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BELLINZONA

KATJA BRUNNER

Bellizona

Und ich denke an die Wetterfront, die aufzieht, bald sind wir im Tessin, dort ist alles anders. Eintritt in Sphären der Gelnägel, des Burkaverbots, der Selbstironie, der verkleinerten Italianità, oder jedenfalls dem, was Deutschschweizer, also Zucchini, damit verwechseln. Little Eataly. Im Tessin war’s immer eso schön, sagt Onkel Eddie zu seiner Verabredung, die er nach Tante Hildegards Ableben für sich reklamierte, im Tessin hatten wir es immer eso gut, sagt er. Goldgelbes Licht, eine gute Pizza und echli Boccia. Flussbäder, fast schon Italien, und Wandern kann man so gut und Marroni sammeln. Oh, bella frisura, komm doch noch auf einen Kaffee vorbei. Der Motor vom Bus Richtung Süden dröhnt. Die Häuser sind kühl im Sommer und haben Wände wie Burgen im Winter, schwerfällig warm gewordene Gastlichkeit. Und draussen der Alpenfirn. Die Schnellstrasse führt mitten durchs Dorf, es ist wichtig, dass sie fast jeden Dorfkern durchtrennt. Und da ist die Migros neben einer Gruppe Kakibäume, so orange behangen mit samtigsaftigen Früchten. 8 Dahinter erstreckt sich grünbraunes Weideland. Der Fluss. Wieder Weideland. Und dann noch ein Dorf, das sich an den aufsteigenden Berg kuschelt, sich in seine Achselhöhle legt. Menschen drücken sich an Häusern vorbei, warten an Bushaltestellen auf liebe Worte. Ein Hotel, verlassen, mit Brettern zugenagelte Fenster. Ein Platz wie ein Sperrmülllager: Campinghocker, ein Handball, kaputte Sonnenschirme, eine Badewanne, ein Schrein für eine, die bei einem Verkehrsunfall das Leben gelassen hat. Dann ein Kiosk mit einem dicken Mann darin, der lächelt. Eine Nonne, sie schreitet eher, als dass sie geht, im Vorbeifahren dünkt mich ihr Gesicht so, als wüchse Kohlrabi darauf, immer ein Anzeichen von Herzgeschichten. Dann endlich lange ich an. In Bellinzona. Und jetzt? Soll ich schreibend von Palmen in einer Sommerbrise schwelgen, vom äusserst beruhigenden Geräusch, wenn die Kanten ihrer 8 Blätter gegeneinander rascheln? Soll ich nun hier auf Papier traurig und allein den Sand

abtragen, der an den Ufern des Ticino liegt, ihn beschwören und bannen, das ausnehmend irisierende Glitzern der Granitsteinpartikelchen beschreiben und dann daran verlorengehen? Soll ich, romantisierend, von der Zuverlässigkeit des Rufs des Uhus schreiben? Und danach, fast eloquent, fast glatt, aalglatt, und gleich wieder gebotenermassen widerborstig Um- und Zustände beschreiben, die einen ereilen, wenn man betritt, beschreitet, atmet dieses Bellinzona? Tritt man ein und besieht sich diese Stadt, beruhigt sich der Puls. Hier der Regierungssitz der Kantonshauptstadt, die sich trotz allem ihren dörflichen Charme erhalten hat. Dort das Bundesstrafgericht, es wohnt in ihr, nein, thront, kühl, konzentriert, unverhandelbar. Drei Burgen formen Bellinzona, die eine umschloss frühe Bellenzerinnen und Bellenzer, in der mittigen spielen sie heute manchmal Opernklassiker, die dritte schaut über alles, sogar bis nach Italien, sagen manche, warnend, mahnend. Dieses Bellinzona, das kein Filmfestival hat von Rang, keine mondänen Ereignisse beheimatet, die pressegierig verziert werden. Nein, Bellinzona ist so zuverlässig wie das Essen in der «Casa del Popolo», verträumt ebenso wie vernünftig. Mittwochs und samstags findet ein berühmter Markt unter blauroten Segeln statt, solide Eleganz. Einmal im Jahr Karneval, hier Rabadan genannt, pure Fleischlichkeit. Geduldete Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer, aber eine robuste, spiralhafte Eigenständigkeit. Soll ich, wenn ich schon mal hier bin, Liebeslieder an den Sandstein verfassen, von eifrigen Altrömern, in Wirklichkeit ihren Leibeigenen, verlegt? Wie diese nämlich den Sandstein erst zerlegten, dann verlegten und eine Strasse aus ihm machten, damit diese Strasse jetzt die Altstadt geschmeidig macht, warm, eifrig und einig von Bürgerinnen und Bürgern bestiegen, liebevoll glatt poliert, wie das glänzende Fell von Pferden im Juli. 9 Soll ich nun davon erzählen? Oder doch lieber noch mehr vom Ticino, dem Fluss Bellinzonas, der kaltes, gesund frisches Alpenwasser trägt, der aus der Höhe stammt und wie er sich durch die Stadt schlängelt, mal gemächlich tröpfelt oder auch mal üppige Wassermassen abtransportiert? Soll ich von seinen hinterlistigen Anwandlungen erzählen, davon, dass er glitzernd, kühlend, wissend einen umspült, einen trägt, wenn es denn ginge ohne Verletzung, bis in den – Achtung – Po? Oder soll ich die Geschichte von einem weiteren Onkel erzählen, von Paolas Onkel, den alle schlicht Onkel nennen, Zio auf Italienisch? Wie Paolas Zio sich in einer Juninacht in den Ticino legte. Es war ein ungewöhnlich regnerischer Frühling, der dieser Juninacht vorangegangen war, das Wasser stand demnach nicht zu niedrig. Paolas Zio hatte einige Obstschnäpse – tirilli – intus, ein Haarbüschel, er nannte es «Locke», seiner verstorbenen Frau hat er sich mutig und verquirlt in die Brusttasche gestopft. Und wenn er gar nicht gestorben ist, weil ausgerechnet Paola ihn gefunden hat? Ich könnte erzählen, wie er jetzt nach einer auskurierten Lungenentzündung – ganz davonkommen liess ihn der Ticino dann doch nicht – wieder auf den Markt geht, recht zufrieden, auf seine mürrische Weise zufrieden, einen Spritz trinkt e un grappin und dann Gemüse und Käse einkauft. Wie er den Käse einpackt und seine pandemiebedingte mascherina dabei auf den Boden fällt und jemand sie ihm aufhebt und hinterherträgt im Gewusel des Markts. Unter der Baumarktjacke (viele Prozente Polyester) trägt Zio ein hochwertiges Hemd. Soll ich all das erzählen? Und zum Schluss anfügen, dass der Ticino die Locke seiner Liebsten behalten hat?