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Das Ungesagte spricht ebenso laut wie das Gesagte

Essay: Siri Hustvedt schreibt über ihre Lebensthemen Kunst und Misogynie und plädiert für mehr O ff enheit einer Kindheit

Zu Siri Hustvedts philosophischen Lebensthemen gehören die Kunst, das Gehirn und seine Funktionsweise sowie Misogynie. Diese äußert sich für sie etwa darin, dass Aussagen und Werke von Frauen weniger Respekt erfahren als jene von Männern. Oder dass die Fähigkeit, Kinder zu gebären, nur allzu gern „weginterpretiert“ wird.

Zwischen ihren großen Romanen hat die US-Autorin immer wieder Essaybände vorgelegt. Auf Deutsch erschien 2018 „Die Illusion der Gewissheit“, eine Abrechnung mit der Künstlichen Intelligenz als männlicher Wunschfantasie von der Selbstreproduktion ohne Embryonalentwicklung und Mutter-Kind-Dyade, kurz: ohne Frauen. 2019 folgte „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen. Essays über Kunst, Geschlecht und Geist“.

Hustvedts neuer Band verrät schon im Titel, dass sie ihren Lebensthemen treu zu bleiben gedenkt. „Mütter, Väter und Täter“ beginnt mit einer autobiografischen Verortung: ihrer Beziehung zu den verstorbenen Eltern, die ihre Wurzeln in Norwegen hatten, zu ihren Großeltern sowie ihrem Aufwachsen in einer bürgerlichen Familie im entlegenen Minnesota der 1960er-Jahre.

50er-Jahren und die Vater aus

Der ideale Vater dieser Kindheitswelt: „eine ferne, aber zuverlässige Gestalt, die nach der Arbeit rechtzeitig vor dem Abendessen für ein formal vertrauliches Gespräch mit Sohn oder Tochter nach Hause kam, aber trotzdem genug Autorität bewahrte, um seinen Kindern Angst zu machen“. Die Mutter hingegen sei „chronisch hilfsbereit und pathologisch fröhlich“ gewesen und habe ihr erst Jahre nach dem Tod des Vaters gestanden, dass es sie gekränkt habe, von diesem ständig unterbrochen worden zu sein.

„Mutterscha war und ist in so viel rührseligen Unsinn getaucht, mit so vielen Vorgaben für das, was man zu tun und zu fühlen hat, dass sie, sogar heute noch, eine kulturelle Zwangsjacke bleibt“, folgert die Autorin. Auch in den Instagram-Postings, in denen schlanke, glamouröse Mütter vor glänzenden Küchen mit dem Nachwuchs kuscheln, sei das noch sichtbar.

Für Hustvedt gibt es keine banalen Fragen oder Gefühle bzw. Fantasien: Sie geht alle Themen mit dem Ernst der Geisteswissenscha lerin und dem Wissen der naturwissenscha lich Gebildeten an, ohne jedoch in akademischen Jargon zu verfallen. Das macht die Texte dieser laut Selbstbezeichnung „intellektuellen Vagabundin“ nicht nur lehrreich, sondern auch gut lesbar.

Dem Unbekannten misst Hustvedt ebenso viel Bedeutung bei wie dem Bekannten. Denn das, worüber nie geredet wurde, spreche in Familiengeschichten und Erinnerungen genauso laut wie das Gesagte. Erinnerungen können von Familienmitgliedern übernommen werden und sich im Laufe des Lebens ändern. Kurz: Die Vergangenheit ist fluide – genauso wie die Gegenwart.

Der Mensch sei weder als Persönlichkeit noch als Körper eine geschlossene Entität. Das beginne schon im Bauch der Mutter, auch wenn die männlich dominierte Wissenscha darauf beharre, das Genom als festgelegten Plan zu interpretieren. „Die tiefe Ironie ist hier, dass es in der Embryologie selbst um Vermischung geht. Spermium und Ei schaffen gemeinsam eine Zygote mit der DNA beider Eltern, und die folgende Gestation im Körper einer Frau ist ein Tanz von zellulärem Austausch, Verquickungen und noch kaum erforschten Mustern eines regen Ver-

Die Schuhe

Der V Ter

ROMAN kehrs, an dem die Mutter, die Plazenta und der Embryo beteiligt sind.“

Der tief berührende Roman einer Kindheit und Jugend in den 50er-Jahren und die große Recherche über einen Vater aus Siebenbürgen.

Wir seien offene Wesen, betont Hustvedt, die in und mit Abhängigkeit von anderen geboren werden und leben. Der Frauenhass in der entwickelten Welt führe hingegen zu „fundamentalen Falschdarstellungen“ der Rolle der Mutter während der Schwangerscha . Passend dazu stelle die Geburt in der abendländischen Kunst – im Gegensatz etwa zur indischen – kein Motiv dar. Sie glänze durch Abwesenheit.

Reflexionen über Kunst und Kunstwerke nehmen auch im neuen Band breiten Raum ein. Diese begrei Hustvedt ebenfalls als radikal offen: zum Konsumenten hin. Lesen und Schreiben bedeuten für sie Formen des Dialogs. „Jedes Buch wird erfunden, nicht nur von dem, der es schreibt, sondern auch von seinem Leser.“ Und auch Bücher, stellt sie fest, überschreiten ihre (papierenen) Grenzen: „Ein geliebtes Buch bleibt wie ein Geist im Leser, mit bewussten und unbewussten Resonanzen.“ Aber auch das Gegenteil gilt: „Leser aller Art unterdrücken Komplexität und ersetzen sie durch eigene Plattitüden, um das Unbehagen der Ungewissheit zu vermeiden.“

Mit der Lektüre von Siri Hustvedts Texten kann man sich in diese erkenntnisreiche Ungewissheit einüben. KIRSTIN BREITENFELLNER

Siri Hustvedt: Mü er, Väter und Täter. Essays. Rowohlt, 445 S., € 28,80