TRAFFIC News to-go #4

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AUSGABE 04

MÄRZ 2010

T R A F F I C E R H Ä LT E I N E A U S Z E I C H N U N G I N D E R K A T E G O R I E “ N E W C O M E R D E S J A H R E S ” B E I D E N L E A D A W A R D S 2 0 1 0

JAHRGANG 01

NEWS TO GO

WHAT ARE YOU PLANNING TO DO TODAY TO MAKE THE WORLD A BETTER PLACE OR AT LEAST MAKE IT WORTHWHILE TO HANG IN THERE A BIT LONGER

SCHREIBWÜTIG ZEITGESCHEHEN

04 MÜSSEN, SAGEN, DÜRFEN: WIE GUIDO WESTERWELLE DIE KRITIK ZENSIERT

LITERATUR I

06 ZAY GEZUNT, BOYTCHIK, ZAY GEZUNT! THOMAS PLETZINGER MIT UND ÜBER GERALD STERN

FILM

12 „HOWL“ VON ALLEN GINSBERG: VON DER ANKL AGE WEGEN OBSZÖNITÄT ZUM HOLLY WOODFILM

GERALD STERN UND THOMAS PLETZINGER, KUTSCHKE UND KLUPP, LYRIK UND FILM

DAS WET TER

14 WUTHERING HEIGHTS LIEGT JENSEITS VON AFRIK A

KULTURNEWS

32 STAPELWEISE NEUE BÜCHER IN DIESEM FRÜHJAHR

SPORT

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FIK TION

LITERATUR II

18 SVE ALENA KUTSCHKE UND THOMAS KLUPP DENKEN L AUT

35 „WIE AUSZIEHTUSCHE“ VON HENRIET TE GALLUS

ARROGANT BASTARD

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TEX RUBINOWITZ

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ST YLE

26 HOLLY-WHAT DER CELEBRIT Y-KNIGGE 28 MEIKE HAUCK SAGT „FRÜHLING“ IN GEBÄRDENSPRACHE

HOMESTORY

30 FARBENRAUSCH IM DACHGESCHOSS

ENGLISH TRANSL ATIONS 38 LIKE INDIA INK BY HENRIET TE GALLUS 38 ARROGANT BASTARD


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AUSGABE 04

MÄRZ/APRIL 2010

JAHRGANG 01

MAN MUSS ERST ZUM LEBEN AUFSTEHEN, BEVOR MAN SICH NIEDERSETZT ZUM SCHREIBEN. (HENRY DAVID THOREAU)


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CONTRIBUTORS

JAHRGANG 01

Thomas Pletzinger wurde 1975 in Münster geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Er traf Gerald Stern vor zehn Jahren in New York – damals war er Praktikant bei Sterns Verlag. Heute lebt er in Berlin und arbeitet als Autor und Übersetzer im Literaturatelier adler & söhne. Sein Roman Bestattung eines Hundes erhielt u. a. den Uwe-Johnson-Förderpreis 2009. Nach der Übersetzung von Alles brennt ist Pletzinger jetzt Writer-in-Residence am Grinnell College, Iowa, und schreibt wieder einen Roman. www.thomaspletzinger.de Henriette Gallus, 1983 geboren, studierte Philosophie und Germanistik an der Humboldt Universität zu Berlin. Sie arbeitete als Literaturagentin und freie Lektorin für diverse belletristische Buchprojekte und wissenschaftliche Arbeiten. Derzeit leitet sie die Presse- und Veranstaltungsarbeit und unterstützt das Lektorat des Blumenbar Verlags. Für TRAFFIC liefert sie regelmäßig Beiträge zur Kulturseite. Wir freuen uns sehr, dass Henriette uns in dieser Ausgabe einen Einblick in ihr eigenes Manuskript gewährt: Auf S. 38 drucken wir einen Auszug aus “Wie Ausziehtusche”. 1978 in Poznan, Polen, geboren, kam Alexander Malecki 1984 nach Deutschland und wuchs in Lübeck auf. Nach dem Abitur ging er nach Berlin und sammelte erste Erfahrungen im Bereich Skateboarding- und Streetphotography. Verschiedene Assistenzen folgten, dann ging Malecki doch noch Fotografie studieren und arbeitet seither für verschiedene Auftraggeber, darunter Carhartt und die Berliner Philharmonie. Für unseren Literaturteil portraitierte er den Dichter Gerald Stern und die Schriftsteller Thomas Pletzinger, Svealena Kutschke und Thomas Klupp.

TRAFFIC NEWS TO-GO “Constituting a new read”

TNTG UG Torstraße 223 D -10115 Berlin http://trafficnewstogo.de

VERLEGER Jacques C. Stephens V.i.S.d.P. Co-VERLEGER Murat Suner CHEFREDAKTEURIN Ophelia Abeler DESIGN Doublestandards 8-PAGE-EDITOR Bruce Hamilton ASSISTENTIN DER VERLAGSLEITUNG UND CHEFREDAKTION Franziska Nagy

BILDREDAKTION Ivan Cottrell SCHLUSSREDAKTION Carlina Rossée

MITARBEITER DIESER AUSGABE Thomas Abeltshauser, Klas Förster, Henriette Gallus, Lydia Harder, Michael Ladner, Tina Maier, Alexander Malecki, Ralph Martin, Danijela Pilic, Thomas Pletzinger, Chris Rehberger, Benedikt Reichenbach, Peter Richter, Tex Rubinowitz, Merten Sansovino, Uta Schwarz, Gerald Stern, Elvira Veselinović, Andreas Vitt, Anne Theresia Wanders

Druck: Druckhaus Schöneweide ISSN 1869-943X Cover Fotos: Spike Jonze (oben), Alexander Malecki (unten)

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ZEITGESCHEHEN

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JAHRGANG 01

DAS DARF MAN DOCH NOCH SAGEN MÜSSEN VON FANZISKA NAGY

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ls Guido Westerwelle, der ja nun Außenminister ist und viel herumkommt in der Welt, neulich einmal kurz heimkehrte nach Berlin, da fand er sein Heimatland offensichtlich in diktatorischen Verhältnissen wieder: Man müsse doch noch sagen dürfen, was man denke, rief er diesen Verhältnissen entgegen. Und was sagte dazu seine Chefin? Angela Merkel sagte, daß Westerwelle eine Sache tatsächlich nicht sagen dürfe, und zwar: Dass man etwas nicht sagen dürfe. Denn man dürfe ja alles sagen. Und was hat Westerwelle nun gesagt? Er hat etwas gesagt, was vor ihm nun nicht direkt wenige auch schon gesagt haben: Kritisches über Hartz IV und den Sozialstaat. Wer anstrengungslosen Wohlstand verspreche lade ein zu spätrömischer Dekadenz. Ihm war heftig widersprochen worden, von Sozialexperten wie von auf spätrömische Geschichte spezialisierten Historikern. Und diesen Widerspruch empfand Westerwelle offenbar als schweren Eingriff in die Meinungsfreiheit, jedenfalls in seine. Auch auf der Leipziger Buchmesse wird man in diesem Jahr wieder genügend politische Bücher finden, Schriften zu Westerwelles Lieblingsthemen, pro und contra, alles Mögliche zu allem Möglichem.

Währenddessen sitzt weit weg von Leipzig, am Stadtrand von Chengdu, in der Provinz Sichuan, in China, ein Schriftsteller in seinem Heim und darf nicht raus. Liao Yiwu steht unter Hausarrest. Er wollte in diesem Jahr nach Köln zur Lit. Cologne reisen, so wie im vorigen zur Buchmesse nach Frankfurt. Aber in beiden Fällen entschied die chinesische Regierung, dem P.E.N.-Preisträger kurzfristig die Ausreise zu verweigern: Damit er nicht erneut versucht, „konterrevolutionäre Propaganda mit ausländischer Hilfe“ zu organisieren, wie ein Urteilsspruch von 1990 konstatierte, der ihn für vier Jahre ins Gefängnis brachte. Währenddessen entscheidet sich, dies wiederum weit im Südwesten von Liao Yiwu, ein Nobelpreisträger dazu, seine Heimatstadt in ihrem großen Jubeljahr aus Protest nicht zu unterstützen. Orhan Pamuk wollte in Istanbul sein „Museum der Erinnerungen“ bauen, einen Ort, den er in seinem gleichnamigen Roman erschaffen hat und nun Wirklichkeit werden lassen möchte. Jetzt zieht er jedoch die Konsequenz aus den Vorwürfen der Korruption und des Missmanagements, die dem Organisationskomitee der Kulturhauptstadt Istanbul 2010 anhaften. Das ist jedoch etwas, das man dort nicht sagen darf. Es hatte vorher schon Morddrohungen gegen

ihn gegeben; das und der ihm anhängende Vorwurf, er würde den Europäern zu Munde reden, haben ihn schon 2007 seinen Hauptwohnsitz nach New York verlegen lassen. Das Land verlassen oder zu Hause bleiben, das sind abwechselnd zwar auch die beiden wichtigsten Beschäftigungen von Guido Westerwelle, aber doch aus deutlich anderen Gründen. Gerade er hat ja eigentlich nachgewiesen, daß die deutsche Diskussionskultur sogar schrillste Töne aushält. Es darf in jeder Lautstärke gezetert und jede noch so bizarre Meinung deklamiert werden, das ist ein hohes Gut, und das wird ja auch mit Klauen und Zähnen verteidigt. Kritik gehört zum Glück zum Geschäft, zum literarischen wie zum politischen. Und wer Kritik schon als Zensur empfindet, der tut, was er inkriminiert: der zensiert die Kritik. Auch wenn er eigentlich nur beleidigt ist, dass ihm nicht alle applaudieren.

© AP Photo/Roberto Pfeil


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MÄRZ/APRIL 2010

JAHRGANG 01

ZEITGESCHEHEN

EINS, ZWEI, DREI

DER MÄRZ IN DREI AKTEN

AUSGEBRANDENBURGT Man kann sich Matthias Platzeck als Nebendar-

LÄSTERWELLE Spione und Doppelagenten gehörten – nach bisherigem

UNPÄPSTLICH Fast so unbeliebt wie der deutsche Außenminister ist derzeit

steller in einem deutschen rbb-Tatort vorstellen. Aber in einem rasanten Agentenfilm? Der Brandenburger Ministerpräsident im Fadenkreuz von Geheimdiensten? Umgeben von schwarzgekleideten Männern, die in ihren Sonnenbrillen Microkameras tragen, in Begleitung von bepelzten Russinnen mit Schußwaffe im Strumpfband? Aber hier geht es um wahre Begebenheiten, Ort des Geschehens ist Potsdam. Der russische Geheimdienst hat schon vor Jahren mehrere Spione in Platzecks Umfeld eingesetzt. Lauter Deutsche. Sie wurden vom Verfassungsschutz beobachtet. Einer soll ein hoher Potsdamer Regierungsbeamter gewesen sein, der enge Kontakte zum KGB unterhielt. Selbstverständlich gibt es auch ein Bond-Girl: Als Studentin in Moskau wurde die Deutsche vom Geheimdienst angeworben. Ziel ihrer Mission in der Potsdamer Staatskanzlei: Die Infiltration deutscher Sicherheitsbehörden. Der dritte KGB-Mann ist ein Berater, der Platzecks Reisen nach Moskau organisierte. Diese Fälle bieten Stoff für einen Thriller – waren aber nicht einmal brisant genug für eine Anklage wegen Spionage und Landesverrat. Wahrscheinlich würde sich auch James Bond in Potsdam schnell „ausgebrandenburgt“ fühlen, wie Rainald Grebe in seiner Odé an das Bundesland singt.

Kenntnisstand – nicht zum Reisetross des deutschen Außenministers Guido Westerwelle. In Brasilien hatte er neben seinem Lebensgefährten allerdings ein paar Reisebegleiter dabei, deren Firmen in unterschiedlichen Verbindungen zu Westerwelles privatem Umfeld stehen. Und es fuhren einige großzügige Parteispender in der Reisedelegation mit, was nach der Mövenpick-Affäre den Eindruck liberaler Käuflichkeit noch verstärkt. Seit der Reise ergießt sich über den Außenminister eine Welle des Lästerns. Das Auswärtige Amt wirkt unter Westerwelle, selbst wenn seine Praktiken gar nicht so unüblich sind, wie ein Marketing-Unternehmen, Staatsbesuche erscheinen wie Einkaufstouren. Nur für die Popularitätswerte des Chefs wurde noch keine Strategie erarbeitet. Vielleicht sollten auswärtige Geheimdienste unserem in der Außendarstellung so ungeschickten Außenminister ein paar PR-Agenten zur Seite stellen, statt ihre Leute in Brandenburg versauern zu lassen.

der deutsche Papst. Der hat zwar keine Vetternwirtschaft betrieben, aber es gibt da doch ein paar dubiose Gestalten in seinem weiteren Umfeld. Als Erzbischof von München und Freising zum Beispiel stimmte Joseph Ratzinger 1980 der Versetzung eines pädophilen Priesters in seine Diözese zu, wo sich der Problempriester erneut an Minderjährigen verging. Am Zölibat allein kann diese Häufung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche nicht liegen, denn es kommen mehr und mehr Skandale aus ganz kirchenfernen Bereichen ans Licht. Erst gab es Berichte von Kindern in Reformpädagogikschulen, die zum Strip-Poker genötigt wurden. Schließlich wurden Fälle seelischer und körperlicher Gewalt in DDR-Kinderheimen bekannt. Trotzdem wirken katholische Geistliche in den letzten Wochen unglaubwürdiger als Politiker, und das will schon etwas heißen. Ein kleiner Tipp von protestantischer Seite: Wer wieder menschlich erscheinen will, der fahre nach einer guten Flasche Wein über eine rote Ampel. Das bringt beim Volk Sympathiepunkte, und ein Papst kann sowieso nicht einfach zurücktreten.

Foto: Rainer Elstermann

Foto: www.sxc.hu

Lydia Harder

J’ACCUSE (4) Canisius Kolleg in Berlin, St. Ansgar Schule in Hamburg, Kolleg St. Blasien in Baden, Aloisius Kolleg in Bonn, Konvikt St. Albert in Rheinbach, Internat der Heiligen Familie in Biesdorf, Johanneum in Homburg an der Saar, Klosterschule Ettal, Internat der Regensburger Domspatzen, Odenwaldschule in Hessen, Aufseesianum in Bamberg, Knabenkonvikt Bensheim, Stiftsschule Amöneburg in Hessen. Das sind die Schulen, von denen bisher bekannt wurde, dass es zu sexuellem Missbrauch durch Lehrer an Schülern gekommen ist. Und zwar jahrzehntelang. Es sind, bis auf die Odenwaldschule, konfessionelle Schulen. Katholische, um genau zu sein. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der konfessionellen Erziehung und dem sexuellen Missbrauch? Angesichts der Summe der Fälle ist man geneigt zu sa-

gen: Ja. Denn es betrifft nicht nur deutsche Schulen. Im Jahr 2000/2001 erschütterte ein ähnlicher Skandal Amerika, Tausende Missbrauchsfälle durch katholische Geistliche wurden damals bekannt. Vergangenes Jahr meldeten Hunderte von Missbrauchsopfern in Irland sexuelle Übergriffe durch irische Geistliche. Daher scheint es wenig angebracht, von bedauerlichen Einzelfällen zu sprechen. Genauso gefährlich ist es aber auch, jeden Priester nun unter Generalverdacht zu stellen, führt dies doch lediglich dazu, dass der Klerus sich und seine Diener weiterhin vehement verteidigt und die Chance auf einen wirklichen Neuanfang vertan wäre. Außerdem darf man nicht außer Acht lassen, dass auch nichtkonfessionelle Schulen von diesem Skandal erfasst werden. Es scheint, als würde die enge Vertrautheit zwischen Lehrern und Schülern im Internatsleben eine we-

sentliche Rolle bei den Missbrauchsfällen spielen. Die Kirche trifft der Skandal in der letzten Bastion, in der man ihr noch Vertrauen entgegenbrachte. Die Menschen mögen zuhauf aus der Kirche austreten, mögen der Kirche altmodische, nicht mehr lebensnahe Dogmen vorwerfen – im Bildungsbereich zieht vor allem das Bildungsbürgertum eben jene Werte oftmals der staatlichen Wissensvermittlung vor. Konfessionelle Schulen erfreuen sich eines regen Zulaufs. Die Vorwürfe, die der katholischen Kirche nun gemacht werden, sind nicht neu: Der Zölibat soll schuld sein, der von der Kirche oktroyierte Verzicht auf Sex. Wenn sexueller Kontakt an sich verboten ist, dann gilt die moralische Abstufung, die Nichtgeistliche zwischen verbotenem und gesellschaftlich akzeptiertem Geschlechtsverkehr vornehmen, vielleicht nicht mehr viel. Das könnte ein Grund sein.

Schwerwiegender scheint jedoch, dass sich die Täter darauf verlassen können, von dem mächtigen Klerus beschützt zu werden. Die nicht nachvollziehbare Haltung der Kirche, offenbar pädophile Angestellte nicht der weltlichen Strafbarkeit zuzuführen, sondern diese von einer Gemeinde in die nächste zu reichen, bis ihre Taten das Ausmaß einer Riesenwelle annehmen, das ist der eigentliche Skandal. Die Kirche darf kein Hort für Perverse sein. Wenn sich die katholische Kirche endlich trauen würde, sich einer Gerichtsbarkeit außerhalb ihrer eigenen Institution zu öffnen, dann erst könnte man wirklich von bedauerlichen Einzelfällen reden. Bis dahin scheint es jedoch ein weiter Weg. Uta Schwarz

Alllianz Hauptvertretung | Dietmar Rönisch e.Kfm. Rosa-Luxemburg-Str. 27 10178 Berlin | Tel - 030/2473640 | Mail - Dietmar.Roenisch@allianz.de

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LITERATUR I

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ZAY GEZUNT, BOYTCHIK, ZAY GEZUNT! THOMAS PLETZINGER

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ieses Postershot Midtown Manhattan zwei Uhr mittags im Oktober, Stern wirft den Hut galant gedreht auf das Kunstleder und krempelt sich die Ärmel hoch, jetzt wird etwas gegessen, be my guest, sagt er und hinkt durch die schmucklose Cafeteria rüber zum Buffett. Draußen flirrt die Luft, und die Abfälle stinken in den Hinterhöfen nördlich der 42sten Straße, wo die Touristen vor McDonald’s in der Herbstsonne sitzen und Abgase atmen. An der Decke flackert eine Neonröhre, der Boden ist falscher Marmor, und drei Latinos hinter dem Tresen schneiden Bagels und packen Sandwiches zusammen, es tropft auf die Beine der Gäste, so viel Fett, solcher Thunfischsalat und solche Tomatenscheiben. Stern geht zum Buffett, stützt sich auf die Theke und kommandiert, pack den Teller voll, Grapefruit, Bagel, Bohnen, Speck, rote Paprika, meine Mutter hat Bohnen mit Speck gemacht, zur Hölle, das konnte sie! Und Eier im Glas bitte, mein Freund, Eier im Glas am Mittag, welch ein Glück! Stern trinkt Cola aus der Dose und spricht beim Essen. Er benutzt die Gabel und die Finger, er liebt Bagel, sagt er, er liebt den alten Times Square, die Hustler, die Nutten, die Diebe. Er liebt den Delaware in Lambertville, nur zwei Stunden von New York entfernt, zwei Stunden mit dem Bus heute Morgen, um fünf ist er den Fluss noch entlanggelaufen! Er liebt die Frauen, er liebt seine Kinder, und Liebe darf kein Kerker sein! Anne Marie! Er liebt die Akazie! Er liebt die Platane! Er liebte den Blick aus seinem alten Appartement an der Vandam Street, von da kann man die Spitze des Empire State sehen, die leuchtet gerade rotweißundblau! Er erinnert sich daran, wie er einmal die Treppe hochstieg, eine wunderschöne Frau folgte ihm, und sie tranken Wein und er fühlte sich wie ein Raubvogel, damals. Er liebte, wie er mit einer Hand auf ihrem Knie erwachte, die Laken auf dem Boden und den Morgenblick auf das Empire State, the beacon, sagt er. Er liebt Jiddisch, er lernt es wieder, er liebt die Vorstellung der Shtetls! Er liebt Schubert! Er liebt Coleridge, Wordsworth, Klopstocks Oden, Robert Frost. Er liebt Goethe, Petrarca, Walt Whitman und Emerson. Jack Gilbert, Phil Levine, Muriel Rukeyser! Er liebt René Clairs „À nous la liberté.“ Er liebt Paris, Rom, Iowa City, wie liebt er Lambertville! Er liebt und isst beim Reden und trinkt Cola aus der Dose. Einen Wein würde er gerne trinken, aber den gebe es hier nicht in der Cafeteria. Stern liebt kalten Weißwein, er liebt das Gefühl, wenn man die ersten Schlucke nimmt und den Wein vorne in den Fingern spürt. Er liebt Maulwürfe und Opossums, welch eine getretene Kreatur das Opossum ist! Welch ein Tier! Einmal habe er auf dem Weg nach New York ein totes Tier gesehen, vielleicht ein Opossum, vielleicht ein Biber oder eine Bisamratte, die getretenen Kreaturen der Schöpfung! Stern liebt Maulwürfe! Das dumpfe Geräusch unter den Reifen seines Wagenshabe ihn gerührt, er habe angehalten und dem Tier den Respekt gezollt, den es verdient. Vor und zurück sei er über das Tier gerollt und habe es so mit allem Respekt beerdigt. Die Toyotas und Cadillacs hätten gehupt, er aber sei immer wieder vor und zurück über den Fleck am Boden gerollt und habe das Tier auf diese Weise bestattet. Stern liebt die Platane, den Hartriegel, die Akazie, den jüdischsten aller Bäume, mit dem zerbrechlichen Holz, mit den krummen Zweigen, mit den schönsten Blüten der Erde! Stern liebt Birnen, aber Birnen gibt es hier nicht in der Cafeteria, die will er später kaufen. Aber Eier im Glas! Ob es mir schmeckt? Zay gezunt, Boytchik, zay gezunt, Junge, bon Appetit! Stern nimmt den Hut galant vom Kunstledersitz, zahlt und klaut aus der Auslage eine Packung Erdnüsse. Stern redet in Gedichten. Die Freundin seines Freundes Larry, der 1942 zur Armee eingezogen wurde, sei ein Dienstmädchen gewesen. Im dreckigen Pittsburgh habe damals jede zweite Familie ein Dienstmädchen aus der slawischen Welt gehabt. Er sei ihr Beschützer gewesen, und er habe sie vögeln dürfen, allerdings nur im Stehen, so hätten die drei das abgemacht, obwohl die Schenkel geschmerzt hätten

und ihre Liebe füreinander gewachsen sei. Die Regel hätten sie nie gebrochen, er hätte Larry die Treue gehalten. Das Mädchen hätte ein violettes Chenille-Kleid getragen. Ihr Atem, sagt Stern, roch immer nach Erdnüssen! Bis heute kann ich die Erdnüsse riechen! Was soll man sonst dazu sagen? Sie hätten sich Filme angesehen, sie wären im Wald spaziert, flaniert wären sie! Die Erdnüsse sind noch immer zu riechen, sagt Stern und tritt aus der Cafeteria, vor der Tür steht die Luft zwischen den Häusern. Stern isst eine Erdnuss, ah, sagt er, ah! An der nächsten Straßenecke kauft Stern eine Banane und zwei Birnen, sagt, im Park ist Schatten, im Schatten ist es gut, und schiebt den Hut in den Nacken. An der 42sten Straße im miesen Postershot Midtown ist er der letzte Bohemien, der Andy Warhol noch kannte, schon damals in Pittsburgh, den schüchternen, den dünnen Andy! Ich habe Andy zum Bahnhof gefahren, sagt Stern, als er von Zuhause auszog und nach New York ging, er hatte einen Job als Werbezeichner für Schuhe. Die I. B. Miller Shoe Company! Und viel Gepäck, meine Güte, wie viel Gepäck Andy hatte! Er musste etwas zurücklassen, er gab mir ein Bild. Der schüchterne Slowake Andy gab dem groben Juden Gerald eine bunte Leinwand und der steckte sie zu seinen Büchern auf den Speicher. Und Jahre später hat es meine Mutter auf den Sperrmüll gegeben, das Bild von Andy Warhol! Andy Warhol? hat sie gefragt, der picklige Polacke Andy konnte malen? Das sei die Geschichte seiner ersten verpassten Million, ein Original-Andy! Ein Akkordeonspieler sitzt auf einem U-Bahn-Schacht, und Stern tanzt mit kleinen Schritten einen Walzer über die Gitter und Kaugummis auf dem Gehsteig. Wie in Wien, singt Stern, hör die Geige, hör das Piano, hör das Cello spielen! Auf der Rückseite der Public Library gibt es unter den Platanen ein Café, dort gibt es kalten Weißwein, dort ist es schattig, dort ist es gut! Gerald Stern ist Dichter und Essayist, er ist Geschichtenerzähler, Raconteur und Entertainer. Stern ist Enthusiast, Nostalgiker und Melancholiker, er ist Lehrer, Mentor und Dozent. Er ist auch ein Autor, dem erst spät eine Art Ruhm zuteil wurde. Während in New York und San Francisco die Avantgarden der 1950er Jahre Furore machten, unterrichtete der 1925 als Sohn ostjüdischer Immigranten in Pittsburgh geborene Stern in Paris, Glasgow, Florenz und später auf Long Island und in Pennsylvania Englisch. Jahrelang schrieb er nahezu völlig unbeachtet vom Literaturbetrieb seine komplizierten Langgedichte. Erst 1972, nach einer existentiellen persönlichen Krise, gelang ihm mit seinem Debüt Rejoicings der Durchbruch – zum ersten Mal schrieb Stern auch kurze Gedichte. Seitdem hat er mehr als 20 Gedichtbände und Essaysammlungen veröffentlicht, zuletzt seine Sammlung „Save the Last Dance“ (2008) und die Autobiographiein-Essays „What I Can’t Bear Losing“ (2009). Stern hat für seine Werke die renommiertesten Preise bekommen, darunter den Wallace-StevensAward und den National Book Award. Er hat sein Wissen weitergegeben, an etlichen Universitäten unterrichtet, darunter mehr als 15 Jahre am Iowa Writer’s Workshop. Mittlerweile lebt Stern nun in der kleinen Stadt Lambertville am Delaware River in New Jersey, I write like a madman these days, sagt er, zwei weitere Sammlungen sind fertig, seine gesammelten Werke werden in diesem Sommer erscheinen. Einmal pro Woche fährt er noch nach New York und spaziert durch die Stadt, die er so gut kennt wie keine andere. Stern hasst Walt Disney und den neuen Times Square, Family Entertainment! Er hasst dieses komplette Konzept von Familie und Moral, das dahintersteckt! Er hasst den König der Löwen! Er hasst die Dummheit und die Betäubung! Die beeindruckende Architektur der Kaffeehauskettenfilialen, der Kinokettenkinos, der Unterhaltungselektronikmuseen, der Flagshipstores, die Sicherheitskontrollen. Den Antisemitismus, Antiarabismus! Stern hasst den Antisemitismus von Pittsburgh! Er hasste seine blau geschlagenen Augen in der Beacon Pharmacy Pittsburgh, beim Milchshake-

trinken. Andrew Carnegie, die Mellon Bank, U.S. Steel, General Motors, Nike, Sony. Er stand mit seinem Freund Bill Kahn vor der Beacon Pharmacy, da schlugen sie ihm die Nase ein, ob ich den Splitter fühlen wolle, in seiner jüdischen Nase! Da brach er zweien von ihnen die Rippen und einem den Arm, denn wofür rennt man jeden Tag auf das staubige Footballfeld, wenn nicht, um sich zu verteidigen? Dass seine Schwester gestorben ist, Sylvia Sylvia, und dass das Leben von Anfang an ohne sie sein musste. Weißt du, mein Junge, dass die Shtetls verschwunden sind, ist eine Katastrophe, ein profunder Schmerz! Er hasst Buchenwald, Auschwitz, Treblinka! Er hasst, dass die Toten ordentlich geschichtet wurden! Aber Prag! Wie schön Prag ist! Kafka, Josefov, die Geschichte vom Golem! Stern isst von den Erdnüssen. Einen Unwillen über die Stadtplanung in Pittsburgh hat er, „the most liveable city in the US!“ Pah! Wie schön war doch das Dreckloch Pittsburgh, die Kohle und die dreckigen Gesichter! Ah! Die Treppen an den Hügeln, die Wäsche, die im Wind flatterte, die vernagelten Bretterbuden! Stern hasst, dass Großvater Barach aus Bialystok in Polen schon längst im Grab liegt! Und Hitler, Mussolini, Göring hasst er! Die Banken, das internationale Geldgeschäft, den Bullen und den Bären, das Öl, die Bekleidungs-, ach was, die Uniformindustrie! Und „George fuckin’ Bush!“ Fernsehen im Allgemeinen hasst er! George Bush den Vater, Irak und Gaza und Guantanamo! Aber warum liebt niemand die Akazie so sehr wie er? Was Stern hasst? Einiges, aber wie liebt er, was übrig ist! Stern bricht die Birne in zwei Hälften und leckt sich den Saft von den Fingern. Er liebt Bartlett! Er erinnert sich an seine erste Sünde. Eine saftige Bartlett hat er an Jom Kippur gegessen und den Stengel den ganzen Tag in der Faust verborgen, und erst nach Mitternacht hat er ihn im Dunkeln aus dem Fenster werfen können. Eine Birne eine Sünde, kann denn so was sein? Stern liebt Birnen! Stern liebt Chopin, Stern liebt Simone Weil, Stern liebt John Ruskin, Stern liebt Charlie Chaplin! Die Utopie in Modern Times! Gerechtigkeit! Stern liebt den jüdischen Schauspieler Adler, King Lear Adler. Alle liebten Adler, Selbst Isadora Duncan und John Barrymore liebten Adler, selbst Adler liebte Adler, manchmal musste Adler mitten im Stück weinen, so rühren konnte er die anderen und sich selbst! Stern steht auf, als der Wein kommt, er beißt in die Birne, und der Saft rinnt ihm die Finger hinunter, er sagt, ich liebe die Kühe am meisten, wenn sie nur ein paar Zentimeter von meinem Wohnzimmerentfernt stehen, wenn sie ihre nassen Nasen durch das Fenster hereinstrecken, um mich zu küssen! Shakespeare, Plato, Joyce! Kunitz, Roethke, Berryman! Er beißt in die Birne und rezitiert, ich liebe, wie sie zwischen den Mülleimern und Kellertüren und Metallstühlen und dem Vogelfutter entlangspazieren. Stern trinkt einen ersten Schluck Wein, den er so liebt und dessen Kühle er in den Fingerspitzen spüren kann. Die Monstren und Helden, die strahlenden Sänger und einsamen Denker auf den Weiden! Stern liebt die Ruhe auf alten Abstellgleisen! Wie liebte er seine Zimmerwirtin aus der Normandie, als er in Paris lebte! Den Marokkaner, der Rosen verkaufte, die Jugend, die verschwindet, jeunesse passe, jeunesse passe! Das Hôtel du Centre! Stern bricht die zweite Birne entzwei und schenkt Wein nach. Fünfundachtzig werde er jetzt, sagt er, fünfundachtzig, und ein paar Bücher müsse er noch schreiben. Jeunesse passe, und wie schön Paris gewesen sei, wie unglaublich schön! Bei Gerald Stern liegen Leben und Werk so dicht beieinander, dass sie für den Leser und vielleicht sogar für Stern selbst kaum mehr zu trennen sind: sie bedingen einander, sagt Stern. Der Sprecher seiner Gedichte bedient sich bei Sterns Biographie, und im Wechsel inszeniert der Autor Gerald Stern diesen Sprecher als alleinigen und allmächtigen Protagonisten seines Gesamtwerks. Die Literaturkritikerin Jane Somerville bezeichnete dieses Zusammentreffen von Werk und Vita in der Figur des Sprechers einmal als das Ultraself Sterns. Auf diese Weise finden die großen biographischen


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Ereignisse und Lebensthemen des Dichters Gerald Stern, zum eigenen Mythos literarisiert, Eingang in einen in sich schlüssigen und gleichzeitig für verschiedenste Einflüsse offenen Gesamttext – der Tod seiner Schwester (»Peaches«), seiner Mutter (»Only Elegy«), sein eigenes Altern (»The Bite«), seine eigenen Häuser und Ruinen (»If You Forget the Germans«) sind charakteristische Beispiele. Wir leben in einer Ruine, alles ist ruiniert! sagt Stern, ruined buildings, ruined lives, ruined cultures, ich bin der Ruinendichter! In Sterns Gedichten sind Verlust, Verfall und der Umgang mit ihnen immer deutlich von der Vita des Dichters gefärbt. Ruinen, sagt Stern, sind immer meine Obsession gewesen, Wordsworth, Coleridge, die englischen Romantiker! Baracken, Ruinen und Abstellgleise – bei Stern werden sie zu kontemplativen Oasen und Tempeln der Schönheit des Vergehenden, die restaurative Ästhetik seiner Gedichte steht immer im Dienste unserer ruinierten Welt. Stern ist ein amerikanischer Dichter in der Tradition Walt Whitmans, Theodore Roethkes und William Carlos Willliams, seine Richtgröße ist alles Lebende. Sterns Anekdoten, Metaphern und sein Personal entstammen seinem unmittelbaren Lebens- und Erfahrungsumfeld: Maulwürfe, Beutelratten und Kühe sind Ungeziefer und Nutztiere – in Sterns Gedichten werden sie vollwertige Protagonisten, genau wie Politiker, Schauspieler, Familie, Weggefährten, Philosophen, Comicfiguren, Dichter, Denker und Dachdecker. Mein Bellow, mein Maulwurf, mein Shelley, mein Keats! Im Park hinter der New York Public Library, unter den Platanen, den Tauben und der Statue von William Cullen Bryant, trinkt Stern weiter Wein und leckt sich die Birne von den Fingern. Als er vierzig war, fehlten ihm die Worte, und dann warf er seine letzten zwanzig, vierzig, vielleicht alle Gedichte weg und trauerte ganz fürchterlich. Das war die erste große Krise. Er wachte morgens auf und rannte die Treppe runter, fischte ein Gedicht zwischen Kaffeesatz und Orangenschalen aus der Tonne, gerade, als die Müllmänner die Straße entlangkamen. Ein fleckiger Zettel, sagt Stern, „I saved it, it was a fucking poem!“ Seitdem sind es 20 Bücher geworden. Und ob ich wisse, dass Wysdan Auden mit Erika Mann verheiratet war. Einmal habe Auden ihn, Stern, in New York zum Essen eingeladen, der große Dichter den obskuren Dichter, den Lehrjungen. Um den Tisch hätten dann nur krawattierte schwule Intellektuelle gesessen und sich über Käse unterhalten, Auden in seinem knittrigen Anzug und seinen flachen Pantoffeln. Nur über Käse, von Dichtung kein Wort! Ein Stück Frischfleisch sei er, Stern, gewesen, leider aber nicht schwul. The last ten lines are okay, habe Auden zum Abschied zu Sterns 3000-Zeilen-Gedicht gesagt. Gleich dort unten im West Village kannte der Trottel Stern nur Cheddar und Schweizerkäse, auf dem Rückweghabe es im Subwaytunnel gezogen, hech supha! Welch ein Wind! Apropos Subway, nehmen wir doch den Bus, sagt Stern, schiebt sich wieder den Hut in den Nacken, da brennt die Sonne, wie da die Sonne brennt! und spaziert durch den Bryant Park Richtung Times Square. An einem Mülleimer bleibt er stehen, ruft, wie er das Rotkehlchen liebt, das dort an der Tonne einen Brocken Burgerbrot aus dem Subway-Stanniolpapier hackt! Wie Allen Ginsberg am alten Times Square gestanden und als junger Mann gejault habe, wie er später am weißen und am lilafarbenen Flieder gerochen habe. Wie Ginsberg sein Gesicht im Flieder vergraben und geflüstert habe, Flieder seien diamantene Sternenhaufen, Flieder reinige den Verstand! Ginsbergs Tod sei so gut und so bedächtig gewesen, so unendlich traurig, sein Leben so sinnvoll! Überhaupt die Dichter! Whitman! Ginsberg! Noch immer sagen alle, er sei ein Neuzeit-Whitman. Einmal habe er Whitmans Geburtshaus besucht, und als die Museumswärterin Kaffee kochen gegangen sei, habe er sich für fünf Minuten in Whitmans Bett gelegt. Das Bett und die Zeit wären zu kurz gewesen. Aber, mein Junge, Whitmans Bett! Oder als er in Paterson, New Jersey, William Carlos Williams’ Hut aus der Vitrine der Stadtbibliothek genommen habe und damit einmal um den Block gelaufen sei. William Carlos Williams’ Hut in seinem Nacken! An der Ecke 42ste und Broadway steigen wir in den Bus, die Sonne immer noch hell auf dem hellen Asphalt, ein steter Strom aus Taxis und Lieferwagen, ein Stoff-Dinosaurier überquert die Straße. Stern wischt sich mit einem Tuch die Stirn. Wenn ich nach New York komme, sagt er, trage ich den Fluss in meinem Kopf, und der Delaware und die Wagen auf dem Broadway sehen so verdammt ähnlich aus, ich könnte stundenlang, tagelang so stehen, ein Bein auf dem Broadway, ein Bein im Delaware. Gequälte Gesichter ziehen vorbei, eine Kuh mit den Beinen zum Himmel, ein alter Stuhl, ein Taxi, ein Frosch quakt, ein Lieferwagen bremst, um einen Brückenpfeiler spült der Delaware bei Washington’s Crossing, um einen Obdachlosen teilt sich die Menge, ein Werbeposter wird gewechselt, es wird langsam Herbst am Delaware, es wird langsam Herbst in New York City. Wie im Park die Blätter leuchten! sagt Stern und steigt aus dem Bus, kannst du meinen Koffer tragen, „I cannot schlepp this thing around all day, I’ll throw my back out“, kannst du, mein Freund, kannst du? Und die Bücher? Ich schleppe den Koffer durch das West Village zum Hotel, und Stern greift meine Hand, er müsse schlafen, ein alter Mann sei er, aber ein paar Dinge müsse er noch aufschreiben, ein paar Dinge habe er noch zu erzählen,. Einmal zum Beispiel habe er sich in eine Frau namens Susan

verliebt, eine Dozentin für englische Literatur und eine Schriftstellerin. Er habe an einer Universität im Nachbarstaat Illinois gelesen. Ein Saal voller Akademiker, and I get a lot of grief from the academics, „those fucking assholes“, und ein Saalvoller schlauer Fragen und Antworten und Gläser mit billigem Wein und Horsd’oeuvres. Und Susan habe ihn gefragt, ob er sich langweile. Und wie! habe er gesagt, lass uns abhauen! Nach zwei Stunden hätten die Akademiker angerufen. Bring uns den Dichter zurück! hätten sie in den Hörer gebrüllt. Verpflichtung hin oder her, sie seien zurück zu der langweiligen Party, und für das nächste Wochenende hätten Susan und er sich auf halber Strecke zwischen Iowa und Illinois verabredet. Er sei in seinem alten Honda losgefahren, und schon nach zwei Stunden habe er zwei absurd bunt gekleidete Gestalten am Straßenrandstehen sehen. Er habe angehalten und sie mitgenommen. Zwei ältere Hippies, die mit ihrem Auto nach Denver gefahren wären. Denver! In den Siebzigern „the great spiritual city“ in Amerika! Was für ein unglaublicher Blödsinn! In Denver hätten sie ihr Auto verkauft, um sich etwas zu Essen leisten zu können. Sie wären übers Ohr gehauen worden, das Geld war schon nach zwei Wochen aus, jetzt wären sie auf dem Rückweg nach Buffalo, ohne Geld, ohne Auto, aber mit Hunger bis unter beide Arme. Gegen Nachmittag habe dann ein Cadillacgehalten und ihr Gepäck eingeladen, sei dann aber mit Vollgas weggefahren, als sie gerade einsteigen wollten! Ihre Kleider hätten sie aus einer katholischen Altkleidersammlung bekommen, Stern habe das Fenster herunterkurbeln müssen, so ungewaschen kann man doch gar nicht riechen! Und wie bunt die beiden waren! Also habe er sie in das Diner an ihrer Weggabelung eingeladen, eine doppelte Portion Eier und Orangensaft und Toast und Schinken hätten sie bestellt, gegessen und dann noch eine und noch eine! Er habe bezahlt und ihnen hundert Dollar gegeben und nur zwanzig behalten, damit sie nach Hause kommen konnten. Dann sei er weitergefahren und viel zu spät bei Susan angekommen. Und als sie dann im Bett lagen und sie ruhig schlief – diesen Rücken hätte ich sehen müssen! – habe ihn die Wut gepackt. Auf Denver sei er wütend gewesen. Denver! Eine spirituelle Stadt? Auf die beiden Hippies, weil sie so unsäglich dumm gewesen seien. Auf sich, weil er sie nicht zur Raison gerufen habe. Den Autohändler! Den Kofferdieb! Die katholische Wohlfahrt, die stinkenden Klamotten! Und warum habe er ihnen hundert Dollar gegeben und nur zwanzig behalten? Warum habe er ihnen nicht zwanzig gegeben und hundert behalten? Und dann habe ihn die Trauer gepackt, er habe weinen müssen. Und Susan mit dem schönen Rücken sei aufgewacht, habe seine Tränen gesehen und getrocknet. Welche Gier habe ihn ergriffen? habe er sie gefragt, welche Gier. Was sind hundert Dollar? Was ist ein glücklicher Idiot, beziehungsweisegleich zwei? Wir nehmen die Treppen, Zimmer 321, Stern hängt den Hut an den Haken und wirft sich auf das Hotelbett, nur zwei Stunden, mein Junge, dann geht es weiter, denn es muss weitergehen. Später wartend und lesend in der Hotellobby am Washington Square, Sterns Jutebeutel mit Büchern dabei, zuoberst das letzte Buch Everything is Burning. Stern muss sich ausruhen. Ihr Großvater, sagt der Kellner, ist ein lustiger Vogel, und er hat noch gewaltig Feuer! Das stimmt, antworte ich, aber er ist nicht mein Großvater. Ich bestelle Kaffee. Die Unterschiede sind nicht offensichtlich, aber Gerald Stern ist ein 85-jähriger jüdischamerikanischer Lyriker, ich bin ein junger deutscher Prosaautor. Trotzdem mindern sie meine Begeisterung für seine Gedichte und seinen Einfluss auf meine Arbeit nicht, trotzdem – oder gerade deswegen – könnte ich Listen schreiben, was mich an Stern, seinem Wesen und seiner Arbeit berührt, inspiriert und begeistert. Seine Euphorie und sein Enthusiasmus beispielsweise, sein Auge für das Besondere im Alltäglichen, sein Mut zur Anekdote, zum euphorischen Jubel, zur tiefen Trauer, sein Humor, seine jüdisch-amerikanische Selbstironie. Seine politischen Überzeugungen, seine Begeisterungsfähigkeit. Seine Wut auf Ungerechtigkeit, Hierarchien und Willkür. Stern ist ein Melancholiker und Nostalgiker. Stern liebt, erinnert, vermisst schmerzlich. Die Menge an Erinnerungen, das Wissen um das Vergehen der Zeit und die dazu gegenläufige Freude. Die klug austarierte Gewichtung von Form und Inhalt seiner Gedichte, die Einfachheit seiner Sprache und seiner Bilder, ihre gleichzeitige Seltsamkeit. Sterns Zutrauen zum eigenen Schreiben, sein Widerstandswille, seine Ausdauer. Die Sicherheit, dass Literatur von Belang ist und man mit ihr eine Welt formen kann. Seine bei aller Inszenierung von Werk und Person durchscheinende grundlegende Güte. Der Kellner bringt die Rechnung, ich zahle und lege sie zwischen die Seiten von „Everything is Burning.“ Ihr Großvater wartet dort vorne, sagt der Kellner, es gehe jetzt weiter, lässt er ausrichten, das Taxi wartet bereits. Stern tanzt in der Lobby mit einer jungen Japanerin im Pelzmantel, er pfeift ein Lied, er winkt mir zu. Ich bin nicht sein Enkel, sage ich, ich bin sein Übersetzer, wie finden sie den Titel „Alles brennt“? Der Saal ist vollgepackt mit Menschen, zweieinhalbtausend, ein Popkonzert für Menschen, die sich für Gegenwartslyrik und Sex and the City interessieren. „Poetry in Motion“ hat Geburtstag, seit Jahren werden die New Yorker Subways und Busse mit Gedichten zugeklebt. Paul Muldoon liest, Nikki Giovanni liest, Sandra Cisneros liest, Cynthia Nixon – die ist

aus irgendeiner Soap, sagt Stern – ist hochschwanger und liest Shakespeare und Emily Dickinson. Gerald Stern liest. Auf der riesigen Bühne hängen Plakate, auf eine Leinwand am Rand werden Gedichte gebeamt, Popcorn wird gegessen, Big Gulps Cola werden getrunken, und die Sex and the City-Interessenten sind in der Minderheit. Und die schwenken wir auch noch um, die Deserteure, die Wankelgeister, sagt Stern, „we’re gonna get them, we’re gonna fuck’em.“ Die Lüftung summt, die Scheinwerfer brennen. Cynthia Nixon steht in ihrem Lichtkegel und rezitiert Shakespeare für jeden einzelnen im Publikum, und das Geknister verliert sich. Neben dem Bühnenaufgang sitzt Stern und spricht mit, leise, leise! schiebt er sich den Hut in den Nacken. Als Nixons Vortrag zu Ende ist und sie von der Bühne geschwebt ist – ihre Füße berühren den Boden nicht! flüstert er – steht Stern auf und tanzt mit kleinen Schritten in das Licht, wie ’48 in Paris, ’37 in Pittsburgh, wie in Lambertville, Iowa City, Wien und Berlin, wie im Wald, wie am Meer, wie am Ufer des Delaware, wie auf den Bürgersteigen New Yorks, wie auf den Prager Pflastersteinen, wie in diesem und im letzten Jahrhundert, wie beim Walzer, beim Cha-Cha-Cha, wie beim Football, beim Laufen, beim Spazieren, wie damals, wie immer. Stern wartet einen Moment, blinzelt in das Scheinwerferlicht, sagt, „I am the last reader of poetry – on earth.“

Gerald Stern Alles brennt. Gedichte, zweisprachig Aus dem amerikanischen Englisch und mit einem Nachwort von Thomas Pletzinger. Abbildungen von Tim Dinter 288 Seiten gebunden mit Schutzumschlag 4 Abbildungen ISBN 978-3-88221-638-7 € 29,90 Fotos: Alexander Malecki

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10 LITERATUR I

AUSGABE 3

THE DANCING

DER TANZ

In all these rotten shops, in all this broken furniture and wrinkled ties and baseball trophies and coffee pots I have never seen a postwar Philco with the automatic eye nor heard Ravel’s »Bolero« the way I did in 1945 in that tiny living room on Beechwood Boulevard, nor danced as I did then, my knives all flashing, my hair all streaming, my mother red with laughter, my father cupping his left hand under his armpit, doing the dance of old Ukraine, the sound of his skin half drum, half fart, the world at least a meadow, the three of us whirling and singing, the three of us screaming and falling, as if we were dying, as if we could never stop – in 1945 – in Pittsburgh, beautiful filthy Pittsburgh, home of the evil Mellons, 5,000 miles away from the other dancing – in Poland and Germany – oh God of mercy, oh wild God.

In all den verkommenen Läden, zwischen all den kaputten Möbeln und knittrigen Krawatten und Baseballpokalen und Kaffeebechern habe ich nie ein Nachkriegs-Philco mit automatischem Auge so gesehen oder Ravels »Bolero« so gehört wie 1945 in jenem winzigen Wohnzimmer am Beechwood Boulevard, geschweige denn so getanzt wie da, mit blitzenden Messern, mit wehenden Haaren, meine Mutter rot vor Lachen, mein Vater mit der linken Hand unter der Achsel den Tanz der alten Ukraine tanzend, das Geräusch seiner Haut halb Trommel, halb Furz, die Welt mindestens eine Wiese, wir drei wirbelnd und singend, wir drei schreiend und fallend, als würden wir sterben, als könnten wir niemals aufhören – das war ’45 – in Pittsburgh, schönes dreckiges Pittsburgh, Heimat der bösen Mellons, 5000 Meilen entfernt von dem anderen Tanz – in Polen und Deutschland – oh Gott der Gnade, oh wilder Gott.

Gerald Stern, aus dem amerikanischen von thomas Pletzinger Polaroids: Gerald Stern und Thomas Pletzinger

FEBRUAR 2010

JAHRGANG 01


AUSGABE 4

MÄRZ 2010

LITERATUR I

JAHRGANG 01

UNDERGROUND DANCING

UNDERGROUND DANCING

There’s a bird pecking at the fat; there’s a dead tree covered with snow; there’s a truck dropping cinders on the slippery highway. There’s life in my backyard – black wings beating on the branches, greedy eyes watching, mouths screaming and fighting over the greasy ball. There’s a mole singing hallelujah. Close the rotten doors! Let everyone go blind! Let everyone be buried in his own litter.

Dort pickt ein Vogel am Fett; dort steht ein toter Baum begraben unter Schnee; dort verliert ein Laster seine Kohlen auf eisiger Straße. Da ist Leben in meinem Hinterhof – schwarze Flügel schlagen in den Zweigen, gierige Augen starren, Schnäbel schreien und kämpfen um die fettige Kugel. Dort singt ein Maulwurf Hallelujah. Schließt die morschen Türen! Lasst alle erblinden! Lasst alle im eigenen Dreck versinken.

Gerald Stern, aus dem amerikanischen von thomas Pletzinger Polaroids: Gerald Stern und Thomas Pletzinger

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FILM

LEINWANDLYRIK

AUSGABE 4

MÄRZ 2010

J A H R G A N G 0 \1


AUSGABE 4

MÄRZ 2010

FILM 13

JAHRGANG 01

INTERVIEW: THOMAS ABELTSHAUSER

Sie haben sich dann dazu entschieden, erstmals keinen Dokumentarfilm zu machen. Epstein: Wir haben gespürt, dass es vor allem auch eine Möglichkeit für uns ist, unser Spektrum und die Art, wie wir Filme machen, zu erweitern. Aus einem Mangel heraus haben wir beschlossen, den Stoff nicht als Doku, sondern als Drama zu adaptieren, ein Drehbuch zu schreiben, das zwar auf dokumentarischen Texten Es sind mit die bekanntesten Zeilen der amerikani- basiert, aber doch fiktional ist und es mit Schauspielern schen Literatur: „Ich sah die besten Köpfe meiner zu inszenieren. I saw the best minds of my generation destroyed by madness, starving hysterical naked, dragging themselves through the negro streets at dawn looking for an angry fix; Angel-headed hipsters burning for the ancient heavenly connection to the starry dynamo in the machinery of night.

Generation zerstört vom Wahnsinn, ausgemergelt hysterisch nackt…“ und zumindest in den USA sind Hatte das neben den formalen auch thematische sie auch Menschen ein Begriff, die sich sonst kaum Gründe? für Poesie interessieren. Es ist der Auftakt von Allen Epstein: Sicherlich. Weil Ginsbergs Gedicht extrem Ginsbergs Gedicht „Howl“ („Das Geheul“), einer wü- persönlich ist und zugleich sehr globale Themen antenden Wehklage über die traumatisierten Menschen schneidet. Dieser Bandbreite gerecht zu werden, war im Nachkriegsamerika. 1956 erschienen, löste es wegen eine große Herausforderung. seiner radikalen, provozierend saftigen Sprache einen Skandal aus, der zu einer Anklage wegen Obszönität führte. Die renommierten Dokumentarfilmer Rob Epstein und Jeffrey Friedman („The Times of Harvey Milk“) haben aus dem Stoff ihren ersten Spielfilm gemacht, wobei es Experimentalfilm (wenn auch einer mit Hollywoodbesetzung!) besser trifft: denn sie verknüpfen dabei mehrere Ebenen, Gerichtsdrama und Animationsfilm, Performance und Biopic, die sie wie ein Jazzstück wild variieren und damit ganz ähnliche Methoden wie Ginsberg beim Schreiben benutzen. Der Film wird selbst zum Gedicht. Aber eben nicht nur: Er liefert zugleich Entstehungsgeschichte, Interpretation, Rezeption und einen Verfasserkommentar. Im Interview mit TRAFFIC erzählen die Filmemacher von der besonderen Herausforderung, Lyrik zu verfilmen. Sie haben mit „Howl“ eines der wichtigsten amerikanischen Gedichte des 20. Jahrhunderts verfilmt. Wie kamen Sie auf die Idee? Rob Epstein: Es fing damit an, dass die Erben von Allen Ginsberg auf uns zukamen und uns anboten, einen Film über Ginsberg und „Howl“ zu machen. Wir fingen zunächst an, zu recherchieren, was an Dokumentarmaterial existiert. Es gab bereits einen Film über ihn, „The Life and Times of Allen Ginsberg“, und wir wollten auch gar kein reines biographisches Doku-Epos über ihn machen. Ansonsten gab es nichts Dokumentarisches aus der Entstehungszeit des Gedichts: keine Fotos, keine Film- oder Tonbandaufnahmen von der ersten Lesung des Gedichts, nichts. Die Ausgangsfrage war also: Wie können wir überhaupt einen Film über Ginsberg in jungen Jahren und diesen goldenen Moment der amerikanischen Literatur machen, wenn es überhaupt kein Material gibt? Was stellten sich die Erben vor? Gaben Sie Ihnen etwas vor? Epstein: Nein. Allens Sekretär Bob Rosenthal kannte unsere Dokumentarfilme und sie gaben uns völlig freie Hand.

Sie inszenieren den Film auf vier verschiedenen Ebenen: Zunächst das Gedicht selbst, das aus dem Off rezitiert und durch Animationen visualisiert wird, dann Ginsbergs legendäre erste Lesung 1955 in der Six Gallery in San Francisco, die Sie schwarzweiß in Szene setzen; die Anklage wegen Obszönität, die Sie als Gerichtsdrama nachstellen sowie ein fiktives Interview mit Allen Ginsberg in dessen Greenwich Village Appartement. Wie haben Sie dieses Konzept entwickelt? Friedman: Jede dieser Ebenen ergab sich organisch während der Recherche und Vorbereitungen. Wir wollten das Gedicht aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Wir wollten den kreativen Prozess ebenso zeigen, wie das, was Ginsberg als junger Mensch und Dichter durchmachen musste, um an den Punkt zu kommen, ein solches Werk zu schaffen und damit auf seine Weise an die Öffentlichkeit zu gehen. Wir fanden viele großartige Interviews, in denen er über seinen Hintergrund spricht, seine Herkunft, seine Entwicklung, seinen Schreibprozess. Diese Interviews waren nicht auf Film, sondern in Zeitschriften publiziert. Wir wussten aber auch, dass es ein Interview zur Zeit des Gerichtsprozesses gab, mit einem TIME-Reporter, der es aber nie veröffentlichte und heute verschollen ist. Wir haben dann dieses Interview nachgestellt und uns vorgestellt, was er gesagt haben könnte – basierend auf anderen Interviews, die er gegeben hat und von denen wir Passagen benutzt haben, um daraus dieses fiktive Gespräch zusammenzustellen. Mit der Gerichtsverhandlung zeigen wir die Welt, in der das Gedicht entstanden ist, die Art, wie Leute reden, denken, wie sie sich kleiden und nicht zuletzt, wie sie auf das Gedicht reagieren. Für uns repräsentiert es die Reaktion der Gesellschaft der 1950er Jahre auf diesen revolutionären Paukenschlag der amerikanischen Literatur, der wie eine Bombe einschlug. Und das wollten wir im Stil der Gerichtsdramen dieser Ära drehen. Auch die anderen Elemente sind von zeitgenössischen Filmen inspiriert. Für die Rückblenden

orientierten wir uns an Robert Franks Film „Pull My Daisy“ von 1959, in dem Ginsberg mitspielt. Für die Interviewszenen war Shirley Clarkes „Portrait of Jason“ Vorbild. Und die Animationen? Epstein: Da stand Pink Floyds „The Wall“ Pate. Aber wir haben auch eng mit dem Zeichner Eric Drooker zusammengearbeitet, der vor Jahren einen Gedichtband für Ginsberg illustriert hat, „Illuminated Poems“, um den passenden Stil zu finden. Sie haben den Hauptdarsteller James Franco gefunden, als dieser gerade „Milk“ drehte, Gus Van Sants Biopic über den ermordeten Stadtrat Harvey Milk, das auf Ihrem eigenen Dokumentarfilm beruht. War Francos Darstellung in „Milk“ ausschlaggebend? Epstein: Nein. Das war seine Rolle als James Dean in dem gleichnamigen Biopic. Er hat es geschafft, sein Innenleben zu zeigen, ihn nicht als Karikatur zu spielen, was bei Dean leicht hätte passieren können. Und das war uns wichtiger als äußere Ähnlichkeiten. Friedman: Und dann stellten wir schnell fest, dass er ebenfalls Lyrik studiert, Gedichte schreibt und stark von der Beat Generation beeinflusst ist. Und er ist im gleichen Alter wie Ginsberg damals. Es passte alles perfekt zusammen.

Was bedeuten Ihnen persönlich die Autoren der Beat Generation, zu der neben Allen Ginsberg auch Jack Kerouac und William S. Burroughs gehören? Epstein: Kerouacs „On the Road“ ist einer meiner absoluten Lieblingsromane. Friedman: Ich habe „Howl“ in der Highschool gelesen. Es hat damals einen Nerv getroffen, diese aufkeimende Rebellion, die ich in mir spürte. Bei der Recherche ist uns dann aufgefallen, dass das Gedicht im Grunde der Beginn, das erste Geheul der Gegenbewegung war, die in den 1960er und 1970er Jahren das ganze Land erfasste. Es fing nicht in den Colleges an, die Wurzeln der Alternativkultur sind literarische. Von Europa aus betrachtet, scheint den Beats in all den Jahrzehnten danach keine wirklich relevante Lyrikbewegung mehr gefolgt zu sein, oder täuscht dieser Eindruck? Epstein: Hip Hop! Friedman: „Howl“ war der erste Poetry Slam. Diese Beats macht Lesungen zu Performances, was schließlich zu Rap und Hip Hop führte. Diese Musikstile haben Lyrik absorbiert und die besten Stücke sind vergleichbar mit großer Dichtkunst.

In einer Gerichtsszene fällt der bemerkenswerte Satz: „Poesie lässt sich nicht in Prosa übersetzen, deswegen ist es Poesie.“ Wie haben Sie versucht, Poesie in Film zu übersetzen? Epstein: Wir wollten in den Animationsszenen eine filmische Erfahrung schaffen, die den Zuschauer in einen Zustand versetzt, in dem er in das Gedicht eintaucht. Es sollte aber nicht einfach die Worte bebildern, sondern eher assoziativ wirken. Wir haben mit Eric Drooker eine Art Graphic Novel entworfen, die dann animiert wurde. Friedman: Wir wollten eine Traumwelt erschaffen, die den poetischen Geist von „Howl“ wiedergibt. Eine Art Beat-Version von „Fantasia“. Mit Schwänzen. Ein wichtiges Element ist der Soundtrack des Films, den Carter Burwell komponiert hat. Auch für Ginsbergs Lyrik war Musik essentiell, vor allem Jazz. Burwells Soundtrack und die Art, wie Sie im Schnitt die verschiedenen Filmebenen zusammenfügen, mit Variationen, Wiederholungen und Improvisationen, scheinen ganz ähnlich zu funktionieren. Friedman: Unser Editor ist Jazzmusiker aus San Francisco und wir haben ihn engagiert, weil er eine intuitive, fast abenteuerlustige Herangehensweise hat, die uns passend erschien. Auch beim Dreh versuchten wir, dieses Jazzgefühl hinzubekommen, vor allem in den Rückblenden, in denen wir viel improvisierten. Und es stimmt, Rob Epstein, Jeffrey Friedman wir haben die verschiedenen Ebenen sehr frei zusam- Bild rechts: James Franco als Allen Ginsberg in „HOWL.” mengemischt, das war stark von Jazz beeinflusst. Foto: JoJo Whilden


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DAS WETTER

AUSGABE 04

MÄRZ/APRIL 2010

JAHRGANG 01

STURMFLUT

SONNE

STURM

NEBEL

Nordfriesland

England, Küste

Yorkshire

Schottland

„Noch ein Sporenstich; ein Schrei des Schimmels, der Sturm und Wellenbrausen überschrie; dann unten aus dem hinabstürzenden Strom ein dumpfer Schall, ein kurzer Kampf.“

„Die Sonne stand nicht mehr mitten am Himmel. Ihr Licht kam schräg, fiel schief ein. Hier entzündete es sich am Rand einer Wolke und brannte sie zu einer Fläche von Licht, einer lodernden Insel, auf der kein Fuß ruhen konnte.“

„(…) stattdessen schlossen sich meine Finger um eine kleine, eiskalte Hand! „Wer bist du?“, fragte ich. „Catherine Linton“, antwortete eine fröstelnde Stimme. „Ich bin nach Hause gekommen. Ich hatte mich im Moor verirrt!“

„Fair is foul, and foul is fair: Hover through the fog and filthy air.“

Um die Geschichte des Deichgrafen Hauke Hain zu verstehen, muss man nicht zwingend an der See geboren sein. Wenngleich es hilft, die starrköpfigen und Mimik-armen Norddeutschen zu ertragen, die dem jungen Hauke und seinen revolutionären Umbauideen für den Deich, mit naturgemäßer Skepsis entgegentreten. 18. Jahrhundert, Nordfriesland, die Küste vor Schleswig – an diesem sagenumwobenen Ort hört alles auf das Kommando der Natur, genauer: der Sturmflut. Und als Hauke vom armen Jungen zum Deichgrafen aufsteigt, zieht sich das Netz aus Missgunst und Aberglaube immer enger um ihn. Es entspinnt sich die Legende des Schimmelreiters, der nachts mit seinem toten Pferd über die Hallig donnert – der Verdacht der Dorfgemeinschaft, Hauke sei eben dieser Reiter, liegt nahe: die Ausgrenzung des Unbekannten fiel dem Pulk schon immer leicht. Und so ist sein Schicksal besiegelt: Hauke erfüllt die größte aller Legenden selbst: er opfert sich der tosenden Flut: „Herr, Gott, nimm mich, verschon‘ die anderen!“.

Sechs Leben, sechs Personen. Spiegeln sich wieder im Sonnenstand eines Tages an der englischen Küste. Bernard, Neville, Jinny, Susan, Rhoda, und Louis – deren innere Reflektionen sich zunächst mit der Landschaft und den Wellen verbinden, in ihrem Kommen und Gehen, ihrem Wiederkommen. Schließlich wird die Natur zum verbindenden Element einer multipersonellen Perspektive. Die revolutionäre Erzählform des Bewusstseinsstroms, die Handlungsfreiheit und die Konzentration auf das individuelle Erleben machen diesen Text nicht erst besonders, wenn man ihn mit den opulenten Familiendramen von Jane Austen vergleicht. Virginia Woolfs außergewöhnliches Buch ist ein Plädoyer für das Ungefilterte, das Unangepasste, das Unerbittliche. Wie die Sonne, die am englischen Strand in Die Wellen unablässig auf das immer Wiederkehrende fällt.

Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Reclam, 160 S., 3,10 €

Virginia Woolf: Die Wellen. S.Fischer Verlag, 240 S., 8,95 €

Im Hochmoor von Yorkshire liegt auf einer sturmumtosten Anhöhe das Anwesen Wuthering Heights der Familie Earnshaw. Ein Ort für Unerhörtes, Unwirkliches und ein Schauplatz für die Unbarmherzigkeit der Liebe und die Abgründe einer von Rachsucht zerfressenen Seele, die selbst im Tod keine Ruhe findet. Es ist die Geschichte der unerfüllten Liebe zwischen Catherine und Heathcliff. Der wird als Kind von Catherines Vater aufgelesen, jedoch nie als Familienmitglied akzeptiert. Als Heathcliff belauscht, wie Catherine eine Heirat mit ihm als erniedrigend abtut, flieht er vom Anwesen und kehrt Jahre später als wohlhabender junger Mann zurück. Doch auch jetzt wird seine Sehnsucht unerfüllt bleiben. Jahre später wird Wuthering Heights wieder von nächtlichen Stürmen heimgesucht, die Weiden peitschen gegen die Fenster. Ein Klopfen an der Scheibe…

In den nebligen Tälern des Hochlandes spielt sich Grausames ab. Nachdem König Duncan per Dolchstoß aus dem Weg geräumt ist, wird Macbeth König von Schottland. Wie von den drei Hexen prophezeit. Dieser Prophezeiung haben der Machtdurstige und seine nicht weniger nach der Krone strebende Frau zwar ein wenig nachgeholfen – aber der immerwährende Thron scheint nun zum Greifen nah. Doch des Königs Tage sind von Angst und Zweifeln zerfressen. Er sucht abermals die Hexen auf: eine erneute Vorhersage besagt, dass kein Mann, der von einer Frau geboren wird, Macbeth wird stürzen können. Doch die Dinge nehmen ihren unvermeidlichen Lauf: Die Lady verkauft Seele und Mütterlichkeit an die dunklen Mächte und erhält die nötige Kaltblütigkeit in retour. Gerüchte werden laut ... England verbündet sich mit Schottland und Malcom, dem Sohn des gemeuchelten Duncan. Malcom, dankenswerter Weise per Kaiserschnitt zur Welt gekommen, tötet Macbeth im Kampf: when the hurlyburly`s done, when the battle`s lost and won.

Emily Brontë: Die Sturmhöhe. DTV, 464 S., 9,90 €

William Shakespeare: Macbeth. Reclam, 92 S., 2,20 €


AUSGABE 4

MÄRZ 2010

DAS WETTER 15

JAHRGANG 01

REGEN

SCHNEE

DONNER

HITZE

Venedig

London

Die sieben Weltmeere

Afrika

„Über das weite, flache Gewässer, das den Strand von „Der Schnee war nichts als ein riesiger Spaß, und un- „Um, um, um. Stop that thunder! Plenty too much der ersten gestreckten Sandbank trennte, liefen kräu- sere Lage war etwa so gefährlich wie die von verirrten thunder up here. What´s the use of thunder? Um, um, selnde Schauer von vorn nach hinten.“ Alpinisten in einer Witzzeichnung.“ um. We don´t want thunder; we want rum; give us a glass of rum. Um, um, um!“ Die in der Häufigkeit ihrer Todesvorboten nur noch Der Winter 1962/63 in London. Die Stadt bricht unter von Poes ovalem Porträt übertroffene Novelle Der Tod den ächzenden Schneemassen beinahe zusammen, und Eine der größten Liebesgeschichten aller Zeiten ist die in Venedig von Thomas Mann ist zugegebener Maßen Sylvia Plath ebenfalls. Die Erzählung Schneeangriff ge- von Captain Ahab und dem weißen Wal Moby Dick, keine Pflichtlektüre für wetterfühlige Leser. Sondern hört zum letzten Erzählzyklus der Pulitzerpreisträgerin der dem Seefahrer einst ein Bein abriss. Seitdem trägt Pflichtlektüre für alle! vor ihrem Freitod 1963 und zeigt eine hilflose und un- Ahab den Knochen eines Pottwals als Prothese. Es ist Gustav von Aschenbach, ein Bild von Schriftsteller, mit vorbereitete Stadt, die vom einfallenden Schnee heim- Dezember im frühen 19. Jahrhundert als Ahab beEhren überhäuft und den Zenit seines Ruhmes vielleicht gesucht wird wie von einem feindlichen Besatzer. Mehr schließt, die verfluchte Pequod zu besteigen und sein eine Spur weit überschritten, kommt nach einer unfrei- und mehr überrollt der Schnee die Dächer der Stadt, Lebenswerk zu vollenden: den Wal töten. willigen, geisterhaften Gondoliere-Fahrt am hochsom- schwarzes Tauwasser in den veralteten Badewannen, ge- Schlussendlich bekommt Ahab seinen Kampf: er wird merlichen Lido des frühen 20. Jahrhunderts an. frorene Rohre. Als schließlich auch noch der Strom aus- von seinem Widersacher unter Wasser gezogen und schließlich getötet. Das Schiff sinkt, der einfache MaDort verliebt er sich der Mann Aschenbach aber auch fällt, ändert sich die Stimmung der Bevölkerung. der künstlerische Ästhet in den jungen polnischen Gra- Wie immer mikroskopisch genau beobachtet Sylvia trose Ishmael ist der einzige Überlebende und wird zum fen Tadzio, dem er fortan im drückend heißen Venedig Plath, wie aus einem malerischen Winter eine drohende Erzähler der Geschichte. nachstellt, anfangs keusch, später entwürdigend: als ge- Gefahr für Leib und Leben wird. Neben der bloßen Mann-jagd-Wal-Geschichte finden schminkter, ältlicher Verfolger. Selbst als die Stadt von sich nicht nur philosophische Exkurse des Autors, sonder Cholera heimgesucht wird, will er nicht weichen, dern die anrührende Geschichte eines zutiefst einsamen aus Angst, Tadzio nie wieder zu sehen. Und so kommt Mannes, der das einzige jagt, das ihm jemals etwas beder Regen, der die verseuchte Stadt kurz vor Tadzios deutet hat und schließlich in dieser gemeinsamen UmAbreise durchspült, zu spät: Aschenbach stirbt allein armung stirbt. am venezianischen Strand.

„Ich hatte eine Farm in Afrika, am Fuße der Ngongberge. Da spürt man tagsüber die Höhe, die Nähe der Sonne, aber die Morgenfrühe und die Abende sind klar und friedvoll, und die Nächte sind kalt.“

Thomas Mann: Der Tod in Venedig. S. Fischer Verlag, 144 S., 7,20 €

Tanja Blixen: Jenseits von Afrika. Manesse, 416 S., 22,95 €

Sylvia Plath: Schneeangriff. In: Die Bibel der Träume. S. Fischer Verlag

Herman Melville: Moby Dick. Bantam Books, 704 S.

Karen Blixen wanderte 1913 nach der Heirat mit ihrem Vetter nach Kenia aus, in der Hoffnung auf ein neues, ein anderes Leben. Sie versucht, eine Kaffeeplantage aufzubauen und scheitert an der drückenden immerwährenden Hitze, der Syphilis, den scheinbar unüberwindbaren Barrieren zwischen ihr und den kenianischen Bauern. Aber vor allem sind diese autobiographischen Episoden die Geschichte einer Liebe. 1918 lernt Blixen Denys George Finch Hatton in einem Club in Nairobi kennen. Die beiden wird eine aufzehrende Liebe verbinden, die von Finch Hattons Unwillen zu einer festen Bindung diktiert wird und schließlich ein tragisches Ende finden muss. Blixen, Autorin des Welterfolgs Babettes Fest, wird zur Geschichtenerzählerin eines Landes, das nicht Ihre Heimat, aber ihr Zuhause ist.


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SPORT

AUSGABE 04

MÄRZ/APRIL 2010

JAHRGANG 01


AUSGABE 04

MĂ„RZ/APRIL 2010

SPORT

JAHRGANG 01

SPORTBRILLE VON MERTEN SANSOVINO

E

s gibt die Kinder, die gute Noten haben, und es gibt die Kinder, die eine gute Sportnote haben. Entweder oder. Beides auf einmal: gibt es auch (der Autor dieser Zeilen war so ein Beispiel), ist aber selten. Wer im Vorlesewettbewerb vorne ist, ist in sportlichen Wettbewerben oft eher hinten. Und umgekehrt. Und von wem viel abgeschrieben wird, der wird als letzter in die Mannschaft gewählt. Und umgekehrt. Das lehrt ganz einfach die Erfahrung. Genies: im Sport eine Niete. Schlägertypen: Ăźberall auĂ&#x;er im Sport eine Niete. So ist das nun einmal. Die Welt ist ungerecht. Lehrer aber sind Organe der Gerechtigkeit und des Ausgleichs und politisch-weltanschaulich gar nicht in der Lage, mit solchen Klassengegensätzen in der Klasse nachts auch nur ein Auge zuzutun. Und deshalb ist die einzige offene Frage die, ob die Buchstabier- und Vorlesewettbewerbe erfunden wurden, um die mit den Brillen an das Prinzip des Sportlichen heranzufĂźhren – oder die mit den Muskeln durch sportliches Gepränge zum Lernen zu verlocken. Man darf sagen, dass es in der einen Richtung wesentlich erfolgreicher gelaufen ist als in der anderen. Solche schulischen Wettbewerbe haben sich als Mittel bewährt, eine gewisse competitiveness auch in zarte, intellektuelle Seelen zu pflanzen, ohne sie gleich der rohen KĂśrperlichkeit des Sportunterrichts mit seinen Rauhheiten auszusetzen. Das Sitzen auf StĂźhlen kann auch nicht viel ungesĂźnder sein, als sich gegenseitig mit Stollen unter den Schuhen in die Oberschenkel zu springen; und wenn Schach eine

Sportart ist, dann ist es Buchstabieren oder Rechnen gegen andere und vor strengen PrĂźfern allemal. Talent kann mit Training aufgewogen werden, und Brilletragen geht in Richtung Doping. Autisten gehen zur Mathematik-Olympiade. Und während die Schwererziehbaren unter den Gleichaltrigen im Turnhallenumkleideraum ihre schmutzigen Witze reiĂ&#x;en, kĂśnnen kleine Altsprachler oder die AngehĂśrigen der Arbeitsgemeinschaft Junge Historiker den Mathematikern erklären, dass das gar nicht Olympiade heiĂ&#x;en kĂśnne, weil die Olympiade nur der Zeitraum zwischen zwei Olympischen Spielen sei, und wenn etwas olympische, wo nicht gar olympiadische Disziplin werden sollte, dann ja wohl das KlugscheiĂ&#x;en, in den Unterdisziplinen Klugweitund ZielscheiĂ&#x;en vielleicht. Es ist auch absolut nicht nachvollziehbar wie es im Zuge der digitalen Revolution sein kann, dass reale, also analoge, also, seien wir ehrlich, doofe FuĂ&#x;ballspieler immer noch mehr Prestige genieĂ&#x;en und Geld verdienen als diejenigen, die FuĂ&#x;ball perfekt als Computerspiel simulieren kĂśnnen. KĂśrperliche Anstrengung sind im Zeitalter der Touchpads urmenschenhafte Atavismen, die bald Ăźberwunden sein werden. Wichtiger als schnelles Laufen wird in Zukunft schnelles Tippen sein. „Sport ist Schwitzen - und Aus.“, lieĂ&#x; Thomas Brussig seinen FuĂ&#x;balltrainer in „Leben bis Männer“ sagen. Und Schwitzen tut man ja, wenn einem der Kopf raucht. Und anders als Sportlehrer, fassen Physik- oder Informatiklehrer, da selbst bereits weitgehend entkĂśrperlicht, ihre SchĂźler wenigstens nicht unsittlich an.

DAS SITZEN AUF STĂœHLEN KANN AUCH NICHT VIEL UNGESĂœNDER SEIN, ALS SICH GEGENSEITIG MIT STOLLEN UNTER DEN SCHUHEN IN DIE OBERSCHENKEL ZU SPRINGEN; UND WENN SCHACH EINE SPORTART IST, DANN IST ES BUCHSTABIEREN ODER RECHNEN GEGEN ANDERE UND VOR STRENGEN PRĂœFERN ALLEMAL.

Foto Linda Schmall, www.sxc.hu

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LOCKED ï IN

Manchmal ist man im eigenen Schreiben gefangen wie in einem Hotelzimmer in einer fremden Stadt: Man könnte nach draußen gehen, aber was erwartet einen dort, außer dem Gefühl von Abgeschnittenheit? Svealena Kutschke und Thomas Klupp sind zwei junge Autoren, die viele Erfahrungen des Schreibens und eine kritische Freundschaft miteinander teilen. Beide studierten Kreatives Schreiben und Kulturwissenschaften an der Universität Hildesheim. Svealena Kutschke wurde mit dem Open Mike 2008 aus-

gezeichnet; letztes Jahr erschien ihr Debütroman „Etwas Kleines gut versiegeln“ im Wallstein Verlag. Thomas Klupps Roman „Paradiso“ erschein zeitgleich, bekam den Nicolas-Born-Debütpreis und landete auf der Shortlist des Aspekte-Literaturpreises. Kutschke und Klupp, beide 1977 geboren, einmal in Lübeck, einmal in Erlangen, denken auf Zimmer 511 des Hotel Amano in Berlin laut über die Arbeits- und Gefühlswelt des Autors.

SVEA: „ICH KANN MEINE UNZULÄNGLICHKEITEN GROSSZÜGIG AUF MEINE FIGUREN VERTEILEN UND ES BLEIBEN IMMER NOCH GENUG FÜR MICH.“

IST MEIN LÜGENGEBILDE EIN MEISTERWERK AN INNOVATION UND STATIK (FISCHLI/ WEISS)

THOMAS: „AM LIEBSTEN BETRETEN WIR FREMDE RÄUME.“


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SVEA: „ICH FALTE MIR EINEN ASCHENBECHER AUS EINEM BIERDECKEL UND HALTE MICH VOM RAUCHMELDER FERN.“ „PAPERCUTS UND KONTAKTLINSENUNSER RISKANTES LEBEN.“

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THOMAS: „MAXIMALE AFFEKTHÖHE & TOTALE KONTROLLE: VON HIER AB WIRD KOMBINATORISCH WEITERGEBAUT.“ „NACHTS GILT AB SOFORT EIN AUSGEHVERBOT.“

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SVEA: „ICH LEGE MEINEN KOPF AUF DIE KÜCHENWAAGE. ERROR STEHT AUF DEM DISPLAY. DAS WUNDERT MICH NICHT. MIR WAR DOCH SO.“

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THOMAS: „WIRKLICHKEITSTOURISMUS ZWISCHEN DEN DEADLINES: DAS WAHRE LEBEN FINDET AM LAPTOP STATT.“

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SVEA: „MEIN LAPTOP IST INSTABIL, EINE PLASTIKNOPPE FEHLT. ICH STÜTZE IHN MIT EINER BERUHIGUNGSPILLE AB UND BIN ETWAS NEIDISCH.“

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HOLLY-WHAT DER CELEBRITY-KNIGGE. DIESMAL: LĂ„U-TERN (GEH. FĂœR REINIGEN; VON FEHLERN BEFREIEN)

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verdose for Christmas / And give it up for lent“, sang Robbie Williams in „Millenium“, also noch bevor er als geläutert galt. In diesen traurigen, kalten Wochen zwischen Aschermittwoch und Ostern Ăźben immer mehr Menschen eine Art Verzicht aus, der sie auf die ein oder andere Weise läutern soll. Man gibt Alkohol, Zigaretten, Kaffee und / oder feste Nahrung auf, nervt seine Umwelt, faselt von Detox und sieht am Ende doch besser aus, und ist „irgendwie geläutert“. Da in Hollywood die Uhren anders ticken, darf man hier das ganze Jahr Ăźber geläutert werden. Das ist insofern in Ordnung, als viele, die nicht geläutert werden, mit 33 sterben. Um auf Robbie zurĂźckzukommen: Man glaubt ihm, dass er weiĂ&#x;, wovon er da singt. Was war er nicht alles: Säufer, tablettenabhängig, dick, depressiv. Doch seit seinem sogenannten Comeback sieht man Robbie als geläuterten Mann an – und zwar durch die beste aller Methoden: die Liebe. Es gibt Männer wie ihn, die nur durch eine – man ahnt es – liebende und strenge Frau geläutert und gerettet werden kĂśnnen. (Robert Downey Jr. gehĂśrt auch dazu, er sagt selbst, dass ihm seine Frau das Leben gerettet hätte. Trotzdem nervt er nicht – denn: Liebe.)

Etwas nerviger ist es, wenn Stars durch Gott geläutert werden, so wie Paris Hilton. Ja, doch. Man erinnert sich an das Jahr 2007 und ihren als Medienspektakel inszenierten Gefängnisaufenthalt. Dort, so erzählte sie Barbara Walters, habe sie Gott gefunden und sei nun nicht mehr dieselbe Person, die sie mal war: „Ich habe mich dumm verhalten, doch das bin ich nicht mehr.“ Ă„h? Dass er geläutert wurde, darf nur der Star verkĂźnden, der tatsächlich einen Unterschied zu seinem frĂźheren Leben nachweisen kann. Hilton kĂźndigte zum Beispiel auch an, ein „Hilton Playhouse“ fĂźr kranke Kinder zu bauen. Stattdessen läuft sie immer noch in pinken Nicky-AnzĂźgen durch Hollywood, shoppt oder promotet Dosengetränke in Einkaufszentren. Dagegen ist eine erfolgreiche Läuterung die wichtigste Voraussetzung, damit die Ă–ffentlichkeit tief gefallenen Saubermännern wie Tiger Woods oder Mark Owen verzeihen kann. Hier gibt es eine strikte Reihenfolge: Zunächst gibt es eine holprig formulierte Entschuldigung voller Klischees, die mit bedrĂśppelter Miene in einem schlecht beleuchteten Raum vorgelesen wird. Dann geht es ab zur Therapie. Nach der abgeschlossenen Therapie erzählt man dann Oprah oder Barbara Walters, wie man

geläutert wurde. (Es ist tatsächlich ein bisschen mit dem Fegefeuer zu vergleichen.) Die lustigsten Stars sind aber die, die ihre Schwächen zugeben, sie einigermaĂ&#x;en im Griff haben und darauf pfeifen, geläutert zu werden: siehe Gerard Depardieu und Rotwein oder Keith Richards und, äh, Zigaretten. Dazu gehĂśrt auch George Michael, der alte Kiffer, der sagte: „Ich bin sicher, dass Kiffen – so dumm es sich anhĂśrt – der einzige Weg ist, weiter zu arbeiten.“ Merke: Wer immer ehrlich ist, muss gar nicht geläutert werden. AuĂ&#x;er, natĂźrlich, durch die Liebe. Danijela Pilic

— Deutschlandpremiere —

— Deutschlandpremiere —

AWA LY

MARCELLA & THE FORGET ME NOTS

12. April 2010

13. – 18. April 2010

Live in Concert

Murder and Lullabies Das post-apokalyptische Cabaret-Orchester

TIM FISCHER

TOM TOM CREW

(

Das Konzert

Hip Hop meets artistic

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EINMAL TEUER, EINMAL BILLIG, ZWEIMAL CHARMANT L

os Angeles, Stadt der Reichen und Schönen, aber auch der unterprivilegierten Roboter: Shelton fristet ein Dasein in Bedeutungslosigkeit. Er arbeitet in einer Bibliothek, wo er staubige Bücher ein- und ausräumt. Die Welt des Roboters ist verschattet, bis Francesca wie eine Sonne in sein Leben tritt. Der etwas schüchterne Computerkopf findet endlich einen Lebenssinn in der Liebe zu der unabhängigen und starken Roboterin, die ihm eine neue Welt eröffnet. Francesca will leben, sich spüren. Sie fährt Auto, etwas, das Robotern verboten ist. Sie träumt – etwas, von dem es heißt, Roboter könnten es gar nicht. In ihrem Lebenshunger entwikkelt sie selbstzerstörerische Züge. Wohin sie kommt, klebt sie Flyer an Wände, Laternenmasten, sogar an Palmen. „I am here“, steht darauf, „Ich lebe, seht ihr!“ schreit sie hinaus. Bei einem Konzert tanzt sie so wild, das ihr Arm abgerissen wird. Weil Shelton nur eines will, Francescas Glück, schraubt er seinen Arm ab – eine Organspende unter Robotern. Kurz darauf verliert sie ein Bein, Shelton besteht darauf, ihr seines zu geben. Am Ende lässt er sein Leben für sie. In einer rührenden Schlussszene verlässt Francesca im Rollstuhl das Krankenhaus: Im Arm trägt sie Sheltons Computerkopf, alles, was ihr von ihm geblieben ist. Spike Jonze macht seinen ersten wahren Liebefilm – und schon zu Beginn durchfährt einen das Gefühl, diese Geschichte hat ihm auf der Seele gebrannt und musste unbedingt erzählt werden. Die Musik zum Film ist so wie der Film selbst: Melancholisch und doch voller Leichtigkeit, elegisch mit einer süßen Note. Eine beeindruckende Maske, insbesondere die lebendig anmutenden Augen und Münder der Computerwesen, machen diesen Film auch zu einem technischen Wunderwerk. Ganz im Sinne seiner Idee „Ordinary is no place to be“ erschafft Spike Jonze eine Welt, in der Realität und Fiktion ineinander verschwimmen. Wie auch in unserer Welt kann die Liebe dort alles verändern. Seine Botschaft ist deutlich: So zerbrechlich und fragil die Liebe zwischen den zwei Robotern ist, so sehr ist sie etwas, wofür sich die Hingabe lohnt. Finanziert wurde dieser 31-minütige Kurzfilm durch eine Kooperation mit Absolut Vodka. Das ändert erstaunlicherweise nichts daran, dass Spike Jonze eine ausgefallene Liebesgeschichte gelungen ist, die eine universelle Metapher birgt: Man kann das Glück nicht festhalten. Aber man muss es versuchen. Spike Jonze: I’m Here – A Lovestory IN AN ABSOLUT WORLD http://www.imheremovie.com/

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erlin, arm und nicht sexy. Mit der berühmten und, wie man glauben könnte, einmal zu oft gehörten Arie aus Carmen, „Habanera“, wiegt sich der „Kiezfilm“ von Patrick Banush in seine skurrile Handlung – und zwar in eine andere, als die Melodie ankündigt. Viktor glaubt nicht an die Liebe. Nicht nur das. Er hat der Liebe den Krieg erklärt. Seine Mission besteht darin, auch den Rest der Welt davon zu überzeugen, dass Liebesgefühle nichts weiter sind als eine chemische Reaktion unseres Gehirn, ein körpereigener Drogencocktail, ein Reflex des limbischen Systems. Wie im Wahn sammelt er Beweise für seine Theorie, vernichtet romantische Filme in Videotheken und versucht schließlich, seinen Freund Otto mit ins Boot zu holen. Ganz im Sinne Don Quijotes will Viktor „Ausfahrten hoch zu Ross“ unternehmen. In Ermangelung eines Pferdes und des in zu weiter Ferne liegenden La Mancha geht es auf Fahrrädern in den Volkspark Friedrichshain, um Feldforschung zu betreiben. Otto, alias Sancho Panza, begleitet Viktor auf seiner wahnwitzigen Mission. Unterstützt werden die beiden von Quichotte aus Treuenbrietzen, einem alternden Schwerenöter, der des Nachts an Viktors Bett auftaucht, um die Ehre des Don Quijote im Bademantel zu verteidigen. Auf seine Weise. Einige auseinandergebrachte Paare, einen selbstmordgefährdeten Psychiater und konspirative Treffen später erfahren wir, dass Viktor nicht der Liebe den Krieg erklärt hat, sondern Clara, seiner alten Jugendliebe. Ein durchgedrehter Rolf Zacher als brandenburgischer Don Quichotte, Samuel Finzi als liebenswerter Psychiater und ein fabelhafter Hendrik von Bültzingslöwen als Viktor machen diesen Film zu einem bezaubernden Manifest der Liebe. Patrick Banush gelingt mit seinem Spielfilm-Debüt eine absurde Komödie über die Liebe und das Leben. Ganz ohne Filmförderung oder die Beteiligung eines Senders zaubert Banush einen 93-Minüter, der dringend sehenswert ist. Aber Vorsicht: wer nicht an die Liebe glaubt, könnte hier eines besseren belehrt werden. Franziska Nagy

Patrick Banush: Die Liebe und Viktor. Immer Do-Sa um 21.30 im Filmcafé, Schliemannstraße 15, 10437 Berlin. Tel.: 030. 810 190 50 www.liebeundviktor.de TRAFFIC News to-go verlost 3x2 Karten, einfach eine Email mit Namen und Terminwünschen schicken: kino@trafficnewstogo.de Bilder von links nach rechts und oben nach unten: Klein Bukarest Film, Spike Jonze, Spike Jonze, Klein Bukarest Film

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SEHEN, HÖREN, DENKEN, UND DANN: SCHREIBEN M

eike Hauck wurde in Freiburg geboren und studierte Theaterwissenschaft und Journalistik, wechselte dann aber ins Fach Szenisches Schreiben an der UdK in Berlin. Ihre Leidenschaft fürs Reisen führte sie nach Lateinamerika und Vietnam, ihr Talent fürs Schreiben brachte sie nach Chile, Australien und New York, wo sie mit ihren Theaterstücken zu Festivals und Workshops eingeladen war. Ihre Theaterstücke wurden an verschiedenen Bühnen Deutschlands gespielt und teils ins Englische und Spanische übersetzt. Meikes Haucks erster Kinofilm „Pingpong“ wurde mit dem Preis des französischen Komponistenverbandes (Prix SACD) beim Filmfestival in Cannes 2006 für das beste Drehbuch (Co-Autor und Regie: Matthias Luthardt) ausgezeichnet. Außerdem gab es dafür den Förderpreis Deutscher Film für das beste Drehbuch beim Filmfest in München. Im Jahr darauf unternahm Meike erneut einen Ausflug in den Journalismus und schrieb für die FAS. Momentan steht jedoch die Arbeit an Drehbüchern zu verschiedenen Kino- und Fernsehfilmen im Vordergrund, die wichtigsten Projekte sind ein Politthriller über das Rätsel um die Ermordung des Treuhandchefs Rohwedder, eine Tragikomödie für die Regisseurin Bettina Blümner („Prinzessinnenbad“), ein neues Drama für Matthias Luthardt, ein Tatort für Leipzig mit der Besetzung Martin Wuttke und Simone Thomalla. Weitere Tatorte sind in Planung, aber trotz des enormen Pensums bleibt noch Raum für Träume: Meike Hauck möchte mit ihrem Mann, der Komponist ist, eine Oper schreiben – sie das Libretto, er die Musik. Meike erzählt: „Am Film interessiert Meike die Genauigkeit im Erzählen, die Überhöhung der Realität, das Absurde, der Subtext, die Lakonie. Insgesamt interessiert mich die Komik des menschlichen Verhaltens und der Gesellschaft, in der wir leben allgemein. Film sollte entlarven und lieben, Welten eröffnen und phantasieren, aufrütteln und verunsichern. Gegen die Eitelkeit, auf der Suche nach Wahrhaftigkeit. Gegen den kulturellen Verfall und die Verdummung. Für mehr Aufmerksamkeit. Sehen, Hören, Denken. Ich wünsche mir, dass das Arthouse-Kino stärker gefördert wird und dass Film wieder stärker als Kunstform begriffen wird. Figuren wachsen bei mir immer mit der Entwicklung der Geschichte. Am Anfang steht ein Typus, ein Lebensabschnitt, der mich interessiert, eine besondere Situation. Beispielsweise schreibe ich gerade einen Film über eine Frau Mitte Sechzig, die in Rente gehen muss. Dann frage ich mich, wie diese Frau gelebt hat und wie sie auf das, was ihr widerfährt reagiert. Es ist die Summe aller Erfahrungen, die ich einer Figur unterstelle, die sie ausmacht. Dabei beginne ich auch gerne beim Klischee und versuche dann, so weit davon weg zu kommen wie möglich und nötig. Ich lasse mich von meinen Figuren überraschen. Ich hinterfrage sie ständig, inwiefern sie glaubwürdig sind und inwiefern sie exemplarisch sind, inwiefern sie also für etwas stehen, das unsere Gesellschaft kennzeichnet. Ich lasse mich dabei natürlich auch von den Menschen in meinem Umfeld inspirieren, aber immer nur von einzelnen Zügen, die ich an Menschen feststelle, die ich dann neu mische und meinen Figuren zuordne. In diesem Bereich findet ja dann die Fiktion statt. Mich interessieren die Schwächen von Menschen besonders. Beispielsweise, ob jemand rechthaberisch ist oder geltungsbedürftig, stur oder ignorant. Alle Eigenschaften, die eine positive Entwicklung ermöglichen oder eine Katastrophe verursachen können. In diesem Spannungsfeld spielt sich meines Erachtens alles Drama ab.“ Wir haben Meike fotografiert, wie sie „Frühling“, „Lachen“, „Kuss“ und „Liebe“ in Gebärdensprache sagt. Manchmal braucht man eben nicht so viele Worte. Einer der gelungensten Filme mit wenig Worten, findet Meike, ist wahrscheinlich Antonionis „L‘eclisse“. Einen schönen Frühling!

„FIGUREN WACHSEN BEI MIR IMMER MIT DER ENTWICKLUNG DER GESCHICHTE.“

Fotografie: Klas Förster Make-up und Haare: Christa Raqué / Blossom Styling: Bruce Hamilton / FAUDE


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FRÜHLING

KUSS

LIEBE

LACHEN


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NACH OBEN OFFEN VON FRANZISKA NAGY

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enn man aus dem geschäftigen Kurfürstendamm abbiegt in eine der Seitenstraßen hinein, ist er plötzlich tatsächlich da, der sogenannte Charme Charlottenburgs. Stuckstarrende Altbauten, in deren dunklen Tiefen des Parkettbodens und der Flügeltüren kein Ende ist, Cafés, Galerien, Antiquitätenhändler und, natürlich, der Bioladen. Zum nächsten Wochenmarkt sind es immer nur ein paar Schritte. Hier, wo der alte Berliner Westen seinem eigenen Klischee vielleicht am nächsten kommt, führt ein Fahrstuhl direkt hinauf ins Dachgeschoss eines Gründerzeitbaus. Wie eine Ankündigung steht in dem kleinen Flur vor der Wohnungstür von Mischa und Eghard Woeste ein pinkfarbenes Paar Gummistiefel vor einer roten Wand. Man geht durch die Tür – und steht zunächst einmal direkt in der Küche der jungen Familie. Diese Wohnung hat nicht viel zu tun mit dem, was man üblicherweise als ausgebautes Dachgeschoss zu sehen bekommt. Hier stechen keine Velux-Fenster in den leeren Himmel, sondern eine große Fensterfront gibt einen direkten Blick auf die anliegenden Dächer frei. Und auch ein Blick in den Wohnraum hinein macht schnell klar, dass das alles hier etwas anders als der trübe Dachausbaustandard ist. „Wir haben einen DachgeschossRohling gekauft“, sagt Eghard Woeste, der gemeinsam mit Kay Fingerle das Architekturbüro Fingerle & Woeste leitet. „Es war schwierig, überhaupt ein Objekt zu finden, das leer ist. Insofern ist unsere Wahl nicht auf dieses Haus gefallen, sondern auf die Gelegenheit, etwas Leeres zu erwerben und es selbst zu gestalten. Das war für uns ausschlaggebend.“ Die Modedesignerin, der kreative Kopf hinter dem Modelabel „.Smeilinener“, und der Architekt entwarfen ein völlig neues Raumkonzept. In jedem Winkel dieser Wohnung ist nun alles eine Frage der Perspektive. Je nachdem, welche der flexiblen Wände und Türen auf der 90 qm großen Fläche gerade offen oder geschlossen ist, eröffnet sich eine neue Möglichkeit der Betrachtung. „Mir ist es wichtig, dass man immer das Gefühl hat, in der ganzen Wohnung zu sein. Es sind immer zwei Außenwände zu sehen. Du bist nicht in einem Zimmer, sondern in einer größeren Einheit und darin suchst du dir einen Platz.“ Eghard Woeste hatte die Vorstellung, die Zimmer wie Dosen in die Wohnung zu stellen und dieses Konzept farblich zu unterstreichen. So sind die Wände, die Möbel und der Teppich innerhalb dieser Räume jeweils in demselben Ton gehalten. Bordeauxrot im Schlafzimmer, petrolblau im Kinderzimmer, kleegrün im Arbeitszimmer. Nach oben hin sind diese Farbinseln mit sogenannten Skylights ausgestattet. Die Dachfenstervarianten versorgen die Räume großzügig mit Tageslicht. Diese Kapseln, wie Eghard Woeste sie auch nennt, sind wie unterschiedliche Welten, ganz in Farbe getaucht. Die Dinge darin treten

durch die Farbstimmung besonders hervor. So fällt der erste Blick im bordeauxroten Schlafzimmer auf Schuhe im Regal oder ein Buch auf dem Nachttisch. „Eigentlich ist das ein Zwiebelthema“, erklärt Eghard weiter. Die Wände sind verschiebbar. Dadurch entstehen Räume, die beliebig variiert werden können. Umrahmt und miteinander verbunden werden die Farbinseln durch einen Flur, der in einem hellen Grauton gehalten ist und mit seinem Eichenholzboden auch optisch den Rest kontrastiert. Als weiteren Bodenbelag haben sich Mischa und Eghard Woeste für ein aufwendiges Fliesenmuster entschieden, das die Badewanne einrahmt und einen Teil der Küche ausmacht. Die Anregung dazu fanden sie in den typischen spanisch-maurischen Fliesen in Blau und Weiß, den Azulejos. Schließlich hat das Paar ein eigenes Fliesendesign entworfen, basierend auf Dreiecken in Crème, Blau und Beige. „Der spanisch-maurische Umgang mit Keramik hat uns inspiriert, den Charakter unserer Wohnung mit Keramik zu prägen“, erzählt Mischa Woeste. „ In einer meiner Kollektionen habe ich schon einmal ausschließlich mit Dreiecken gearbeitet und somit eine ganz neue Schnittkonstruktion für den menschlichen Körper entwickelt.“

„FARBEN GEHÖREN ZU UNSEREM LEBEN“ Die kräftigen Farben und vielfältigen Materialien gehen jedoch nicht nur auf den Einfluss der Designerin zurück. „Farben gehören zu unserem Leben“, so sagt sie. „Die Farbwahl war sehr intuitiv. In der Gestaltung des Interieurs haben wir uns gegenseitig inspiriert und bereichert.“ Das neuartige Raumkonzept mit seinen ungewöhnlichen Farben haben die beiden ebenfalls gemeinsam mit Kay Fingerle entwickelt. Den Grundriss lieferte Eghard Woeste, der seine Erfahrungen in der Gestaltung von Räumen in das Konzept der gemeinsamen Wohnung einfließen ließ. Wichtig war beiden Gemütlichkeit und Fröhlichkeit, die an jedem Ort zu spüren sein sollen. Die Möglichkeit des Abtrennens und Wiederöffnens durch bewegliche Wände ist flexibel und experimentell zugleich. Verschiedene Lebensbereiche fließen hier ständig ineinander. Die Badewanne steht in der Küche, neben dem Kamin. „Das war für mich ein ganz neues Gefühl. Ich finde es toll!“, erzählt Mischa, für die dieser Gedanke zunächst ungewöhnlich war. Ein magentafarbener Treppenaufgang neben dem Kamin führt auf die Dachterrasse hinauf. Durch die Skylights, die hier ihren Ausgang finden, wird der Blick nicht nur auf das Panorama über Berlin gelenkt, sondern auch wieder zurück in die innen liegenden Farbkapseln. „Ich gehe immer von einer Choreographie aus“, beschreibt Eghard Woeste seinen architektonischen Ansatz. „Das merkt man in dieser Wohnung. Ich möchte Zusammenhänge herstellen, Raumgruppen schaffen

und Abläufe miteinander verketten. Mit meiner Tochter laufe ich immer eine Acht durch Flur und Räume. Das sind Möglichkeiten, die kommen aus einer Bewegung heraus. So ist Architektur nicht statisch, sondern dynamisch.“ Diese Herangehensweise ist typisch für die Arbeitsweise des Architekten und seiner Partnerin Kay Fingerle. Einen Raum neu zu gestalten, ist für ihn und seine Kunden immer wieder eine Herausforderung: „Wir adoptieren Räume seit unserer Kindheit. Der Raum, den wir bewohnen, ist immer schon da. Irgendwann gefällt er uns, wir fühlen uns darin wohl. Aber die Herausforderung besteht darin, Raum neu zu gestalten. Dabei müssen wir herausfinden, was uns gefällt, wo wir uns wohlfühlen. Daraus entsteht dann ein neuer Raum.“ Das Entwerfen und Gestalten seiner eigenen Wohnung vergleicht er mit einer Reise. In seiner Doppelfunktion als Architekt und Privatmensch hatte er die Gelegenheit, sich selbst und seiner Frau in der Zusammenarbeit neu zu begegnen. Auf dieser Reise haben sich Mischa und Eghard Woeste von ihren alten Familienmöbelstücken getrennt. An ihre Stellen traten neue Einbauschränke, die wie alles in der Wohnung selbst entworfen wurden. Mitgereist ist nur ein Schreibtisch, den Mischa in ihrer Anfangszeit in Berlin auf dem Trödelmarkt gekauft hat. Und eine IKEA-Kommode, auf die Tochter Emmi beim Umzug bestanden hat. Erst vor wenigen Monaten ist die Familie hier eingezogen. Einige Fotographien und Gemälde stehen aneinandergereiht auf dem purpurfarbenen Regalsystem im Wohnzimmer. „Mir ist erst hinterher aufgefallen, dass ich mir die Räume immer ohne Bilder vorgestellt habe. Unabsichtlich. Nun muss Platz dafür gefunden werden.“ Am Ende des Rundgangs gelangt man wieder in die Küche. Und dort sagt Eghard Woeste, dass es einen Ort in dieser Wohnung gebe, in den man sich hineinsetzen muss, um wirklich zu verstehen, was es mit diesem Ineinanderfließen der Lebensbereiche auf sich hat, und das ist, natürlich, die Badewanne.

Das Design des Apartments, sein Interieur und die Dachterrasse sind entworfen von Fingerle&Woeste Foto: Kay Fingerle


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KULTURNEWS

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ÜBERLEBENSKAMPF

LIEBESAUS I

LIEBESAUS II

DICHTUNG IST WAHRHEIT

Bei Clemens Meyer hatte man schon damals, als sein Debüt „Als wir träumten“ erschien, das Gefühl: Der will es wirklich wissen. Büchermacher und Bücherleser raunten es wie der am Stammtisch vor seinem trinkfesteren Kumpan die Waffen streckende Mikkerling: Bewundernd, aber auch abgestoßen. Meyer war der einzige, der sich beim Bachmannpreis lautstark dazu bekannte, „den Scheißpreis“ gewinnen zu wollen, weil er ihn schlichtweg brauche – und das, wo es in Klagenfurt verpönt ist, emotionale oder finanzielle Bedürftigkeit zu zeigen. Dass es stimmt und er wirklich weiß, wie ein Hartz-4-ler („Die Nacht, die Lichter“) lebt, aber darüber hinaus ernsthaft wissen will, wie ein Vergewaltiger, ein Guanatanamo-Häftling oder ein Amokläufer ticken, beweist sein neues Buch „Gewalten“. Spätestens hier dürfte Meyers Erfahrungsschatz, von dem er ja reichlich zehrt und der ihm diesen speziellen Vorsprung vor seiner Autorengeneration verschafft hat, aufhören, aber seine Empathie ist erstaunlich. Wie eine Zecke bohrt er sich in die Gehirnwindungen seiner Protagonisten, denen er gleichzeitig sein Clemens-Meyer-Ich wie ein Wirt zur Verfügung stellt. Es ist ein Ringen und jeden Zentimeter Verständnis, das man Randfiguren, Kranken und Perversen entgegenbringen kann. Meyer schmeichelt sich gurrend bei einem Sexualstraftäter ein, fast wie der Profiler im amerikanischen Crimefilm, der in einer von Rauchschwaden durchzogenen Sitzung dem Kindsmörder zum Schluß das Geständnis entreißt. Neben einem Kalender der schlimmsten Übergriffe von Menschen auf Menschen des Jahres 2009 , ist „Gewalten“ aber auch eine Sammlung von zarten Geschichten um das Ringen mit Leben und Tod gleichermaßen. Es endet symbolisch „Draußen vor der Tür“, Meyer hat sich und seinen alten Hund aus der gemeinsamen Wohnung und dem gemeinsamen Leben ausgesperrt und muß seinen Weg, ohne Schlüssel und gewaltsam wie ein Einbrecher, allein zurückfinden. OA

Wann ein Jahr herum ist, merkt man wenn es draußen wieder grün wird oder ein neuer Roman von Philip Roth in den Buchläden liegt. Man weiß schon gar nicht mehr, ob es überhaupt noch als Skandal gilt, dass Roth IMMER noch keinen Nobelpreis hat – oder als ein Segen, jedenfalls für die Leser, angesichts dieser grimmigen Altersproduktivität: Und wenn wir Glück haben, kommt noch sehr sehr lange jedes Frühjahr ein schlankes, brillantes Buch mit einem seelischen Ausnahmezustand als Titel: Letztes Jahr „Empörung“, jetzt nun: „Die Demütigung“. Und, ja: Sex findet wieder statt, nach einer Saison der Enthaltsamkeit. Er wird gehabt, gemacht, vermisst, mit Gerätschaften aufmunitioniert und um Dritte ergänzt, denn es gibt diesmal nicht nur den alten Mann und die wesentlich jüngere Frau, es kommen Umschnalldildos hinzu und andere Frauen. Es ist die Geschichte einer Liebe, jedenfalls der physischen, zwischen einem gewesenen Schauspieler und einer Lesbe, die das eben nicht nur gewesen ist. Darin liegt die Demütigung. Als sie ihn wieder verlässt, für eine Frau, kommt in dieser Kränkung endlich auch der Schauspieler wieder zu sich, was im übrigen kein gutes Ende bedeuten soll. Angefangen hatte es nämlich damit, dass er nicht mehr spielen konnte, einen Zusammenbruch erlitt, nicht einmal seinen Selbstmord hinbekam. Die lesbische Bekannte wird zu seinem Antidepressivum, ein sexuell und auch sonst ruchloses Wesen, das beschlossen hat, zwischendurch eventuell doch einmal einen Mann auszuprobieren. Es ist dann wie immer bei einer sogenannten Amour fou; erst ist alles, was da draußen geschieht, gesagt wird oder herumläuft den beiden egal, dann bricht es hinein und reißt sie auseinander. Ohne zuviel vorwegnehmen zu wollen: Die böse Pointe besteht weniger darin, dass die Frau wieder zu den Frauen findet. Es ist nur so, dass der Zusammenbruch, den der Mann danach erleidet, seinen vorherigen aufhebt – was unter anderem sein Selbstmordproblem löst. Das alles spricht dafür, dass Roth einen bemerkenswert eleganten Alterszynismus kultiviert, den Nobelpreis noch dringlicher verdient hätte, und nach diesem Buch noch weniger bekommen wird. RIP

„Nicht untergehen. Niemals untergehen, es sei denn aus Liebe.“ Der an sich selbst gescheiterte Max entführt mit einer Gruppe desillusionierter Aktivisten die Top-Bankerin Lisa Locust – die böse Fratze des Kapitalismus, die Wurzel allen Übels. Ein Zeichen setzen wollen sie, die da oben mitten ins Herz treffen. Das einzige Herz, das sie treffen, ist das von Max selbst. Nachdem sie die öffentlichkeitsscheue Lisa ins Auto gezerrt haben, erkennt er in ihr seine Jugendliebe. Im maroden Haus seiner Eltern, das seit Jahren leer steht und als Basis der Entführungsaktion dient, erzählen Lisa und Max ihre Geschichte. In einem verworrenen Netz aus Rückblenden erzählt Lukas Hammerstein, Autor mehrere Romane, politischer Feuilletonist, die Geschichte einer Liebe in Gedanken. Die kühle und schlichte Sprache führt uns in die Familien von Max und Lisa, in die Vergangenheit, die beide miteinander haben und in die gesellschaftliche Unsicherheit, in der die vermeintlich Linken zwischen Belanglosigkeit und Sinnlosigkeit schweben. Exkurse in das Vokabular der Vor- und Nachwirtschaftskrise, in die Köpfe gescheiterter Existenzen und die Kritik am Kapitalismus können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in diesem Roman vor allem um eines geht: Um eine traurige Liebe. Die Geschichte zweier Menschen, die sich aus den Augen verloren haben und verlieren wollten, die den Sprung ins gemeinsame Lieben nicht gewagt haben und nun feststellen müssen, dass es zu spät ist. Die Entführung entpuppt sich als Farce: Die Medien interessieren sich nicht für eine gekidnappte Finanzkoryphäe, die anfängliche Ziellosigkeit der Entführer mündet in mangelnden Tatendrang und als sich herausstellt, dass Mrs. Bad als engagierte Kritikerin des globalen Finanzsystems ein zweites Gesicht hat, schlägt die Bedeutungslosigkeit der Aktion mit aller Härte zu. Max will sich ein letztes Mal in die Fluten seiner Kindheit stürzen, in das Wasser, in dem alles angefangen, in dem er Lisa zum ersten Mal geküsst hat. Doch das Becken hinter dem Haus seiner Eltern ist leer. Nur die Erinnerungen an ein verlorenes Leben warten auf seinem Grund. FN

Bei einem Familientreffen in Weimar begegnen sich die drei Geschwister Márika, Hannah und Gabor. Der Anlass: der 100. Geburtstag ihres Vaters, der seit 30 Jahren tot ist. Im Gepäck hat jeder sein eigenes Bild von einem Vater. Joschi Molnár war während des Zweiten Weltkrieges in Buchenwald inhaftiert. Nach seiner Freilassung bleibt er in Deutschland und zeugt drei Kinder mit drei Frauen – die unterschiedlicher nicht sein könnten. Hannah wächst im Schatten eines jüdischen Helden heran und verirrt sich auf der Suche nach ihren Wurzeln in einen israelischen Kibbuz. Gabor hingegen hält grundsätzlich nichts von der angeblich jüdischen Herkunft seines Vaters. Er ist der Überzeugung, dass Joschi seine Geschichte erfunden hat, um sich Entschädigungszahlungen zu erschleichen. Márika hingegen sieht das alles gelassen und bewundert ihren Vater vor allem als Geschichtenerzähler, dessen Erbe sie und ihre Tochter Lily stolz weiterführen. Aus der Perspektive der 16-jährigen Enkelin eines NS-Opfers knüpft Susann Pásztor in ihrem Romandebüt ein Netz aus Lügen, Verstrickungen und der Kunst, die Wahrheit zu verdrängen. Dabei nutzt sie gekonnt die Perspektive eines heutigen Teenagers, um die Themen Erinnerungskultur und Erinnerungslast neu zu verhandeln. Neben dem lakonischen Grundton der mit bitterem Wortwitz der Protagonisten untermalt wird, besitzt der Roman eine entwaffnende Leichtigkeit. Für die Inszenierung dieser absurden Familiengeschichte, die im Gefängnis von Weimar endet, verfügt Susann Pásztor aber auch über ein Repertoire an Ernst und Schwere, um einen Buchenwald-Besuch der anderen Art zu beschreiben. Mit beträchtlichem dramaturgischen Geschick führt sie den Leser immer wieder ganz dicht an die Enthüllung der Wahrheit, um dann doch nur eine weitere Geschichte zu erzählen, die sich um den fabelhaften Lügner Joschi Molnár rankt. Am Ende bleibt das Gefühl, dass diese Familie mehr zusammenhält als die Suche nach der Wahrheit. In diesen wahnwitzigen Geschichten steckt ihre Identität – mögen sie nun geschehen oder erfunden sein. FN

Clemens Meyer: Gewalten. S. Fischer, 223 S. 16,95 €

Philip Roth: Die Demütigung. Hanser, 138 S. 15,90 €

Lukas Hammerstein: Wo wirst du sein. S. Fischer, 256 S. 18,95 €

Susann Pásztor: Ein fabelhafter Lügner. Kiepenheuer und Witsch, 208 S., 17,95 €


AUSGABE 04

MÄRZ/APRIL 2010

FIKTION 33

JAHRGANG 01

KINDISCHE ELTERN

VERFEINDETE FREUNDE

FALSCHER FRIEDEN

SEHNSUCHT NACH REVOLUTION

Über das Paarungsverhalten der eigenen Eltern möchte man eigentlich nicht zuviel wissen. Oder doch? Ein Sohn besucht sein Elternhaus. Dreieinhalb Tage im Jahr verbringt Philip, der seine unkonventionellen Eltern beim Vornamen nennt, in der Villa am See. Bei diesem Besuch wundert er sich besonders über seinen Vater Jakob. Der wohnt inzwischen alleine, von Philips Mutter Iris für den einen oder anderen Liebhaber verlassen. Iris hat Haus und Garten kunsthandwerkelnd mit Tiffanylampen, Keramik und Messingtierchen bestückt. Philip beobachtet die Veränderungen an Haus und Vater mit sorgenvoller Skepsis. Jakob fühlt sich fit und mit über sechzig Jahren im besten Alter. Er hat mit den Frauen abgeschlossen und genießt dennoch zwei zur Auswahl: eine alte Freundin der Mutter ebenso wie die jüngere Alma. Der wortkarge, durchtrainierte Jakob wundert sich über seinen Sohn, der sich mehr für die Exzesse des Vaters als für eigene Abenteuer zu interessieren scheint. Philip, Anfang 20, lebt in Berlin, ist von Beruf Pfleger, und kann, zum Leidwesen seines Vaters, nicht einmal freihändig Radfahren. Forschend versucht Philip seinen Vater und dessen amouröse Verhältnisse zu durchschauen. Obwohl er täglich mit geistig verwirrten Menschen arbeitet, findet Philip im widersprüchlichen Verhalten seines Vaters keinerlei Anhaltspunkt für eine Diagnose. Ob Jakob Drogen nimmt, fragt er sich. Oder ob er hinter der sportlichen Fassade bereits eine Demenz entwickelt? In Kerns Roman ist der Sohn der Spießbürger, während die Eltern auf der Suche nach hedonistischer Freiheit sind, und natürlich geht es um die Frage, wer festgefahrener lebt. Beschwingt und amüsant schildert Björn Kern eine scheinbar verdrehte und trotzdem sehr glaubwürdige Welt, in der die klassischen Rollen von Eltern und Kind vertauscht sind. Humorvoll portraitiert er die skurrile Dynamik zwischen Vater und Sohn, in der sich ein aus der Art geschlagener Generationenkonflikt entfaltet. AW

Ein Ägypter und ein Österreicher lernen sich als junge Männer in einem Stahlwerk kennen. Sarani, angehender Maschinenbaustudent und Freudensprung, weniger gut betucht, später Schriftsteller, erkennen einander als Freunde. Religion sehen sie als eine Zumutung, die als Rechtfertigung des Status Quo herhält, Unterschiede in ihrer Herkunft halten sie für irrelevant. In regem geistigen Austausch reift eine gemeinsame Vision. Beide glauben nicht, dass Politik die wirtschaftliche Ordnung revolutionieren kann. Vielmehr sind sie sicher: eine soziale und gesellschaftliche Reform ist nur durch alternatives Wirtschaften durchzusetzen. Überzeugt, dass man Reformen nicht zu Papier bringen, sondern leben sollte, gründen sie in der Wüste eine genossenschaftlich organisierte Farm. Inmitten der Planung eines großen Festes zu Ehren ihrer Freundschaft und ihres Projektes umkreisen sich die beiden geistig Verbundenen jedoch plötzlich voller Argwohn und Zweifel. Sie haben den Verdacht, vom anderen hintergangen und betrogen worden zu sein. Die zwei Männer verstricken sich vor dem Horizont des Alterns in wachsende Paranoia, Rachephantasien und verzehrenden Hass. In ihrer verzerrten, rückblikkenden Realität dreht sich alles um das unvermeidliche Wiedersehen, bei dem die offene Rechnung endlich beglichen werden soll. Michael Scharang wirft leicht wie im Vorbeigehen die großen philosophischen Fragen auf. Er fragt nach dem richtigen Leben, nach dem Zusammenleben in einer Gesellschaft und der persönlichen Freiheit. Er fragt nach den Grenzen von Verstand und Toleranz, danach, wie aus Offenheit und Freundschaft Hass werden kann. Zwar stehen diese Fragen immer im Raum, drängen sich aber in der aktuellen wirtschaftlichen Lage und seit dem 11. September 2001 besonders auf. Ein kluger Schachzug ist es da, dieses Lehrstück zur Lage der Welt so schön, kurzweilig und komisch zu erzählen, dass man es tatsächlich gerne und optimistisch liest. AW

In den frühen sechziger Jahren, in einer Neubausiedlung in Süddeutschland, sieht eine Gruppe von Kindern einem langen Sommer entgegen. Die Spuren des Krieges hallen noch nach, von der Welt der Erwachsenen hinüber in die der Kinder. Dieser endlose Sommer ist durchwoben von den abenteuerlichen Geschichten des Älteren Bruders, eines begnadeten Erzählers. Nach einem Unfall ist er zunächst ans Bett gefesselt und seine Verletzung scheint wie ein böses Omen auf Schlimmeres zu deuten. In ihrer Siedlung nahe der amerikanischen Kaserne leben mysteriöse Gestalten wie der taube Sittichzüchter Kiki-Mann, der eines Tages einen Mord an einem der Kinder prophezeit. Die seltsamen Begegnungen häufen sich, die Kinder treffen den Mann ohne Gesicht, den blinden Fehlharmoniker und die Huhlenhäusler. Als nach kurzem Verschwinden Sybilles kleine Schwester wieder auftaucht und fortan wie besessen ist, bricht sich das Unheimliche endgültig Bahn. Die Kleine ist plötzlich wahlweise gemein oder schweigt, und niemand kann genau sagen, was sich während ihres Verschwindens ereignet hat. Eines Tages ist das Mädchen wieder fort und die Freunde – den Geschichten des Älteren Bruders nacheifernd – sehen sich gezwungen, selbst Heldenmut zu beweisen. Klein beschreibt den Sommer einer Kindheit in Familien, deren Leben von den Folgen des Krieges bestimmt ist, von der engen Welt in der neuen Siedlung, in deren vermeintlicher Normalität die Nachbarin zur ärgsten Bedrohung für das Familienglück wird. Am Rande der bedrohlichen Erlebnisse der Kinder sind es die Erwachsenen, deren Leben unter der Oberfläche des Alltags umso unheimlicher scheint. Georg Kleins Sprache verwebt die Realität der Erwachsenen mit der phantasievoll-abergläubischen Wahrnehmung eines Kindes. Was er mit ungewöhnlichen Bildern und kunstvollen Perspektivwechseln beschreibt, ist genauso spannend und unheimlich, wie die Lücken, die er lässt. AW

Alles ist ständig in Bewegung, und doch ändert sich nichts. Nikita sucht Russland. Dort reist er mit dem Zug umher und fällt regelmäßig in Ohnmacht. Auf seinen Reisen durchdringen ihn Land und Leute mit ihren Geschichten. Er trifft auf Menschen, die genauso skurril sind wie ihre Art, der eigenen Lebensgeschichte zu begegnen. Es sind die Art Geschichten, die so absurd sind, dass sie wahr sein müssen. Der getriebene und selbstlose Nikita macht sich immer wieder auf, in den Schicksalen anderer die Facetten Russlands zu erkunden. Er trifft aristokratisch anmutende Terroristen, Strumpfverkäuferinnen, die inspiriert von Selbsthilferatgebern dem Kapitalismus mit geradem Rücken entgegenlächeln, Pazifisten, die sich beim FSB vor dem Armee-Einsatz sicher wähnen und heimlich Slavoj Žižek übersetzen. Das Schöne und das Verrückte, Vergangenheit und Gegenwart setzen Nikita stetig mehr zu, und auch seine Freunde – ob Esoteriker oder Radikale – fragen immer drängender: Was suchst du? Auf seiner Suche soll das Schicksal ihn wieder zu seiner Liebe Jasja tragen, die das unbeständige Russland für ein Leben in der geordneten Schweiz an der Seite eines reichen Mannes verließ. Gerade, als er seine Sehnsucht, die allgemeinen Zustände und das Teilhaben am Schicksal anderer kaum noch erträgt, bekommt der ohnmächtige Held Gelegenheit zu Handeln. Plötzlich findet er sich inmitten eines revolutionären Strudels wieder – und steht dem Präsidenten persönlich gegenüber. Findet seine Suche so ein Ende? Dieser Debütroman ist ein ungestümer, doch nachdenklicher Ausflug durch Russland heute, und Nikita bringt uns das näher, was man gern so ungenau als „russische Seele“ bezeichnet, eine romantische Sehnsucht, gebrochen von harscher Realität, getragen von Humor. Mit Nikita ist Russland ein Abenteuer, an jeder Ecke gibt es Schreckliches und Amüsantes zu beobachten, das Profane und das Kuriose trinken Wodka miteinander. Junge und Alte schwanken zwischen Phlegma und Handlungswut. Hier scheint den Menschen schon aus historischer Sicht nur eines gewiss: die nächste Revolution. AW

Björn Kern: Das erotische Talent meines Vaters. C.H. Beck 190 S., 18,95 €

Michael Scharang: Komödie des Alterns. Suhrkamp 253 Seiten, 19,80€

Georg Klein: Roman unserer Kindheit. Rohwolt Verlag 448 S., 22,95 €

Natalja Kljutscharjowa: Endstation Rußland. Suhrkamp nova 185 Seiten, 9,90€


do you read me?! – Magazine und Lektüre der Gegenwart Auguststraße 28

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Deutschland


AUSGABE 4

MÄRZ 2010

FIKTION

JAHRGANG 01

WIE AUSZIEHTUSCHE HENRIETTE GALLUS 1

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4

Ich bin noch nicht mal entlassen von der Station. Das hohe Backsteingebäude liegt in einer Senke neben dem Schweriner See. Die Gänge sind lang, es riecht nach Alkohol und Plastiktassen aus dem Kindergarten, in denen der Kakao eine gräuliche Farbe angenommen hat und sich Haut wie ein Spinnennetz auf der Oberfläche spannt. Ich sitze beschämt neben meiner Mutter, die auf einem der Stühle des Sanatoriums ausharrt, als wäre schon das eine Zumutung. Es hängt dieser Sonntagsausflugsgeruch an ihr, nach Handcreme, die einfach nicht in die Haut einzieht, und Bananen. Darunter liegt im Standby der Geruch nach neuen Autopolstern. Ich muss würgen. Ich träume immerfort von kranken Kindern. Ein Junge verliert seinen Kopf, einfach so. Ich habe Schwierigkeiten damit, offene Messer auf einem großen Tisch zu sehen, ich fürchte mich vor der Lauffläche eines Schlittschuhs und Gemüseschälern in Verbindung mit praller Oberschenkelhaut beim Anwinkeln der Beine. Ich stelle mir das Fleisch in einer Fingerkuppe vor, das bei der Berührung mit einer Tischplatte zusammengedrückt wird und halte meine eigenen Hände nicht aus. Das Zimmer des Arztes ist groß, eine ledergepolsterte Tür, wie die zum Büro eines Direktors, schließt hinter mir. Große Fenster lassen einen Blick auf den grünen Park zu. Ich sehe mich im Bademantel unter einer Weide sitzen. „Ihre Eltern sind zusammen? Und beide leben noch?“ Ich sehe mich von der Bank aufstehen. In der Manteltasche habe ich eine Schlange aus Trinkhalmen von Apfelsaftpäckchen zusammengekokelt. Ich nicke. Die Haut des Arztes ist von rosigen Adern durchzogen, die auf seiner Nase satt und lila wuchern. Ich binde die Trinkhalmschlange um einen Ast. Er beißt sich ständig auf die Unterlippe, die im Gegensatz zur fehlenden Oberlippe ein praller Wulst ist. Ich binde eine Schlaufe und lasse sie einige Minuten im Mecklenburger Wind schlingern, es riecht leicht nach Jauche und Ernte. Ich denke an die Schlittschuhsohle. „Und Ihre Geschwister, die sind gesund?“ Ich stecke meinen Kopf durch die Schlinge. Ich schaue mir zu, wie ich in dem saftig grünen Garten in dem verwaschenen blauen Bademantel meines Vaters, den, den er nach der ersten Knieoperation trug, an der Weide hänge und mich selbst ein wenig im Mecklenburger Wind wehen lasse. Ich bringe seine bis zum Platzen ausgestopfte Lippe mit dem Brieföffner auf seinem Tisch in Verbindung. Bei der Durchführung des Tests werden Testplatten verwendet. Eine Testplatte besteht aus 78 kleinen Näpfen, in denen Hirnmasse auf dem Trägermaterial fixiert wird. Wenn Antikörper vorliegen, heften diese sich an die Moleküle einer Indikatorflüssigkeit. Nach weiteren Arbeitsschritten verbleibt in den Näpfen eine glasklare oder gefärbte Flüssigkeit. Mein Test fällt negativ aus. Ich nehme meinen Kopf aus der Plastikschlinge und forme daraus einen Pudel. Dann springe ich auf den Rücken einer Heidschnucke und lasse mich einmal durch den Park tragen. Ich darf gehen. Für einen Moment komme ich mir sehr aufrecht vor. Ich sitze auf dem Beifahrersitz des Autos meiner Mutter. „Hab ich mir doch gedacht, dass du nicht sowas hast. Du musst deinem Magen nur regelmäßig etwas anbieten.“

Alle Sätze, die mir im Kopf sind, aus Filmen und Büchern, findest du zu wenig originell. Du findest, man muss sich Mühe geben oder schweigen. Du spinnst neue Dinge aus alten Worten. Ich habe wenig davon, am Anfang. Du nimmst mir das Sprechen aus dem Mund und legst es in deinen. „Du musst jetzt nichts sagen“, sagst du. Ich habe keinen Einwand, dein Mund ist der schönere von uns beiden.

Ich bin am Boden festgeschraubt. Mit Schellen über den Füßen. Eins. Zwei. Wie aufgezogen drehst du dich um mich. Ich komme nur langsam hinterher. Drei. Vier. Du scheinst ein Kinderspiel zu meinen, aber ich kann mich an nichts erinnern, das länger her ist als dieser Moment. Der Moment, in dem sich alles verstellt und sich eine erahnte, befürchtete Wirklichkeit wie eine exakte Kopie auf das Jetzt legt. Das passiert, wenn sich etwas ändert. Und dann fehlt die Erinnerung an alles vorher, es gibt dann nur Momente in Einkaufsmärkten, Vorschulen, Krankenhäusern, Kuhställen. Es ist alles bereitet. Es fehlt: das Schweben über dem Boden, dein Gesicht in meiner Armbeuge; es fehlt der Ort, an dem wir uns trafen, der Blick in eine Tasse Tee mit Milch in deiner Hand, der Geschmack einer Auster, „schmeckt nach Zuhause“, an das Brüllen von Wind in unseren Ohren, als wir auf der Flucht vor der Flut waren; mein Bruder mit dem Kind, den Rücken zu uns, auf der Brücke. Und mir fehlt ein Zeuge für das Geschehen, ein Stempel auf dem Deckblatt, mein kleines, blaues Fahrrad aus dem Kofferraum meiner Großeltern, bis zu den Briefkästen und zurück. Jedes Foto von mir, im Matsch hockend, die Haare ungekämmt, macht mich traurig. Keine Erinnerungen an die erste raue Zunge von Walnüssen, an das erste Mal deine Hand, an die Stelle des Grabes meines Vogels unter dem Apfelbaum, wo war das, irgendwo an der Grenze des Gartens. Der zerbrochene Baum, stranguliert mit der Hundekette, angebunden an einen Traktor. Wie Büchsen am Hochzeitsauto meines Bruders.

In meinem Haus ist das Sterben. Du willst das nicht sehen und weil du sagst: „Ich werde dich nicht wie eine Patientin behandeln“, glaube ich irgendwann selbst, dass roter Samt meine Wand bespannt, kein Blut unter den Fingernägeln. Du siehst auf jedem Rot immer das Weiß. Und manchmal möchte ich mit der Feder zustechen, damit es dort hineinläuft, wie Ausziehtusche. Aber ich kann meine Feder nicht gegen dich erheben. Du hältst meine Hände zu fest.

Ich übe das Wohnen in deinen Räumen. Sie sind nicht gemütlich bestuhlt. Wenn du das Haus verlässt, dann bleibt nur eine Kulisse übrig, du nimmst jede Wärme. Jemand drückt die Stopp-Taste. Wenn du wiederkommst, läuft das Bild weiter, als wäre keine Minute vergangen. Ich kann über dich keine Geschichten erzählen, weil du nicht gehst. Keine Kristallisation. Immerfort versuche ich aus deiner Wohnung zu fliehen, aber du lässt mich nicht. „Ich packe meinen Koffer und ich packe hinein: ein Stoppschild“, sage ich auf einer Autofahrt in den Harz. Du sagst ganz unbeirrt: „Ich packe meinen Koffer und ich packe hinein: ein Stoppschild, ein Haus.“ Ich bin so erschrocken, dass ich in der nächsten Runde das Stoppschild vergesse. Immer wenn du seine Sätze sagst, dann übe ich die Flucht nach vorn. Ich packe alles ein, ich will nicht wieder zurückmüssen. Ich packe alles, sogar die kleine weiße Tasse mit den Strohblumen, die du mir im Mauerpark gekauft hast. Über uns schwebt immer eine Wolke, die aussieht wie Marlon Brando. Du singst ständig Lieder. Große Lieder. Und du meinst mich damit. Du meinst immer mich. Jetzt sind mir die Bilder zu groß. Du bist ein anderer.

3 Wir gehen zusammen zur Kirche. Mein Bruder zu meiner Linken, du zur Rechten, meine Schwester fehlt. Meine Mutter geht weiter vorn, sie hat eine andere Familie, das wird mir hier klar. Auch sie hat den Bruder zur Seite, zur Rechten zwar, mein Vater sieht falsch ins Bild geklebt aus. Seine Jacke scheint zu groß, wie bei einem Kind, das nicht glauben kann, dort irgendwann hineinzupassen und jeden Tag im Spiegel ungeduldig die Ausmaße seiner Schultern prüft. Alle sehen klein aus, heute. Nur, dass ich das Weinen nicht teilen kann, das scheint mir vergrößert sichtbar zu sein. Ich werfe keine Blume auf den Sarg. Dein Name wurde auf der Schleife vergessen, niemand hat von dir gewusst, trotzdem: du gehörst hier hin; mehr als ich. Ein Brief in meinen Fingern, die Ecken biegen sich vom Schweiß meiner Hand. „Manche werfen auch Schmuck hinein“, sagt mein Vater an einer Autobahnraststätte. Ich habe aber keinen, nur ein paar lose Erinnerungen. Ich erinnere mich an ein Lachen, nicht an ihr Lachen, nur an einmal Lachen, bei einem Brettspiel. An eine Schürze, violett mit weißen Blumen, sie schien sie immer zu tragen. An große Brillengläser und pergamentene Haut über den Wangen und auf den Händen. Die Hände meiner Mutter bekomme ich nicht zu fassen an dem Tag als ihre Mutter stirbt, ich bekomme den Tag nicht zu fassen. Die Ähnlichkeit der Papierhäute macht mir Angst und ich denke an eine Beerdigung die kommen wird. Wie viel Tod passt ins Leben. Und kann dann noch Platz sein.

5 Es gibt eine Zerstreuung der Familie, die dich besorgt. Du bist erzürnt, als deine Schwester sich entschließt, weitere Jahre fortzubleiben. „Dann bin ich allein verantwortlich“, sagst du. Wie in einem Trickfilm verwandeln sich die Worte in blassrosane Kirschblüten im Frühling und werden bei der Hochzeit deiner Schwester über den Weißensee geweht. Ich denke an ein tanzendes, weißes Taschentuch in einem Film, als du sagst, dass du die Schönheit der Welt nicht aushältst. Du bist verwandelt, manchmal, zeigst ein seltsames Verständnis für die Dinge, die mir fern sind und fremd. Auf eine seltsame Art berührst du Geschirr auf einem Tisch, deine Hände scheinen die Verlängerung deines Verstandes. Der Tisch ist aus einem nicht enden wollenden Stück Holz, oval, die Farbe von frischen Walnüssen. Deine Hände streichen über die fehlerlos geschliffene Oberfläche und ich bilde mir ein zu wissen, wie du dich erinnerst: Einmal im Spätsommer hattest du diesen Tisch geschliffen, die Platte war schwer, zwei ausgewachsene Männer konnten sie nicht tragen, ihr hattet es dennoch geschafft; abends hattet ihr Apfelrohsaft getrunken und in einer Blechtonne geräucherte Forellen gegessen, die himmlisch schmeckten und nun hast du den Wunsch, genau diese Forellen auch mit mir zu essen, am liebsten nach der Arbeit an etwas, das ebenfalls schwer ist. Du hast einen Sinn für Handwerk, den ich nicht teile, du bist mir nicht klar in deiner Art, die Dinge stofflich zu erleben, intensiv und unmittelbar. Ich habe das Gefühl eines raffinierten Empfindens.

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ARROGANT BASTARD

AUSGABE 4

MÄRZ 2010

JAHRGANG 01

ARROGANT BASTARD

W

er ist denn ihr Agent?« ist wohl die schmerzhafteste Frage, die angehenden Schriftstellern in New York und Hollywood auf Partys gestellt wird. Sie ist schmerzhaft, da die Antwort üblicherweise »Ich habe noch keinen« lautet. Gewöhnlich endet die Unterhaltung kurz darauf. Auch Berlin ist gerammelt voll von agentenlosen, aufstrebenden Schriftstellern, Deutschen und Engländern und Amerikanern, die sich abhetzen, den ultimativen Roman oder das ultimative Drehbuch über das Leben in Berlin fertigzustellen, bevor ihnen Helene Hegemann zuvorkommt. Sie würden alles tun, um veröffentlicht zu werden, oder zumindest die Aufmerksamkeit von Agenten und Verlagen auf sich zu ziehen. Heutzutage verkaufen sie sich sogar auf Buchmessen. Dieses Verhalten ist doch sehr merkwürdig, sind Buchmessen doch ein Fest des gedruckten Wortes und nicht etwa eine Episode von »Deutschland sucht den Superautor«. Ich selbst bin auch schon ungeladen zur Buchmesse gefahren; letztes Jahr bin ich wie ein Staatenloser auf der Leipziger Buchmesse rumgeirrt. Ich hatte einen Buchvertrag, aber das Buch war noch nicht erschienen. Ich dachte, es wäre sicher lustig, meinen Verleger zu treffen. Als es dann für ganze zehn Minuten soweit war, begann die Vorstellung, einen bedeutenden Eindruck bei den PR-Leuten und überarbeiteten Herausgebern an den Verlagsständen zu machen, die üblicherweise mit dicht aufeinanderfolgenden Terminen mit den Mächtigen des Verlagswesens beladen sind, ziemlich … naiv zu wirken. Ich kann mir das Schicksal einer Person, die

von der Straße mit dem Manuskript unterm Arm hereinmarschiert, nicht vorstellen, obwohl viele es genau so machen. Ich glaube, die werden als Sicherheitsrisiko eingestuft. In der Tat sollte man die armen Verleger auf der Buchmesse bedauern: diese anonymen Seelenzermalmer, die ansonsten ihre Absagen immer per Email oder per Post erledigen, sind plötzlich öffentlich ausgestellt. Ich war auch mal in der Verlagsbranche tätig, und der schlimmste Tag meiner Karriere war die Zeit, zu der ich dummerweise beschlossen hatte, die New York Book Expo zu besuchen. Ich vertrat einen Autor, der einen sehr guten Roman über Philadelphia, USA geschrieben hatte. Es war ein gutes Buch, aber gerade, als ich es den Verlegern schmackhaft machen wollte, erschienen »DIE KORREKTUREN« von Jonathan Franzen. Dieses bot alles, was das Buch meines Autors bot, nur viel besser, und machte somit jegliche Chancen für das Philadelphia-Buch meines Autors zunichte. Aber mein Autor weigerte sich, aufzugeben. Am Telefon jammerte er mit nasaler, mädchenhafter Stimme, wie hart er an dem Buch gearbeitet habe. Als er ankündigte, zur New York Book Expo zu kommen, um sich für die Verleger »bereitzuhalten«, flehte ich ihn an, sich zunächst mit mir zu treffen. Ich erspähte ihn im Gastronomiebereich des enormen blauverglasten Jacob Javits Convention Center, das ein bisschen wie das Berliner Messezentrum aussieht, bis auf die Tatsache, dass es am Hudson River liegt. Er war angezogen wie Robert de Niro in Taxi Driver, nur ohne Iro: Flecktarnanzug, Turnschuhe, ein teigiges Gesicht und fettige Haare, matte Augen, die müde und krank aussahen. Er be-

stand darauf, dass ich ihm einen überteuerten Cheeseburger kaufte, obwohl ich selbst pleite war, während er klagte, dass »Idioten« wie Stephen King Millionenauflagen verkauften, während er es noch nicht mal schaffte, veröffentlicht zu werden. Er fing an zu weinen. Ich versuchte, ihn zu trösten, aber schließlich musste ich ins Büro zurück. Ich bat ihn auch, niemandem zu sagen, ich sei sein Agent. Es war sowieso egal – meines Wissens redete niemand mit ihm. Er war 200 Meilen umsonst gereist, nur um Bücherstände anzuglotzen, mit denen die Verleger sich gegenseitig bewarben. Auf seine Art und Weise war das wohl ein gerechtes Endergebnis. Buchmessen wie Leipzig und Frankfurt sind Feste des bereits gedruckten Wortes, ein öffentlicher Ort, um private Geschäfte abzuschließen. Wenn angehende Schriftsteller wüssten, wie selten eine Buchveröffentlichung mit Ruhm und Ehre einhergeht, würden sie wahrscheinlich nicht so viel schreiben, sondern einfach ihre Jobs machen, oder sich bessere Jobs besorgen, anstatt absichtlich zu kellnern, um mehr Zeit für das Schreiben furchtbarer Romane zu haben. Vielleicht sollten die Verlage sogar für ein paar Jahre ein Moratorium auf neue Romane verhängen, so dass wir Leser mal all das aufholen können, was wir in letzter Zeit verpasst haben. Wie dem auch sei, ich fahre dieses Jahr nicht nach Leipzig. Ich bin nicht eingeladen. Von Ralph Martin Aus dem Englischen von Elvira Veselinovic


AUSGABE 4

MÄRZ 2010

JAHRGANG 01

TEX RUBINOWITZ

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ENGLISH TRANSLATIONS

AUSGABE 04

ARROGANT LIKE INDIA BASTARD INK BY RALPH MARTIN

BY HENRIETTE GALLUS

“Who’s your agent?” is the most painful question that aspiring writers in New York and Hollywood are asked at parties. It is painful because the answer is usually “I don’t have one yet.” The conversation usually ends shortly thereafter. Berlin, too, is chock full of agent-less, aspiring writers, German and English and American, racing to complete the ultimate novel or screenplay of life in Berlin before the next Helene Hegemann beats them to it. They will do anything to get published, or at least get the attention of agents and publishers. These days, they even go to sell themselves at Book Fairs. This is very strange behavior; Book Fairs are celebrations of the Printed Word, not an episode of Deutschland sucht den Superautor. I am guilty of book-fair crashing myself; last year I wandered around the Leipzig Book Fair as a kind of stateless person. I had a book under contract, but it hadn’t been published yet. I thought it would be great fun to meet with my publisher. When I did, for ten minutes, the notion of making a meaningful impression on the public relations people and overworked editors who sit in company booths, usually with backto-back appointments with powerful people in the business, started to seem rather... naive. I cannot imagine the fate of a person walking in off the street with his manuscript under his arm, though many do. I think they are classified as security threats. Indeed, pity the poor publishers at the Book Fair: these anonymous crushers of souls, who usually do their rejecting of authors via email or post, are now on display, in public. I used to be a publishing person myself, and the worst day I ever had was the time I stupidly decided to attend the New York Book Expo. I was representing an author who’d written a very good novel about Philadelphia, USA. It was a good book, but as I was trying to sell it to publishers, Jonathan Franzen’s THE CORRECTIONS appeared. It did everything my author’s book did, but much better, canceling the chances that my author’s Philadelphia book would ever attract any interest. But my author refused to give up. On the phone, his voice was nasal and girlish as he complained about how hard he’d worked on the book. When he announced he was coming to the New York Book Expo to “put himself out there” for publishers, I begged him to meet with me there first. At the Food Court of the enormous blue-glass Jacob Javits Convention Center, which is sort of like the Berlin Messezentrum except located on the Hudson River, I spied him. He was dressed like Robert DeNiro in Taxi Driver, without the Mohawk: military fatigues, sneakers, a pasty face and greasy hair, droopy eyes that looked tired and diseased. He insisted I buy him an overpriced cheeseburger, though I was broke, while he complained that “idiots” like Stephen King sold millions of books while he couldn’t even get published. He started to cry. I tried to console him; but eventually I had to get back to the office. I also told him not to tell people I was his agent. It didn’t matter; no one, to my knowledge, talked to him. He had traveled 200 miles for nothing, to gawk at the stands of books publishers put up to advertise to each other. This was, in its way, a just outcome. Book Fairs like Leipzig and Frankfurt are celebrations of the already-printed word, a public place to make private deals. If aspiring writers knew how rarely publishing a book actually translates to Fame and Fortune, perhaps they wouldn’t write so much and would just do their jobs, or get better jobs instead of intentionally working in cafés so that they have time to write terrible novels. Maybe publishers can even announce a moratorium on new novels for a few years, so we readers can all catch up on all the stuff we missed recently. In any case, I’m not going to Leipzig this year. I’m not invited.

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I haven’t even been discharged from the station yet. The tall brick building stands in a swale beside lake Schwerin. The hallways are long; it smells of alcohol and the plastic cups from the kindergarten, in which cocoa has taken on a grayish color that spans the surface like a spider web. I sit next to my mother, ashamed. She’s sitting on one of the sanatorium chairs, as if this already were an imposition. There is an air of a Sunday getaway about her. She smells of hand cream, which hasn’t yet been absorbed, and bananas. The new-car smell lingers underneath. I’m forced to gag. I dream evermore of sick children. A boy losses his head, it’s as simple as that. I have difficulty seeing knives barefaced on the big table, I’m afraid of the blades on ice-skates and potato peelers meeting taut skin of the thigh when the leg is bent. I imagine the flesh beneath the fingertip, which compresses when grazing a tabletop, and cannot bear my own hands. The doctor’s room is big. A padded leather door, like that of a dean’s office, closes behind me. Big windows enable a view of a green park. I see myself in a bathrobe, sitting beneath a willow tree.“ Your parents are together? And they’re both alive?” I see myself standing up from the bench. I have a snake made of juice box straws melted together in my jacket pocket. I nod. The doctor’s skin is criss-crossed with rosy veins (3a) mushrooming into a deep purple on his nose. I tie the straw snake around a branch. He constantly bites his lower lip, which, in contrast to its absent upper counterpart, is a sturdy bulge (4). I make a noose and let it blow for a few minutes in the Mecklenburg wind; it smells lightly of harvest and manure. I think of the ice-skate blade.“And your siblings, they’re healthy?” I put my head through the noose. I look down at myself, how I’m hanging from the willow tree in this lush green garden, wearing my father’s washed-out bathrobe, the one he wore after the first knee operation – and let myself blow in the Mecklenburg wind a little. I associate his practically bursting fat lip with the letter opener on his desk. Testing trays are used during the execution of the test. A test tray consists of 78 little bowls in which brain matter is fixed on a substrate. If antibodies are present, they attach to molecules of an indicator liquid. After further steps in the procedure, the liquid in the bowls is either clear or is colored. My test turns out negative. I take my head out of the plastic noose and make it into a poodle. Then I jump on the back of a wild ram and let it take me once around the park. I am allowed to go. For a moment I have the impression of being very upright. I sit in the passenger seat of my mother’s car. “I just knew that you don’t have something like that. You just need to give your stomach something more regularly.” Death is inside my house. You don’t want to see it and since you say, “I won’t treat you like a patient,” I even eventually believe that red velvet spans my walls, no blood under the fingernails. You always see the white in every red. And sometimes I want to pierce with a feather so that it all runs in there like India ink. But I cannot raise my feather against you. You’re holding my hands too tightly.

We walk to church together. My brother’s on my left, you’re on my right, my sister’s missing. My mother walks ahead. She has another family; that’s clear to me here. She also has her brother at her side, the right side in fact. My father looks wrongly pasted in the picture. His jacket seems to be too big, like a child that cannot yet believe that he will one day fit into it, and impatiently checks his shoulder growth everyday in the mirror. Everybody looks small today. Only the fact that I can’t join in the crying seems to me evident in an amplified way. I don’t throw a flower on the coffin. Your name was forgotten on the tie, nobody knew of you. Nevertheless, you belong here; more than I do. A letter in my fingertips, the corners bend from the sweat on my hand. “Some also throw in jewelry,” says my father at a highway rest stop. I have none though, just a few incoherent memories. I remember a laugh, not her laugh, just a onetime laugh during a board game. An apron, violet with white flowers, which she seemed to always wear. I remember the big lenses of her glasses and the parchment-like skin that hung over her cheeks and hands. I cannot hold the hands of my mother on the day her mother dies. I cannot get hold of that day. The similarity of the paper skin scares me and I think of the funeral that will follow. How much room for death is there in life. And can there still be room.

2 You find all the sentences from films and books that I have in my head too unoriginal. You think one should either make and effort or remain silent. You spin new things out of old words. I get little from that in the beginning. You take the talk out of my mouth and place it in yours. “You don’t have to say anything now,” you say. I have no objection; your mouth is the prettier one of us two.

By Ralph Martin I practice living in your rooms. They aren’t comfortably furnished. When you leave the house, the only thing that remains is the setting; you take all the warmth. Somebody presses the stop button. When you return, the picture continues as if not a moment had gone by. I can’t tell any stories about you because you don’t go. No crystallization. I continue to try to flee your apartment but you don’t let me. “I pack my suitcase and I pack in a stop sign,” I say during a drive in the Harz. You say completely determined, “I pack my suitcase and I pack in a stop sign, a house.” I’m so stunned that I forget about the stop sign in the next round. Whenever you say his sentences I practice fleeing forward. I pack everything up; I don’t want to have to come back. I pack everything, even the little white cups with the Immortelles that you bought me in Mauerpark. A cloud always hovers over us that looks like Marlon Brando. You constantly sing songs. Great songs. And you’re talking about me. You always mean me. Now I find the images too great. You are another.

4 I am bolted to the floor, with cuffs around my feet. One. Two. You wrap yourself around me as if you were wound up. I can hardly follow. Three. Four. You seem to be playing a children’s game, but I can’t remember anything longer than this moment. The moment in which everything is displaced and a hinted, feared reality embeds itself as an exact copy on the now. That happens when something changes. And then the memory of everything before disappears. Then there are only moments in supermarkets, elementary schools, hospitals, cow stalls. Everything is prepared. What’s missing: the floating above the floor, your face in my elbow; the place where we used to meet is missing, the look into a cup of tea with milk in your hand, the taste of an oyster, “like home”, the bellow of the wind in our ears when we escaped from the flood; my brother with the child on the bridge, his back to us. And a witness of everything that has happened is missing for me, a notary seal on the cover. My small blue bike from my grandparents’ trunk, to the mailbox and back. Each photo of me squatting in the mud, my hair unkempt, makes me sad. No memories of the first raw tongue from walnuts, of the first time your hand. Of my bird’s grave under the apple tree, where was that, somewhere at the edge of the garden. The broken tree, strangled by the dog leash, bound to the tractor like the cans bound to the car on my brother’s wedding day. 5 There is a scattering of the family that worries you. You are enraged when your sister decides to stay away for further years. “Then I alone am responsible,” you say. The words transform into pale pink cherry blossoms in spring as in a cartoon and are blown over the Weißensee at your sister’s wedding. I think of a dancing white handkerchief in a movie when you say that you can’t bear the beauty of the world. You are transformed; sometimes you show a strange understanding of things which are foreign and far away to me. You touch the china on a table in a strange way; your hands appear to be extensions of your reason. The table is made of a piece of wood which doesn’t want to end, oval, the color of fresh walnuts. Your hands pet the flawlessly smooth surface and I imagine myself knowing how you remember the time in late summer when you sanded down the table. The surface was heavy. Two grown men couldn’t carry it, but you did it somehow. In the evening you drank apple juice and ate trout smoked in a metal drum, which tasted heavenly. And now you wish to eat exactly those trout with me, ideally after work atop something just as heavy. You have a good sense of craftsmanship which I lack. It isn’t clear to me the way you experience things materially, intensive and immediate. I have the feeling of a refined sensation. Translated from German by Michael Ladner

MÄRZ/APRIL 2010

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Die heilige Kuh Information schlachten Information ist nicht da, wo sie hingehÜrt. Wer lange sucht, findet oft trotzdem nichts. Oder Lßgen. Um weiter zu kommen, mßssen wir umdenken. Und mit einigen Vorurteilen aufräumen.

Her mit der Informationsflut

Weg mit Ampeln

Erbsen zählen macht sexy

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