde 1968 in La Plata in Argentinien geboren

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illustr ation: andreas dürer

Die Shoah Argentiniens

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n, verschweigen und heimlich rauchen und folgte als Zehnjährige ihrer Mutter ins Exil nach Paris, wo sie heute als Universitätsdozentin lebt. In ihrem Debütroman „Das Kaninchenhaus“ erzählt sie eine autobiografische Kindheitserinnerung aus der Zeit des Militärputsches und der Verfolgung von Oppositionellen. Martín Kohan, Jahrgang 1967 und somit ein Altersgenosse Alcobas, lebt als Schriftsteller und Literaturdozent in Buenes Aires und wählt in seinem Roman „Sittenlehre“ sehr subtile, indirekte Stilmittel, um von den Überlebensstrategien kleiner Mitläufer des Terrorregimes zu erzählen.

Von Todesschwadronen verfolgt Laura Alcoba war acht Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter in den Untergrund ging. Ihre Eltern, die der revolutionären Stadtguerilla der Montoneros angehörten, wurden von den staatlichen Todesschwadronen verfolgt, ihr Vater wurde verhaftet. Laura zog mit ihrer Mutter und einigen von deren Gesinnungsgenossen, darunter die schwangere Diana, in ein Versteck am Stadtrand von La Plata. Getarnt war das „Kaninchenhaus“ als Betriebsstätte einer Kaninchenzucht; doch tatsächlich war es eine illegale Druckerei für die Flugblätter der Montoneros. Dem kleinen Mädchen, das die Lage kaum begreift, werden einige Sicherheitsmaßregeln eingebläut. Dennoch kommt es zu potenziell gefährlichen Zwischenfällen, die Laura in ihrer Arglosigkeit verschuldet. Schließlich retten sich Laura und ihre Mutter ins Exil nach Frankreich. Kurz danach wird das Kaninchenhaus vom Militär gestürmt und völlig zerstört. Alle Bewohner, auch Diana, kommen dabei ums Leben. Erst Jahre später, als Erwachsene, erfährt Laura Alcoba, dass die Gruppe verraten wurde, und auch, wie und von wem. Die Autorin widmet ihr Buch einer Toten: „Für Diana E. Teruggi“. Wo Laura Alcoba ihre eigenen schmerzlichen Erinnerungen in aller Lückenhaftigkeit ganz direkt und ohne viel Kunstaufwand erzählt, bewahrt Martín Kohan in „Sittenlehre“ einen kühlen, distanzierten Berichtston im strikten Präsens. Sein Roman erinnert daran, dass die Argentinier nicht nur Opfer, sondern auch Komplizen der Diktatur waren: Ohne Kollaborateure wäre die bleierne Zeit des Staatsterrors nicht denkbar gewesen. Kohans Kritik gilt einer Mitläufergesellschaft, die geholfen hat, die Militärjunta so lange an der Macht zu halten.

Die Schule als Kasernenhof „Sittenlehre“ ist zugleich Schulroman und politische Parabel. Schauplatz ist das Colegio Nacional, ein Elitegymnasium in Buenos Aires – die Nationalschule als Schule der Nation, wo María Teresa, die junge Protagonistin, ihre neue Stelle als Aufseherin antritt. Sie soll die Ordnung, Zucht und Disziplin der Schüler kontrollieren und überwachen. Dass es in der Stadt Unruhen und Protestdemonstrationen gegen den Falklandkrieg gibt, ist kein Thema innerhalb der Schulmauern und wird totgeschwiegen.

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Die Schule funktioniert wie ein Kasernenhof mit militärischem Drill und einem komplizierten Ritual täglicher Disziplinierungsmaßnahmen; hinzu kommen patriotische Feiern zur Stärkung des Nationalstolzes der Schüler. Die Aufseherin kontrolliert die genauen Abstände der Schüler beim Appellstehen, die Farbe der Socken, den vorschriftsmäßig kurzen Haarschnitt, und wacht darüber, dass die Schüler nicht auf der Toilette rauchen. Letzteres wird zur persönlichen Obsession: Stundenlang versteckt sich María Teresa in der Knabentoilette, um einen bestimmten Schüler, dessen frühreife männliche Erotik sie beunruhigt, beim Rauchen zu erwischen. Die Toilette wird zum Ort der erotischen Verwirrung und Überwältigung für die unerfahrene und verklemmte junge Frau. Immer stärker werden ihre ambivalenten Gefühle, eine Mischung aus Ekel und Erregung, deren wahre masochistische Natur sie sich nicht eingestehen kann, bis sie schließlich vom impotenten Oberaufseher in einer Kabine brutal manuell entjungfert wird. Das Klima von Angst, Drill, Gewalt und Gewaltlust an der Nationalschule endet über Nacht, als die Junta stürzt und ein völlig neues Führungsteam die Schulleitung übernimmt. Lesern von Elfriede Jelinek dürfte die Konstellation von „Sittenlehre“ bekannt vorkommen. In seinem Mix aus Mutterfixierung und Angstlust an heimlicher Übertretung sowie in der Verklammerung von Schmutz und Sexualität, Frust, Begierde und Voyeurismus erinnert das Setting stark an „Die Klavierspielerin“. Aber anders als in Jelineks Roman ist die sexuelle männliche Gewalt bei Kohan direkt politisch konnotiert. Seine Heldin bleibt auch als Zeremonienaufseherin der Schule immer ein blindes Vollzugsorgan der Staatsmacht, und die Machthaber kaschieren ihre Impotenz durch besondere Gewalttätigkeit.

Laura Alcoba: Das Kaninchenhaus. Aus dem Französischen von Angelica Ammar. Insel, 119 S., € 15,40

Die Wut gegen die Aussöhnung

Martín Kohan: Sittenlehre. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Suhrkamp, 247 S., € 20,40

1976 und die Folgen Wenn Félix Bruzzone seinen Erzählungsband schlicht „76“ betitelt, dann können seine Landsleute das Signal unschwer deuten. Alle acht Kurzgeschichten kreisen um die Generation der 1976-Geborenen – die Kinder von „Verschwundenen“, wie auch der Autor selbst eines ist. Bruzzones Mutter wurde drei Monate nach seiner Geburt in einem der Geheimverliese der Luftwaffe gefoltert, danach ausgeflogen und über dem Atlantik abgeworfen. Sein Vater wurde verhaftet und ist seither ebenfalls spurlos verschwunden. Scheinbar harmlos entwickelt Bruzzone seine Geschichten über Spurensuche nach Verschwundenen aus dem friedlichen argentinischen Alltag von heute heraus – bis plötzlich das Nichtnormale in die Normalität einbricht. In „Haus am Strand“ etwa geht es um den Ferienalltag dreier Buben, die heimlich Sexmagazine am Kiosk kaufen. Erst am Schluss wird klar, dass niemals von Eltern die Rede ist. Diese sind ebenfalls „verschwunden“, die Kinder werden von den Großmüttern großgezogen. Am Strand ver-

lustiert sich auch eine Diplomatenfamilie, die sich seinerzeit mit der Militärjunta glänzend arrangiert hat. Nur die Tochter des Hauses, die sich peinlicherweise der Stadtguerilla angeschlossen hat und in den Untergrund gegangen ist, bleibt leider verschwunden. Genauer will es die Familie gar nicht wissen. Sie tröstet sich: „Susana ist in Uruguay.“ Wie aber geht es heute, mehr als 30 Jahre danach, jenen Linken, die den rechten Terror der Junta damals überlebt haben? Männern wie Carlos, dem gebrochenen, zornigen Antihelden im Roman „Wir haben uns geirrt“ von Martín Caparrós, einem linken Journalisten, der 1976 ins Exil ging und heute als einer der Ton angebenden Intellektuellen seines Landes wieder in Buenos Aires lebt. Dieser Carlos, ein einstiger Studentenführer der Montoneros, dessen Frau damals wohl zu Tode gefoltert wurde und verschwunden ist, dient über weite Strecken als Sprachrohr für die bitteren Einsichten seines Autors Caparrós.

Félix Bruzzone: 76. Aus dem Spanischen von Markus Jakob. Berenberg, 144 S., € 19,60

Martín Caparrós: Wir haben uns geirrt. Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg. Berlin, 333 S., € 24,70

Carlos wütet gegen den Aussöhnungsschmus, der den politischen Diskurs Argentiniens heute beherrscht. Er verabscheut die Veteranensentimentalität der linken Genossen, die sich in ihrer historischen Niederlage suhlen und in der Erinnerung an ihre Untergrundheldentaten der 70er-Jahre schwelgen, an all die Attentate, Anschläge, Entführungen, politischen Morde und Scharmützel mit der Armee. Er verachtet die Selbstzufriedenheit, mit der sie sich heute in ihrer Opfergloriole als Märtyrer der Militärdiktatur wohlig eingerichtet haben und nichts davon wissen wollen, dass es ihr linker Terror nach 1968 war, der den rechten Terror erst auf den Plan rief. Heute hält Carlos den politischen Kampf der Linken für einen Egotrip verblendeter, wirrer Idealisten und will linke Utopien nicht länger als Rechtfertigung für die eigenen politischen Verbrechen gelten lassen. Seine Grundthese: Die jungen Linken, die damals mit Militanz die Welt verbessern wollten, haben nur Argentiniens Katastrophe verschuldet. „Jetzt, nach all den Gefährten, die starben oder fliehen mussten, deren Leben versaut ist, steht es um Argentinien viel schlechter als damals. Kann man sich eine krassere Form des Scheiterns vorstellen?“ Seine Verbitterung hindert Carlos allerdings nicht daran, nach den Schuldigen für den Tod seiner Frau zu suchen und von Rache an den Folterknechten und Kerkermeistern von damals zu träumen. Namentlich auf Pater Fiorelli hat er es abgesehen, der damals die Folterer in den Geheimkerkern segnete und sie zu ihrem „Kreuzzug gegen das Böse“ ermutigte. „Wir haben uns geirrt“ ist eine Mischung aus Thesenroman, historischer Spurensuche und Politkrimi – und ein notwendiges, sarkastisches Gegenstück zu all den Opfergeschichten über die schlimme Junta-Zeit, in denen die Täterschaft der Opfer so gerne ausgeblendet wird. SIGR ID LÖFFLER

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Rodolfo Fogwill dokumentiert den Falkland-Krieg mit seinem Roman authentischer als es jede Kriegsberichterstattung ie unterirdische Schlacht“ ist D nicht der Originaltitel von Rodolfo Fogwills, 1983 in Buenos Aires

veröffentlichtem Roman, und man hat Grund zu fragen, ob der deutsche Titel dem Inhalt annähernd gerecht wird. Eine Schlacht schlägt dieser Haufen von Deserteuren und Verrätern nicht, vielmehr buddeln sie sich ein, um dem Krieg aus dem Weg zu gehen und bis zum Frieden irgendwie durchzuhalten. Freilich, der Originaltitel ist kaum übersetzbar, man hätte ihn allenfalls so belassen können: „Los pichiciegos“. Ein Wort, das auch ein Argentinier nicht ohne Weiteres versteht, obwohl es gewisse Assoziationen weckt; ein Wort, das anfangs nicht einmal die Pichiciegos selbst verstehen, abgesehen von dem Gefreiten aus einer fernen Provinz im Nordwesten des Landes, der ihnen von einem Tier erzählt, das so lebt wie sie: unter der Erde.

Die Islas Malvinas, wo der Roman spielt,

sind in Europa besser unter dem englischen Namen ihrer „Besitzer“ bekannt: Falkland Islands. Fogwills Buch erschien ein Jahr nach dem Ende des Kriegs, den Argentinien und Großbritannien um dieses von Schafen und britischen Siedlern bewohnte Territorium im tiefen Süden Südamerikas führten. Fogwill hatte damals einen der argentinischen Heimkehrer interviewt. So skizziert zumindest das Buch die eigene Entstehungsgeschichte, indem es dies zu einem Teil der Fiktion macht. Argentinien war zu diesem Zeitpunkt gerade erst auf der Schwelle von der blutigen Ära der Militärdiktatur zur Demokratie; Fogwill, 1941 geboren, hatte sich als Autor, Verleger und Kritiker bereits einen Namen gemacht. Seine Stellungnahmen sollten die argentinische Literaturszene immer wieder aufrütteln, er war ihr am wenigsten angepasster, unberechenbarster Autor, der vor wenigen Wochen, am 21. August gestorben ist.

Fallweise schaffte es Fogwill auch, über die Szene hinauszuwirken – nicht zuletzt mit seinen „Pichiciegos“. Der Krieg, den die Militärjunta 1982 angezettelt hatte, leitete deren Ende ein; dennoch war es ihr gelungen, das Nationalgefühl selbst von regimekritischen Bürgern anzusprechen. In dieser Situation brachte Fogwill einen kleinen Roman heraus, der sich durch eine atemberaubende Erzähldynamik auszeichnet. Seine Antihelden lassen keine Zweifel daran aufkommen, dass es sich bei dieser „antiimperialistischen Aktion“ um einen absurden Scheißkrieg handelte, in dem die Pi-

chiciegos alles – Schokolade, Zigaretten, Socken, Batterien – für eine einzige Sache gegeben hätten: Chemiepulver! Chemiepulver wofür? Um ihre eigene Scheiße zu sterilisieren, mit der sie in ihrer Höhle nicht zurande kommen. Der Roman ist die Fieberhalluzination

eines kranken Soldaten, zugleich aber verdichtet sich beim Lesen der Eindruck, dass hier der Krieg besser dokumentiert wird als in jeder „Kriegsberichterstattung“. Der Krieg und der Antikrieg, die Angst und die Feigheit, die Dummheit und fallweise auch die Schlauheit dieser argentinischen Soldaten, von denen die meisten, wie in Kriegen üblich, noch keine 20 Jahre alt sind. Die Kälte, die Zermürbung, der langsame Zerfall der Persönlichkeit … Die Pichiciegos werden nach und nach zu einer Geheimgesellschaft, die Beziehungen zu den drei anderen Lagern auf der Insel unterhält: zum argentinischen Heer, zu den Engländern und zur Zivilbevölkerung. Eine Geistergesellschaft, aus dem Blickwinkel der anderen Gruppen. Zugleich ein Miniaturbild der argentinischen Gesellschaft. Der Autor – in diesem Fall vielleicht besser: der Redakteur oder Arrangeur – kommt, an dieser Stelle durchaus unvermutet, erst nach zig Seiten ins Bild: „Ich muss etwas sagen.“ Der Protagonist und einzige Überlebende der Pichiciegos hatte ihn gefragt: „Glaubst du, was ich dir erzähle, oder glaubst du es nicht?“ Die Antwort: „Ich schreibe auf. Glauben oder Nichtglauben ist hier nicht das Wichtige.“ Im Krieg, sagt der Soldat später, beginnt man alles zu glauben. Der Autor beschwichtigt ihn, den letzten Pichiciego: „Ja, ich kann glauben, dass es Leute gibt, die es gesehen haben und später nicht mehr daran glauben.“ Es, das ist die „große Attraktion“, die Anziehung (wortwörtlich übersetzt), bei der reihenweise Flugzeuge im Kraftzentrum eines Regenbogens verschwinden. Der Redakteur unterstreicht seine Glaubensbereitschaft, indem er dem Pichiciego eine fantastische Geschichte von Horacio Quiroga nacherzählt. LEOPOLD FEDER MAIR

Rodolfo Enrique Fogwill: Die unterirdische Schlacht. Aus dem argentinischen Spanisch von Dagmar Ploetz. Rowohlt, 192 S., € 17,50

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Die Gegenwart wäre ein Buch wert Die Sachbücher zum Buchmessenschwerpunkt beschäftigen sich vornehmlich mit der Vergangenheit

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m deutschsprachigen Raum wird Argentinien zumeist mit Diego Maradona, saftigen Steaks und leidenschaftlichem Tango assoziiert – die Frankfurter Buchmesse 2010, die nach Mexiko (1992) und Brasilien (1994) Argentinien als drittes lateinamerikanisches Gastland präsentiert, wird daran wohl nicht allzu viel ändern. Womit sich die neuen Bücher zu Argentinien hauptsächlich beschäftigen, hat bereits Buchmesse-Direktor Juergen Boos hervorgehoben: der Aufarbeitung der Militärdiktatur von 1976–1983, die als eine der blutigsten Diktaturen des 20. Jahrhunderts gilt. Beispiellos in ihrer Grausamkeit war die Methode, Regimegegner zu eliminieren, indem man sie betäubt über dem Meer aus dem Flugzeug warf. An über 100.000 Folteropfer und 30.000 Verschwundene, die sogenannten desaperecidos, deren Schicksal bis heute überwiegend ungewiss bleibt, erinnern die klagenden Mütter der Plaza de Mayo mit ihren öffentlichen Rundgängen.

Dunkle Vergangenheit Mit über zwei Jahrzehnten Verspätung beginnt nun in Argentinien die Aufarbeitung der Diktatur. Zwar hatte Präsident Raúl Alfonsín nach dem Ende der Militärdiktatur 1983 Untersuchungen der Verbrechen des Regimes eingeleitet, als aber das Militär erneut den Aufstand probte, verabschiedete er Amnestiegesetze, die lange Jahre der Straflosigkeit einläuteten. Erst 2003, mit dem Regierungsantritt von Néstor Kirchner, wurde das Straffreiheitsgesetz aufgehoben und die Wiederaufnahme der Prozesse im Land ermöglicht. Die dunkle Vergangenheit Argentiniens wird in den Neuerscheinungen häufig in Verbindung mit dem düstersten Kapitel der jüngeren europäischen Geschichte gebracht, dem Nationalsozialismus. Dies hängt vor allem mit den Auswanderungswellen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Argentinien war eines der Einwanderungsländer und wird auch als „das europäischste Land Lateinamerikas“ bezeichnet – seine Bevölkerung stammt zu 90 Prozent von europäischen Einwanderern ab. Allein ungefähr 300.000 Deutschsprachige und eine Million Deutschstämmige leben heute dort. Der engagierte Jurist Wolfgang Kaleck beschreibt in seinem Buch „Kampf gegen die Straflosigkeit“ die juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur. Dass zahlreiche Opfer europäischer Abstammung waren, führte aufgrund fehlender Täterverfolgung in Argentinien dazu, dass sich die Menschenrechtsbewegungen nach Europa wandten, um dort Strafverfahren zu initiieren. Der Autor selbst arbeitet als Anwalt deutscher Verschwundener in Argentinien, weshalb sein besonderes Au-

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genmerk auf den deutsch-argentinischen Beziehungen liegt: So werden etwa die Verwicklungen der deutschen Botschaft in die Machenschaften der Militärs sowie die Geschäfte der deutschen Regierung mit der Diktatur thematisiert. Zwei weitere Bücher beschäftigen sich mit der Militärdiktatur und einem Vergleich mit der europäischen Geschichte. „Zweimal Überleben“ von Eva Eisenstaedt dokumentiert die Geschichte von Sara Rus, einem zweifachen Opfer, nicht nur der Nationalsozialisten, sondern auch des argentinischen Regimes. Der Sohn der jüdischen Emigrantin, Daniel Rus, wird eines Tages von seinem Arbeitsplatz entführt. Die Frage nach dem Warum bleibt wie für so viele Angehörige auch für Sara Rus offen, die zu einer der Mütter der Plaza de Mayo wird: „Sara weiß nicht, ob Daniel sich politisch betätigt hat. Oder sie sagt es nicht. Es ist anzunehmen, dass dieser brillante junge Mensch in einer besseren Welt leben wollte und sich daher den Idealen der Generation verschrieb, die von einer Utopie träumte.“ Auch „Verlorene Nachbarschaft“ zeigt die Verbindungen von jüdischer Emigration und argentinischer Tragödie und betont die Wichtigkeit des Erinnerns. Das gleichnamige Projekt fand 2008 in Buenos Aires statt, wo eine 1938 zerstörte Wiener Synagoge für zwei Wochen im Zentrum der Stadt in einem Park stand. Die dort gehaltenen Vorträge kreisten um das jüdische Leben im heutigen Argentinien. Wie bei Eisenstaedt werden auch hier die Tragödien nebeneinander gestellt, ohne sie einem direkten Vergleich zu unterziehen – vielmehr sollen die Parallelen „im Sinn einer Vermenschlichung des Bösen und der Nachvollziehbarkeit sozialer Phänomene“ aufgezeigt werden.

Argentinien heute? Obwohl die Bedeutung der Aufarbeitung der argentinischen Geschichte außer Frage steht, muss festgestellt werden, dass in den Neuerscheinungen andere aktuelle Themen untergehen. So wäre die Armut, die mit der argentinischen Wirtschaftskrise zur Jahrtausendwende rapide anstieg und zu Arbeitslosigkeit und Hunger führte, ein dringliches Thema gewesen. Eine Folge dieser Krise ist die Zunahme der cartoneros – Menschen, die mit dem Recyceln von Müll ihren Lebensunterhalt verdienen. Ebenso finden andere derzeitige Konflikte nur wenig Beachtung, wie etwa die Agrarexportproblematik, die 2008 zu etlichen Bauernstreiks führte und die ein Grund dafür war, dass die paternalistische Kirchner-Regierung bei den Parlamentswahlen 2009 einen Denkzettel verpasst bekam. Die übrigen Bücher entziehen sich dem Anspruch einer ausführlicheren Stellungnahme zur gegenwärtigen Situation Argentiniens schon allein durch ihre Genres. In „Patagonische

Wolfgang Kaleck: Kampf gegen die Straflosigkeit. Argentiniens Militärs vor Gericht. Wagenbach, 128 S., € 10,20 Eva Eisenstaedt: Zweimal Überleben. Von Auschwitz zu den Müttern der Plaza de Mayo. Die Geschichte der Sara Rus. Mandelbaum, 160 S., € 15,– Alexander und Barbara Litsauer (Hg.): Verlorene Nachbarschaft. Jüdische Emigration von der Donau an den Rio de la Plata. Mandelbaum, 360 S., € 24,90

María Sonia Cristoff: Patagonische Gespenster. Reportagen vom Ende der Welt. Berenberg, 288 S., € 25,70

Sabine Küchler: Was ich im Wald in Argentinien sah. Arche, 176 S., € 18,60

Christian Thiele: Gebrauchsanweisung für Argentinien. Piper, 224 S., € 15,40

Gespenster“ begibt sich die argentinische Journalistin María Sonia Cristoff auf Entdeckung ihrer Heimat Patagonien. Die spätestens seit Bruce Chatwins Reisebericht „In Patagonien“ (1977) berühmte bizarre Landschaft mit ihren spärlich gestreuten Bewohnern wird auch in diesem Buch beschworen. Cristoff begegnet zum Nichtstun verdammten Menschen und spürt den Schicksalen von Alteingesessenen, Fortwollenden, Zugereisten und Hängengebliebenen nach. Einen Reisebericht der etwas anderen Art schrieb Sabine Küchler mit ihrem ausgesprochen selbstironischen Buch „Was ich im Wald in Argentinien sah“, das eine albtraumhafte Expedition in den argentinischen Nebelwald beschreibt. Eine Kulturinstitution lud die Schriftstellerin zusammen mit einem Philosophen und einer Fotografin dazu ein, einen Monat nach dem Vermächtnis der einheimischen Waldgötter zu suchen. Die Strapazen der Reise lassen sie nicht im Mindesten über ihre schriftstellerische Aufgabe nachdenken: „Ich. Kann. Nicht. Mehr. Ich. Will. Es. Aber. Schaffen. Wenigstens. Heute.“ Christian Thieles „Gebrauchsanweisung für Argentinien“ erlaubt sich hie und da einen Blick auf die heutige Situation des Landes, wie das soziale Gefälle oder den Fleischpreis als Politikum. In der Hauptsache folgt man aber dem Autor, der als Journalist zwei Jahre in Argentinien verbrachte, bei diversen Ausführungen zu den eingangs genannten Klischees. Man hält sich indessen gerne mit ihm dabei auf, vor allem, wenn es um Kultur und Sitten des Landes geht, die er mit Begeisterung beschreibt, wie etwa die literarisch vielbesungene Mate-Tee-Obsession – die Zubereitung des Getränks ist für Argentinier eine veritable Wissenschaft –, die Cafés von Buenos Aires, die lesebesessene Bevölkerung oder ihre Leidenschaft zum Nationalkartenspiel truco, dessen Regeln „so ausführlich wie die Anleitung zum Bau eines Atomkraftwerkes“ sind.

Die Buchmesse und die Politik Wie häufig bei der Frankfurter Buchmesse und ihren Ehrengastländern kann man sich auch dieses Jahr des Eindrucks nicht erwehren, dass man bestrebt ist, die aktuellen, diskussionswürdigen Probleme des Gastlandes nicht zu thematisieren und eine allzu positive Länderdarstellung zu betreiben. Kritik am gegenwärtigen Staat Argentinien und der Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner und ihrem Ehemann (dem Expräsidenten) – gegen die derzeit Korruptionsvorwürfe und der Verdacht illegaler Bereicherung vorliegen – wird zur Buchmesse wohl nicht stattfinden. Der Buchmarkt ist und bleibt eben vor allem ein Markt, für den auch im Herbst 2010 kräftig die Werbetrommel gerührt wird. JULIA ZAR BACH

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Das Leben ist ungerecht – e Was ist Gerechtigkeit, wer definiert sie und für wen? Drei neue Bücher setzen sich mit einem philosophischen Thema mit weitreichenden politischen Implikationen auseinander K IR STIN BREITENFELLNER

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as Leben ist ungerecht. Das scheint der Ausgangspunkt zu sein für das menschliche Fragen nach der Gerechtigkeit. Aber wie kommt der Mensch darauf, dass es so etwas geben sollte wie die Gerechtigkeit? Etwas, das die Natur anscheinend nicht vorgesehen hat. Drei neue Bücher befassen sich mit einem philosophischen Thema, das umfangreiche praktische Anwendungsgebiete eröffnet, vom Steuersystem über die Gesundheitsvorsorge bis zu Bildung und politischen Freiheiten, aber auch über die Staatengrenzen hinaus, denn in Zeiten des globalen Wirtschaftens und der immer enger zusammenwachsenden Weltgemeinschaft wird es zusehends unmöglich, Gerechtigkeit nicht über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus zu defi nieren – und eventuell auch über die Speziesgrenzen hinaus.

Am Anfang steht das Unrecht „Unrecht zu erkennen, dem man abhelfen kann, ist nicht nur ein Beweggrund für unser Nachdenken über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, sondern auch zentral für die Theorie der Gerechtigkeit – das möchte ich in diesem Buch zeigen“, sagt der Professor für Wirtschaftswissenschaften in Harvard Amartya Sen, geboren 1933 in WestBengalen, der 1998 für seine Arbeiten zur Wohlfahrtsökonomie, zur Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung und zum Lebensstandard den Nobelpreis erhielt. „Die Idee der Gerechtigkeit“ erschien erst 2009 im Original, und obwohl darin Sen die gesamte Philosophiegeschichte aufarbeitet (samt überbordendem Anmerkungsapparat), steht für ihn die praktische Anwendbarkeit seiner Theorie im Vordergrund. Ziel müsse eine auf öffentlichem Vernunftgebrauch beruhende Einigung über die Rangfolge der Maßnahmen zur Herstellung von mehr Gerechtigkeit und die Vorbeugung von offenkundigem Unrecht sein – und nicht das utopische Defi nieren von absoluter Gerechtigkeit. Wohltuend ist dabei die über die europäische Tradition von Hobbes, Locke, Hume, Kant, Smith oder Wollstonecraft hinausgehende Perspektive, die die Korrespondenzen zum östlichen Denken betont und mit Beispielen aus der Bhagavadgita über Buddha bis zu Gandhi belegt und die zwei Arten des Gerechtseins aus der frühen indischen Rechtslehre, niti und nyaya, in die Diskussion einbringt. Erstere betrifft die

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Illustr ation: Andreas Dürer

– es lebe die Gerechtigkeit! Korrektheit von Institutionen, Zweitere stellt das tatsächliche Verhalten der Menschen in den Vordergrund. Sen war einer der Gründerväter des World Institute for Development of Economic Research (WIDER), für das auch die US-amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum tätig wurde. Die beiden Wissenschaftler (die über mehrere Jahre auch Lebenspartner waren) arbeiteten Mitte der 80er- bis Anfang der 90er-Jahre eng zusammen und entwickelten einen neuen Ansatz für eine Theorie der Gerechtigkeit, den sogenannten Fähigkeitenansatz (Capability Approach), mit dem sie dem vorherrschenden Kontraktualismus, der Theorie eines Gesellschaftsvertrags von Freien und Gleichen, den Rücken kehrten. Nussbaum, Jahrgang 1947, arbeitet heute als Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der Universität Chicago und gilt als eine der profiliertesten Philosophinnen der Gegenwart. Als selbsterklärte Aristotelikerin stellt sie Fragen des guten Lebens in den Mittelpunkt ihres Denkens. Ihr Buch „Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit“ erschien bereits 2006 im Original. Auch hier fällt wie bei Sen die beinahe schon unheimlich anmutende Verehrung für John Rawls auf, dessen „herausragendes Werk“, die „überzeugendste Theorie der Gerechtigkeit, über die wir verfügen“, von Sen wie von Nussbaum vorsichtig, aber umso nachhaltiger auseinandergenommen wird. Spätestens 1971, als er „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ vorlegte, wurde Rawls zum einflussreichsten Gerechtigkeitstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Seine Theorie postuliert einen „Urzustand“ in einer imaginären Gesellschaft, in dem gleichberechtigte Personen unter dem „Schleier des Nichtwissens“ (d.h. ihres Ranges und somit ihrer eigenen Interessen) einen auf Vernunft basierenden einstimmigen Gesellschaftsvertrag zu ihrem eigenen Vorteil schließen. Während Rawls den aus einem hypothetisch gerechten Abkommen entstandenen Institutionen und der Verfahrensgerechtigkeit die wichtigste Rolle zuschreibt, stellt Sen das wirkliche Verhalten der Menschen in den Mittelpunkt, das durch „gerechte“ Institutionen nicht notwendigerweise unfehlbar wird, sondern allzu oft korrumpierbar bleibt – sowie eine gesellschaftliche Realität, in der Einstimmigkeit nicht vorkommt. Nussbaum wirft gegen den gemeinsamen Säulenheiligen zudem noch diejenigen in die Waagschale, die bei diesem (vorgestellten) „Vertrag“ nicht gefragt worden sein können und somit nicht ja sagen konnten: Menschen aus benachteiligten Regionen, Behinderte und „nichtmenschliche Tiere“. Nussbaum/Sen stellen Rawls’ idealistischer Theorie einen nicht auf Regeln, sondern auf Verwirklichung konzentrierten Ansatz entgegen mit einem Schwerpunkt auf komparativer Betrachtung, Anerkennung einer Pluralität von konkurrierenden Grundsätzen, ständiger Überprüfung und Adjustierung sowie der Zulässigkeit von

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Teillösungen. Diese geräumigere und weniger unbedingte Form überwindet nicht nur die Grenzen des Nationalen, sondern stößt auch das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt eines Landes von seinem Sockel als Messlatte für Gerechtigkeit, da es weder Auskunft über tatsächliche Verteilung von Einkommen noch über Chancen und Lebensqualität geben kann.

Der Fähigkeitenansatz Was braucht der Mensch für ein gutes, gelingendes Leben? Um diese Frage kreist der von Sen/Nussbaum entwickelte Fähigkeitenansatz. Und unterscheidet hier zwischen Mitteln (Geld, Bildung etc.) und Zielen (Glück, Freiheit). Materielle Güter werden nicht als Selbstzweck erachtet, sondern als Hilfsmittel, die Befähigungen zum Tragen zu bringen, über die der Mensch verfügen muss, damit er sein Leben erfolgreich gestalten kann. Er versteht sich als liberal, pluralistisch und kommt ohne metaphysischen Überbau aus. Während Sen als Ökonom die vergleichende Messung von Lebensqualität in den Mittelpunkt stellt, geht es Nussbaum darum, die philosophischen Grundlagen zu liefern, auf denen die Fähigkeiten ausformuliert werden – wegen der angestrebten kulturübergreifenden Zustimmung idealerweise so allgemein wie möglich. Auch aus diesem Grund wird das Religiöse hier ausgeklammert. Sen räumt der Vernunft weiterhin einen hohen Rang ein. Auch die angebrachte Skepsis über die Reichweite des Vernunftgebrauchs, meint er, sei kein Grund gegen den bestmöglichen Vernunftgebrauch. Demokratie definiert er als „Regierung durch Diskussion“, d.h. Vernunft, und weist darauf hin, dass es in funktionierenden Demokratien noch nie zu einer schweren Hungersnot gekommen sei. Denn um Hungersnöte einzudämmen, brauche man nicht mehr Lebensmittel, sondern mehr Informationen, d.h. eine freie Presse. Nussbaum hingegen stellt, argumentiert anhand von drei klug ausgewählten Einzelschicksalen geistig Behinderter, die These in den Vordergrund, dass Vernunft und Gerechtigkeit sich nicht gegenseitig bedingen können. Denn auch Wesen „ohne Vernunft“ haben ein Leben in Würde und Achtung verdient. Diese Erkenntnis beruht auf Intuition, wie Nussbaum mehrfach betont, und sie impliziert, dass Gerechtigkeit nichts mit dem eigenen Vorteil zu tun haben kann, sondern um ihrer selbst willen ausgeübt werden sollte. „Der Zweck sozialer Kooperation besteht nicht darin, einen Vorteil zu erlangen, sondern die Würde und das Wohlergehen aller Bürgerinnen und Bürger zu fördern.“ Zwei weitere ungelöste Probleme, in denen Nussbaum Aufholbedarf an Gerechtigkeit ortet, sind Menschen jenseits nationaler Grenzen und Lebewesen jenseits der Gattungsgrenze: Tiere. Damit geht Nussbaum einen fundamentalen Schritt weiter als Sen – und hier wird sie wohl auf die meiste Skepsis stoßen. Ein wenig befremdlich mutet die Tatsache an, dass eine Theorie mit globalem

„Unrecht zu erkennen, dem man abhelfen kann, ist nicht nur ein Beweggrund für unser Nachdenken über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, sondern auch zentral für die Theorie der Gerechtigkeit“ Amartya Sen

„Der Fähigkeitenansatz betont also, dass wir zeitgebundene Wesen mit Bedürfnissen sind, die ihr Leben als Säuglinge beginnen und bis zu ihrem Lebensende häufig noch andere Formen der Angewiesenheit erleben, und berücksichtigt dies in seiner politischen Konzeption der Person, die als Basis der politischen Grundprinzipien dient“ Martha C. Nussbaum

Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit. C.H. Beck, 493 S., € 30,80 Martha C. Nussbaum: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Suhrkamp, 600 S., € 38,– (erscheint am 11.10.) Thomas Macho: Das Leben ist ungerecht. Residenz, 96 S., € 16,90

Anspruch die Quellen und Argumente ausschließlich innerhalb der eigenen Disziplin sucht und findet. So beruft sich Nussbaum vorrangig auf Hugo Grotius („De jure belli ac pacis“, 1625) und dessen Vorstellung elementarer Ansprüche. Über menschliche Gefühle dürfen Kant und Hume Auskunft geben, nicht aber die Kollegen der Psychologie und deren neueste Forschungsergebnisse.

Die Grundlagen der Freiheit Anders als Sen hat Nussbaum eine konkrete Liste von Fähigkeiten entwickelt, die sie als wesentliche Anforderungen an ein menschenwürdiges Leben versteht, eine Konzeption der minimalen und zentralen sozialen Ansprüche, für die, wenn sie akzeptiert werden, Schwellenwerte festgelegt werden müssen, die definieren, ab wann der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Die Fähigkeiten lassen sich kurz wie folgt zusammenfassen: 1. ein Leben in „normaler“ Länge, 2. körperliche Gesundheit, 3. körperliche Integrität, 4. die Möglichkeit, Sinne, Vorstellungskraft und Denken zu benutzen und 5. Gefühle und Bindungen leben zu können, 6. sein Welt- und Menschenbild und die Lebensplanung beeinflussen zu können, 7. Zugehörigkeit in Selbstachtung und ohne Diskriminierung leben zu können, 8. in Beziehung zur Natur leben zu können, 9. Spiel und Erholung, 10. politische Partizipation und Eigentumsrechte. Die „tierischen“ und materiellen Grundlagen der Freiheit werden damit klar in den Vordergrund gestellt. „Der Fähigkeitenansatz betont also, dass wir zeitgebundene Wesen mit Bedürfnissen sind, die ihr Leben als Säuglinge beginnen und bis zu ihrem Lebensende häufig noch andere Formen der Angewiesenheit erleben, und berücksichtigt dies in seiner politischen Konzeption der Person, die als Basis der politischen Grundprinzipien dient.“ Sein Ziel: „ein würdevolles Leben für viele verschiedenartige Lebewesen sicherzustellen“. Wie bereits erwähnt, umfasst das auch „nichtmenschliche Tiere“. Dass der 100 Seiten lange Abschnitt, der diesem Problem gewidmet ist, argumentativ am wenigsten ausgereift wirkt, liegt vermutlich daran, dass die Fähigkeiten innerhalb des Tierreichs unüberschaubar sind und die Interessen der Tierarten einander teilweise fundamental widersprechen: Was zählt mehr, die Jagdlust des Löwen oder der Lebenswille der Gazelle? Letzterer, sagt Nussbaum und würde sogar dementsprechend in das Leben von Tieren eingreifen. Erschwerend hinzu kommen die unzureichende Kenntnis der menschlichen Tiereüber ihre Artgenossen sowie der unrealistische Umfang und die Kosten eines solchen Projekts. Nussbaums Vorstellung einer interdependenten Welt, in der alle Spezies kooperative und wechselseitig unterstützende Beziehungen unterhalten, kulminiert schließlich in der kühnen These: „Die Natur entspricht diesem Ideal nicht und hat ihm nie entsproFortsetzung nächste Seite

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chen. Ganz allgemein gesprochen ist daher eine allmähliche Ersetzung des Natürlichen durch das Gerechte nötig.“

Ist der Tod jemals gerecht? „Das Leben ist ungerecht.“ In den verschiedensten Sprachen zitiert Thomas Macho zum Beginn seines gleichnamigen Buches diesen Stoßseufzer alltäglichen Missgeschicks, der auch als Rhetorik der Erschütterung auftreten kann und sich bei näherer Betrachtung als Imperativ erweist, der, so Macho, bald an seine natürlichen Grenze stößt – die Endlichkeit des menschlichen Lebens. Dass Macho, 1952 in Wien geboren und Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin, die Tatsache des Todes in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellt, vermag kaum zu verwundern, schließlich publiziert er seit geraumer Zeit über Zeitrechnung und Todeskulte. Sein Buch besteht aus drei Vorträgen, die Macho im Frühjahr diesen Jahres an der Grazer Akademie gehalten hat. Gerechtigkeitstheorien reduzieren den Einzelnen auf Statistik, meint Macho. „Darin besteht ihre unvermeidliche Ungerechtigkeit, die dem Satz ,Das Leben ist ungerecht‘ noch eine andere Bedeutung gibt?“ Denn was nützt eine weltweit reduzierte Kindersterblichkeit, wenn das eigene Kind stirbt? Die Ungerechtigkeit des Lebens „besteht auch in seiner Inkommensurabilität, die in theoretisch-programmatischer Komparatistik notwendig ausgelöscht wird, obwohl gerade eine Kommunität der Sterblichen – ohne Hoffnung auf Himmel, Erlösung und Weltgericht – die Verpflichtung existenzieller Gerechtigkeit aner-

SACHBUCH kennen muss“. Macho hat es sich zu Aufgabe gemacht, „an ungelöste (und mitunter auch unlösbare) Fragen zu erinnern, die im Spannungsfeld zwischen Sozialpolitik, Ökonomie, Rechtsprechung und Religion auftauchen“. Alle Menschen sind gleich. Diese Gewissheit zählt zu den Grundprinzipien moderner Moral. „Und dennoch wissen wir: Dieser Satz kollidiert unentwegt mit der Wirklichkeit. (…) Das Leben ist ungerecht, weil Geburten ungerecht sind; das Leben ist ungerecht, weil der Tod ungerecht ist.“ Denn der Tod stellt eine absolute Grenze dar, die nicht wie die Vorteile der Geburt an Körper, sozialem Status etc. von der Gesellschaft ausgeglichen werden können. Halt, ist der Tod nicht das einzig Gerechte, möchte man gegen Macho einwenden, gerade weil er jeden gleichermaßen trifft, ohne Rücksicht auf gesundheitlichen oder sozialen Status? Aber Macho will auf etwas anderes hinaus. „Ist der Tod jemals gerecht?“, fragt er. „Gibt es einen Moment, in dem irgendjemand sagen kann, nun habe er (oder ein anderes Lebewesen) lang genug gelebt? Gibt es einen Moment, in dem jemand sagen kann, nun habe er (oder ein anderes Lebewesen) gut genug gelebt? (…) Sterblichkeit als Existenzial und die programmatische Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit stehen in so radikaler Opposition zu einander, dass alle Kulturen geradezu als Laboratorien betrachtet werden können, in denen an der möglichen Überwindung dieser Opposition gearbeitet wird.“ Im Folgenden unternimmt Macho einen Gang durch die Kulturen und ihre entsprechenden Versöhnungsversuche, von ägyptischen Jenseitsgerichten über die indische Karmatheorie bis zum christlichen Theo-

„Sterblichkeit als Existenzial und die programmatische Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit stehen in so radikaler Opposition zueinander, dass alle Kulturen geradezu als Laboratorien betrachtet werden können, in denen an der möglichen Überwindung dieser Opposition gearbeitet wird“ Thomas Macho

dizeeproblem, der Frage danach, ob Gott gut bzw. gerecht und allmächtig zugleich sein kann. Historisch gesehen war der böse und ungerechte Gott der Normalfall, referiert Macho, erst mit dem Monotheismus trat ein Erklärungsnotstand auf, denn ein guter Gott widersprach jeder unmittelbaren Erfahrung. Der dritte der Vorträge behandelt die „altgriechische Kultur der Anerkennung der Sterblichkeit durch Aufhebung in das Gemeinwohl“. Der essenzielle Vorrang der Gemeinschaft der Sterblichen gegenüber den Toten in der Athener Demokratie kann nach Macho „geradezu als Fundament moderner Verfassungen und demokratischer Rechtsordnungen charakterisiert werden“. Die Ausschließung der Toten wurde zur „Basis der Rationalität unserer Kultur“. So schließt sich der argumentative Kreis dieses lesenswerten Korrektivs zu den Büchern von Sen und Nussbaum, das am Schluss etwas weit abkommt vom Thema in Richtung christlicher Ideengeschichte.

Alle Menschen sind gleich? Eine große Leerstelle bleibt. Denn keiner der drei Autoren geht auf die Frage ein, wie der Mensch überhaupt auf die Idee kommt, dass es Gerechtigkeit geben sollte. Vielleicht ist es kein Zufall, dass das Thema Neid und Begehren in den insgesamt gut tausend Seiten langen Ausführungen der drei Autoren nicht vorkommt. Denn sonst müsste man sich vielleicht die unangenehme Frage stellen, ob es bei der hehren Sehnsucht nach Gerechtigkeit nicht nur darum gehen könnte sicherzustellen, dass alle gleich sind und ergo gleich viel besitzen – sondern auch, dass niemand mehr beF sitzt als man selbst.

Was Mädchen stark macht, schwächt Terroristen Geschlechter: Zwei Journalisten berichten über die weltweite Entrechtung von Frauen und Wege zu deren Befreiung 18. Jahrhundert fuhren SklavenItigmschiffe über den Atlantik, um steNachschub an frischen Arbeits-

kräften von Afrika nach Amerika zu schaffen. Das galt damals als normal. Und es gab dafür ein komplexes, stabiles System aus logisch klingenden Rechtfertigungen: Afrikaner seien halt anders als Menschen europäischer Abstammung, sie hätten andere körperliche und intellektuelle Bedürfnisse. Dass die einen Menschen andere Menschen besitzen, sei eine naturgegebene Konstante, seit der Antike. Und irgendwer muss die harte Arbeit auf den Plantagen ja schließlich erledigen, oder? Dann kamen ein paar Romantiker, Gutmenschen würde man sie heute nennen, denen die Sklaverei moralisch gegen den Strich ging. Anfangs hielt man sie für weltfremd. Warum sollte ausgerechnet Großbritannien, das so gut am Zwischenhandel mit Sklaven profitierte, auf das Geschäft verzichten? Zumal die „Neger“ doch bloß eine Randgruppe seien, politisch und kulturell irrelevant, machtlos. Dennoch gewann die Abolitionsbewegung an Fahrt. Ihren Siegeszug verdankte sie am Ende einer Erkenntnis, die, sobald sie einmal Wurzeln geschlagen hat, nicht mehr rückgängig zu machen ist: dass Menschenrechte

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unteilbar sind. Und dass eine Gesellschaft, die Menschenrechte systematisch verletzt, weder demokratisch sein kann noch dauerhaft erfolgreich. Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn haben diese Geschichte stets im Hinterkopf, wenn sie eine neue soziale Bewegung beschreiben, die sie für mindestens ebenso umwälzend halten wie die Abschaffung der Sklaverei: die globale Befreiung der Frauen. Die beiden Autoren sind Reporter im Dienst der New York Times. Ihre erste prägende Zeit hatten sie in China während der Studentenbewegung und der Niederschlagung der demokratischen Revolution 1989. In den folgenden Jahren waren sie auf allen Kontinenten unterwegs – im vom Völkermord verwüsteten Ruanda, in Chaosstaaten wie Somalia, in den Kriegswirren Afghanistans ebenso wie in lateinamerikanischen Ländern. Natürlich nahmen sie von überall auch Geschichten über Frauen mit. Mal ging es um Prostituierte, die gegen ihren Willen in Bordelle verschleppt werden, mal um Genitalverstümmelung, mal um Ehren- oder Mitgiftmorde. Aber es dauerte eine Weile, bis sich diese Einzelteile zu einem weltweiten Panorama fügten – und einer Erkenntnis: Das sind keine tragischen Einzelfälle. Das hat System.

„Das Buch war eine eigene Reise des Erwachens“, schreiben die Autoren. Und wir begleiten sie dabei, wie ihnen klar wird: Die Entrechtung, Ausbeutung und Marginalisierung von Frauen ist keine Fußnote, die sich nebenbei abhandeln lässt, wenn nach den „wichtigen Fragen“ noch ein bisserl Zeit übrigbleibt. Sie steht in direktem Zusammenhang mit Krieg, Hunger und Armut. Und auf die Frauen und ihr bisher ungenutztes Potenzial zu setzen ist der beste Weg, um Entwicklung in Gang zu bringen. Deswegen erzählen sie, detailliert, prägnant, mit Gefühl, auch für die Pointe: Von Mukhtar Mai in Pakistan, die eine öffentlich sanktionierte Vergewaltigung nicht hinnehmen wollte und sich an die Spitze einer Bürgerrechtsbewegung stellte. Oder von der streitbaren Ärztin Edna Adan, die sich dem Ziel verschrieben hat, dass keine Somalierin mehr bei der Entbindung sterben muss. Sie führen den ostasiatischen Wirtschaftsboom darauf zurück, dass in den Fabriken endlich die riesigen brachliegenden Ressourcen der Mädchen vom Land genutzt werden konnten. Sie vergleichen das darniederliegende Pakistan mit dem einst noch hoffnungsloseren Bangladesch, das gezielt in Mädchenbildung und Mikrokredite investierte und heute wesentlich besser

dasteht. Sie zeichnen nach, wie politischer Extremismus und patriarchale Rigidität zusammenhängen: „Was die Mädchen stark macht, schwächt die Terroristen.“ Und sie erinnern daran, dass Gewalt

gegen Frauen nicht nur eine private Dimension hat, sondern auch eine öffentliche. Verschleppungen, Zwangsverheiratungen, Säureattacken dienen sehr oft zur Einschüchterung. Sie warnen Frauen, die mit dem Gedanken spielen, die ihnen zugewiesene Rolle zu sprengen und sich mehr herauszunehmen, als ihnen zugestanden wird. Man kann sehr zornig werden, wenn man das alles liest. Man möchte sofort vom Sofa aufspringen, um die Welt zu ändern. Das ist wohl eines der größten Komplimente, die man Sachbuchautoren machen kann.

SIBYLLE HAMANN

Nicholas D. Kristof, Sheryl WuDunn: Die Hälfte des Himmels. Wie Frauen weltweit für eine bessere Zukunft kämpfen. C.H. Beck, 359 S., € 20,60

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Ich bin die Milch deiner Brüste Mutterschaft: Elisabeth Badinter und Ayelet Waldman begeben sich in die Kampfzone Mutterschaft

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chon 1981 hatte Elisabeth Badinter in ihrem Buch „Mutterliebe“ von den außergewöhnlichen Sitten der Französinnen berichtet: Seit dem 17. Jahrhundert war es quer durch die Gesellschaftsschichten üblich, Kinder unmittelbar nach der Geburt zu einer Amme aufs Land zu geben, von wo sie erst mit zwei oder drei Jahren wieder nach Hause zurückkehrten. Hinter dieser Praxis stand die Überzeugung, dass Mutterschaft nicht der Inbegriff des weiblichen Lebens sei. Daran habe sich, so die französische Vorzeigefeministin, grosso modo nichts geändert. Will man es den Französinnen negativ auslegen, sind sie bis heute die Rabenmütter Europas, arbeiten im EU-Vergleich nach der Geburt ihres ersten Kindes am häufigsten wieder Vollzeit, haben aber eine der höchsten Geburtenraten. Kinder und Berufstätigkeit, Frau­sein und Muttersein schließen einander in ihrer Sicht weniger aus als etwa in Deutschland und Österreich, wo sich immer mehr Frauen ganz gegen Kinder entscheiden, weil sie sich den damit verbundenen hohen Anforderungen und Erwartungen nicht aussetzen möchten.

Mutterliebe revisited Fast 30 Jahre nach ihrer einflussreichen ersten Kulturgeschichte der Mutterschaft, legt Badinter nun eine Art „Mutterliebe revisited“ vor. „Der Konflikt. Die Frau und die Mutter“ macht gleich im Titel klar, dass sich die Dinge nicht zum Besseren verändert haben. Auch in Frankreich, wenn auch dort mit Verzögerung. Badinters Analyse ist kühl und selbstbewusst. Ihre Schwäche liegt darin, sich etwas zu häufig auf Statistiken zu berufen – aber vielleicht tut Absicherung not, wenn man sich in die Kampfzone Mutterschaft begibt. Badinter ortet einen Backlash, der Frauen mit Kindern zunehmend auf ihre Mutterrolle einschränken will und die Aufgaben für eine „gute“ Mutter immer weiter in die Höhe schraubt. Drei Hauptursachen dafür hat sie ausgemacht: Erstens sind junge Frauen entmutigt von einer immer härter werdenden, sie in Aufstiegschancen und Gehalt benachteiligenden Arbeitswelt, der gegenüber der Rückzug ins Private reizvoll erscheint. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise haben dies noch verschärft. Zweitens bescherte der Siegeszug des ökologischen Denkens, der in Umweltbelangen so viel Gutes gebracht hat, der weiblichen Emanzipation einen Rückschritt: Wo der Mensch sich nicht mehr die Natur untertan macht, sondern sich ihr anzupassen trachtet, sind die nicht weit, die von Frauen wieder ein Zurück zur Natur in Kinderfragen einfordern. So kam die Anrufung des natürlichen Mutterinstinkts, die man überwunden glaubte, wieder in Mode, das lange Stillen von Babys wurde zum Maß aller Dinge, und die möglichst enge Bindung zwischen Mutter und Kind stieg in den Rang eines Naturgesetzes auf. Badinter beschreibt am beispiellosen Aufstieg der US-amerikanischen Stillvereinigung La Leche League, welche sektenhaften Ausmaße ein als moralische Pflicht verstandener Stillkult annehmen kann, und zitiert dazu aus den „Zehn Geboten“

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der Website von AlternaMomsUnite. Gebot eins: „Ich bin die Milch deiner Brüste, du sollst keine andere Art der Kindernahrung bei dir im Haus haben.“ Inzwischen herrscht weitgehender Konsens, dass nur eine stillende Mutter eine gute Mutter sein kann. Allein in den USA ist der Anteil stillender Mütter von 20 Prozent Mitte der 50er- auf 60 Prozent Mitte der 80er-Jahre gestiegen.

Feminismus in der Krise Drittens geriet der Feminismus selbst in die Krise und musste sich, so Badinter, „sogar vorwerfen lassen, das zentrale Problem der Ungleichheit der Geschlechter überhaupt nicht gelöst zu haben“. Eine Reaktion darauf war, dass sich der Feminismus ein neues Feld eroberte und nun „biologische Erfahrungen der Frauen in den Vordergrund stellte“ – mit der Verherrlichung von weiblichem Zyklus, Schwangerschaft und Geburt als etwas Erhabenem, durch das Frauen zur Essenz ihres natürlichen Wesens finden und der von Männern drangsalierten Gesellschaft ein alternatives Lebenskonzept entgegenstellen konnten. Dieser neue Maternalismus half dem Feminismus aus seiner Identitätskrise und spielte, so Badinter, den männlich geprägten Machtstrukturen in die Hände, ohne dass ein Mann dafür auch nur einen Finger rühren musste. In Badinters Augen eine klare Selbstaufgabe des von Frauen in den 60er- und 70er-Jahren Erreichten. Das Gegengift: Es hilft, sich klarzumachen, dass weder Kind noch Mutter perfekt sein müssen. In Badinters Worten: „Ich bin eine mittelmäßige Mutter, wie vermutlich die meisten Frauen.“ Ayelet Waldman hat es weit gebracht. Heißt es im US-amerikanischen Mediendiskurs über irgendeinen Essay oder ein Buch, es erinnere an Ayelet Waldman, dann ist alles klar, und die Fronten stellen sich auf eine erbitterte Schlacht ein. Gemeint sind damit nicht Waldmans Krimis aus ihrer Mummy-Track-Mysteries-Serie um eine Teilzeitdetektivin und Ganztagsmutter, sondern ihre Essays zum Thema Mutterschaft und ihr Buch „Böse Mütter“, das vor einem Jahr in den USA erschienen ist.

An bösen oder zumindest lieblosen Müttern herrscht in diesem Herbst auch in der Literatur kein Mangel: Sie sind garstig zu ihren Exmännern (Thomas Hettches „Die Liebe der Väter“), ungut zu den Töchtern (Michael Köhlmeiers „Madalyn“) oder lassen gar ihren Sohn allein wie Mama Wawerzinek (siehe Seite 13)

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Mütterpolizei und Kampfzicken Die für die dortige „Mütterpolizei“ unerträglichste These, die Waldman zum Thema je aufgestellt hat, war zu verkünden, sie liebe ihren Mann mehr als ihre Kinder – und hielte das für alle Beteiligten für den gesündesten Zustand. Internetforen und Mütterblogs erklärten Waldman daraufhin zur gefährlichen Verrückten und regten an, ihr ihre Kinder wegzunehmen (als deren Vater übrigens der Bestsellerautor und Pulitzer-Preisträger Michael Chabon firmiert). Oprah Winfrey nahm sie ins Kreuzverhör, und „die New-York-City-Spezialeinheit der Mütterpolizei, die Kampfzicken von UrbanBaby.com, schlugen ihre spitzen, kleinen Schneidezähne in meinen Waden“. In „Böse Mütter“ lässt Waldman ihre „15 Minuten Ruhm“ noch einmal Revue passieren und schließt daran eine Reihe weiterer Essays über Schwangerschaft und

Stillen, Kind und Karriere, Schwiegermutterkonflikte und Familienleben, Schwangerschaftsabbruch und Sexualität an. Waldman, einst Strafverteidigerin mit Harvard-Abschluss, ist eine radikal exhibitionistische Schriftstellerin. Jede Wette, dass es sich ihre Kinder in ein paar Jahren verbitten werden, jemals wieder in einem ihrer Texte Erwähnung zu finden! Denn Waldman teilt alles ganz offenherzig mit: ihre Ängste um ihre Kinder, ihren Kampf mit der Muttermilchabpumpmaschine, ihre Überlegungen über die sexuelle Entwicklung ihrer Kinder am Beispiel ihrer eigenen Karriere als „Schulschlampe“, ihre Verzweiflung angesichts der pränatalen Diagnose einer Behinderung, ihre mit jedem weiteren Kind steigende Langeweile angesichts von Elternabenden, ihre Aggressionen gegenüber der Selbstgerechtigkeit anderer Mütter. Waldman erspart sich und ihren Lesern gar nichts – bis hin zum Inhalt ihrer Nachtkastlschublade. Sie tut das weder blind noch ohne Humor. Immer wieder mal zitiert sie ihre Kinder mit einem angewiderten „Mummy, wie widerlich!“. Ohne Zweifel tendiert Waldman im Leben wie im ­Schreiben zu einer Art Hysterie, die sie jedes Thema mit Leidenschaft verfolgen lässt. Wenn dieses sich um Kinder und Familie dreht, geht es schnell ans Eingemachte – und Waldman, gleichermaßen befeuert von emanzipatorischem Kampfeswillen wie von ihrer Rolle als überzeugter „jewish mom“, wirft sich mit Furor ins Getümmel.

Elisabeth Badinter: Der Konflikt. Die Frau und die Mutter. C.H. Beck, 222 S., € 18,50 Ayelet Waldman: Böse Mütter. Meine mütterlichen Sünden, großen und kleinen Katastrophen und Momente des Glücks. Klett-Cotta, 183 S., € 18,50

Oft beschreibt sie das ganz normale alltägliche Ringen einer berufstätigen Frau, Familie und Arbeit unter einen Hut zu bringen. Dazu gehört ihr Rat an Ehemänner, sich wie ihr eigener Mann gleichermaßen für Haushalt und Kinder zuständig zu fühlen, weil sie damit für ihre Frauen begehrenswert bleiben, da sich weniger Groll zwischen den Partnern aufbaut. Komisch zu lesen ist ihre Beschreibung der Briefe, die sie von Männern bekommen hat, die diese Botschaft anscheinend nicht verstanden hatten: Ihnen ging es nur um die Entdeckung des Geheimnisses, wie Waldmann es hinkriege, immer noch gern mit ihrem Mann zu schlafen. Gottseibeiuns für die Mütter, Sexbombe für die Väter! „Böse Mütter“ ist über weite Strecken eine erfrischende, entlastende Lektüre. Gleichzeitig bewirkt es Kopfschütteln darüber, dass eine so kluge Frau sich wegen jedem – man möchte wirklich sagen – Furz tage-, wochen- und monatelang in den skurrilsten Internetforen herumdrückt, um sich dort Empfehlungen, Trost oder Ohrfeigen abzuholen. Darin liegt eine erstaunliche Unfähigkeit, sich auf sein Gefühl verlassen zu können, und eine starke Unsicherheit, die vermutlich zeigt, was für ein Minenfeld das Aufziehen von Kindern – gerade im puritanischen Amerika – ist. Oder aber auch nur, von welch manischer Energie angetrieben Waldman versucht, die beste aller Mütter zu sein. Und dabei genau weiß, dass sie es immer nur so gut machen kann, wie es eben geht. JULIA KOSPACH

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Sachbuch

Vom Eigenleben der Gebäude Architektur: Vittorio Magnago Lampugnani legt einen Prachtband über die Stadt im 20. Jahrhundert vor

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erlin war nach der Wiedervereinigung nicht nur die größte Baustelle der Welt: Zu fragen, wie diese Stadt gestaltet werden sollte, hieß hier immer zugleich zu fragen, was die deutsche Nation sein wollte. Und das taten die Deutschen fieberhaft. Nur deshalb konnte ein einziges, kurzes, 1993 im Spiegel platziertes Pamphlet zur Zukunft des Bauens die Öffentlichkeit über Monate erhitzen. Und das, obwohl es inkonsistent, terminologisch unsauber und ideologisch zweifelhaft war. Der von Vittorio Magnago Lampugnani, seinerzeit Direktor des Deutschen Architekturmuseums, erhobene Vorwurf, die Postmoderne habe Urbanität zugunsten kurzlebiger, sensationeller Pointen geopfert, war schon damals alt. Noch älter war die Verdammung des klassischen Funktionalismus als urbanitätsfeindliche Tabula-rasa-Ideologie, die gewachsene Innenstädte zugunsten toter Trabantenstädte und infernalischem Verkehr vernichtet hat. Das längst wieder etablierte Material Stein wollte Lampugnani mit der Rhetorik eines Entscheidungskampfs obligatorisch machen: Nur Stein und eine klare „Tektonik“ der Fassade könnten „Inseln der Ordnung im Strom der Verwirrung“ schaffen.

Wertkonservativer Provokateur Einfachheit, Ordnung, Klarheit, Dauer, Ruhe – Lampugnani gab den wertkonservativen Provokateur, wie er damals schick

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zu werden begann. Dennoch war die von ihm ausgelöste, mehr als zehn Jahre dauernde publizistische Schlacht ein Modellfall für das Fragen nach der Rolle von Architektur in Moral und Geschichte. Ihre Rhetorik verbarg handfeste Interessen und sehr deutsche ideologische Traditionen. Trotzdem trafen hier grundlegende Weisen, Urbanität zu deuten und zu legitimieren, geballt aufeinander. Das lehrt vorbildlich klar das im Mai erschienene Buch des Architekten und Hochschullehrers Florian Hertweck „Der Berliner Architekturstreit“: Lampugnanis Pamphlet überhöht mit kulturkritischen Altbeständen, was die offizielle Baupolitik Berlins, in der Lampugnani beratend, jurierend, bauend, forschend, kollegial verwickelt war und ist, anstrebte. Deren „kritische Rekonstruktion“ beanspruchte autoritär, mit einer Regulierung von Fassadenstruktur und Traufhöhe wesenstypisch Berlinerisches wiederherzustellen – doch das ist ein willkürliches, politisch-ästhetisches Konstrukt. Man forderte Einheitlichkeit und berief sich auf Schinkel, den Lokalheiligen, doch der hatte bereits das barocke Berlin gehasst, träumte von der hierarchie- und grenzenlosen Stadt liberaler Bürger und bevorzugte ein Stadtbild, das von markanten Solitären geprägt war. Hertweck macht aus den rhetorischen Schaukämpfen ein Lehrstück über die Implikationen eines Kunstdiskurses. Einsei-

Zur Person Vittorio Magnago Lampugnani, geb. 1951 in Rom, Studium der Architektur in Rom und Stuttgart. Seit 1980 als freischaffender Architekt tätig. Nach verschiedenen Professuren lehrt er seit 1994 als ordentlicher Professor an der ETH Zürich Geschichte des Städtebaus. 1980–84 Berater der Internationalen Bauausstellung Berlin. Er kuratierte zahlreiche Architekturausstellungen und leitete von 1990 bis 1995 das Deutsche Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main

tigkeiten, terminologische Misslichkeiten und Lücken seiner eigenen Darstellung wiegen dagegen gering. Die Losung „neue Einfachheit“ jedenfalls war nicht Lampugnanis Prägung, die Neue Musik hatte in den 1970er-Jahren unter diesem Begriff ihren eigenen Kulturkampf um die klassische Avantgarde geführt. „Formierte Stadt“, das Schlagwort der offiziellen Berliner Baupolitik, wird als Echo der „formierten Gesellschaft“ Ludwig Erhards erkennbar, der damit die Rhetorik der antipluralistischen Moderneskeptiker und Gemeinschaftsideologen der Vorkriegszeit fortsetzte.

Historiker der modernen Stadt Die Dekonstruktion des Pamphletisten Lampugnani darf allerdings niemals den viel begabteren der beiden öffentlich in Erscheinung tretenden Lampugnanis vergessen machen: den Historiker der modernen Stadt mit enzyklopädischem Blick und Wissen. Dieser hat seinem Verleger Klaus Wagenbach zum 80. Geburtstag eine grandiose Summe seines Forscherlebens geschenkt, eine Augenweide in Satz und Illustration mit einer Fülle seltener Originalpläne. Lampugnani hat, wohl im Wissen darum, dass seine Stärke nicht in der begrifflichen Abstraktion, der kriteriellen Innovation oder gar im System, sondern in der Aufmerksamkeit für ein jeweiliges Baudenken liegt, eine außerordentlich glückli-

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S a c h b u c h    che Kompositionsentscheidung getroffen: Er stellt keine Entwicklung der tatsächlichen Urbanisierung dar, sondern errichtet erzählend eine Galerie einzelner Typen des Denkens und Entwerfens der „Stadt im 20. Jahrhundert“. Diese Jahrhundertbilanz kann gar kein Lehrgebäude sein, denn die großen Patent- und Gesamtlösungen sind allesamt gescheitert. Zurück bleibt eine Galerie der Denkbilder. Le Corbusier irrlichtert erwartungsgemäß wie der Geist des Bösen durch das Buch. Die Abrechnung mit seinem Größenwahn, die Menschheit neu zu zivilisieren, indem man das Gewachsene auslöscht und an seine Stelle eine neue, hygienische, seriell machbare und effektive Stadtwelt setzt, ist unerbittlich, aber begründet. Doch Corbusier, der „Meister“, wie ihn Lampugnani herablassend nennt, war bisweilen inkonsequent genug, schöpferische Abweichungen vom Marschallplan der „Chartes d’Athen“ zuzulassen und so einige Perlen des Bauens zu schaffen. Es finden sich konzentrierte Glanzstücke erzählend verstehender Kunstgeschichte in dieser Summa, so das eindringliche Porträt Frank Lloyd Wrights und dessen bizarrer Mischung aus provinzieller Idiosynkrasie, zwanghaftem Patriarchalismus und weltmännischer Noblesse der Raumformen. In Sachen Postmoderne kann Lampugnani nicht über den Schatten seiner Ressentiments springen und handelt Wright mit wenigen uninspirierten Seiten ab. Die Wiederaufbaupläne in Deutschland sind ihm nur eine flüchtige Skizze wert – die er allerdings unmittelbar an das Kapitel über den nationalsozialistischen Planungs- und Monumentalirrsinn anschließt. Das ist

auch ein Kommentar. Überhaupt sind die einzelnen Denkbilder oft listig postiert und verwoben. Von dem monströs historisierenden Spektakel der Chicagoer Weltausstellung von 1894, mit dem die aufstrebenden USA ihre zunehmenden Herrschaftsansprüche städtebaulich demonstrierten, scheint der Bombast des kommunistischen Zuckerbäckerstils tatsächlich nur einen bestürzend kleinen Schritt entfernt zu liegen.

Vom Eigenleben der Gebäude Den Anfang des Bands macht die Gartenstadt, die Idee von einem Ausgleich zwischen Stadt und Land, vielleicht der grundlegendste Wohntraum des 20. Jahrhunderts. Doch die Gartenstadt war nur eine Variante der Arbeiter- und Angestelltensiedlungen, und diese wurden nicht von Revolutionären gebaut, sondern von paternalistischen (englischen) Fabrikbesitzern. Ein wertkonservativer Ironiker im Hintergrund scheint hier sagen zu wollen: Der grundlegendste Bautraum des 20. Jahrhunderts ist dem paternalistischen Fabrikantenethos entsprungen. Natürlich provoziert Lampugnani wieder freudig den piefig moralisierenden Commonsense und besteht darauf, dass die Distanz des Enzyklopädisten nicht vor dem Architekturdenken der totalitären Regime haltmachen darf: Autobahnbrücken können, auch wenn der Bauherr der nationalsozialistische Staat ist, ihre Meister finden und dann, ja, sogar „schön“ sein. Regelrechte Triumphe feiert der Erzähler Lampugnani, wenn er dem sicherlich angemessen empörten deutschen Leser vorführt, wie Mussolini die klassische Moderne beinahe zur Staatsdoktrin erho-

Vittorio Magnago Lampugnani: Die Stadt im 20.Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes. 2 Bde. Wagenbach, 906 S. m. 640 Farbabb., € 100,80 Florian Hertweck: Der Berliner Architekturstreit. Stadtbau, Architektur, Geschichte und Identität in der Berliner Republik 1989–1999. Gebr. Mann, 352 S., € 50,40

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ben hat – und es ihm gelingt, auch diese als Denktypus von möglicherweise eigenem Recht vorzuführen. Das geht peinlich schief bei der monströsen Città Universitaria Roms, und die kuriose Arena Flegrea Neapels „wunderbar“ zu nennen, ist kleinliche Provokationslust, doch Lampugnani kann mit Giuseppe Terragnis „Casa del Fascio“ im Como aufwarten. Ihr Urheber wollte sie als archetypischen Ausdruck des Faschismus verstanden haben, doch sie ist ein Werk, das minimalistische Klassizität meisterhaft mit funktionalistischer Askese und Serialität versöhnt. Dieses Denkbild lehrt, ohne dass es ausgesprochen würde: Gebäude entwickeln ab einer gewissen Kunsthöhe ein Eigenleben gegenüber den Weltanschauungen ihrer Zeit und Urheber. Nichts anderes aber hatte Aldo Rossi, Lampugnanis wohl wichtigster Lehrmeister, behauptet und bestand deshalb auf „Permanenz“ als höchstem architektonischem Ziel, auf Solidität und auf einem Denken in elementaren „Typen“ der Raumgestaltung und Materialbehandlung. Lampugnani gibt seinem Lehrmeister nicht ideologisch Recht, sondern indem er erzählend dem verblüfften Leser dieses Autonomwerden vorführt. Man muss Lampugnanis kapitales Panorama des Stadtdenkens also wohl selbst als romantisches Gesamtkunstwerk lesen: voller Subtexte, raffinierter Leitmotive, kunstgläubiger Empathie, grandios enzyklopädisch, aber auch knickrig, provokationslüstern. Vor allem aber insgeheim ironisch: im Umgang mit Heroen, mit der eigenen Rolle des distanzierten Universalisten und auch – manchmal – mit den eigenen Ressentiments. S E B A S T I A N K I E F E R

Drei Minuten für ein Badezimmer Prekariat: Wie lebt man als Putzfrau? Eine französische Journalistin hat es ausprobiert und ein Buch geschrieben as Schlimmste ist das erste Mal. D „Oder, besser gesagt, all die ersten Male, wenn man aufstehen muss, während

die Stadt noch schläft.“ Den Kittel überwerfen, in ein graues Industrieviertel fahren und sich, während die Sonne aufgeht, über ein verstopftes Klo hermachen. Florence Aubenas hat das wirklich gemacht, ein Jahr lang. Im Wallraff-Stil zog die Journalistin des Nouvel Observateur, die 2005 im Irak als Geisel genommen und nach 157 Tagen wieder freigelassen worden war, nach Caen, in eine Stadt, in der sie keiner kannte, und wollte am eigenen Leib testen, wie weit man mit ehrlicher Arbeit kommt, wenn man nichts hat und nichts kann. Als „ehemalige Hausfrau, Mitte vierzig, ohne Ausbildung, ohne Berufserfahrung“. Jetzt weiß sie es: Man kann Aushilfsputzfrau werden, sonst nichts. „Putze“ heißt denn auch das Buch, das dabei herausgekommen ist. In Frankreich war es sofort ein Bestseller.

Die Wirtschaftskrise liegt über der ganzen Szenerie wie eine düstere Glocke, sie erstickt jeden Funken Ambition im Keim. Die erste Lektion, die man am Arbeitsamt lernt, ist nämlich: Wir haben nichts für Sie. Keine Chance auf eine Anstellung, keinen längerfristigen Vertrag, keine sinnvolle Ausbildung. Aubenas’ erster Job: Putzen auf der Fähre, die jeden Abend um halb zehn im Ha-

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torin nicht im Ton vergreifen. Allzu anklagend klingt der, und allzu schnell ordnet sie alles, was sie erlebt, in die naheliegendsten Schubladen ein: Es gibt keine Arbeitsmoral mehr, die Unternehmer sind Ausbeuter geworden, alles muss immer noch schneller gehen, und überhaupt war Frankreich ein besseres Land, als die Gewerkschaften noch etwas zu sagen hatten und Arbeiter für ihre Rechte auf die Straße gingen.

fen anlegt. Eine Stunde lang liegt das Schiff hier, in dieser Zeit müssen sämtliche Kabinen gesäubert werden. Für die Putzfrauen ergibt das drei Minuten pro Badezimmer, täglich eine Arbeitsstunde, sechsmal die Woche. Der Weg aus der Stadt dauert 40 Minuten, zu den Arbeitszeiten fährt kein Bus, also muss man sich ein eigenes Auto besorgen. Der Transfer vom Parkplatz zum Schiff kostet eine weitere halbe Stunde. So werden aus jeder bezahlten Arbeitsstunde vier Stunden Lebenszeit, plus Geld fürs Benzin. Bald ist da „diese Müdigkeit, die man einfach nicht mehr los wird (…). Man arbeitet ständig, ohne wirklich Arbeit zu haben, man verdient Geld, ein Auskommen aber hat man nicht.“ Die Jobvermittlerin ruft an, es sind eben drei Stunden freigeworden in einem Vorstadtbüro, sofort hinfahren, und übermorgen bitte zweieinhalb Stunden auf den Campingplatz. Wer ein Angebot ablehnt, muss fürchten, keines mehr zu bekommen, also sagt man zu. Immer auf dem Sprung, immer auf Abruf. Tagelöhnerei hieß das einst. „Man ist nervös und hält sich an die Hoffnung,

endlich irgendwo anzukommen, aber das Ziel rückt in immer weitere Ferne.“ Das Ziel? Ziele kann man sich nicht leisten, in diesem Leben. Man lässt sich von einem Tag in den nächsten spülen und hat nie die Chance, das Steuerrad festzuhalten. All das wäre hochinteressant, würde sich die Au-

Florence Aubenas: Putze. Mein Leben im Dreck. Pendo, 250 S., € 15,40

Dieser Tonfall nimmt dem Buch leider viel an Schärfe – denn er verhindert, dass wir wirkliche Menschen kennenlernen. Die Kolleginnen, mit denen Aubenas ihre frühen Morgen- und Abendstunden verbringt, mit denen sie mitunter ein, zwei Gläser Cola-Rum kippt, haben zwar Namen und kleine Eigenheiten, aber sie sind seltsam ununterscheidbar. Sie kommen und gehen, huschen über die Bildfläche. Aber sie bleiben, in diesem Buch ebenso wie in der Dienstleistungswirklichkeit, eine unsichtbare, austauschbare Masse. Als Erkenntnis für die Journalistin Aubenas bleibt: Wie angenehm es ist, sich in einem Teil des Arbeitsmarkts zu bewegen, „in dem man nicht ausrechnet, wie viel Zeit es kostet, auf die Toilette zu gehen“. Und wenn man dort auch noch reich werden kann (allein in Frankreich hat Florence Aubenas innerhalb von drei Wochen eine Viertelmillion Bücher verkauft) – umso SIBYLLE HAMANN besser.

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Sachbuch

Das wird heute von GPS erledigt Kartografie: Toby Lester und Paul Murdin erzählen spannende Geschichten von der Vermessung der Erde

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ie Weltkarte von Martin Waldseemüller besteht aus zwölf Einzelteilen und misst insgesamt 1,37 Meter mal 2,43 Meter. Sie wurde 1507 in einer Auflage von 1000 Stück gedruckt, galt dann aber jahrhundertelang als verschollen. Das einzig erhaltene Exemplar wurde erst 1901 in einer Dachkammer im Schloss des Fürsten Waldburg-Wolfegg wiederentdeckt und im Jahre 2007 von Angela Merkel der Library of Congress in Washington übergeben. Der fürstliche Besitzer hatte das Unikat für zehn Millionen US-Dollar an die USA verkauft. Auf der Karte trägt das neuentdeckte Land im Westen den Namen „America“ und ist vollständig von Wasser umgeben – zum ersten Mal. „Die Karte ist die Geburtsurkunde der Welt, die 1492 das Licht erblickt“, schreibt Toby Lester in seinem Buch „Der vierte Kontinent“. In der Karte von Waldseemüller kulminiert für Lester die Geschichte des abendländischen geografischen Denkens. Weil sich da zwischen Antike und Renaissance einiges getan hat, ist das Buch glatt 560 Seiten lang geraten, aber langweilig wird es nicht. Der US-amerikanische Wissenschaftsautor beweist Sinn für Rhythmus und Dramaturgie und beschreibt eingängig (auch die Übersetzung ins Deutsche ist fein und flüssig), wie das Wissen von der Welt mäandert und sich beständig wandelt, wie bestimmte Darstellungstraditionen und Kartentypen entstehen und vergehen, Projektionsgitter und Zentralperspektive erfunden werden, wie sich kulturelle und kosmologische Vorstellungen in den Karten spiegeln und diese wiederum auf das Verständnis der Betrachter rückwirken.

Seefahrer und Seelsorger Das daran mitwirkende Personal ist zahlreich: wagemutige Seefahrer und großmäulige Abenteurer, polyglotte Gelehrte, geschäftstüchtige Kaufleute sowie machtbewusste Päpste und Könige. Die unterschiedlichsten Motivationen greifen ineinander und fließen direkt oder indirekt in die Verfertigung der Karten ein: religiöse Vorstellungen (etwa Jerusalem als Mittelpunkt der Welt oder der sagenumwobene Priesterkönig Johannes, den man in Asien und später in Afrika vermutete), die Suche nach einem Seeweg nach Indien, insbesondere zu den profitversprechenden Gewürzinseln, die koloniale Gier nach Land, Sklaven und Gold sowie das Bemühen der Humanisten, das Wissen der Antike zu rekonstruieren und insbesondere die „Geographia“ des Ptolemäus aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. stetig zu verbessern. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Kirchenkonzile von Konstanz (1414–1418) und Florenz (1439). Nie zuvor waren so viele Gelehrte aus allen Winkeln Europas inklusive Konstantinopel an einem Ort versammelt – und nie war ihnen langweiliger. Die langen Unterbrechungen und drögen Debatten über kirchliche Dogmen hatten aber auch ihr Gutes: Abseits der offiziellen Sitzungen entwickelte sich ein intensiver Austausch von Gedanken, vor allem aber auch von Manuskripten. Anfang des 16. Jahrhunderts formierte sich im Kloster von St. Dié südlich von

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Straßburg eine kleine Gruppe deutscher Humanisten. Deren Patron, Herzog René von Lothringen, erhielt 1504 einen Brief des Florentiner Kaufmanns und Entdeckungsreisenden Amerigo Vespucci. Darin wurde behauptet, er habe schon 1497, also ein Jahr vor Kolumbus, Festland betreten. (Kolumbus war vor 1498 nur auf Inseln gelandet.) Dieser Brief war der Startschuss für die Produktion der berühmten Karte. Der Name „America“ wurde ziemlich sicher von Matthias Ringmann kreiert, der das „Begleitbuch“ zu Waldseemüllers Karte schrieb.

„Mit feinem Sprachgefühl hatte der Humanist aus dem Vornamen Vespuccis „America“ gemacht. Sein Argument: Wie Asia, Africa und Europa müsse auch der neue Kontinent Von Amerigo nach America nach einer Frau Mit feinem Sprachgefühl hatte der Huma- benannt werden.“ nist aus dem Vornamen Vespuccis „America“ gemacht. Sein Argument: Wie Asia, Africa und Europa müsse auch der neue Kontinent nach einer Frau benannt werden. Und ein letzter Sprachwitz: Amerigo leitet sich von „Amalrich“ ab, und so gab Ringmann, wie Lester glaubt, „der Neuen Welt „Wissenschaftler tun einen altdeutschen Namen“. Die spanischsprachige Welt empfand manchmal seltsame den neuen Namen als Affront (Vespucci Dinge. Zu Beginn genoss dort einen zweifelhaften Ruf) und des 18. Jahrhunderts übernahm diesen erst etwa 200 Jahre spä- stritten sie sich, ob ter. Aber anderswo setzte sich „Ameri- die Erde an den Polen ca“ schon einige Jahre nach dem Erschei- abgeflacht ist oder nen der Karte durch, für Kolumbus blieb eher spitz zu läuft.“ am Ende nur Kolumbien. Dass der Brief Vespuccis an den Herzog von Lothringen eine Fälschung war und dieser erst 1499 südamerikanisches Festland betreten hatte, zeigt wieder einmal, wie ungerecht die Geschichte sein kann. Eine simple Fortschrittsgeschichte schreibt Lester nicht. Auf der Waldseemüller-Karte prangen oben die Köpfe von Ptolemäus und Vespucci, Alt und Neu schauen sich an und finden sich vereint. Waldseemüller brachte seine Karte bewusst nicht in allen geografischen Details auf den letzten Stand der Entdeckungen, um dem verehrten Ptolemäus seine Referenz zu erweisen. Denn seine Karte war nicht für Seefahrer, sondern für die humanistischen Kollegen gedacht. Und die studierten den Text von Ringmann und die Karte von Waldseemüller intensiv, von England bis Polen. Lester etwa glaubt, dass sich Thomas Morus so zu seiner „Utopia“ von 1516 inspirieren ließ. Und dass Nikolaus Kopernikus, der Karte und Text sicher kannte, darin einen wichtigen Beleg für seine neue heliozentrische Theorie sah.

Vom Meridian zum Meter Was dem US-Amerikaner Toby Lester seine deutsche Karte ist, ist dem Engländer Paul Murdin sein französischer Meridian. Damit ist ein wissenschaftliches Projekt gemeint, das von der Mitte des 17. bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ganze Heerscharen an französischen Gelehrten beschäftigte. Sie legten und vermaßen einen Längengrad, der Frankreich von Norden nach Süden durchlief und mitten durch Paris ging. Dieser Meridian war die Voraussetzung für die genaue Kartierung des Landes, sollte aber auch zu nichts weniger als zur exakten Vermessung der Erde und schließlich gar zur Festlegung eines verbindlichen Längenmaßes dienen.

Toby Lester: Der vierte Kontinent. Wie eine Karte die Welt veränderte. Berlin, 560 S., € 41,10 (erscheint am 2.10.) Paul Murdin: Die Kartenmacher. Der Wettstreit um die Vermessung der Welt. Artemis & Winkler, 299 S., € 20,60

Der Meter wurde – so die Rhetorik – gleichsam der Natur abgelesen, er misst jedenfalls nicht rein zufällig genau ein zehnmillionstel Teil der Strecke vom Pol zum Äquator. Wie das genau funktioniert, erklärt Murdin in „Die Kartenmacher“. Gerade im Vergleich zu Lester wirkt sein Buch stilistisch mitunter etwas betulich und zusammengestückelt. Zahllose Kurzbiografien ziehen wie ein Wachsfigurenkabinett am Auge des Lesers vorüber, um gleich wieder vergessen zu werden. Der Astronomieprofessor aus Cambridge Murdin versteht mehr von Quadranten und Teleskopen als von den Eigenheiten frühneuzeitlicher Wissensproduktion. Newtons religiöse und astrologische Schriften als „von marginalem wissenschaftlichem Interesse“ zu bezeichnen, zeugt jedenfalls von einem verengten Blickwinkel. Allzu viel schiefgehen kann dennoch nicht, denn der Meridian steckt voller faszinierender, wenn auch hinreichend bekannter Geschichten. Sie handeln von Astronomen und Landvermessern, die ihre klobigen Gerätschafte durch ganz Frankreich schleppten, immer auf der Such e nach idealen Aussichtspunkten – und die von Einheimischen kritisch beäugt, manchmal verjagt und einmal sogar abgemurkst wurden: Denn wer starrt schon bei Wind und Wetter stundenlang durch seltsam anmutende Röhren?

Die Erde ist eine Mandarine Wissenschaftler tun manchmal seltsame Dinge. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts stritten sie sich, ob die Erde an den Polen abgeflacht ist oder eher spitz zu läuft. Dazu schickte Frankreich eine Expedition nach Lappland und eine an den Äquator nach Südamerika. Die erste geriet zum Triumph: Maupertuis ließ sich von Eiseskälte und Mückenschwärmen nicht abhalten und zeigte, dass die Erde einer Mandarine und nicht einer Zitrone glich. Die zweite Expedition geriet zum ultimativen Desaster: Die Forscher zerstritten sich, manche kehrten erst nach Jahrzehnten nach Europa zurück, von anderen wurde nie wieder etwas gehört. Aber auch das Reisen innerhalb Frankreichs hat seine Tücken, wie die Astronomen Delambre und Méchain erfahren mussten. Im Juni 1792 wurden sie von der Akademie der Wissenschaften losgeschickt, um den Meridian neu zu vermessen – inmitten der blutigsten Phase der Französischen Revolution und der sich da­ ran anschließenden Kriege. Diese Mischung aus wissenschaftlichem Triumph (am Ende war der Meter vermessen) und persönlicher Tragik (Méchain verzweifelte an einem vermeintlichen Messfehler) ist an Dramatik kaum zu überbieten. Im späten 19. Jahrhundert folgten die internationalen Kongresse zur Festlegung der Standards von Zeit und Raum. Dabei stach der Meridian von Greenwich jenen von Paris aus. Die Ironie der Geschichte: Mittlerweile sind sie beide bedeutungslos für die Bestimmung der geografischen Position geworden. Das erledigt jetzt das GPS, wie Paul Murdin schmunzelnd anmerkt. OLIVER HOCHADEL

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Wurde die Mathematik vom Menschen erfunden? Mathematik: Mario Livio begibt sich auf die Suche nach dem göttlichen Anteil der Wissenschaft der Zahlen ie Liebe zur Mathematik kann weit geD hen. Aber so weit, dass man sie mit einer göttlichen Allmacht gleichsetzt? „Ist

Gott ein Mathematiker?“ Diese Frage wirft Mario Livio, Astrophysiker und Sachbuchautor mit Faible für die Mysterien des Universums und insbesondere der Mathematik, in seinem neuesten Buch zur Diskussion in den Raum. Natürlich rhetorisch – aber wenn man es sich genau überlegt: Die Mathematik hat im Laufe der Jahrtausende ihres Bestehens tatsächlich ein paar Eigenschaften entwickelt, die landläufig als göttlich bezeichnet werden. Denn es ist zweifelsohne mehr als erstaunlich, dass rein innermathematische Entdeckungen Jahrzehnte bis manchmal sogar Jahrhunderte später in der außermathematischen Welt plötzlich zur Anwendung kommen.

Bekanntes Beispiel ist die Zahlentheorie, die in der Kryptografie eine unerwartete und an Bedeutung kaum zu überschätzende Anwendung gefunden hat. Wirft man einen Blick auf die Physik, kommt man aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. So schreibt der Nobelpreisträger Eugene Wigner: „Dass die mathematische Sprache in so wunderbarer Weise zur Formulierung von Gesetzen der Physik taugt, ist ein wunderbares Geschenk, das wir weder verstehen noch verdienen.“ Und die Mathematik setzt sogar noch eines drauf. Sie taugt nicht nur zur Formulierung von Gesetzen, sondern sogar zur Prognose: So wurden elek-

tromagnetische Wellen oder die Existenz mancher Teilchen errechnet, bevor sie entdeckt wurden. Die Mathematik schein also allgegenwärtig und allmächtig zu sein – wie ist so etwas nur möglich? Die Suche nach den Gründen für das Wunder Mathematik zieht sich durch das ganze Buch, in dem Livio ihre Entwicklung anhand ausgewählter Geistesgrößen und der größten Umbrüche, beginnend bei den alten Griechen bis in die Gegenwart, nachzeichnet. Kern- und Knackpunkt ist eine Frage, die mitten ins erkenntnistheoretische Herz der Mathematik trifft: Wird Mathematik vom Menschen entdeckt oder erfunden? Gibt es da draußen eine vom Menschen unabhängig existierende Welt der Mathematik, oder entspringt sie samt und sonders dem menschlichen Gehirn? Dass ein etwaiger göttlicher Ursprung nur im ersten Fall möglich ist, liegt auf der Hand. Dass das Wunder Mathematik dem Menschen ohne göttlichen Beistand kaum zuzutrauen scheint, ebenso. Da dies nicht das erste Buch zur Geschichte der Mathematik ist beziehungsweise manche im Schulunterricht ja doch aufgepasst haben, sind viele der wesentlichen Fakten und Protagonisten von Archimedes über René Descartes bis Isaac Newton und Kurt Gödel inklusive der Legenden vom „Heureka“ über „Ich denke, also bin ich“ bis zur „Apfel-Geschichte“ und Gö-

dels komplexer Persönlichkeit bekannt. Livios Zugang zur Frage „Entdeckt oder erfunden?“ bringt die alten Fakten jedoch in einen für die meisten wohl neuen und ausgesprochen aufschlussreichen Zusammenhang. Dabei beherrscht Livio die seltene Kunst, auf hohem Niveau einfach zu erzählen – und zwar so mitreißend, dass man den Entdecker der irrationalen Zahlen am liebsten höchstpersönlich meucheln würde oder sich kaum der Tränen erwehren kann, wenn Bertrand Russell Gottlob Freges „Grundgesetzen der Arithmetik“ knapp vor der Veröffentlichung die Grundlagen entzieht.

Mario Livio: Ist Gott ein Mathematiker? C.H. Beck, 366 S., € 25,70

Manche der Geschichten sind einfach nur denkwürdig – wie jene zu Gödels Anhörung bei der US-Einwanderungsbehörde, in deren Zuge der Mann, der die Grundfesten der Mathematik erschüttert hat, dasselbe beinahe mit der US-Verfassung getan hätte: Er war nämlich davon überzeugt, innere Widersprüche in der Verfassung entdeckt zu haben, die es völlig legal ermöglichen würden, in den USA eine Diktatur zu errichten. Doch der befragende Beamte war umsichtig genug, Gödels Beweis nicht hören zu wollen. Ebenso wie Livio umsichtig genug ist zu wissen, dass das Wunder Mathematik letztendlich keiner allgemeingültigen Erklärung zugeführt werden kann. Zum Glück: Denn dann wäre es ja auch kein Wunder mehr. MARTINA GRÖSCHL

Mathe macht Spaß – und selten war Lotto so morbid Mathematik: Mit Christian Hesse betritt ein neuer Könner den überschwemmten Markt der Mathematikallerleis er Begriff ,negative Zahl‘ ist anstößig D und zahlenfeindlich. Er sollte durch den Ausdruck ,nicht positive von Null verschiedene Zahl‘ ersetzt werden.“ So beginnt Christian Hesse das Kapitel „Eine Initiative zur Eindämmung politisch inkorrekter Ausdrucksweisen, Sektion Mathematik“. Wer hier nicht lacht, wird es mit Christian Hesse schwer haben. Von satirisch über sarkastisch bis fast schon böse – der Humor zieht seinen schwarzen Faden durch das neue Buch des deutschen Mathematikers, der 2006 mit dem vielgelobten Essayband „Expeditionen in die Schachwelt“ als Sachbuchautor debütierte und im Vorjahr mit „Das kleine Einmaleins des klaren Denkens“ sein erstes Werk zum Themenfeld öffentlichkeitswirksame Mathematik veröffentlichte.

Dabei beginnt alles so unscheinbar. „Wa­r um

Mathematik glücklich macht – 151 verblüffende Geschichten“ präsentiert sich auf den ersten Blick als buntes Mathematikallerlei altbekannter Machart. Ein Sammelsurium von Histörchen zur Mathematik in allen Lebenswelten und -lagen, wie es so oder so ähnlich mit schöner Regelmäßigkeit und verwechselbarer Aufmachung auf den Markt geworfen wird, „Mathematik macht Spaß“ als Lieblingsmantra rezitierend. Doch sobald man einmal die Angst vor der komatösen Endlosschleife überwun-

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breitung diagnostiziert), noch an skurrilen Bonmots, für die er sich aus Gesetzestexten und Zeitungen, bekannten wie unbekannten Köpfen bedient. „Stirbt der Beamte während der Dienstreise, ist die Dienstreise damit beendet“ (§26 Landesreisekostengesetz NRW).

den hat und zu lesen beginnt, erkennt man schnell: Auch dieser Hesse ist ein typischer Hesse, also anders. Mit Hochgeschwindigkeit und allem ihm zur Verfügung stehenden Wortwitz peitscht der Mathematiker, als dessen Lieblingsfreizeitbeschäftigungen Lesen, Schreiben, Schlafen und Schach angegeben werden, durch die großen und kleinen Geschichten. Altes wird entpatiniert und Neues kreiert. Auch Hesse schreibt – wie bereits seine nationale und internationale Kollegenschaft mehrfach vor ihm – über die Wahrscheinlichkeit für einen Lottosechser oder die Primzahllebenszyklen gewisser Zikadenarten. Aber selten war Lotto so morbid („Wenn je-

mand den Tippzettel am Tag vor der Ziehung in der Annahmestelle einreicht, dann ist die Wahrscheinlichkeit, zur Zeit der Ziehung bereits verstorben zu sein, größer als die Wahrscheinlichkeit für sechs Richtige“) und Fortpflanzung so schonungslos: „Hat der (potentielle Partner) sich gefunden, kommt es zu Paarung, Eiablage und Tod in schneller Abfolge.“ Es mangelt weder an satirischen Seitenhieben gegen Berufsgruppen, die eine mäßige mathematische Begabung an den Tag zu legen scheinen wie Journalisten („Die Prozentrechnung ist die Königsdisziplin des deskriptiven Journalismus“) oder Ärzte (bei denen er überhaupt gleich „statistischen Analphabetismus“ in weiter Ver-

Christian Hesse: Warum Mathematik glücklich macht. C.H. Beck, 346 S., € 15,40

Darüber hinaus verbindet Hesse Themen mit der Mathematik, bei denen das gemeinhin nicht getan wird. So legt er dar, dass die doppelte Verneinung in der Umgangssprache im Gegensatz zur Mathematik (Minus Minus ist Plus) nicht zwangsläufig eine Bejahung sein muss (Beispiel aus dem Plattdeutschen: Ick krieg gaar keen Ruh nich). Mit seinem schwarzen Humor und satirischen Blick auf die Welt empfiehlt sich Christian Hesse als ernsthafte Konkurrenz zu den etablierten Mathematikpopularisierern von Albrecht Beutelspacher bis Ian Stewart. Mit den Mathematikallerleibüchern hat sich ein Genre für die leichte Mathematikkost zwischendurch entwickelt, das Hesse auf Anhieb perfekt beherrscht. Unabhängig von Hesses offensichtlichen Qualitäten stellt sich angesichts des mittlerweile durchaus als inflationär zu bezeichnenden Auftretens solcher Bücher jedoch die Frage, ob der Markt nicht schön langsam übersättigt ist. Aber darüber werden wohl die Verkaufszahlen entscheiden. MARTINA GRÖSCHL

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Sachbuch

Schmiermittel der Weltgeschichte Rohstoffe: Zwei neue Bücher gehen der Gier nach Öl auf den Grund – bis zu den Tiefen der Weltmeere

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Weltöffentlichkeit weitgehend vergessenen Regionen ist schon das tägliche Überleben in der ölverseuchten Umwelt ein Kampf, wenn nicht die Frage nach dem Besitz der Rohstoffe zu offenen Konflikten führt – und schließlich zu Kriegen.

über den Einfluss der Ölinteressen auf die Weltgeschichte.

Ein neues Zeitalter Am 28. August 1859 begann das Erdölzeitalter: In Titusville, Pennsylvania, hatte die erste kommerzielle Erdölbohrung der Geschichte Erfolg. Nicht nur in den USA wurden Goldrauschwellen nun zunehmend von Ölrauschwellen abgelöst. Immer mehr Glücksritter riskierten auf der Suche nach dem „schwarzen Gold“ alles. Seit damals hat die Gier nach Öl die Geschichte dramatisch mitbestimmt. Die Kontrolle der Öllager wurde zum wichtigsten geopolitischen Machtfaktor. Einer der langfristig betrachtet vielleicht positivsten Effekte des Aufstiegs von Erdöl zum Energieträger Nummer eins war, dass sich die Jagd auf einige am Rand der Ausrottung stehende Walarten nicht mehr lohnte. Schon längst sterben keine Wale mehr als Rohstofflieferanten, doch für Öl gestorben wird immer noch massenweise. In kriegerischen Auseinandersetzungen um Ölquellen und wegen Öl, das Wasser und Böden verseucht. Die Geschichte der Ölförderung war und ist auch eine Geschichte der Ölkatastrophen: weltweit aufsehenerregend wie jüngst im Golf von Mexiko nach der Explosion der Förderplattform Deepwater Horizon, aber viel öfter noch schleichend, langwierig und umso desaströser wie etwa an den Küsten von Nigeria. In solchen von der

Kriegsspirale Öl

Zur Person Bertram Brökelmann, geb. 1952, Studium der Rechtswissenschaften mit Aufenthalten in Südafrika, Togo und dem Sahel, Rechtsanwaltstätigkeit. 1984 übernahm er die Ölmühle im deutschen Hamm, die sich seit 1845 im Familienbesitz befindet. Der frühe Einstieg der Ölmühle in den Biokraftstoffmarkt brachte den Autor in engen Kontakt zur Mineralölwirtschaft

Öl war im wortwörtlichen Sinne der Treibstoff vieler Kriege der letzten beiden Jahrhunderte, auch der beiden Weltkriege. Wer es verabsäumte, sich rechtzeitig genügend Ölressourcen zu sichern, konnte die Kampftruppen, Flugzeuge und Panzer – kurz: die ganze Kriegsmaschinerie – im Extremfall nicht mehr bewegen. Kriege um Ressourcen wurden so zum Selbstzweck. Öl spielte nicht erst im Fall der Irakkriege, sondern bei praktisch allen größeren bewaffneten Konflikten des 20. und 21. Jahrhunderts eine gewichtige Rolle. Bei der Entstehung von Nationalstaaten vor allem im Nahen Osten waren Ölinteressen entscheidend. Brökelmann macht nicht den Fehler, die gesamte Geschichte der letzten 150 Jahre nur noch durch die „Ölbrille“ zu sehen. Das wäre zu simpel, wie er selbst klarstellt: „Ein Buch zum Thema Erdöl betrachtet naturgemäß das Weltgeschehen durch die vorgegebene Perspektive (…). Zu behaupten, dass dies die ‚ganze Geschichte‘ sei, wäre hingegen vermessen. (...) Dennoch ist es wichtig zu zeigen, dass sehr oft – und öfters, als man gemeinhin vermutet – der

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ass die Gier nach Öl und anderen Rohstoffen die Geopolitik prägt, gilt als Binsenweisheit, auch jenseits aller Verschwörungstheorien. Die wahren Ausmaße sind aber trotz ihrer Brisanz weitgehend unbekannt. Zwei Neuerscheinungen gehen vergangenen, aktuellen und zukünftigen Rohstoffkonflikten auf den Grund. Bertram Brökelmann hat eines der engagiertesten wirtschaftsgeschichtlichen Sachbücher der letzten Jahre geschrieben. Er ist jedoch kein Historiker, sondern Besitzer einer der größten deutschen Speiseölraffinerien. Sein Vorfahr Friedrich Wilhelm Brökelmann übernahm 1845 die Ölmühle im westfälischen Hamm. Pflanzenöl diente Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur als Lebensmittel, sondern vor allem als Brennstoff. Sein wichtigstes damaliges Konkurrenzprodukt war Waltran. Heute ist es Erdöl, das als „Steinöl“ zwar schon seit der Antike bekannt ist, aber erst seit 150 Jahren gezielt gefördert wird. Seit Agrartreibstoffe als Alternative zu Benzin und Diesel nachgefragt werden, ist Brökelmann als Pflanzenölunternehmer immer wieder mit der Mineralölwirtschaft in Kontakt gekommen. Was er dabei über die komplizierten politischen Verflechtungen erfuhr, die durch die Weltmacht Öl gesponnen wurden, ließ ihn nicht mehr los. Das Resultat seiner umfangreichen Recherchen ist ein ebenso detailreiches wie stimmiges Buch

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S a c h b u c h    Energieträger Öl einen deutlichen, maßgeblichen und nicht selten eben doch sogar den letztlich entscheidenden Anteil an den Vorgängen auf diesem Planeten hat.“

Wohlstand ohne Wachstum? Wenn Brökelmann den Einfluss des Öls auf die Zeitgeschichte auch so plausibel wie detailliert belegen kann, begibt er sich nicht auf den naheliegenden Pfad der Dämonisierung eines Rohstoffs. Das eigentliche Problem sei die menschliche Gier, die sich in einer weitgehend unkritischen Wachstumsgläubigkeit politisch und gesellschaftlich verfestigt habe. Das zeige sich am gegenwärtigen „Superkapitalismus“, von dem der US-Politikwissenschaftler Robert Reich spricht. Ein Kapitel widmet Brökelmann der Frage, wie ein „Wohlstand ohne Wachstum“ aussehen könnte – und macht dabei keine schlechte Figur. Die weltweiten Ansätze und Beispiele, die er wählt, zeigen, dass die Definition von „Wachstum“ eine der zentralen globalen Fragen ist. Eines wird jedenfalls deutlich: Solange BIP-Wachstum und CO2-Ausstoß Zwillinge bleiben und der CO2-Ausstoß immer noch als verlässlichster Indikator für den (materiellen) Wohlstand einer Gesellschaft herangezogen werden kann, haben wir ein Problem. In seiner unternehmerischen Tätigkeit bekennt sich Bertram Brökelmann zur gesellschaftlichen Verantwortung. Als Besitzer einer der größten deutschen Ölmühlen lehnt er die Einführung von gentechnisch verändertem Rapssaatgut aktiv ab. Zum Thema Marktdruck meint er: „Das Handeln anderer ist keine Entschuldigung für eigenes Versagen oder Mitläufertum; das gilt in der Wirtschaft genauso wie in al-

len anderen Bereichen des menschlichen „Bertram Brökelmann hat eines der Zusammenlebens.“ engagiertesten wirtÜber der Erde und unter dem Wasser schaftsgeschichtlichen Brökelmann ist auch die Verantwortung Sachbücher der letzten seiner eigenen Branche, des Pflanzenöl- Jahre geschrieben. handels, bewusst: Die Erlöse aus dem Ver- Das Resultat kauf seines Buchs kommen Greenpeace seiner umfangreichen zu, für den Einsatz der Umweltorganisati- Recherchen ist ein on für die indonesischen Regenwälder. Sie ebenso detailreiches werden bekanntlich seit Jahren für immer wie stimmiges Buch über den Einfluss der mehr Palmölplantagen abgeholzt. Mit der Abholzung des Regenwalds ver- Ölinteressen auf die gleichen manche Forscher das, was sich Weltgeschichte.“ auf dem Boden der Tiefsee demnächst abspielen könnte: die zügel- und rechtlose Ausbeutung der unterseeischen Rohstoffvorkommen. Dabei geht es nicht nur um Öl, das in den Mündungsbereichen praktisch aller großer Ströme wie Mississippi, Amazonas, Kongo oder Niger in großen Mengen und ebensolchen Tiefen gefunden wurde, sondern auch um andere Rohstoffe wie die in den 1970er-Jahren entdeckten Manganknollen aus Kupfer, Nickel und Kobalt. Während die Meeresforschung über immer neue Arten und Erkenntnisse aus dem Bertram Brökelriesigen Lebensraum Tiefsee staunt, bah- mann: Die Spur des nen sich bereits die Rohstoffkriege der Zu- Öls. Sein Aufstieg kunft an. Die deutsche Dokumentarfilme- zur Weltmacht. rin Sarah Zierul schildert in ihrem Buch Osburg, 623 S., „Der Kampf um die Tiefsee“ ihre Recher- € 30,80 chen an den Schauplätzen, die über die Zukunft der Tiefsee entscheiden: auf Ölbohr- Sarah Zierul: schiffen, in Forschungsinstituten, am In- Der Kampf um die Tiefsee. Wettlauf ternationalen Seegerichtshof. Ihre Erkenntnisse sind faszinierend, um die Rohstoffe aber auch ernüchternd: Der Aussicht auf der Erde. Hoffmann riesige Profite für die, die schnell zugreifen und Campe, 350 S., können, stehen rechtliches Chaos und ein € 22,70

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möglicherweise irreversibel geschädigtes Ökosystem Meer gegenüber.

Der Preis des Öls Ganz klar wird, dass die Forschung dabei den Wirtschaftsunternehmen, die vielerorts bereits Tatsachen schaffen, deutlich hinterherhinkt. Und erst nach der ­Forschung kommt die Gesetzgebung, von einer Kontrollinstanz ist dabei weit und breit nichts zu sehen. Weder steht fest, welche internationale Behörde zu Kontrollen überhaupt berechtigt wäre, noch wer die Mittel und die technischen Voraussetzungen für Kontrollen in 5000 Metern Tiefe zur Verfügung stellen könnte und sollte. Derzeit sind nur wenige finanzstarke Unternehmen überhaupt in der Lage, in solchen Tiefen zu operieren. Meeresforschungsinstitute verfügen nur über wenige Tauchgeräte und sind oft auf Kooperationen mit der Industrie angewiesen, um überhaupt in ihre Forschungsgebiete zu gelangen. Obwohl seit Jahrzehnten die Erschöpfung der Ölfelder vorausgesagt wird, scheint peak oil, das Ölfördermaximum, eher auf ein peak cheap oil, also ein absehbares Ende des günstigen, für die breite Bevölkerung verfügbaren Öls hinauszulaufen. Denn die Frage ist weniger, ob es noch Öllagerstätten gibt, sondern vielmehr, ob es sich finanziell rechnet, Öl zu fördern. Immer teurer wird es, an Erdöl heranzukommen. Der Preis der Ölförderung unter Extrembedingungen ist nicht nur nach monetären Maßstäben hoch, wie der Unfall im Golf von Mexiko gezeigt hat. Alles hat seinen Preis. Doch der Preis, den die Menschheit immer noch für Rohstoffe riskiert, könnte eindeutig zu hoch sein. K ARIN CHLADEK

Keine neue Erklärung des Universums Physik: Stephen Hawking und Leonard Mlodinow legen eine neue Universaltheorie vor, die es erst noch zu beweisen gilt ragen wie „Warum hat Papa eine lange F Nase?“ oder „Warum ist der Himmel blau?“ stellen Kinder unentwegt, und wenn

sie Glück haben, erhalten sie darauf eine ausführlichere Antwort als ein schnödes „Darum!“. Diese Art Fragen nehmen nun auch Stephen Hawking und Leonard Mlodinow als Aufhänger ihres neuen Buchs „Der große Entwurf“ und begründen sie ganz am Anfang: „Um das Universum auf fundamentaler Ebene zu verstehen, müssen wir nicht nur wissen, wie sich das Universum verhält, sondern auch, warum: Warum gibt es etwas und nicht einfach nichts? Warum existieren wir? Warum dieses besondere System von Gesetzen und nicht irgendein anderes?“ In der Folge erläutern die Autoren viele der wichtigsten Gedankengänge und experimentellen Anordnungen, die heute als Bausteine eines modernen Weltbildes vorliegen, um dann nach etwa 150 Seiten die Antwort zu geben: „Wir behaupten, dass es möglich ist, diese Fragen ausschließlich in den Grenzen der Naturwissenschaft und ohne Rekurs auf göttliche Wesen zu beantworten.“ Und: „Die M-Theorie ist der einzige Kandidat für eine vollständige Theorie des Universums.“

So weit, so gut, könnte man meinen, Gott

brauchen wir nicht, wir haben die Lösung. Die Krux jedoch steckt im letzten Satz: „Wenn die Theorie durch die Beobachtung

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bestätigt wird, ist sie der erfolgreiche Abschluss einer Suche, die vor mehr als 3000 Jahren begonnen hat. Dann haben wir den großen Entwurf gefunden.“ Damit hebeln die Autoren ihre ganze Beweiskette aus und lassen einen Leser wie nach einem Krimi frustriert zurück, bei dem am Ende klar wird, dass der Drehbuchschreiber selbst nicht weiß, wer der Mörder war. Denn die „M-Theorie“ ist nicht nur weit davon entfernt, „experimentell bestätigt“ zu werden, sie ist noch gar nicht in dem Sinn formuliert, wie sich das für eine wissenschaftliche Theorie gehört. Von daher macht auch die im Text gestellte Frage nach einem Endlichkeitsbeweis vorerst keinen Sinn. Fakt ist lediglich, was man Mitte der 90er-Jahre gelernt hatte: dass die seit den 70er-Jahren entwickelten Stringtheorien mathematisch zusammenhängen. Daher wurde spekuliert, es müsse eine zugrundeliegende „Muttertheorie“ geben, aus der die Stringversionen in geeigneten Grenzfällen folgen. Wobei selbst diese Stringtheorien, die die Gravitationskraft mit der Quantentheorie vereinen wollen, noch keine experimentell gesicherte Basis haben. Der wichtigste Protagonist in Sachen M-Theorie übrigens, der US-amerikanische Physiker und Fields-Medaillengewinner Ed Witten, den einige Fachkollegen als den „Einstein unserer Zeit“ bezeichnen, wird von den Autoren mit keinem Wort er-

wähnt. Unanständig ist aber auch das Gehabe des Verlags. Eine „neue Erklärung des Universums“ liefert dieses Buch mitnichten. Es gibt zur von Hawking und Mlodinow behandelten Thematik mehrere Bücher namhafter Wissenschaftler. Eines, das im Lärm der „großen Entwürfe“ leisere Töne anschlägt, sei zumindest als Begleitlektüre gleich hier wärmstens empfohlen: Claus Kiefers „Der Quantenkosmos“ (2008). Dort legt der deutsche Physiker den aktuellen Stand der physikalischen Grundlagenforschung ebenso allgemein verständlich, aber viel umfassender und redlicher dar. Stephen Hawking hat sich seinen Rang in der

Stephen W. Hawking, Leonard Mlodinow: Der große Entwurf. Eine neue Erklärung des Universums. Rowohlt, 192 S., € 25,70

Physik mit den Forschungen über Singularitäten und Schwarze Löcher zwischen 1965 und 1985 erarbeitet. Niemand missgönnt ihm den Millionenerfolg seines innovativen Buchs „Eine kurze Geschichte der Zeit“ (dt. 1991), die aufgrund seiner schweren ALS-Muskelerkrankung medial befeuerte Hawking-Manie kann und will man dem mittlerweile 68-Jährigen auch nicht anlasten. Und Leonard Mlodinow, ebenfalls Physiker, ist als seriöser und guter Schreiber bekannt. Mit diesem auf Verkauf getrimmten Buch erweisen sie weder sich selbst noch den vielen ernsthaft forschenden Stringtheoretikern einen Dienst – was zu einer neuen Warumfrage führt ... ANDRÉ BEHR

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Sachbuch

Der neben dem Lichtstrahl läuft Physik: Michiu Kaku stellt die wichtigsten Leistungen Albert Einsteins aus moderner Sicht in meisterhafter Klarheit dar m Jahre 1905 veröffentlichte ein am PaImens tentamt in Bern angestellter Physiker naAlbert Einstein fünf Schriften, dar-

unter seine Dissertation an der Universität Zürich über Moleküldimensionen. Jede der fünf Arbeiten des damals 26-Jährigen war für die sich schon länger abzeichnenden, revolutionären Umbrüche in der Physik des frühen 20. Jahrhunderts fundamental, weshalb man diese Schaffensperiode Einsteins euphorisch „Annus mirabilis“ nennt. Damit wird auf Isaac Newtons „Wunderjahr“ 1666 angespielt, in dem der englische Gelehrte erste Spuren zu seiner Fassung der Infinitesimalrechnung, der Gravitations- sowie der Farbentheorie gefunden hatte. Die für Newton eingeführte Bezeichnung wurde übrigens beim Dramatiker John Dryden entlehnt. Als sich Einsteins Annus mirabilis 2005 zum 100. Mal jährte, erschien, wie bei großen Jubiläen mittlerweile üblich, ein ganzes Regal voll neuer Bücher. Zu den eindeutig wertvolleren Beiträgen gehörte damals Michio Kakus „Einstein’s Cosmos“ aus der Serie „Great Discoveries“ (Norton). Die Übersetzung liegt erst jetzt vor, weil die deutschen Rechte an dieser Serie bis vor kurzem nicht frei waren.

Der 1947 als Sohn japanischer Einwanderer im kalifornischen San José geborene Michio Kaku ist der Ranga Yogeshwar der US-elektronischen Medien, mit seinen Kommenta-

ren zu aktuellen naturwissenschaftlichen Fragen, also präsent auf vielen Kanälen. Im Unterschied zum deutschen TV-Physiker mit indisch-luxemburgischen Wurzeln hat er allerdings eine weit höhere Reichweite, eine Professur für Theoretische Physik an der University of New York und einen Namen von gewissem Rang in der Forschung, speziell als Stringtheoretiker. (Das hochmathematische Konstrukt „String-“ oder „M-Theorie“ ist einer der heutigen Versuche, alle vier physikalischen Kräfte unter einen Theoriehut zu bringen.)

schäftigt: Gravitation und Quantentheorie zu vereinen. Ins Zentrum seiner Aufarbeitung von Einsteins Vermächtnis setzt Kaku die Frage, die sich jeder Normalsterbliche stellt: Wie kam dieser akademisch unangepasste Mann auf all die vielen tiefschürfenden Ideen? Kaku wählt als Ordnungsprinzip zur Beschreibung von Einsteins Denkweise und größten Leistungen dessen Gabe, Probleme in elegante physikalische Bilder zu übersetzen.

Kaku hat mehrere Bestseller geschrieben, in

denen er gut lesbar, unaufgeregt und ohne Scheu vor dem zu erwartenden Stirnrunzeln mancher seiner Fachkollegen futuristische Gedankengänge wie Zeitreisen, Zukunftstechnologien, Multiversen oder extraterrestrische Zivilisationen erläutert. Das neueste Werk, „Physics of the Future“, ist auf seiner Homepage bereits für 2011 angekündigt. Gegenüber solchen Höhenflügen wirkt sein Buch über Einstein geradezu altmodisch. Für die Quellenstudien hatte er sich klassisch nach Princeton begeben, wo am berühmten Institute of Advanced Study der noch berühmtere Einstein gut aufgehoben, aber auch abgeschieden die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens verbrachte und an dem herumrätselte, was seine Nachfolger jetzt wieder vornehmlich be-

Michio Kaku: Einsteins Würfel oder Die Revolution von Raum und Zeit. Piper, 268 S., € 20,60

Noch keine 16, beseelte den jungen Einstein beispielsweise die Vorstellung, wie ein Lichtstrahl aussieht, wenn man nebenher laufen könnte. Und Jahre später stellte sich Einstein die Planeten als Murmeln vor, die auf einer gekrümmten, in der Sonne zentrierten Fläche herumrollen. Das erste Bild führte zur speziellen, das zweite 1915 zur Formulierung der Allgemeinen Relativitätstheorie, Einsteins Meisterwerk. Kaku schildert diese wissenschaftlichen Entwicklungen in bestechend klarer Sprache und ergänzt sie sehr einfühlsam mit Biografischem. So entstand eine präzise, allgemeinverständliche Darstellung der wichtigsten Leistungen Einsteins aus moderner Sicht, die dem Leser zugleich die Freiheit lässt, sich über die Lebensführung dieses eigenwilligen Menschen eine eigene Meinung zu bilden. ANDRÉ BEHR

„Großen Männern von einem dankenden Land“ Physik: Barbara Goldsmith erzählt das bewegende Leben der ersten weiblichen Nobelpreisträgerin Marie Curie ie Geschichte der Physik und MatheD matik ist von Männern dominiert. Es gab zwar immer wieder einige Nobelpreisträgerinnen auf den Gebieten Literatur, Frieden oder Medizin und jüngst auch Wirtschaft, in der Physik ging diese höchste Auszeichnung jedoch nur zweimal an eine Frau: 1903 an Marie Curie und ihren Mann Pierre, 60 Jahre später an die USAmerikanerin Maria Goeppert-Mayer. Auch in der Chemie wurden nur vier Frauen ausgezeichnet, darunter wieder Marie Curie (1911) sowie ihre älteste Tochter Irène Joliot-Curie (1935). Und die FieldsMedaille, das Pendant zum Nobelpreis im Fach Mathematik, wurde überhaupt noch nie an eine Frau vergeben. So verwundert es nicht, dass die zweifache Nobelpreisträgerin Marie Curie in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts einen Berühmtheitsgrad erlangte wie ein Popstar und noch heute die wohl bekannteste Naturwissenschaftlerin ist. Ein Foto von ihr und ihren beiden Töchtern Irène und Eve hing auch im Kinderzimmer von Barbara Goldsmith, der New Yorker Autorin der 2005 erschienen Biografie. Wie Michio Kakus Einstein-Monografie (siehe oben) wurde sie aus verlagsrechtlichen Gründen erst jetzt ins Deutsche übersetzt.

Die 1934 im Alter von 67 Jahren in Paris ver-

storbene Marie Curie war nicht die erste Wissenschaftlerin, wie der Untertitel des Buchs suggeriert, aber eine, deren wissen-

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den besonders. Hochbegabt und als jüngstes von fünf Kindern des Lehrerehepaars Skłodowski, das in Warschau unter der Fuchtel der russischen Fremdherrschaft darbte, litt sie lange unter Entbehrungen und Schicksalsschlägen. Sie musste familiäre, finanzielle und nationale Barrieren überwinden, ehe sie überhaupt an der Sorbonne Physik und Mathematik studieren konnte. Nach dem tödlichen Unfall ihres Mannes 1906 wurde sie wegen einer Liebesaffäre öffentlich diffamiert, und zuletzt bezahlten sie und ihre 1897 geborene Tochter Irène den höchstmöglichen Preis für den Umgang mit radioaktiven Substanzen: Marie Curie starb 1934 an perniziöser Anämie, die in jeder Hinsicht ebenso engagierte Mathematikerin und Physikerin Irène 1956 an Leukämie.

schaftliche Leistungen als „Mutter der Radiochemie“ bahnbrechend waren – und immerhin die erste Nobelpreisträgerin und erste Professorin an der Sorbonne. Unter den Augen höchster Würdenträger aus Kultur und Politik wurden 1995 ihre und die Asche ihres Mannes in das Panthéon überführt, um neben den „Unsterblichen“ Frankreichs ihre letzte Ruhestätte zu finden. Ein Nationalheiligtum, das von dem Schriftzug „Großen Männern von einem dankenden Land“ geziert wird, wie Gold­ smith mit ironischem Unterton anmerkt. Mit der Entdeckung der Elemente Polonium und Radium 1898 hatte das Ehepaar Marie und Pierre Curie eine intensive Erforschung der Struktur der Materie eingeleitet. Und dies zu einer Zeit, in der lange nicht alle Physiker und Chemiker die Atomhypothese mittrugen und manche Professoren den Studenten von der Wahl des Fachs Physik abrieten, weil nichts Neues mehr zu erwarten sei. Nur wenige Jahre später arbeiteten die besten Köpfe der Zeit an der Einordnung von Phänomenen wie Radioaktivität, Umwandlung der Elemente oder Kernspaltung – mit den bekannten Folgen für Technik, Wirtschaft und Zivilisation. Auch Einstein verdankt den Pionierleistungen von Marie Curie wichtige Anregungen und blieb ihr persönlich freundschaftlich verbunden. Marie Curie forschte so unbeirrt wie andere Pioniere. Ihre Lebensgeschichte berührt jedoch aus verschiedenen Grün-

Goldsmith führte Gespräche mit Familien-

Barbara Goldsmith: Marie Curie. Die erste Frau der Wissenschaft. Piper, 255 S., € 20,60

mitgliedern und hatte – wie Curie-Biografin Susan Quinn zuvor – Einsicht in lange nicht zugängliche Tage- und Notizbücher (die übrigens noch immer radioaktiv strahlen). Zur Abrundung ihres fundierten Porträts lohnt sich dennoch ein Blick auf die beachtlich lange Liste der über die Curies erschienenen Werke. Zumindest Marie Curies schmale Autobiografie und das einst sehr erfolgreiche Buch ihrer 1904 geborenen Tochter Eve, „Madame Curie“ (orig. 1947), sind als Ergänzung zu empfehlen. ANDRÉ BEHR

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Sachbuch

Beschwörung der göttlichen Automarke

Trägheit der Dinge und Wunsch nach Veränderung

Philosophie: Zwei Werke von Roland Barthes sind nun erstmals (vollständig) auf Deutsch erschienen

Soziologie: In seinen „Algerischen Skizzen“ (1958–64) ist schon der gesamte spätere Bourdieu enthalten

m 1970 waren Roland Barthes’ U „Mythen des Alltags“ ein Kultbuch in Intellektuellenkreisen, viel-

oziologie ist ein Kampfsport, bei S dem Fouls streng verboten sind“, pflegte Pierre Bourdieu zu sagen. Sein

leicht sogar ein wenig darüber hinaus. Ein schmaler Band der Edition Suhrkamp, kurze Stücke zu lebensnahen Themen, nicht allzu schwer zu lesen, trotzdem hochintelligent. Marxistische Ideologiekritik und Strukturalismus, Sprachwissenschaft, Ethnologie, ein paar existenzialistische Reminiszenzen, das alles locker gemixt, ein gut genießbarer Cocktail. Die neue, erweiterte Ausgabe des in Frankreich schon Mitte der 50er-Jahre erschienenen Buchs ist etwa doppelt so dick, sie wird von einem theoretischen Traktakt abgeschlossen, dessen seriöse Haltung sich deutlich von den impressionistischen Beschreibungen und süffisanten Zergliederungen in den kleinen Feuilletons – die Texte waren zuvor in Zeitschriften veröffentlicht worden – unterscheidet. Man kann sich sogar fragen, ob der Mythosbegriff, den Barthes hier theoretisch zu begründen versucht, nicht viel zu weit ist, um die angezielten Phänomene fassen zu können. Und ob es sich dabei nicht bloß um eine Veredelung des trivialen Mythosbegriffs handelt, mit dem vor allem Wirklichkeitsverschleierung gemeint ist. Sodass es dem Mythologen letztlich darauf ankäme, das Wirkliche zu entschleiern.

Trotzdem ist die Neuausgabe zu begrü-

ßen, eben weil Barthes Barthes ist, um es tautologisch zu sagen (nichts verabscheute er so sehr wie Tautologien, in den 50er-Jahren für ihn der Inbegriff „kleinbürgerlichen“ Denkens). Barthes war und ist Barthes, weil er beim Schreiben seine Widersprüche auslebte. In den „Mythen“ ist der Grundwiderspruch von Faszination und Kritik, von Einfühlung und Zurückweisung am Werk, ein Widerspruch, den er selbst zuweilen mit dem Wort „Sarkasmus“ benennt und der noch in den 70er-Jahren spürbar ist, als Barthes eine Semiologie der Dinge aufzubauen versuchte. Schon in den „Mythen“ sind es vor allem Dinge des kapitalistisch geprägten Konsums, Bilder der Werbung, massenmedial vermittelte Affekte, die seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Am eindringlichsten sind seine Feuilletons, wenn er den massenhaft zirkulierenden Dingen auf die Schliche kommt und mit leichter Feder eine Kritik der Warenästhetik skizziert. Diese Fähigkeit, zwischen Einfühlung und Analyse, zwischen literarischem Schreiben und Anstrengung des Begriffs zu changieren, erinnert an Walter Benjamin, der ebenfalls beide Seiten zu vereinen wusste. Seine ganze stilistische Raffinesse – Stil, noch so ein Wort, das er verab-

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scheute – entfaltet Barthes, wenn er aus den Eigenschaften von Putz- und Waschmitteln eine moderne Emblematik hervorzaubert, wenn er eine Morphologie des Plastiks umreißt, die Göttlichkeit einer neuen Automarke beschwört oder über die nationale Bedeutung von Pommes frites oder Rotwein räsoniert. Hin und wieder überrascht es, wie sehr das Staunen Barthes’ über die moderne Welt durch spätere Entwicklungen obsolet wurde. Wer würde sich heute noch über Konterfeis von Politikern in der Wahlwerbung wundern? Was aber seine Kommentare betrifft, so erweist sich die oft besserwisserische Ideologiekritik als zeitbedingte Schlacke. Der „reife“ Barthes wird sich als Skeptiker sehen. Im „Tagebuch der Trauer“, nach dem Tod

seiner Mutter 1977 geschrieben, erwähnt Barthes, dass er Lieder in der Interpretation des Baritons Gérard Souzay hört, und zwar unter Tränen; er bedauert es, den Sänger in den „Mythen“ „verspottet“ zu haben. Was hinter der sarkastischen, kühlen Fassade steckt, zeigt dieses Tagebuch geradezu drastisch; eine Ahnung davon hatte zuvor schon seine Schrift „Über mich selbst“ (dt. 1978) gegeben. Empfindsamkeit und Sehnsucht nach Würde, nach einem einfachen Leben sind die heimlichen Antriebskräfte von Barthes’ Schreiben. Das „Tagebuch“ ist in gewisser Weise nichts anderes als die Heiligsprechung seiner Mutter. „Bei ihr gab es nie eine Metasprache, eine Pose, ein gewolltes Bild. Genau das ist ‚Heiligkeit‘.“ Er selbst hingegen sei in einer „endlosen Metasprache verwoben“. Barthes’ Paradox bestand vielleicht darin, sich einen eigenwilligen Weg im Bereich der Metasprachen zu bahnen, um zum Ursprünglichen, Unverstellten, ja sogar zum Vorsprachlichen, das die Mutterbeziehung verkörpert, zu gelangen. Den Mythos definierte Barthes als triviale, (klein)bürgerliche Metasprache. Damals, in den 50er-Jahren, hatte er noch nicht bedacht, dass er mit seiner kritischen Beschreibung dieser Phänomene nichts anderes tat, als die sekundäre Zeichenebene durch eine dritte zu überbieten. LEOPOLD FEDER MAIR

Roland Barthes: Mythen des Alltags. Suhrkamp, 325 S., € 28,80 Tagebuch der Trauer. 26. Oktober 1977 – 15. September 1979. Hg. von Nathalie Léger. Hanser, 271 S., € 22,10

unfairer Gegner war besonders in den letzten Jahren bis zu seinem Tod 2002 der Neoliberalismus. Die Wandlung des jungen Philosophielehrers, der 1930 als Sohn eines Bauern im okzitanischen Béarn geboren wurde, zum wehrhaften Soziologen vollzog sich während seines Militärdienstes in Algerien und seinen darauffolgenden ethnosoziologischen Auseinandersetzungen mit dem Land. In den „Algerischen Skizzen“, die sechs Jahre nach seinem Tod kompiliert wurden und nun rechtzeitig zu seinem 80. Geburtstag auf Deutsch erschienen sind, finden sich hauptsächlich Aufsätze, die während des algerischen Unabhängigkeitskrieges entstanden sind und in den Jahren 1958 bis 1964 erstmals veröffentlicht wurden. Sie handeln von Kolonialismus, dem Algerienkrieg und den sozialen Erschütterungen, die deren Folge waren, und basieren auf ausgewerteten Statistiken und Interviews, eingebettet in Bourdieus Reflexionen.

Bemerkenswert ist, dass in diesen frühen Schriften in Ansätzen schon der gesamte Bourdieu enthalten ist. Dies gilt sowohl hinsichtlich seiner kämpferischen politischen Einstellung als auch seiner Methodik und Theorie. Gestützt auf Karl Marx und Max Weber versuchte er schon damals, mittels empirischer Forschung nicht nur die beobachtende Rolle einzunehmen, sondern in die gesellschaftliche Praxis einzugreifen. Dieses Forschungsund Lebensverständnis eines der wichtigsten Soziologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde zutiefst von dem Eindruck des französischen Kolonialsystems und des Krieges geprägt. In den „Algerischen Skizzen“ äußert sich dies in Überlegungen zum Zusammenprall zweier Zivilisationen (einer kapitalistischen und einer vorkapitalistischen), dessen Folgen vor allem mit der im Krieg durchaus riskanten Methode der Feldforschung herausgearbeitet wurden. Die Lebensauffassung der hauptsächlich landwirtschaftlich ausgerichteten Stammesbevölkerung der nordalgerischen Kabylei, die „hinsichtlich ökonomischen Verhaltensweisen (Lohnarbeit, Sparen, Kredit, Geburtenplanung)“ keineswegs der Marktlogik gehorchte, ermöglichte die Einsicht, dass ein Denken außerhalb des kapitalistischen möglich ist.

die Orientierungslosigkeit einer ganzen Bevölkerungsgruppe auslöste. So kann er etwa feststellen, dass Individuen erstmals begannen, sich selbst als arbeitslos wahrzunehmen, obwohl ihre tatsächliche Arbeitssituation sich nicht geändert hatte. Bereits hier werden die zentralen Begriffe seines Werks, wie die unterschiedlichen Kategorien des Kapitals (wirtschaftliches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital) oder der Reproduktion (nämlich der sozialen Ungleichheit) vorbereitet. Begriffe, die später in seinem wohl bekanntesten Werk „Die feinen Unterschiede“ (dt. 1982) (in dem es um Geschmack als vom sozialen Feld vorgegebenes Phänomen geht) oder „Homo Academicus (dt. 1988) (in dem der Professor des Collège de France seine universitäre Umgebung erforscht) der Analyse der Gewohnheiten seiner Landsleute zugrunde gelegt werden. Im Vergleich zu manch späterem Werk setzt er in den „Algerischen Skizzen“ statistische Mittel nur sparsam ein, denn ebenso wichtig wie die empirischen Werkzeuge sind, wie Bourdieu festhält, die unverblümt erzählte Anekdote oder der Einblick in die Gefühlswelt. Es ist in den 60ern in Algerien wie in den 90ern in Frankreich („Das Elend der Welt“, dt. 1997) eine „metaphysische Verzweiflung“, die aus Bourdieus Interviewten spricht und die ihn wohl 40 Jahre lang gleichermaßen verfolgte wie antrieb – das Wissen um Trägheit und Konstanz der Dinge und sein gleichzeitiger Wunsch nach Veränderung. Teile des Inhalts dieser Aufsätze und Studien konnten schon in anderen Ausgaben (zuletzt: „Die zwei Gesichter der Arbeit“, dt. 2000) nachgelesen werden; der streckenweise repetitive Charakter auch innerhalb des Werks ist aber durchaus im Sinne des Autors, denn jeder Ansatz erschließt neue Facetten und Sichtweisen. Für Leser, die schon andere Schriften zum Themenkomplex Algerien gelesen haben, wird der Band trotz der hervorragenden Vorbemerkung der Anthropologin Tassadit Yacine nicht viel Neues bieten – als Einsicht und Einführung in die Gedankenwelt des großen Soziologen ist er aber mehr als STEPHAN FADINGER tauglich.

Bourdieu zeigt weiters auf, dass die um-

fassende Destruktivität des französischen Einflusses, die sich äußerlich in der Umsiedelungspolitik sowie deren zerstörerischen Konsequenzen für die Familienverbände manifestierte,

Pierre Bourdieu: Algerische Skizzen. Suhrkamp, 523 S., € 33,90

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Der Philosoph kommt auf dem Rennrad Philosophie: Die Zeit, sie eilt im Sauseschritt, Liessmann denkt – wir denken mit

Foto: heribert corn; illustr ation: Andreas dürer

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as haben die Abseitsregel und Goethes „Faust“, eine Radtour durch die ungarische Puszta und die nominalistische Geldtheorie Aristoteles’ miteinander zu tun? Ganz genau: Über all das und noch viel mehr hat Konrad Paul Liessmann nachgedacht, und was dabei herausgekommen ist, ist in dem nun vorliegenden Band versammelt. Das Buch ist eine Mogelpackung: Der Titel „Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen“ und der Umschlag, der ein aufgeschlagenes Moleskine-Notizbuch so wie ein klassisches Brillengestell (Modell Clark Kent) zeigt, suggerieren so etwas wie eine Enzyklopädie von Alltagsgegenständen: Liessmann über das Jugendlichkeitsversprechen von Umhängtaschen, die Retronobilitierung von Hausfrauenkleidchen, das Design von Müsliriegeln und die Phänomenologie der Freisprechanlage – so was in der Art. Stattdessen findet sich hier eine Reihe von Vorund Beiträgen, die der Autor in den letzten Jahren zu verschiedenen Gelegenheiten gehalten und verfasst hat. Gewiss, ein grundlegendes Interesse an ästhetischer Wahrnehmung und Rede in Kunst, Theorie und Alltag verbindet die meisten der insgesamt zwölf, mit maximal 20 Seiten relativ kurzen Denkstücke, aber echte Systematik ist keine auszumachen. Dass nicht alles, was irgendwann einmal publiziert oder vorgetragen wurde, zwischen zwei Buchdeckel geklemmt werden muss, ist eine viel zu wenig beachtete Einsicht. Im diesem Falle greift sie freilich nicht, denn Liessmann, der vermutlich am häufigsten (außerhalb des unmittelbaren universitären Kontextes) nachgefragte Philosoph des Landes, vermag es wie kaum ein anderer Gelehrter, eine größere Öffentlichkeit für eminente Fragen seines Faches zu interessieren, ohne befürchten zu müssen, von seinen akademischen Kollegen als Populist verachtet zu werden (dass das mit Gewiss-

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heit dennoch geschieht, hat nichts zu sagen – jedenfalls nichts über Liessmann). Es ist keineswegs herablassend gemeint, wenn die vorliegenden Aufsätze und Vorträge als ausgesprochen „bekömmlich“ charakterisiert werden, sind sie doch auch das Produkt eines gewieften und taktvollen Didaktikers, der, erstens, von der Möglichkeit und Notwendigkeit des Lernens und Lehrens noch überzeugt ist, und dies, zweitens, selbst auch nachweislich beherrscht, sein Publikum also dazu bringt, etwas zu lernen, ohne dass es dieses merkt.

Zur Person

Konrad Paul Liessmann, geb. 1953 in Villach, ist außerordentlicher Professor am Institut Liessmanns Texte funkeln nicht – „brillant“ ist für Philosophie in Wien nicht das erste Adjektiv, das einem zu ihnen und der bekannteste einfällt. Sie stellen Fragen (von denen sie ei- Philosoph des Landes. nige beantworten), aber sie zielen nicht auf Er hat zahlreiche Bücher Pointen ab; vom kess Provokativen halten veröffentlicht, zuletzt sie ebenso weit Abstand wie vom kultur- u.a. „Schönheit. Von pessimistischen Suderantentum, obgleich der Antike bis zur Gegeneine grundlegende Fortschrittsskepsis zu wart“ (2009), „Zukunft konstatieren ist, die indes nie mit dem Ges- kommt!“, „Theorie der tus selbstherrlicher Entlarvung auftritt. So Unbildung. Die Irrtümer stellt Liessmann etwa gleich im einleiten- der Wissensgesellschaft“ den Titelstück die Frage, was denn bei al- (2006)

lem unleugbaren produktionstechnischen Fortschritt eigentlich aus „dem uralten Traum, sich vom Fluch der körperlichen Arbeit zu befreien“ geworden ist. Eine Frage, die – und darin liegt auch schon die ernüchternde Antwort – nicht gestellt werden darf, rührt sie doch „an eines der wirklichen Tabus der rezenten Gesellschaftsordnung: Rationalisierungs- und Automatisierungsgewinne sind unantastbar. Die Menschenwürde ist es nicht.“ Umgekehrt lauert das Rettende just dort, wo man es nicht erwartet hat. Denn „inmitten der Eventkultur“ gelangt Liessmann bei aller Kritik zu der hoffnungsfrohen Einsicht, es sei vielleicht gar nicht so schlecht, dass man die Kunst „erst wieder suchen und aufsuchen muss, um dann hinter all dem Getue, Geschiebe und Getriebe etwas Einzigartiges zu entdecken, das einem im Wortsinn den Atem raubt“.

Konrad Paul Liessmann. Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen. Zsolnay, 192 S., € 18,40

Dass zwei Texte, die im doppelten Sinne herausragen, ausgerechnet vom Fußball und Radfahren handeln, hat zum einen damit zu tun, dass Liessmann über das prekäre Verhältnis von Philosophie und Sport sehr genau Bescheid weiß, und zum anderen, dass er hier die Position diskreter Distanz für einmal aufgibt. „Das runde Leder“ überzeugt nicht zuletzt durch die Auswahl der Zitate (von Huizinga über Handke bis zu dem heute weitgehend vergessenen christlich-konservativen Schriftsteller Manfred Hausmann), „Die letzte Kehre“ aber verleiht der Textsammlung ein fast rührendes Moment persönlicher Entäußerung. Man spürt, dass Liessmann sich für Musik

interessiert und dass es dann wohl eher Schubert und Schönberg als Wham! und A-ha sind. Man ahnt, dass ihn die Führung des Villacher SV in der Kärntner Liga nicht kalt lässt. Aber daran, dass er ein Rennradfanatiker ist, kann schon allein deswegen kein Zweifel aufkommen, weil der Philosoph, sitzt er erst im Sattel, vor lauter Enthusiasmus der sattelfesten Stilistik verlustig geht, über die er ansonsten verlässlich verfügt. Von präziöser Produktanpreisungsprosa („Hinter dem Unscheinbaren verbirgt sich edelstes Material: Stahl, Aluminium, Carbon“) ist er hier ebenso wenig gefeit wie vor Erhabenheitskitsch („Tiefer als der Rausch der Geschwindigkeit, tiefer als die Abfahrt berührt nur eines: der Berg“). Dergleichen verminderte Bodenhaftung wird aber durch eine äußerst triftige, zwischen Ironie und Melancholie oszillierende Reflexion übers Fitnessstudio und die vielleicht erstaunlichste Einsicht des ganzen Buchs wettgemacht; diejenige nämlich, dass die „Lust an der Autonomie des Ästhetischen“ heute nur mehr dem Körper offen steht, wohingegen sich der Geist „längst vollständig den Anforderungen der Ökonomie beugen (muss)“. KLAUS NÜCHTERN

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Sachbuch

Wenn ich den ausmache, bin ich draußen!

Von der Kreativität zur Schwarmintelligenz

Neue Medien: Alex Rühle lebte ein halbes Jahr offline. Ein glücklicherer Mensch ist er dadurch nicht geworden

Neue Medien: Jaron Larnier, Internetfreak der ersten Stunde, reflektiert über die Gefahren des Mediums

ein Google, wenn man schnell K eine Adresse finden will. Kein Wikipedia, um rasch eine Informati-

Jaron Lanier ein weiterer alter IvorstSack, der von der goldenen Zeit dem Internet redet, als alles noch

on nachzulesen. Kein Spiegel Online, um auf dem Laufenden zu sein. Kein YouTube, um zwischendurch ein Musikvideo anzusehen. Kein E-Mail, um mitzubekommen, was in der Firma gerade passiert. Alex Rühle hat einen verrückten Selbstversuch gestartet. Er hat sein Blackberry zurückgegeben, den Webbrowser deinstalliert und zuhause das Internet abgedreht. Sechs Monate lang lebte er „Ohne Netz“, wie schon der Titel seines Buchs sagt. Der Redakteur der Süddeutschen Zeitung hatte zuvor das Gefühl gehabt, sich selbst in den Weiten des Web zu verlieren. Er konnte nicht einmal im Urlaub ausspannen, weil er nach dem nächsten Internetcafé suchte. In geselligen Runden verabschiedete er sich aufs Klo, um heimlich am Handy die E-Mails zu checken. In der Redaktion vertrödelte er seine Zeit im Netz, statt konzentriert zu arbeiten. Rühle war ein Internetjunkie, so wie viele andere auch. Er wollte wissen: Wie wäre das Leben ohne Netz? Wird man dadurch glücklicher, ausgeglichener oder weniger zerstreut?

Am Anfang des Experiments leidet der Autor unter klaren Entzugserscheinungen. „Ich hab den Blackberry meist in meiner Hemdtasche getragen, das heißt, der Vibrationsalarm ging mir direkt ins Herz. Jetzt klafft da ein riesiges Loch, das freilich keiner sehen kann. Aber ich kann es spüren“, schreibt er schon in der ersten Woche. Im Tagebuchstil führt er den Leser durch ein emotionales Auf und Ab. Mal ist Rühle euphorisch, weil er endlich Zeit zum Lesen hat, mal ist er betrübt, weil er ohne Internet in der Redaktion nicht richtig arbeiten kann oder sich vom Rest der Menschheit isoliert fühlt. Manche Leser werden von seinem Ergebnis enttäuscht sein. Denn Rühle liefert keine definitive Antwort. Weder ruft er in einer Brandschrift alle dazu auf, ihre Geräte zu zertrümmern, noch ist er ein Technikfreak, der von einer besseren, demokratischeren Welt hinter dem Bildschirm träumt. Die sechs Monate offline haben ihn zu keinem glücklicheren Menschen gemacht. „Same old fucking problems, same old shit, same old me“, zitiert er den Musiker Fred Frith. Wohl aber war es eine angenehme Erfahrung, der permanenten Reizüberflutung vorübergehend zu entkommen. Rühle will sich künftig stärker unter Kontrolle haben. Auf das Blackberry und den übermäßigen Internetkonsum zuhause verzichten.

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Spannend ist sein Blick auf die Gesellschaft. Er fragt: Sind Handy und Internet allein schuld, dass wir keine Ruhe mehr finden? Oder hat die Gesellschaft ein tiefer liegendes Problem, dass sie nicht innehalten kann? Der Feuilletonist nennt das den „Schnelligkeitsdruck“. Ständig müssen wir erreichbar sein, und alles muss ASAP gehen, as soon as possible. Das führt dazu, dass ein junger Rechtsanwalt auf Urlaub fährt und permanent am Blackberry hängt. Als er darauf angesprochen wird, zuckt er aus: „Kapiert ihr das nicht?“, schreit er. „Wenn ich den ausmache, bin ich draußen!“ Ob das ein eingebildeter oder ein realer Druck ist, wird zwar nie zur Gänze geklärt. Rühles eigene Erfahrung zeigt aber, wie aufgeschmissen man im Job ohne Internet ist. Der Redakteur bekommt nicht mehr mit, was in seiner Zeitung passiert. Die hausinternen E-Mails kann er nicht lesen. Seine Recherche leidet. Ohne Google kann er die richtigen Ansprechpartner und ihre Telefonnummer nicht finden. Eines Abends möchte er zum Beispiel die Adresse seines Verlags erfahren und ruft dafür die Auskunft an. Die Nummer des Klett-Cotta-Verlags sieht die Mitarbeiterin aber nicht im Telefonbuch. „Schließlich fragt sie, ob sie mich durchstellen solle zu den Kollegen von der Serviceabteilung“, schreibt Rühle, „na, warum nicht. Dort findet eine Frau die Adresse innerhalb weniger Sekunden. Ich frage vor dem Auflegen, worin denn der zusätzliche Service in der Serviceabteilung bestehe. ,Wir benutzen Google.‘“ An manchen Stellen muss man richtig lachen. Zum Beispiel, wenn den Mitarbeitern der Süddeutschen fünf Tage lang nicht auffällt, dass das Fax nicht funktioniert – niemand hatte es benutzt. Besonders toll ist die Szene, bei der Rühles Mutter, ein Computerneuling, panisch den 40-jährigen Sohn anruft und sagt: „Alex, mir ist was ganz Blödes passiert, ich glaube, ich habe gerade das Internet gelöscht.“ Vielleicht wäre das eh nicht so schlimm, hätte die Mutter das ganze Netz per Knopfdruck gelöscht. Dann könnten wir uns ein neues Internet basteln, eines, dass nur an Werktagen und nur von neun bis 18 Uhr offen hat.

INGRID BRODNIG

überschaubarer und irgendwie besser war? Nein, ist er nicht. Erstens ist er mit seinen 50 Jahren noch gar nicht so alt. Zweitens sieht er mit seinen schulterlangen Dreadlocks den Kopffüßern, die er so verehrt, immer ähnlicher und damit schick aus. Und drittens weiß er, wovon er spricht. Das alleine unterscheidet ihn von vielen anderen, die glauben zur Internetdebatte beitragen zu müssen. Lanier ist Informatiker, Künstler und Au-

tor. In den frühen 80er-Jahren hat er Computerspiele programmiert und war ein Pionier beim Erschaffen künstlicher Welten. Den Begriff „virtuelle Realität“ hat er geprägt oder zumindest popularisiert. Von Anfang an war er dabei, als die Hippies und Nerds in Silicon Valley begannen, die Welt umzugestalten. Im Gegensatz zu vielen seiner Mitstreiter ist er aber heute nicht mehr der Meinung, dass Computer und Internet die Welt ausschließlich demokratischer und besser gemacht haben. Besonders skeptisch zeigt er sich gegenüber den heiligen Kühen Linux, Open Culture, Creative Commons und Wikipedia. In seinem neuen Buch „Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht“ dekliniert er dieses Unbehagen auf unterschiedlichen Ebenen. Der rote Faden: Während das frühe Internet von Usenet und ersten Webseiten noch ein Hort der Kreativität und Neugier war, untergraben Design und Praxis des Web 2.0 die Schöpfung originärer Leistungen. An die Stelle des Individuums ist eine Schwarmintelligenz getreten, die es immer besser weiß; eine Masse, die, geschützt durch eine „beiläufige Anonymität“, mit Kommentaren und Postings ihre Mobspur hinterlässt; eine Weisheit der vielen, deren Arbeitsleistung für das Crowdsourcing findiger Unternehmen taugt, während ihr eigenes berufliches Ein- und Fortkommen alles andere als gesichert ist. „Digitalen Maoismus“ und „kybernetischen Totalitarismus“ nennt Lanier die dahinter stehende Philosophie. Damit beweist er zwar nicht unbedingt historische Trennschärfe, aber Mut zu Diskussion und Zuspitzung.

sen Autovervollständigung gibt vor, die menschliche Intention zu erraten – für Lanier ist dies ein Beispiel einer „neuen Philosophie, wonach der Computer sich zu einer Lebensform entwickelt, die den Menschen besser versteht als sich selbst“. Dahinter stecken ihm zufolge in der IT-Szene weit verbreitete Gedanken („Singularität“, „Noosphäre“), die davon ausgehen, dass es dereinst einen transhumanen, weltweiten, auf Computern basierenden Netzwerkgeist geben wird, Bewusstsein inklusive. Gegen diese Philosophie, die er auch als Religion bezeichnet, fallen Lanier durchaus Argumente ein, wie z.B. dass Bits nur etwas bedeuten, wenn sie erfahren werden, von Menschen nämlich. Als „humanistischer Softie“, wie er sich folgerichtig selbst bezeichnet, schreibt er gegen das Verschwinden der Person an. Er ist gegen die Inflation des Freundschaftsbegriffs und Multiple-Choice-Identitäten à la Facebook, gegen die Vorherrschaft von Sekundärleistungen, die er im Mixen und Kombinieren bereits vorhandener Medieninhalte sieht, und auch gegen die Ersetzung von Argumenten durch Fragmente – wie es durch Twitter und Co forciert wird. Bei alldem geriert er sich nicht als Maschinenstürmer, sondern plädiert für einen maßvollen, „erwachsenen“ Umgang mit dem Web 2.0. Als alter Hase der Branche gibt er auch praktische Tipps, was jeder Einzelne zu einem besseren Web beitragen könnte. Zum Beispiel: „Posten Sie gelegentlich ein Video, dessen Herstellung Sie hundertmal mehr Zeit gekostet hat, als man zum Anschauen benötigt.“ ist hoch, er kombiniert Gedanken aus Evolutionsbiologie, Computerwissenschaften, Philosophie, Kunst und mehr. Mitunter holpert sein Versuch zur Rettung des Menschen, etwa wenn er die Wurzeln des kybernetischen Totalitarismus bei Freud und Marx sieht, dessen Blüte aber für die aktuelle Finanzkrise verantwortlich macht. Auch seine Beschreibung der Zeit vor Web 2.0 erscheint ein wenig verklärt. Dennoch: Lanier liefert mit seinem Buch ein wichtiges Signal in einer Debatte, die von allzu viel Noise geprägt ist.

Das Reflexionsniveau von Lanier

LUK AS WIESELBERG

Lanier belässt es nicht bei einem Buzz-

Alex Rühle: Leben ohne Netz. Mein halbes Jahr offline. Klett-Cotta, 223 S., € 18,50

wording, das intellektuell nicht so sattelfeste Anhänger diverser Piratenparteien womöglich noch cool finden, sondern geht seiner Skepsis anhand zahlreicher Beispiele auf den Grund. Manche davon sind so simpel wie überzeugend. Wer z.B. hat sich noch nicht geärgert, wenn sich Word wieder einmal selbstständig macht? Des-

Jaron Lanier: Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht. Suhrkamp, 247 S., € 20,50

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Claude Lanzmann präsentiert sich als feiger Held Autobiografie: Der Regisseur des monumentalen Dokumentarfilms „Shoah“ legt seine umfangreichen Erinnerungen vor r hebt vor allem seine Feigheit herE vor, wenn er sich an sein Leben erinnert, das Leben des Franzosen, Jour-

nalisten, Schriftstellers, Regisseurs und Widerstandskämpfers Claude Lanzmann. Feigheit, Mut und der Tod ziehen sich wie ein roter Faden durch die nun auf Deutsch vorliegende Autobiografie „Der patagonische Hase“ dieses außergewöhnlichen Protagonisten des 20. Jahrhunderts. Hunderte Leben hätten nicht ausgereicht, seine Neugier auf das Leben zu stillen, meint Lanzmann, und nach dem Lesen bleibt der Eindruck, dass es tatsächlich mehrere Leben waren, die er gelebt hat oder noch immer lebt.

Lanzmann wurde 1925 als Sohn jüdischer Einwanderer aus Weißrussland und der Ukraine in Paris geboren. Vater und Großvater waren 1913 eingebürgert worden und dienten also im Ersten Weltkrieg, was dem Großvater mütterlicherseits erspart blieb. Dieser konnte sein Geschäft ausbauen, und so war Pauline, seine Tochter, eine gute Partie bei der durch eine Heiratsvermittlung arrangierten Hochzeit, die zu einer unglücklichen Ehe führte. Die Mutter verließ in den 30er-Jahren die Familie und schlug sich mit Arbeit in einer Konservenfabrik durch, Claude, seine jüngere Schwester und sein Bruder blieben beim Vater, lebten

mal bei den Großeltern, mal bei einer Witwe, bei der sie in Pension gegeben wurden. Immer fühlt sich Lanzmann verantwortlich für die kleineren Geschwister, für den Vater, ja sogar für die Mutter, zu der der Kontakt nur sporadisch und kompliziert war. Im besetzten Frankreich überlebte die Familie durch List, Unterstützung, abenteuerliche Reisen – und nicht zuletzt durch den Widerstand. In Clermont-Ferrand, wo Lanzmann, ausgerüstet mit falschen Papieren, ganz offiziell zur Schule geht, schließt er sich, so wie der Vater, der Résistance an. Der Familie gelingt es, den Nationalsozialismus zu überleben, der Gestapo zu entkommen. Lanzmann stellt sich der Frage, was er getan hätte, wenn ihn die Gestapo doch erwischt hätte. Und stellt fest, dass er zu feige gewesen wäre, sich vorher eine Kugel in den Kopf zu schießen, um nicht unter Folter zu sprechen. Diese exzessive Feigheitseigeninterpretation scheint allerdings nicht nur der Realität, sondern auch einem gewissen moralischen Narzissmus geschuldet zu sein.

mus zwingt, in einem Geschäft unzählige Schuhe zu probieren, er sich nicht entscheiden kann und nach dem feindseligen Auftreten des Abteilungsleiters mit seinen „provinziellen Schnürschuhen“ einfach davonläuft, schreibt Lanzmann von der Folter der „spanischen Stiefel“ und bezeichnet sich selbst als „echten Antisemiten“, als „antisemitischen Juden“, der seine Mutter in dieser Situation im Stich lassen musste. Nach dem Krieg studiert Lanzmann Philosophie, unter anderem auch in Tübingen, und unterrichtet 1948/49 als Lektor an der Freien Universität Berlin. Dennoch will er keine akademische Karriere einschlagen und arbeitet als Journalist. In den frühen 50er-Jahren beginnt seine lebensbestimmende Freundschaft mit JeanPaul Sartre und seine Liebe zu Simone de Beauvoir, die er Castor nannte und die ihn letztlich davon abhielt, nach Israel auszuwandern. Sartres „Das Sein und das Nichts“ las er bereits in der Schule, bis heute gibt Lanzmann die von Sartre gegründete Zeitschrift Les Temps Modernes heraus.

Manche Erinnerung wird in einen Interpretationszusammenhang gestellt, der dann doch etwas überhöht und konstruiert wirkt. Wenn die Mutter ihn während des Nationalsozialis-

Es sind seine Filme, die Lanzmann in-

„Shoah“, in dem Lanzmann ohne Archiv- oder anderes Beweismaterial auskommt und nur Zeitzeugen – Opfer und Täter – im bloßen Interview und allenfalls vor den kläglichen Resten der „Originalkulisse“ präsentierte, schaffte er ein Monument, das heute mit seinem Namen gleichgesetzt wird. „Mein Film musste die äußerste Herausforderung annehmen: die nicht existierenden Bilder vom Tod in den Gaskammern zu ersetzen“, sagt Lanzmann dazu. Das ist ihm gelungen, den „Friseur von Treblinka“ vergisst man nie mehr, hat man ihn einmal gesehen. Lanzmann der, wie er schreibt, „mit einem selten visuellen Gedächtnis begabt“ ist, verzichtet auch in seiner Autobiografie auf Fotografien – keine Bilder, nur Worte, die dann doch wieder zu eindrucksvollen, lesenswerten Bildern werden.

ternational berühmt machten: „Warum Israel“ (1973), „Shoah“ (1985) und „Tsahal“ (1994). Mit dem neun Stunden dauernden Dokumentarfilm

E VA BLIMLINGER

Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Erinnerungen. Rowohlt, 688 S., € 25,70

Mit den Füßen auf dem Erdboden und Abstand zur Welt Lebenskunst: Frédéric Lenoir stellt seine persönlichen Lebenslehrer vor – und was sie aßen und tranken ie Werke großer Denker zu vergleiD chen ist keine ganz neue Idee. Originell erscheint bei Frédéric Lenoir zunächst die Auswahl. Mit Buddha, Jesus und Sokrates stehen zwei Religionsstifter einem Denker gegenüber. Auswahlkriterium für die drei Weltveränderer war aber nicht ihre allgemeine Wirksamkeit, sondern etwas sehr Subjektives. „Seit nunmehr über fünfundzwanzig Jahren sind Sokrates, der Buddha und Jesus die Lehrer für mein Leben“, schreibt Lenoir. Das lässt zunächst Schlimmes befürchten.

Doch Frédéric Lenoir ist kein verschrobener Weltverbesserer, sondern Wissenschaftler und Journalist. Der Philosoph und Religionssoziologe von der renommierten Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales hat schon höchst Unterschiedliches publiziert. Von einer mehrbändigen Religionsgeschichte über eine Analyse von Dan Browns „Da Vinci Code“ bis zu historischen Romanen und einem Comic über Prophezeiungen reicht sein Portfolio. Quasi als Nebenjob gibt er auch noch Le Monde des Religions, die spirituelle Abteilung von Le Monde, heraus. Auf seiner persönlichen Suche hat er Lehrzeiten in katholischen genauso wie in buddhistischen Klöstern verbracht. Teilt man Bücher in die einfachen Kategorien „mit“ versus „ohne“ (d.h. mit und ohne Essen und Trinken), zählt Lenoirs

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Drei-Denker-Rundschau wider Erwarten zu den Büchern „mit“. Die Freude an sinnlichen Genüssen entspricht nicht ganz den Klischees über diese drei Verfechter materieller Entsagung. Doch Lenoir belegt, dass sowohl Jesus und Sokrates als auch Buddha schlemmen konnten – und beurteilt dies als durchaus schlüssig: „Vielleicht ist das ein Zeichen der Weisheit unserer drei Protagonisten: die Fähigkeit, die Freuden des Essens und Trinkens voll und ganz mit den anderen zu teilen – in anderen Worten, mit beiden Füßen auf dem Erdboden zu stehen und zugleich genug Abstand zu dieser Welt zu haben.“ Der Religionsexperte sucht nach Gemeinsamkeiten. Eine davon liegt im Fehlen eigener schriftlicher Aufzeichnungen. Während man sich bei Sokrates noch einigermaßen auf seinen Schüler Plato verlassen kann, stößt man bei den Evangelien auf einige Ungereimtheiten. Über den Buddha fehlt jedwede zeitnahe Aufzeichnung. Alle im buddhistischen Kanon „Tipitaka“ versammelten Berichte über Leben und Lehre des Siddharta Gautama sind Jahrhunderte nach dessen Tod verfasst. Die Auswahl, Aufarbeitung und kritische Würdigung der Quellen zählt zu den Stärken dieses Buchs. Manche Wiederholungen finden sich, wenn’s ums mündlich tradierte Werk der Weisen geht. Aber offenbar gelangt man immer wieder zu denselben Schlüssen,

wenn man lange genug nachdenkt: dass die Dinge dieser Welt nicht so rasend ernst zu nehmen sind, ebenso wenig wie der über sie Nachdenkende. Der Tod gilt allen drei „Lebenslehrern“ als das Tor in ein anderes Leben. Bislang weniger bekannt ist hier die Parallele zwischen Buddhas und Sokrates’ verblüffend ähnlichen Vorstellungen von Seelenwanderung und Wiedergeburt. Besonders plastisch gelingt es Lenoir, die

Frédéric Lenoir: Sokrates, Jesus, Buddha. Die Lebenslehrer. Piper, 304 S., € 20,60

Verbindung von Leben und Werk darzustellen. Bei Sokrates, Jesus und Buddha steht die Verteidigung von Individualität und Eigenverantwortung gegen die bisherigen Konventionen ganz oben auf dem Programm. Vermutlich liegt darin der Grund, dass allen dreien kein natürlicher Tod beschieden war. Jesus und Sokrates wurden zum Tode verurteilt, weil sich die amtierende weltliche Macht von ihrer Ethik bedroht sah. Was genau hinter Buddhas vergiftetem letztem Abendmahl steckte, wird hingegen wohl ewig im Dunkeln bleiben. Auch wenn man glaubt, ihre Geschichten zu kennen, gibt es hier neue Aspekte zu entdecken. Wer keinen Anspruch auf vollständige Biografien erhebt, wird diese Schilderungen aus dem Leben der drei Vorbilder, die Einführung in ihre Denkweise und nicht zuletzt die Denkanstöße für die eigene Sinnsuche schätzen. ANDREAS KREMLA

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Goethes Weimar? Nein, Berlin 1800! Geschichte: Günter de Bruyn ergänzt seine Kulturgeschichte Berlins mit der Chronik von 1807 bis 1815

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ünter de Bruyn hat eine starke These, die er mit Dutzenden kleineren und größeren Geschichten und Porträts belegt. Goethe und Schiller, so Bruyn, mögen Weimar zum literarischen Olymp erhoben haben, aber eigentlich war das Berlin um 1800 die geistige und künstlerische Hauptstadt Deutschlands. Dort gab es eine hochexplosive, wetteifernde Gemengelage höchst talentierter Geister. In Berlin lebte ein großes, kunstinteressiertes Publikum, das ins Theater und in die Oper ging, gründeten Humboldt und Fichte die moderne Universität, entwickelte Karl Friedrich Schinkel neuartige Panoramen zur Massenunterhaltung und baute wegweisende Architektur, gingen in den Salons der Rahel Varnhagen und Henriette Herz die illustren Geister ein und aus, formten sich politische Tischgesellschaften und singende Liedertafeln, wuchsen selbst im Offizierskorps kunstsinnige Zeitgenossen heran. Halb Berlin lag, am Übergang von der Aufklärung zur Romantik, im geistigen Fieber und versuchte sich in der literarischen Produktion. Wer es nicht in Gedichten oder Romanen tat, der tat es in Briefen, die Männer wie Frauen in schöner Regelmäßigkeit schrieben, sammelten und einander vorlasen.

Jean Paul konnte sich der Verehrerinnen kaum erwehren. Friedrich Schlegels Briefroman „Lucinde“ war wohl das am höchsten gezüchtete Pflänzchen romantischer, inbrünstiger Liebe. Wenn Carl von Clausewitz („Vom Kriege“, 1832–34) sich, weit abseits von der geliebten Marie, mit der Vorbereitung und Nachbereitung von Schlachten beschäftigte, schrieb er regelmäßig innige Briefe an seine Frau. Im ersten Teil seiner großen Kulturgeschichte („Als Poesie gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807“, 2006) konnte Bruyn noch ein Preußen schildern, das sich erfolgreich aus den Napoleonischen Kriegen heraushalten und mit aufklärerischen Reformen die Ideen der Französischen Revolution in moderate Bahnen lenken konnte. Der jetzt erschienene zweite Teil präsentiert im Hauptteil ein Preußen in der politischen Depression. Napoleon näherte sich dem Höhepunkt seiner Macht. Nach der Schlacht von Jena und Auerstädt 1805 zogen die Franzosen in Berlin ein, verlangten saftige Reparationszahlungen, verteilten als Beute Teile des zur Großmacht gewordenen Preußen und stürzten auch das rege Kulturleben in die Krise.

Zur Person Günter de Bruyn, geb.1926 in Berlin. Seit 1961 freier Schriftsteller. 1965–1978 Mitglied des Zentralvorstands des Schriftstellerverbands der DDR, 1974–1982 im Präsidium des Pen-Zentrums der DDR. Im Oktober 1989 lehnte er die Annahme des Nationalpreises der DDR wegen „Starre, Intoleranz und Dialogunfähigkeit“ der Regierung ab. Günter de Bruyn lebt in Berlin und Beeskow bei Frankfurt/Oder

Der Selbstmord Heinrich von Kleists am Berli-

ner Wannsee mag viele Gründe gehabt haben (ihm war, wie er im Testament schrieb, innovatives Pflaster. Königin Luise gab „auf Erden nicht zu helfen“), aber der poeinliest gutesaus Vorbild für selbstbewusste Frau- litische und wirtschaftliche Bankrott en ab, die ihre sozialen Netzwerke hegten Deutschlands hat seinen Entschluss siund nun auch eine weibliche Literatur in cherlich befördert. Viele Autoren, PhiloDeutschland (Dorothea Schlegel, Sophie sophen und Künstler wollten die „Zeit der Tieck, Bettine Arnim) schufen. Jede Menge schweren Not“ (Adelbert von Chamisso) Ehen wurden geschieden, um neuen Zwei- nicht einfach hinnehmen, sondern mobiliergemeinschaften Platz zu machen. In den sierten mit vaterländischen Liedern (etwa Beziehungen wurde die Überwindung der Ernst Moritz Arndts „Der Gott, der Eisen Donnerstag, 21. Oktober 2010, alten sozialen Schranken erprobt, um 19 die-Uhrwachsen ließ“) oder schworen auf literarise dann generell in Gesellschaft, Heer und 01/718 sche Weise Rache. Der Deutschnationalis3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 93 53, Eintritt frei Beruf abzuschaffen. mus wurde zur Mode.

Günther Zäuner

Berlin war auch in neuen Lebensformen ein

„El Austríaco“

Die Geschehnisse in den Jahren 1807 bis 1815

Hans Weiss liest aus

„Schwarzbuch Landwirtschaft“ Freitag, 29. Oktober 2010, 19 Uhr 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei

Anders als Goethe in Weimar, der Napoleon als dem personifizierten Weltgeist die Hände schüttelte, träumten die Berliner, von Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ angefeuert, vom Aufstand und hielten sich klammheimlich die Spanier und Tiroler als Vorbilder. Insurrektion, bewaffneter Aufstand, hieß die Hoffnung; aber als einer der ihren, der verdiente Offizier Ferdinand von Schill, mit einer kleinen Freischärlertruppe losschlug, wurde diese Aktion zum Fiasko. Die ideologische und politische Gemengelage wurde in dieser Depressionszeit unter den Intellektuellen diffuser, die inneren Konflikte legten an Heftigkeit zu. Der Katholizismus wurde zur Mode unter den protestantischen Literaten, Altertümelei und Franzosenhass wirkten als Identitätsstifter. Mittels großer Reformen (neue Städteordnung, Aufhebung der Leibeigenschaft, Gewerbefreiheit u.a.) wollte der König Preußen moderner und leistungsfähiger machen, aber die Widerstände dagegen waren heftig. Die alten Adelsgeschlechter bangten um ihre Privilegien, und in Intellektuellenkreisen nistete sich der Antisemitismus ein, obwohl gerade das Edikt über die Judenbefreiung herausgegeben worden war. Erst als die preußische Führung auf den Angriff gegen Napoleon umschaltete, ergriff selbst Bettine Arnim die Welle patriotischer Begeisterung in Berlin. Den Sieg trug allerdings die Reaktion davon. Friedrich von Gentz, ein preußischer Kantianer, wurde in Wien an der Seite Metternichs zum Sekretär der Heiligen Allianz und mutierte zum obersten Zensurbeamten.

Günter de Bruyn: Die Zeit der schweren Not. Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 bis 1815. S. Fischer, 432 S., € 25,70

sind einigermaßen dramatisch und wuchtig. Und was macht der 83-jährige Schriftsteller Günter de Bruyn, der sich einst mit seinen widerständigen Romanen aus der DDR auch im Westen ein großes Publikum erschloss, daraus? Er setzt, wie einst sein Lehrmeister Fontane, auf den schlichten Ton, übt sich in Nüchternheit und gestattet sich dann und wann humoristische Pointierungen. Er erzählt in kurzweiligen Miniaturen Geschichten über die persönlichen Verhältnisse der in und um Berlin ansässigen Schriftsteller und Künstler. Ganz unauffällig schöpft er die Details aus einem unvergleichlich reichen Fundus. Er konzentriert und vereinfacht zugleich. Immerhin hat er sich schon seit Jahrzehnten intensiv mit der Epoche beschäftigt und viele Einzelstudien herausgebracht. Gelehrt und belesen wie einst nur Arno Schmidt, legt Bruyn eine höchst raffinierte, angenehm zu lesende „Summa vitae“ vor, die als große Kulturgeschichte besticht.

Foto: susanne schleyer

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Kriemhild, der geile Depp und der intrigante Sack Geschichte: Zweimal Weltgeschichte zum Schnelllesen und Schmunzeln – ein unterhaltsames Kuriositätenkabinett

illustr ation: Andreas dürer

oel Zwecker blättert im Bilderbuch L Weltgeschichte. Obwohl er nur einzelne Schwarzweißfotos verwendet, gelingt

es ihm, viel Farbe ins Werden der heutigen Welt zu bringen. Beginnend mit der Zusammenfassung der Frühgeschichte im Vorwort skizziert er mit wenigen Strichen die großen Reiche der Antike – plastisch und oft auch witzig. Nicht nur Rom und Griechenland dürfen ins Album, sondern auch Persien, Indien und China. Der ehemalige Dozent für Kunstgeschichte hat Erfahrung darin, Kunst und Politik zu verknüpfen. Schwere historische Stoffe entstaubt er durch den Vergleich mit aktuellen Ereignissen. Eine Stärke der historischen Rundschau liegt im nüchternen Blick auf Tatsachen, die uns heroisch gefärbte Geschichtsbücher vorenthielten: „Bei der damaligen Lebenserwartung kann man davon ausgehen, dass man, wenn man zu Beginn des 17. Jahrhunderts zur Welt kommt, auch ohne Opfer der Kämpfe zu werden, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nie etwas anders im Leben mitbekommt als Krieg.“ Je näher es Richtung Gegenwart geht, desto mehr scheint sich der Autor der Vollständigkeit verpflichtet zu fühlen.

Die Bilder werden detaillierter, aber blasser, der Schwung gerät ins Stocken. Zu bewältigen ist die Stofffülle offenbar nur durch Konzentration auf Europa – immerhin mit Kurztrips in die Kolonien und ihre Nachfolgestaaten. Als durchgehend gelungen kön-

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nen die knappen Analysen der wirtschaftlichen Parameter gelten, die oft mehr Geschichte machen als Staatslenker und Helden. Insgesamt hinterlässt dieser Spaziergang durch die Weltgeschichte ein Gefühl wie nach einem Varieté: viel gesehen, ein wenig gelacht, ein wenig gestaunt, gegen Ende ist’s vielleicht auch etwas lang geworden. Ein paar Eindrücke sind hängen geblieben – aber gab’s da einen größeren Zusammenhang? Egal, morgen ist ein neuer Tag. Bei Schulte-Richtering ist Comedy angesagt. Auch der Fernsehautor hat sich über die Weltgeschichte hergemacht. In früheren Jahren firmierte er als Autor für „Deutschland sucht den Superstar“, seit 2008 darf er sich persönlicher Autor für Thomas Gottschalk und seine „Wetten, dass ...?“-Show nennen. Auch in der Vergangenheit sucht er natürlich nach den Pointen. Dass er mit Vollständigkeit und Seriosität nicht viel am Hut hat, wird schon im Inhaltsverzeichnis klar. „Kriemhild und der geile Depp“ (Nibelungen-Saga), „Der intrigante Sack“ (Niccolò Machiavelli). Die europäische Geschichte macht der Satiriker durch Gschichtln greifbar. Anstatt mühevoll große Zusammenhänge zu erklären, sucht er sich schräge Perspektiven. Goethes Werk lernt man aus Sicht seiner weniger erfolgreichen Liebschaften kennen, die Französische Revolution beginnt mit einem Quiz.

Die Lösung für den Buchtitel findet sich bei einem streng geheimen Orden: „Wer also dreist behauptet, ein Templer zu sein, ist natürlich nur ein Angeber. Wer aber beteuert, kein Templer zu sein, könnte der Großmeister persönlich sein. Weil das aber bekannt ist, macht man sich durch Leugnen nur verdächtig (…).“ Das sei wie Schnick-Schnack-Schnuck-Spielen, meint der gebürtige Osnabrücker Schulte-Richtering. So heißt die norddeutsche Variante von Knobeln vulgo Schere-Stein-Papier. Überraschende Einblicke ins Mittelalter sind nicht nur der Klamauktauglichkeit von Geheimbünden und Kreuzrittern zu verdanken: Schulte-Richtering hat neben Sprachlichem vor seinem Fernsehleben auch Mediävistik studiert.

Loel Zwecker: Was bisher geschah. Eine kleine Weltgeschichte. Bertelsmann, 383 S., € 15,50 Christoph SchulteRichtering: Schnick, Schnack, Schnuck. SchulteRichterings Kleine Weltgeschichte. Rowohlt, 320 S., € 20,60

Im Dauerfeuermodus verlieren selbst gute Witze an Effekt, Richtung Neuzeit geraten manche etwas derb. Stets unterhaltsam bleibt der Mutterwitz, mit dem der Autor Details, Zitate oder auch Gedichte auswählt. Mühelos lässt sich lesen, was unsere Vorfahren im Lauf der Epochen so alles angestellt haben. Die Blicke durch ihre Zeitfenster sind nie erschöpfend und ermüden daher nicht. Schulte-Richterings Histotainment funktioniert. Am Ende unterstreicht der hemmungslose Umgang mit historischen Highlights und Hoppalas eine Erkenntnis der Pädagogik: Dinge, über die man lacht, bleiben im Gedächtnis. ANDREAS KREMLA

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Sachbuch

Vampire, Werwölfe, Monst e

Vampirismus: Vampire & Co sind in aller Munde. Drei neue Bü

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or mehr als 100 Jahren fand der Vampirmythos mit Bram Stokers Roman „Dracula“ seinen Weg in die Literaturgeschichte. Alle Sektoren der Kulturindustrie arbeiten mittlerweile auf Hochtouren, um unsere Sehnsucht nach Vampiren in Büchern, Fernsehserien, Filmen und Musicals zu befriedigen. Vampire sind von den ursprünglichen entseelten Halbwesen entlegener Provinzen der Donaumonarchie zu elegant-urbanen Lifestyleikonen geworden. Und obgleich uns die Unterhaltungsindustrie mit unzähligen Varianten dieses Mythos der bluttrinkenden Untoten regelrecht pfählt, wird der popkulturelle Subtext dieser anderen menschlichen Existenzformen erstaunlicherweise wenig ausgeleuchtet. Drei Neuerscheinungen bringen auf sehr unterschiedliche Weise Licht in das dunkle transsylvanische Kulturuniversum.

Er kam aus der Provinz Die Angst vor Vampiren kondensierte sich aus dumpfem Hass gegen Fremde und Andersartige zu Beginn des 18. Jahrhunderts in den österreichischen Kronländern Mähren, Ungarn und auf dem Balkan. In der tiefen Provinz wurden immer wieder Gerüchte laut, denen nach Tote aus den Gräbern gestiegen seien und an den Lebenden gefressen hätten. Die Hysterie griff um sich und erreichte auch Ärzte, Professoren und Theologen, die als Gegenmaßnahmen die absonderlichsten Leichenschändungen begingen: Die Köpfe der Toten wurden abgeschlagen und zwischen ihre Beine gelegt, die Hände wurden mit Steinen fixiert und die Herzen mit Holzstäben durchbohrt. Als Kaiserin Maria Theresia von den Vorfällen erfuhr, beauftragte sie ihren Leibarzt Gerard van Swieten, diese Todesfälle in ihrem Reich „als vernünftiger Physicus“ zu untersuchen. Doch auf den aufgeklärten van Swieten lauerte eine Doppelmühle: Wenn er die Existenz der Vampire wissenschaftlich widerlegte, lief er Gefahr, damit auch die ganze staatskirchliche Mystik von Teufel, Gott und Wiederauferstehung anzuzweifeln. Denn folgt man der These, dass jene, die das Blut eines Vampirs trinken, selbst zu „Untoten“ werden, dann ist das nur ein sehr geringer Unterschied zum Zustand des „ewigen Lebens“, das den christlichen Gläubigen versprochen wird, wenn sie das „Jesu Blut“, den Messwein, bei der rituellen Kommunion zu sich nehmen. Ganz unverhohlen steckte somit hinter der Aufgabe, den Glauben an Vampire zu zerstreuen, auch ein Zweifel an den eigenen religiösen Mysterien, die sich in gleicher Weise der rationalen Überprüfung entzogen. Im Zeitalter der Aufklärung mutierte der bisher als gottloser Zombie die Landfriedhöfe der Monarchie heimsuchende Vampir von einer gesellschaftszersetzenden Plage zum Mitglied der feudalen Oberschicht. Vampire wurden nun als degenerierte Adelige dargestellt, die ihr Land unterjochen und ihre Untertanen versklaven. Die politische Metapher von den Herr-

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schern als Blutsaugern festigte sich nach 1848 in den Köpfen der Bürger. Ein Vampir war weder Demokrat noch Bürgerlicher, sondern Abkömmling einer aristokratischen Blutlinie. Auch Karl Marx bediente sich in seiner sonst eher sachlichen Abhandlung über „Die Grenzen des Arbeitstags“ dieses Sprachbilds: „Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und umso mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.“

Vom Ausbeuter zum Triebtäter Im Licht der Freud’schen Psychoanalyse erlebte der Vampir einen weiteren Rollenwechsel: Aus einem adeligen Ausbeuter wurde ein in seiner oralsadistischen Entwicklungsphase steckengebliebener Triebtäter. Und im Spiegel des Täters wird plötzlich auch das „Opfer“ anders gesehen. Denn der Vampirjäger ist selbst Gewalttäter, der Notwehr vorschützt, um den Widersacher mit großer Brutalität zur Strecke zu bringen, indem er dessen Herz mit einem Stück Holz oder – wie Bram Stoker es zynisch nennt – dem „gnadenbringenden Pfahl“ durchbohrt. So erweisen sich Pfählungen eigentlich als Vergewaltigungen, die als notwendige Akte der Liebe und Erlösung gerechtfertigt werden – und die ganze Vampirliteratur als Plädoyer für eine Lynchjustiz. Denn Gewalt, die gegen „Untote“ angewendet wird, bedarf keiner Legitimation, im Gegenteil, sie geriert sich sogar als notwendiger Akt der Zivilcourage gegen das Fremde und die Anderen. Der Vampirjäger offenbart uns viel mehr als der Vampir selbst über die Wünsche unseres Unterbewusstseins: befreit von gesellschaftlichen Normen Gewalt, sadistische Wünsche und Allmachtsfantasien einfach ausleben zu können. Vampirjäger wie Van Helsing in Bram Stokers „Dracula“ erscheinen als Nekrophile, Rassisten und Befürworter von Blutvergießen. Erich Fromm schreibt in seiner „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ (1974), dass „zum nekrophilen Charakter auch die Überzeugung gehört, dass sich Probleme nur mit Gewalt und Gewalttätigkeit lösen lassen“. Und so gestehen die selbsternannten Rächer den Vampiren nie die Chance zu Reue, Buße oder Resozialisierung zu, sondern metzeln sie in einem bedingungslosen Pogrom nieder. Fromm bringt es auf den Punkt: „Der Sadist würde Unterwerfung verlangen, nur der Nekrophile besteht auf Vernichtung.“ Hier findet die Freud’sche Psychoanalyse zu ihrem Kernpunkt: Thanatos und Eros, der Todestrieb und der Lebenstrieb, sind die zentralen menschlichen Antriebskräfte. Vampirjäger wie Van Helsing verkörpern eigentlich den Todestrieb, Dracula hingegen den Eros, der über den Tod hinaus leben und lieben will. In einer Gesellschaft, die auf Zwang und Triebverzicht aufgebaut ist, erscheint ein Vampir, der seine Existenz nicht von Gesetzen, Moral oder Religion einschränken lässt, als ambivalente Lichtgestalt im Sinne Luzifers.

Bram Stokers Roman „Dracula“ erschien im Jahr 1897 2006 wurden bei Bauarbeiten im südböhmischen Český Krumlov drei „Vampirskelette“ mit abgeschnittenem Kopf entdeckt Stephenie Meyers Vampirromanze „Twilight“ wurde zunächst von 14 Verlagen abgelehnt. Seit 2005 wurden 17 Millionen Bücher weltweit verkauft Die TV-Serie „Buffy – Im Bann der Dämonen“ wurde im März 1997 erstmals ausgestrahlt, bis 2003 wurden sieben Staffeln produziert

Von der Popkultur zur Philosophie Der Medien- und Theaterwissenschaftler Rainer Köppel streift in seinem Buch durch die Kriminalgeschichte des Vampirismus, ordnet die historisch-literarischen Ursprünge und bespricht auch seine popkulturellen Erscheinungsformen von der US-amerikanischen Fernsehserie „Buffy – Im Bann der Dämonen“ bis zu den Entjungferungsdramen der (erfolgreich Hollywood-verfilmten) „Twilight“-Romane von Stephenie Meyer. Eine gut recherchierte und angenehm zu lesende Basis für Vampirologen. „Wir sind Vampir. Der unsterbliche Mythos von Dracula biss Twilight“ lautet der Titel in neckischer Anspielung auf die deutsche Übersetzung des „Twilight“Filmtitels „Bis(s) zum Morgengrauen“. Ganz anders nähern sich Richard Greene und K. Silem Mohammad dem Thema der „Untoten“. Der von ihnen herausgegebene Sammelband „Die Untoten und die Philosophie. Schlauer werden mit Zombies, Werwölfen und Vampiren“ beleuchtet in witzigen, klugen Essays die verschiedenen Aspekte dieses Zustands der Nichtexistenz mit den skalpellscharfen Instrumenten der Philosophie. Der ungewisse Zustand des Untotseins von Vampiren, Zombies und Werwölfen wird zum logischen Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit zentralen philosophischen Fragen der Präsenz, Identität und des Werts der Existenz. Wer erkennt, was ein untoter Zustand eigentlich ist, erfährt auch viel darüber, was es bedeutet, am Leben zu sein. Und so packen 14 Forscher ihr analytisches Werkzeug aus, um das vage Feld der zwischen Jenseits und Diesseits vagabundierenden Entitäten hermeneutisch abzuzirkeln. Und das gelingt ihnen mit dem eleganten Stil US-amerikanischer Wissenschaftsautoren, gewürzt mit einer feinen Prise britischem Humor. Greene demonstriert das zum Beispiel an der Frage, was denn das Schlechte am Untotsein sei. Während heutzutage die meisten Jugendlichen kein Problem damit hätten, ein „cooler“ Vampir zu sein, erscheint die Verwandlung in einen Zombie nicht sehr attraktiv.

Zombies, Werwölfe ... Rainer M. Köppl: Wir sind Vampir. Der unsterbliche Mythos von Dracula biss Twilight. Residenz, 288 S., € 21,90 Richard Greene, K. Silem Mohammad: Die Untoten und die Philosophie. Schlauer werden mit Zombies, Werwölfen und Vampiren. Klett-Cotta, 288 S., € 19,95

Aber ist dieser Zustand nicht zumindest besser als die gänzliche Auslöschung? Offenbar erschließen sich einem Zombie die Genüsse guter Musik oder eines Theaterstücks nicht mehr, doch allem Anschein nach erfreuen sie sich zumindest an einem herzhaften Biss in menschliches Fleisch. Aus dem Umstand, dass sich die Lebensziele geändert haben, kann man nicht wirklich schlüssig die Schlechtigkeit des Untotseins ableiten. Greene fragt noch genauer nach: Fühlen sich Zombies schlecht? Zumindest körperlich scheint ihnen die unangenehme Erfahrung von Schmerzen abhanden gekommen zu sein, und ihr Mangel an kognitiver Aktivität erspart ihnen mangels Selbstreflexion über ihre Existenz de-

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t er, Dämonen und Drachen

i neue Bücher widmen sich einem (pop)kulturellen Phänomen pressive Zustände. Ein Schwein, das sich im Schlamm suhlt, mag aus menschlicher Perspektive bedauernswert sein, aber in seinem schweinischen Dasein kann es dennoch Zufriedenheit empfinden. Und so führt Greene an einem scheinbar trivialen Thema die Methoden philosophischen Denkens ernsthaft und gleichzeitig mit Augenzwinkern vor: von der Identität über das Körper-Geist-Problem bis zu Ethik bzw. Moral. Auch die anderen Autoren schälen aus der trivialen Masse der untoten Medienkultur interessante Aspekte zum Zustand der Gesellschaft heraus: den Vampir als Symbol des nicht assimilierten Immigranten, der die Identität der Nation bedroht, den Werwolf als Vertreter der geknechte-

ten Arbeiterklasse, die sich revoltierend und wild gegen die Fesseln des Systems wehrt, und den Zombie als auf basale Konsuminteressen reduziertes Spiegelbild unserer schönen neuen Warenwelt. Elegante Gedanken, die den Vorderhirnlappen wohlig kitzeln, und angenehmes wissenschaftliches Understatement begleiten den Leser durch das Buch bis zur wirklich witzigen Autorenbiografie, die unter dem Titel „Philosoph, aha … Und was machen Sie tagsüber“ zu finden ist. Christopher Absolute Empfehlung für einen lebendigen Dell: Monster, Dämonen, Drachen Leseabend.

... und andere Monster Einen eher enzyklopädischen Zugang zum Thema findet Christopher Dee in einem

& Vampire. Ein Bestiarium. Brandstätter, 192 S., € 25,–

schön editierten und bunt bebilderten Band mit dem Titel: „Monster, Dämonen, Drachen & Vampire. Ein Bestiarium“. Hier werden nicht nur die durch Verwandlung entstandenen Wesen wie Vampire und Zombies beschrieben, sondern auch jene, die sich schon von Geburt an in ihrem Zustand befinden – wie Geister, Drachen und Dämonen. Trotz des Versuchs des Autors, die diversen Zustandsformen zu kategorisieren, wirkt das Buch aber eher wie eine folkloristische Sammlung von mythischen Wesen, die weder vollständig (Nessie findet man nicht) noch irgendwie erhellend ist. Aber gut geeignet für das Wartezimmer von Feng-Shui-Beratern und Reiki-­ PE TER IWANIE WICZ Masseuren.

Sesshaftwerdung unter Schafen Biologie: Hans Haids „Das Schaf“ gehört zu den raren wirklich informativen Studien über eine Tierart

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ussten Sie, dass Transhumanz eine Form der Fernweidewirtschaft mit jahreszeitlichem Wechsel der Weidegebiete ist? Dass weltweit 1,03 Milliarden Schafe existieren? Dass Färöer-Inseln übersetzt Schafsinseln bedeuten und auch das Landeswappen ein Schaf zeigt? Dass bukolische Dichtung Literatur ist, die sich auf das Leben der Rinder- oder Schafshirten bezieht? Monografien über Haustiere werden von den Verlagen gerne genommen, weil viele Menschen emotionale und kulturelle Bezüge zu den Nutzhaustieren (Rind, Pferd, Schwein etc.) und den sogenannten Freudenhaustieren wie Hund und Katze haben. In der inhaltlichen Qualität der Bücher zeigen sich dann aber oft große Unterschiede. Nicht selten finden sich dabei zufällige Ansammlungen von Daten und Fakten zu dem jeweiligen Tier, die dem Leser aber ohne erklärenden und interpretierenden Zusammenhang vorgesetzt werden. Die vorliegende Publikation des Ötztaler Autors, Volkskundlers und streitbaren Bergbauern Hans Haid zählt hingegen zu den eher raren, umfassenden und wirklich gebildeten Auseinandersetzungen mit einer Tierart, die nicht nur den Alpenraum in seiner Entwicklung über Jahrtausende wesentlich geprägt hat: dem Schaf. Diese wiederkäuenden Paarhufer stehen in unserer Wahrnehmung zwar am Rand und schei-

nen im Vergleich zu Kühen und Schweinen keine große wirtschaftliche Bedeutung mehr zu haben, aber ihre kulturelle Präsenz zeigt uns ein anderes Bild.

ren die durch Sesshaftigkeit gekennzeichnete Kultur des Ackerbaus und die Hirtenund Nomadenkultur. Der vorbildliche, von Gott für sein Opfer mehr geliebte Abel war Schafhirt. Wie stark sich die Form der Tierhaltung auf die Lebenskultur auswirkt, zeigt das Beispiel der Transhumanz (frz. transhumer, lat. trans und humus: „Gegend“): Schaf- und Rinderbauern wandern mit ihren Herden im jahreszeitlichen Rhythmus von den im Tal gelegenen Winterweiden bis zu den hochgelegenen Bergweiden, wo sie und früher auch ihre Familien den Sommer verbringen. Reste dieser halbnomadischen Lebensweise sind auch heute noch in Westösterreich anzutreffen und werden in den Gemeinden als touristisches Spektakel zum Almabtrieb entsprechend inszeniert.

das geduldige „Lamm Gottes“, während wir selbst in der christlichen Religion dem „guten Hirten“ gleichkommen sollen. Das Schaf nährt und wärmt uns, gibt Wolle, Fleisch, Milch, Loden, Filz, Mist und Lanolin. In der bukolischen Dichtung wird das Schaf hymnisch besungen. Weihnachtliche Hirten- und Krippenlieder sind wichtiger und klingender Teil unserer alpinen Kultur. Am Himmel zählen wir die „Schäfchenwolken“. Außenseiter nennen wir „schwarze Schafe“. Wir halten „Schäferstündchen“, suchen Schutz gegen die „Schafskälte“ und sind „lammfromm“. Dann bringen wir „unsere Schäfchen ins Trockene“ und warnen vor dem „Wolf im Schafspelz“.

Schafe begegnen uns als

Der Ökologe Josef Reichholf hat in einer Studie über die neolithische Revolution, „Warum die Menschen sesshaft wurden“ (2008), die These aufgestellt, dass erst der Besitz von gezähmten Schafherden die Sesshaftwerdung ermöglicht haben soll. Im Unterschied zu Pferden und Rindern war der Umgang mit Schafen für die Hirten leichter und weniger gefährlich. Auch im Alten Testament steht das Schaf an der Wurzel der Zivilisation: Adams und Evas Söhne, Kain und Abel, repräsentie-

Hans Haid: Das Schaf. Eine Kulturgeschichte. Böhlau, 278 S., € 25,60

Der Ethologe Haid hat in fast enzyklopädischer Form Mythen, Brauchtümer, Rassen, Verwertungsweisen, Begriffe, Zitate und Ausdrücke zusammengetragen, sorgfältig sortiert und feinsinnig kommentiert, sodass man immer wieder mit Überraschung auf neue Aspekte eines ganz „gewöhnlichen“ und scheinbar vertrauten Haustiers stößt. Ein wunderbares Buch, das uns unsere kulturellen Wurzeln und die enge Verbundenheit zu unseren tierischen Lebensgrundlagen aufzeigt. PE TER IWANIE WICZ

Die Falter-Buch-Rezensionen. Nachlesen und alle Bücher online bestellen. balken fashop rezensionen.indd 1

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Sachbuch Die drei Regeln eines Schwarms: Vermeide Zusammenstöße mit anderen. Bewege dich in die Richtung deiner Nachbarn. Bewege dich auf die Position deines nächsten Nachbarn Francis Galton war britischer Naturforscher, Pionier der Statistik. Er wies als Erster nach, dass eine Gruppe umso besser schätzt, je größer sie ist Murphy’s Law of Management: 20 Prozent der Mitarbeiter erledigen 80 Prozent der Arbeit, aber 80 Prozent der Probleme werden von 20 Prozent der Kunden verursacht

Fußgängerströme im Morgenverkehr Verhaltensforschung: Zwei Autoren widmen sich unterschiedlich überzeugend der Intelligenz von Schwärmen

Jetzt erklärt uns Peter Miller, Redakteur des National Geographic, „Die Intelligenz des

Schwarms“ – und was wir von Tieren für unser Leben in einer komplexen Welt lernen können. Die einzelnen Kapitel folgen einem ähnlichen Muster: Zuerst wird eine Studie über einen ganz speziellen tierischen Verhaltensbereich beschrieben, dies als generelle Methode erkannt und zur Rettung bzw. Gewinnoptimierung eines Betriebs ausgerufen. So erforschten zum Beispiel zwei Wissenschaftler die Entscheidungsfindung eines Bienenschwarms bei der „Haussuche“. Die Analogie ist offenbar und schwirrt im Subtext mit: „Eine falsche Entscheidung

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kann die Existenz kosten.“ Die Bienen votieren nach zahlreichen Testflügen zu potenziellen neuen Standorten aufgrund ihrer „eigenen Meinung“ und „ohne ihre Erkenntnisse einem Entscheidungsgremium vorzulegen“. Dieses Prinzip der „Weisheit der vielen“ wird dann über die nächsten Seiten mit entsprechenden Beispielen verschiedener US-amerikanischer Firmen ausgewalzt. Millers Schreibstil wechselt geschickt zwischen Wissenschaftsjournalismus und in Dialogen geschriebenen Erlebnisberichten, die den Leser durchaus in den Bann ziehen können. Doch wer nicht aufpasst und zeitgerecht weiterblättert, verfängt sich schnell in Kapiteln mit vielversprechenden Titeln wie z.B. „Honigbienen und Homoehen“. Dort findet sich dann aber nur eine langweilige Geschichte über die Erregungen in einer US-amerikanischen Kleinstadt anlässlich der Zulassung gleichgeschlechtlicher Ehen so wie die tierische Erkenntnis: „Der Schwarm hat sich angepasst und lebt weiter.“ Bestens geeignet für Scuppies (so-

sich auch leicht bei den beliebten Quizsendungen à la „Wer wird Millionär?“ überprüfen. Die zumeist als Experten für einen bestimmten Bereich angekündigten Telefonjoker geben auf die Fragen zu 65 Prozent die richtige Antwort. Das bunt gemischte Saalpublikum erreicht aber im Durchschnitt eine Treffergenauigkeit von 91 Prozent aller Fragen. Diese Prinzip der bewussten, aber auch unbewussten Teamentscheidung leitet zunehmend einen Paradigmenwechsel in der Führungskultur ein. Wo vor einigen Jahren noch solitäre Top-Down-Entscheidungen und Kontrolle der Umsetzung als Managertugenden gepriesen wurden, setzt eine Umdenken ein, das Fisher anhand vieler Beispiele illustriert. Solche aus der Tierwelt werden nur am Rande bemüht, der Fokus seiner Ausführungen liegt auf der Komplexitätsforschung, der Dynamik von Netzwerken und der Kommunikationstheorie.

cially conscious upwardly-mobile persons),

die ihren Chef bei der nächsten Besprechung mit einer neuen, flotten Strategie beeindrucken wollen. Ein weiteres Buch zum Thema Schwarm er-

scheint im Eichborn Verlag. Der Autor Len Fisher ist Physiker an der Universität Bristol und Kolumnist des Guardian. Sein Experiment über die optimale Eintunkzeit von Keksen brachte ihm den Spaßnobelpreis für Physik, den IG-Nobel, ein. Fisher hat in seinen bisherigen Büchern die Physik des Alltags erhellt und beherrscht diesen unterhaltsamen, aber nie unsachlichen Stil angloamerikanischer Wissenschaftsautoren ausgezeichnet. Auch er will ein Konzept, nämlich das der Schwarmintelligenz, verbreiten. Die Botschaft ist auch relativ einfach und basiert auf der von James Surowiecki publizierten Idee der Weisheit der vielen, die postuliert, dass die Entscheidung eines Teams immer besser ist als die eines Einzelnen. Die Richtigkeit dieser Aussage lässt

Peter Miller: Die Intelligenz des Schwarms. Was wir von Tieren für unser Leben in einer komplexen Welt lernen können. Campus, 271 S., € 20,50 Len Fisher: Schwarmintelligenz. Wie einfache Regeln Großes möglich machen. Eichborn, 272 S., € 20,60

Wie trifft eine anonyme Gruppe eine Auswahl, wenn sie sich zum Beispiel für einen von mehreren Fluchtwegen entscheiden muss, unter welchen Rahmenbedingungen überlagert der Gruppendruck die eigentliche „Intelligenz des Schwarms“ und in welchen Situationen kann Halbwissen hilfreich sein? Mäandrierend, aber ohne den roten Faden zu verlieren, erzählt Fisher historische Anekdoten zur Informationstheorie, gibt Tipps, wie man sich in fremden Städten orientieren kann, und versucht Erkenntnisse der Sozialwissenschaften auf die Bedürfnisse des Alltags herunterzubrechen. Dabei ist seine kritische Distanz eines Wissenschaftlers immer zu spüren, die im Unterschied zu Peter Miller ohne nervige „Ich sag dir, wo’s langgeht“-Attitüde auskommt. Und so resümiert Len Fisher am Schluss des Buchs: „Wir können oft nicht vorhersehen, wie sich eine Situation entwickelt. Einfache Regeln, Formen, Muster und Formeln zeigen uns oft einen Weg, aber am Ende bestimmt die Komplexität das Geschehen. Alles klar?“

illustr ation: Andreas dürer

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ie Zahl der Menschen weltweit steigt immer weiter an, und gleichzeitig leben auch immer mehr Menschen in urbanen Ballungsräumen. Dem Phänomen der Masse und ihrer Berechenbarkeit kommt nicht nur in Wahlkampfzeiten und bei Massenveranstaltungen eine immer größere Bedeutung zu. Fußgängerströme im Morgenverkehr, die Logistik von Paketzustellungen und die Abläufe am Fließband einer Fabrik rücken zunehmend in den Fokus der Forschung. Viele Massenphänomene erinnern dabei an das faszinierend effizient organisierte Verhalten von Insekten, und so ist es nicht überraschend, dass die Erforschung der Entscheidungsprozesse und Mechanismen von Schwärmen für viele Wissenschaftsdisziplinen von zunehmendem Interesse ist. Vor allem smarte Consulter und Betriebsberater schielen gerne auf die Tierwelt, um dort Anleihen für „Lösungen“ zu nehmen, die in plakativen und bis zur Unkenntlichkeit vereinfachten Bildern mehr Produktivität für die Unternehmen verheißen. So erscheinen in regelmäßigen Intervallen Bücher, die zur Vermarktung Metaphern aus dem Tierreich verwenden, aber keinerlei Basis in der Verhaltensforschung haben. So zum Beispiel die in den 1990erJahren populäre Delfinstrategie („Nutzen Sie die Durchbruchsstrategien der Delfine für Ihr Team“).

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Im Allerheiligsten des Dinobaum-Canyons

Herzlich willkommen in der Church of Actimel!

Pflanzen: Renate Hücking erzählt sieben wunderbare Geschichten vom Menschenschlag der „Plant Hunters“

Essen und Trinken: Zwei Neuerscheinungen beleuchten industrielle Essensfälscher und mobile Esskulturen

m September 1994 fand der damals Ieines 29-jährige David Noble am Grund tiefen Canyons im australi-

igentlich ist jeder selbst schuld. E Wer eine Tiefkühlpizza ins Backrohr schiebt und sich von den appe-

schen Wollemi-Nationalpark eine Gruppe von 23 fremdartigen Nadelbäumen. Der Bushwalker hatte sich an einem 60 Meter langen Seil in einen der 500 Canyons des Naturreservats abgeseilt und dort etwas entdeckt, das in der Folge als botanische Entdeckung des Jahrhunderts gefeiert wurde: den „Dinobaum“ Wollemnia nobilis – benannt nach seinem Entdecker und dem Fundort –, ein Baumfossil aus der Familie der Araukarien, das bereits vor Millionen Jahren auf der Erde existiert hatte, aber bisher nur aus Versteinerungen bekannt gewesen war. Unter Pflanzenjägern, Botanikern und

Dendrologen galt der Fund als so spektakulär, „als hätte man einen lebendigen Saurier entdeckt“. Umgehend wurde der Botanische Garten Sydney, an den Noble ein paar Blätter und Äste des Funds zur Bestimmung gebracht hatte, von tausenden Anfragen aus aller Welt überschwemmt. Der Fundort wurde zum Schutz der Pflanzen geheim gehalten. Die auserwählten Botaniker, die in den folgenden Jahren dorthin geführt wurden, mussten sich am Hin- und Rückweg die Augen verbinden lassen, desinfizierte Kleidung tragen und eine Desinfektionswanne durchschreiten, bevor sie ins Allerheiligste des Dinobaum-Canyons vorgelassen wurden. Per Helikopter wurden weibliche Zapfen der Wollemi Pine von den Baumwipfeln geholt. Die ersten 292 Exemplare des nachgezüchteten Bestands wurden am 25. Oktober 2005 von Sotheby’s im Botanischen Garten von Sydney versteigert und brachten den Spitzenpreis von insgesamt einer Million australischer Dollars ein. Das ist eine der sieben herrlichen Geschichten, die Renate Hücking in „Die Beute der Pflanzenjäger“ zusammengetragen hat. Sie geht dabei weit zurück bis ins zweite Jahrtausend v. Chr., als die ägyptische Pharaonin Hatschepsut eine Expedition per Schiff über die Nilkatarakte nach Süden bis ins Gebiet des heutigen Somalia und Eritrea schickte, um dort – unter Umgehung des Handels mit der arabischen Halbinsel – nach Weihrauchbäumen suchen zu lassen.

Hückings Berichte sind im positiven

Sinn ausschweifend und schwelgerisch. Die von ihr Porträtierten sind keine Unbekannten, eher große Nummern in der Geschichte der Pflanzenjagd oder wie Vater und Sohn Forster, die ab 1772 James Cook auf seine zweite Weltumseglung begleiteten, große Wiederentdeckte (Georg Forsters sozialkritischer Reisebericht erschien 2008 unter dem Titel „Rei-

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se um die Welt“). Es ist die Zusammenstellung, die dieses Buch reizvoll macht, denn es zeigt einen interessanten historischen Querschnitt und macht deutlich, dass sich in der Person des Pflanzenjägers echte Hingabe mit unverblümt verfolgten ökonomischen Interessen der Auftraggeber vermischen, die mitunter ganze Wirtschaftszweige befeuerten und in Schwung brachten. So versorgte der US-amerikanische Quäker und Bauer John Bartram im 18. Jahrhundert über 40 Jahre lang die Gärten der europäischen, vor allem englischen Upper Class mit Pflanzen, die er auf seinen ausgedehnten, strapaziösen Ein-MannReisen durch den damals noch wilden Osten und Südosten der USA zusammentrug. Der natürliche Stil des englischen Landschaftsgartens hatte die Formschnitthecken der französischen Gartens nach dem Vorbild von Versailles abgelöst: Der Hunger nach neuen Sträuchern, Bäumen und Stauden war grenzenlos. Ein seltsamer Vogel unter den Pflanzen-

sammlern von Rang ist immer noch der Austroamerikaner Josef Rock (1884–1962), ein wagemutiger Einzelgänger mit phänomenalem Gedächtnis und dem aufbrausenden, narzisstischen Temperament einer Primadonna. Als Sohn eines Kammerdieners des Grafen Potocki war er als Zaungast im luxuriösen Wiener Ringstraßenmilieu aufgewachsen und hatte Zugang zur gräflichen Bibliothek. Die Schule interessierte ihn nicht, stattdessen brachte er sich selbst Chinesisch bei. Mit 18 kehrte er Wien den Rücken, lebte lange auf Hawaii, wo er es – unter Vortäuschung eines Doktortitels – zum Universitätsprofessor der Botanik brachte, ein riesiges Herbarium anlegte und ein bis heute gültiges Standardwerk über die Flora Hawaiis schrieb. Danach setzte Josef Rock über nach China, dessen unzugängliche südwestliche Provinzen er die nächsten drei Jahrzehnte seines Lebens in tollkühnen und ungeheuer ergiebigen botanischen und geografischen Forschungsreisen durchstreifte. Über 120 Pflanzen tragen seinen Namen, fest steht auch, dass Josef Rock tausende asiatische Pflanzen erstmals im Westen eingeführt hat. J ulia K ospach

Renate Hücking: Die Beute der Pflanzenjäger. Piper, 252 S., € 20,50

titlichen Bildern auf der Verpackung verführen lässt, statt aufmerksam das Kleingedruckte zu studieren, isst eben unter Umständen Schummelschinken mit weniger als 40 Prozent Fleischanteil und fiesen Analogkäse ohne Milch – Slowfood ist was anderes. Es geht also um die Wurst, den Schwarzwälder Schinken und die beste Ernährung. Kaum ein Thema wird momentan so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Etwa in Thilo Bodes Buch „Die Essens-

fälscher“. „Was uns die Lebensmittelkonzerne auf die Teller lügen“, heißt es im Untertitel. Gutgläubig muss man halt auch sein – und sich vielleicht sogar belügen lassen wollen. Bode, der lange Manager bei der internationalen Umweltschutzorganisation Greenpeace war und 2002 die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch gründete, schaut in die Töpfe und hinter die bunten Verpackungen der Lebensmittelindustrie und deckt deren leere Versprechen auf. Zum Beispiel, dass man gesunde Vitamine in Bonbonform „naschen“ kann, mit Margarine seine Cholesterinwerte senkt, mit probiotischem Joghurt die Abwehrkräfte stärkt oder die Verdauung in Schwung bringt. Herzlich willkommen in der Church of Actimel. Tatsächlich glaubt ein nicht unerheblicher Teil der Menschheit an den täglichen Gesundheits- oder Wellnessdrink. Man muss es offenbar nur oft genug im Werbefernsehen wiederholen, die wissenschaftliche Basis für das Produkt aus dem Kühlregal, so Bode, sei jedenfalls sehr dünn: Zwar könne die probiotische Joghurtkultur in Actimel ganz allgemein die „Aktivität körpereigener Immunzellen steigern“, wie der Hersteller Danone verspricht – aber das können milchsaure Produkte wie Naturjoghurt, Kefir oder Sauerkraut ebenfalls. Und billiger.

Der Autor widerlegt nicht nur leere

Gesundheitsversprechen, mit denen die großen Nahrungsmittelkonzerne ihre oft sehr fetten oder überzuckerten Produkte anpreisen, um den Profit zu steigern. Bode zeigt, wie Kinder zu übergewichtigen Kunden von morgen gemacht werden. Er begibt sich auch auf die Suche nach der verlorenen Qualität und entlarvt die Traditionslüge. So wird den meisten Verbrauchern wohl entgangen sein, dass „Schwarzwälder Schinken“ nicht unbedingt von Schweinen stammen muss, die sich im Schwarzwald gesuhlt haben. Der Schinken muss lediglich vor Ort hergestellt worden sein – egal ob das

Fleisch (oder die Tiere) vor der industriellen Massenfertigung tausende Kilometer hinter sich haben. Wer nicht jeden Samstag regionale Produkte auf dem Bauernmarkt kauft, sondern sich und seine Familie weitgehend aus dem Supermarktregal ernährt oder ernähren muss, dem sollte klar sein, auf was er sich einlässt. Bode fordert mehr Transparenz und appelliert an die politisch Verantwortlichen, die Industrie stärker in die Pflicht zu nehmen. Die nämlich befürchtet offenbar Umsatzeinbußen, wenn auf der Verpackung groß und verständlich Inhaltsstoffe wie Fett und Zucker kommuniziert werden müssen. Die momentan diskutierte „Ampel“ wäre eine Lösung. Auf der Tiefkühlpizza würde sie wahrscheinlich Rot anzeigen. Noch ein Buch übers Essen, diesmal aber über das gute. Der Reader „Esskulturen. Gutes Essen in Zeiten mobiler Zutaten“ von Andrea Heistinger und Daniela Ingruber versammelt Texte unterschiedlicher Autoren zu den Themenfeldern Ernährung, Kunst und Tradition. In dem Buch, das anlässlich der oberösterreichischen Landesausstellung 2011 „Mobile Food“ erscheint, geht es dabei weniger um die tägliche Nahrungszufuhr als um das Essen als Event. Es geht um das Gemeinschaftserlebnis, den Herd als klassischen Mittelpunkt, Food-Design, gute Ernährung als Luxus oder als tägliche Überlebensstrategie wie bei der Versorgung von Hungernden in Afrika oder der Wiener Tafel, die überschüssige Lebensmittel Bedürftigen zukommen lässt: Es ist genug für alle da. Festmäler, Rituale, Regionalität, alte Sorten und Nutztierrassen: Dem Kulturerbe als „Geschmackverstärker“ widmet sich der Sozialanthropologe Christoph Kirchengast. Menschen sind in Bewegung, die Mobilität prägt auch Essgewohnheiten. Wie sich aufgrund veränderter Lebensumstände bodenständige Südtiroler Gerichte mit neuen Ernährungsgewohnheiten vermischen, erklärt die Ethnologin Barbara Stocker. Gerade diese Beiträge spannen einen überraschend großen Themenbogen zum Essen in der Kunst. Schließlich sollen ja die Esskulturen im Mittelpunkt stehen. Und nicht die große Essenslüge. CHRISTOPHER WUR MDOBLER

Thilo Bode: Die Essensfälscher. S. Fischer, 222 S., € 15,40 Andrea Heistinger, Daniela Ingruber: Esskulturen. Mandelbaum, 300 S., € 19,90

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Brutzeln, bis die Schwarten krachen Kochen: Der Kochbuchherbst hat einen Höhepunkt – Wolfgang Müllers monumentales Werk „Schwein“ Kochschulen. Wenn man ästhetische (der

AR MIN THURNhER

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eine Herbstschau beginnt mit der üblichen Klage (jedes Jahr werden es mehr, diesmal habe ich selber noch eines beigesteuert, siehe Marginalspalte), der Entschuldigung für all das Übersehene (wird bei Gelegenheit im Falter nachgeholt) sowie mit dem Versuch einer Einteilung der Neuheiten. Zuerst die Grundsatzwerke. Der Bregenzer

Kurt Bracharz ist ein ausgezeichneter Krimischriftsteller und witziger Essayist (leider erscheinen seine Glossen unter Ausschluss der ostösterreichischen Öffentlichkeit in der Vorarlberger Kulturzeitschrift Kultur). Bracharz ist Gourmet, hat in den Vorarlberger Nachrichten 15 Jahre lang eine einschlägige Kolumne verfasst und war als Lokaltester unterwegs. Die Kolumnen hat er nun zum Band „Mein Appetit-Lexikon“ zusammengestellt. Die meist angebrachte Furcht vor Kolumnenbüchern ist hier unbegründet. Bracharz’ warenkundliche Informationen (von Angostura bis Xeres, von Aal bis Zwetschke, von Arganöl bis Yakfleisch) sind äußerst informativ, originell, gut geschrieben und mit der nötigen kritischen Verve ausgestattet. Dass er zwischen den Gängen auch als Sprachkritiker auftritt, mindert den Unterhaltungswert des Buchs keineswegs. Den Unterschied zwischen „verköstigen“ und „verkosten“ sollte jeder Winzer und jeder Leser kennen. Empfehlung! Ebenfalls in Bregenz geboren ist die Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler. Gemeinsam mit dem Journalisten, Theatermann und Kulturwissenschaftler Wolfgang Reiter legt sie „Food Change“ vor, „sieben Leitideen für eine neue Esskultur“. Ausgehend von soziologischen Veränderungen (Zunahme der Single-, Abnahme der Mehrpersonenhaushalte, Verschwinden der nicht berufstätigen Hausfrau) formulieren sie ihre Leitlinien für eine neue Ernährung. Die ist nicht nur neu, sondern besser, weil globaler und schlauer. Erfreulicherweise bieten Rützler/Reiter nicht Appelle, sondern kulturwissenschaftlich fundierte Feststellungen. Ja, wir essen besser statt mehr, gesünder, interessieren uns dafür, woher das Zeug kommt, das wir zu uns nehmen, erfreuen uns wieder an gemeinschaftlich Gekochtem und so weiter. Sogar eine Lanze für Convenience-Food wird gebrochen. Ein lehrreiches und erfreulich pragmatisches Buch.

Kurt Bracharz: Mein AppetitLexikon. Haymon, 350 S., € 19,90

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Hanni Rützler, Wolfgang Reiter: Food Change. Krenn, 170 S., € 19,90

Koch als Model poppt auf jeder zweiten Seite auf) und sprachliche Sensoren deaktiviert („wie Reis als selbstständiges Gericht dargestellt werden kann“), wird man in diesem Buch einen nützlichen Ratgeber finden. Zweihaubenkoch Frank Rosin verspricht „kreative Rezepte mit einfachen Zutaten“, und siehe da – er hält Wort. Und kocht brauchbare Süppchen, vernünftige Dinge wie frittierte Reisbällchen oder einen lecker aussehenden Kartoffel-OlivenBaumkuchen. Noch nie habe er seine Küchengeheimnisse verraten, obwohl er doch so viele Bücher und Sendungen veröffentlicht habe, behauptet der deutsche Koch Alfons Schuhbeck, ein Bayer. So was kann einen skeptisch machen, und in der Tat sind es nicht nur Geheimnisse, die Schuhbeck uns in „Meine Küchengeheimnisse“ verrät; aber es sind anschauliche, mit Schrittfür-Schritt-Fotos ausgestattete Handlungsanleitungen, bei denen auch ausgepichte Köche noch den einen oder anderen Trick kennenlernen werden. Die Trias deutscher TV-Köche komplettiert Cornelia Polettos „Kochschule. Mein neuer Grundkurs für Einsteiger“. Obwohl der Titel das Grundkursartige stark hervorhebt, ist dieses Buch eher was für Fortgeschrittene. Die Rezepte sind durchaus elaboriert, wenn auch keineswegs überkandidelt, in manchen Details jedoch merkwürdig (Gorgonzolasauce mit eingekochtem Fond aus dem Glas!). Der Grundkurs besteht aus den Einleitungen zu den Kapiteln, die tatsächlich instruktiv sind.

Der Rezensent hat es selbst getan – ein Kochbuch geschrieben: Irena Rosc, Armin Thurnher: Thurnher auf Rezept. Falter Verlag, 192 S., € 29,90

Stefan Wiertz: Fleisch satt. Südwest-Verlag, 128 S., € 13,40

Senta Berger: Rezepte meines Lebens. Monothematische Werke erfreuen eher den Brandstätter, Fortgeschrittenen als den Einsteiger. Eine 221 S., € 29,90

reine Freude ist jedoch Wolfgang Müllers „Schwein. Das große Kochbuch“. Es informiert über Schweinerassen (umfassend, aber nicht komplett: das Turopolje-Schwein fehlt zum Beispiel, macht aber nix, der Schwerpunkt liegt auf deutschen Schweinen). Müller ist geborener Allgäuer, gelernter Metzger, Sternekoch und lebt in Berlin. Gewiss ist er auch ein Original. Sein Buch ist grundlegend und vereinigt Notwendiges (Schweinekopfsülze) mit wunderbar Überflüssigem (Törtchen von Schweinnasen). Es bringt alles, was man über Schweine wissen muss, wenn man sie kocht und verarbeitet (zu Wurst, zum Beispiel). Es ist grafisch feinstens gemacht. Und es rockt! Müller erzählt keinen Firlefanz, die Dokumentation seines Arbeitstags beweist das

Frank Rosin: Das Kochbuch. VGS Verlagsgesellschaft, 160 S., € 20,60

Alfons Schuhbeck: Meine Küchengeheimnisse. Zabert Sandmann, 160 S., € 20,60

Claire Joyes: Zu Gast bei Monet. Edition Styria, 192 S., € 29,95 Allegra Antinori: Cantinetta Antinori. Zu Tisch in der Toskana. Brandstätter, 191 S., € 34,95 Wibke van der Scheer, Margré Mijer: Arte in Cucina. Gerstenberg, 159 S., € 20,60

Cornelia Poletto: Polettos Kochschule. Zabert Sandmann, 185 S., € 20,60

ebenso wie die tollen Rezepte. Das Kochbuch, das mich in dieser Saison am meisten begeistert! Muss haben. Ebenfalls ein tolles Buch legt die Französin Christine Ferber mit „Die MarmeladenBibel“ vor. Bei einem solchen Titel wäre ich sonst skeptisch, diesmal aber ohne Grund. Hier geht’s wirklich ans Eingemachte. Man lernt alles, was man über Marmeladen, Konfitüre und Co wissen muss. Aber nicht nur: Auch Sirupe, Chutneys und Kompotte hat Ferber im Programm, süß und süß-sauer. Durchaus Überraschendes darunter: Kartoffelmarmelade mit Vanille und Ingwer etwa. Das Buch ist klassisch schön und haltbar gestaltet. Der omnipräsente Toni Mörwald legt mit „Süße Fische aus Seen und Flüssen“ ein Fischkochbuch vor, das sich wie der Titel liest: ein wenig redundant. Ob wir alles glauben sollen? Nie aus dem Teich gefischt, Herr M.? Aber wir wissen Ironie zu deuten, zum Beispiel jene, die Mörwald mit Angelrute auf der Wiener Uraniabrücke zeigt (viel zu hoch, um was rauszuholen, wenn unten überhaupt was drin wäre). Das Buch informiert über heimische Fischzüchter und bringt eine Reihe anregender Rezepte (Safran-Semmelkren). Andere bleiben doch dem Restaurant vorbehalten (Bisque von Flusskrebsen). Schlicht, unpräten­t iös, aber wenig inspirativ kommt „Fleisch satt“ von Stefan Wiertz daher. Ein sympathisches kleines Büchlein mit allem Wichtigen, das auf dem Trend gegen den Trend surft. Coffeetable-Books. Hübsch und mäßig nützlich, so lautet das Vorurteil. Wer sich jedoch für die schöne Senta Berger und ihr Leben interessiert, wird in „Rezepte meines Lebens“ mit biografisch relevanten Rezepten (und Bildern) belohnt. Das Buch ist besser, als man vermuten würde! Rechtzeitig zur großen Monet-Schau in Paris erscheint „Zu Gast bei Monet“, das – reich illustriert – zur einen Hälfte über Ess- und Lebensgewohnheiten auf Monets Landsitz Giverny informiert und zur anderen Rezepte von Monets Haushälterin präsentiert. „Cantinetta Antinori“ bringt, schön, aber etwas glatt fotografiert die Rezepte der gleichnamigen toskanischen Nobelkette. Der Titel von „Arte in Cucina“ verspricht etwas mehr, als er hält. Aber die Bilder hauptsächlich niederländischer Künstlerinnen der Amsterdamer Galerie „Artacasa“ illustrieren die Rezepte der Künstlerinnen auf F witzige Weise.

Wolfgang Müller: Schwein. Das große Kochbuch. Neuer Umschau Verlag, 240 S., € 41,10

Christine Ferber: Die MarmeladenBibel. ChristianVerlag, 311 S., € 41,10

Toni Mörwald: Süße Fische aus Flüssen und Seen. Residenz, 320 S., € 34,90

27.09.2010 12:38:23 Uhr


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