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DAVOS

TABEA STEINER

Davos

Geologisch gesehen ist es nicht lange her, dass ein riesiger Bergsturz im Totalpgebiet über dem Landwassertal eine Aufschüttung hinterliess. Der Grossdavoser See staute sich auf, bald bildeten sich Deltas, die zur Unterteilung dieses Sees führten. In der Folge änderte die Landwasser ihre Fliessrichtung – in der Schichtrichtung der Seitentäler ist die Talumkehr des Flusses noch 20 000 Jahre später gut sichtbar. Ab dem 12. Jahrhundert besiedelten die Walser das Tal, im 15. Jahrhundert entstand hier der Zehngerichtebund, um das Gebiet vor der Expansion der Habsburger zu verteidigen. Davos Dorf und Davos Platz wuchsen heran; die natürliche Grenze zwischen ihnen bildete lange Zeit der Schiabach: Im Winter brachte er Schneelawinen, im Sommer Rüfinen, Bergrutsche. Jahrhundertelang war der Gebirgswald von Brandrodungen und Bergwerken bedroht. Heute schützt er die höchstgelegene Stadt Europas vor den im Winter nach wie vor niedergehenden Schneemassen. Ausserdem nimmt der dunkle Waldmantel das Sonnenlicht auf und trägt das Seine dazu bei, im Winter den Kaltluftsee über Davos aufzulösen. Nur für kurze Aufenthalte kamen die ersten Touristen nach Davos. Bald schon folgten Tuberkulosekranke, die länger blieben. Man entdeckte die antiseptische Wirkung der Sonne, errichtete Sanatorien, funktionierte Hotels um, entwickelte die Heliotherapie samt drehbaren Sonnenpavillons. 1882 wurde in Berlin der Tuberkelbazillus entdeckt, im selben Jahr begann in Davos der Bau der Kanalisation. Es war die Zeit, in der Davos rasend schnell wuchs: 1860 zählte es 1700 Einwohner und Einwohnerinnen, 1889 kam die Eisenbahn, und schon 1910 lebten hier fast 10 000 Menschen. Eine Bauordnung erhielt Davos allerdings erst 1916, als sich Tatsachen bereits vollendet hatten und die heutige Stadtstruktur feststand. Auf Ernst Ludwig Kirchners farbstarken Bildern wimmelt es von Bogenschützen, Eisläuferinnen, Ski- und Bobfahrern. 1934 wurde der 100 erste Bügellift der Welt gebaut, Engländer eroberten das Davoser Gebirge. Bis heute bilden

Niederländerinnen, Russen, Juden, Zürcherinnen historisch gewachsene Geflechte, eine Vermischung mit der hiesigen Bevölkerung findet kaum statt. Immer wieder wurde massiv gebaut, Baukulturelles abgerissen, Wohnraum knapp und teurer, nicht zuletzt wegen der Zweitwohnungsinitiative. Auch die Weltgeschichte hat sich ins Landwassertal eingeschrieben. Als Ende 1915 die Kriegsparteien den Austausch verwundeter und kranker Gefangener vereinbarten, nahm die Schweiz Tuberkulosekranke auf und pflege sie in Davos. Aber auch der Leiter der NSDAP Schweiz hielt sich in Davos auf, als er 1936 vom jüdischen Studenten David Frankfurter erschossen wurde. Als 1943 mit dem Streptomyzin das erste Medikament gegen Tuberkulose entwickelt war, ging das Kurgeschäft bergab, Sanatorien wurden wieder zu Hotels, der neue Friedhof stellte sich als um das Doppelte zu gross angelegt heraus. An den ersten Davoser Hochschulkursen hatte Albert Einstein bereits 1928 mit einem Geigenkonzert überrascht. Die Entwicklung Davos’ zu einer Stadt der Wissenschaft war nicht mehr aufzuhalten. Das Schweizerische Institut für Allergie- und Asthmaforschung entstand, ebenso das Laboratorium für experimentelle Chirurgie und das Institut für Schnee- und Lawinenforschung. Ärztekonferenzen und der Europäische Lichtkongress finden in Davos statt, und auch der Weltwirtschaftsgipfel WEF, dem ausgerechnet eine weltweite Tröpfcheninfektion beinahe ein Ende bereitet hätte. In schneereichen Wintern lagern sich Lasten von mehreren Tonnen auf den Dächern ab. Damit keine Dachlawinen auf die Gehwege donnern, Passanten erschlagen oder unter sich begraben, wurde das Flachdach erfunden. Es ist nach der Mitte hin geneigt und führt Schmelz- und Regenwasser zu einem Ablauf, der durch das warme Hausinnere führt und darum nie gefriert. Dieses Konstruktionsprinzip ist weltweit als Davoser Dach bekannt. Die wahre Davoser Baumeisterin aber bleibt die Sonne. Zu ihr drehen sich die Terrassen und Balkone. Wer hier bauen will, muss vom Geometer prüfen lassen, dass jeder Hauptraum am 21. Dezember mindestens zwei Stunden Sonne hat. Solange die Sonnenlichtvorschrift eingehalten wird, darf der Abstand zu den Nachbargebäuden schrumpfen, was zu immer dichterer Besiedelung führt. Die Ära der Villenstadt mit ihren grosszügigen Gärten, deren Abstandsgrün auch als Schutz vor Tuberkulosekranken diente, ist vorbei. Noch nicht ganz verschwunden sind die weitverstreuten Walserhäuser, die, wie manche meinen, dem Davoser Charakter einen eigenbrötlerischen Zug verliehen haben. Pro Jahr zählt man in Davos im Schnitt gerade einmal sieben Nebeltage. An einem dieser Tage muss Gerhard Richter jene Fotos gemacht haben, die als Grundlage für sein Gebirgsgemälde Davos dienten. Die sonst so klare Sicht und dieses typische alpine Licht rühren daher, dass die Luft kaum Dampfpartikel enthält. Carl Dorno, der später die UVB-Strahlen entdeckte, wollte in Davos die Heilwirkung des Klimas ergründen und untersuchte erstmals systematisch die Strahlungsgrössen sowie die Wechselwirkung zwischen Sonnenstrahlung und Atmosphäre. Ende der fünfziger Jahre wurden erste internationale Pyroheliometervergleiche durchgeführt, und die Davoser Sonne wurde – analog zum Urkilo oder dem Urmeter in Paris – zum globalen Kalibrierzentrum für Strahlungsmessinstrumente. Alle fünf Jahre treffen sich dafür Wissenschaftlerinnen aus aller Welt in Davos, auch wenn die Messungen längst auch im Weltraum stattfinden. Sollte der Weltwirtschaftsgipfel also eines Tages doch abziehen, der Schnee winterlang ausbleiben oder der Fluss einmal mehr eine neue Richtung einschlagen – der Wind wird weiter unbeirrt von Nord nach Süd durch das Tal wehen. Und auch die Sonne wird voraussichtlich noch ein paar Milliarden Jahre für Davos, diese Stadt in den Alpen, scheinen.