TRAFFIC News to-go #34

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Ausgabe N°34 • November 2013 • Jahrgang 5 • trafficnewstogo.de

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CHAPTER XXVII

DEUTSCHLAND EINIG MERKEL-LAND

ZEITGESCHEHEN S. 6 FEUILLETON S. 7

DER FLINKE WEGGEFÄHRTE: VON WAYMATE UND ANDEREN START-UPS EXPOSING THE INVISIBLE S. 9

WETTER S. 10

DUNKLE SCHATTEN SICHTBAR MACHEN

EIN ENGLISCHER GARTEN IN VIER JAHRESZEITEN: MÜNCHEN, BERLIN, PAWLOWSK, PALERMO SPORT S.11

CRITICAL MASS: UNGLEICHHEIT ODER GLEICHHEIT 8 SEITEN S.13

CONTEMPORARY FOOD LAB S.21

PSALM – ORDINARIUS SPIRITUS

DIE ZUTATEN ZU JEDEM ABENDMAHL VON MALIN ELMLID, MICHAEL HOFFMANN, VOM EINFACHEN DAS GUTE UND MARKTHALLE NEUN

REISEN S.26

SAN FRANCISCO SUCHT DEN NEUEN KULINARISCHEN MESSIAS: DANNY BOWIEN, MELISSA PERELLO, DOMINIQUE CRENN ODER COREY LEE? LITERATUR S.28 ENGLISH APPENDIX S. 30

7 BÜCHER LOSE ARROGANT BASTARD

FREE PRESS!

NEWS TO–GO

TRAFFIC N




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Contributors

Ausgabe N°34 • November 2013 • Jahrgang 5 • trafficnewstogo.de

CONTRIBUTORS

PATRICK JENDRUSCH

SABINE TELLER

STEFAN ELFENBEIN

Der in Berlin lebende Fotograf Patrick Jendrusch studierte in Rom klassische Malerei und in Maastricht an der Academie Beeldende Kunsten Visuelle Kommunikation. Seine Fotografie zeichnet sich durch die Symbiose scheinbarer Widersprüche wie Symmetrie und Wildnis, Dunkelheit und Wärme, Stärke und Zerbrechlichkeit aus. Neben der Malerei findet der junge Fotograf seine Inspirationen in Filmen wie denen von David Lynch oder Lars von Trier.

Sabine Teller arbeitet als Kommunikationsberaterin. Nach dem Studium der politischen Soziologie war sie zunächst als Nachrichtenjournalistin tätig. Danach wechselte Sabine die Seite des Schreibtisches und fing an, für Wirtschaftsunternehmen zu arbeiten. Als Pressesprecherin war sie für zwei Wirtschaftsverbände in Berlin tätig. Außerdem arbeitete sie als Senior Manager Public Relations bei Deutschlands zweitgrößter Fluggesellschaft airberlin. In ihrer Freizeit geht sie mit Kamera auf Reisen.

Deutscher und Amerikaner, Wohnsitz in New York und Berlin, Politikwissenschaftler, Restaurantkritiker und Food-Journalist. Stefan Elfenbein schaut in die Psyche einer Stadt, indem er dort essen geht. Diesmal hat er sich San Francisco vorgeknöpft. Erst der Dot-com-Boom, Silicon Valley, dann die Blase, der teilweise Zusammenbruch der Neue-Medien-Industrie. Nun ein neuer Frühling, eine neue Lockerheit, auch auf den Tellern. Beim Lesen lief uns das Wasser im Mund zusammen.

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VERLEGER Jacques C. Stephens V.i.S.d.P. jacques@trafficnewstogo.de SCHLUSSREDAKTION Frances Marabito, Florian Olbrich florian@trafficnewstogo.de DESIGN Julia Hell für Superbo WEBDESIGN Desisn MITARBEITER DIESER AUSGABE Ludwig Cramer-Klett, Verena Dauerer, Thorsten Denkler, Ralf Diesel, Nikolaus Driessen, Stefan Elfenbein, Malin Elmlid, Michael Hoffmann, Natalie Holmes, Stiina Huhtanen, James Jäger @ Kult Model Agency, Patrick Jendrusch, Bernd Maier, Frances Marabito, Florian Niedermeier, Millicent Nobis, Manuela Rehn, Jörg Reuter, Dr. Inge Schwenger, Jacques C. Stephens, Sabine Teller, Adrian Stanley Thomas, Cornelia Tomerius, Verena van der Heyden @ Nude Agency COVER James Jäger @ Kult Model Agency, Trousers: Julia Heuse, Jacket: Marc Stone, Sweater: Sissi Goetze Shirt: Marc Stone PHOTO PRODUCTION Photography: Patrick Jendrusch, Styling: Stiina Huhtanen, Make-up: Verena van der Heyden @ nude agency, Model: James Jäger @ Kult Model Agency DRUCK D+S Druck und Service GmbH ISSN 1869-943 X



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Zeitgeschehen

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DEUTSCHLAND EINIG MERKEL-LAND

Nach der Bundestagswahl kann Merkel entspannt zusehen, wie SPD und Grüne sich winden. Die Zeit spielt für sie. von Thorsten Denkler ES GIBT DA diese Szene vom Wahlabend. Im Konrad-Adenauer-Haus, der CDUZentrale im alten Berliner Westen, feiern sie, als hätten sie gerade alle olympischen Goldmedaillen auf einmal gewonnen. 42 Prozent, knapp an der absoluten Mehrheit vorbei, wer hätte das gedacht. Von wegen Untergang der Volksparteien. Da stehen sie auf der Bühne, singen Tage wie diese von den Toten Hosen, Generalsekretär Hermann Gröhe schwenkt so ausgelassen, wie das nur ein Niederrheiner kann, ein Deutschlandfähnchen. Die Kanzlerin sieht das und reißt ihm sofort die Fahne aus der Hand. Ihr Gesichtsausdruck sagt eindeutig: So was macht man nicht! Und: Wir wollen es nicht übertreiben! Es ist genau diese Angela Merkel, die die Deutschen als Kanzlerin offenbar behalten wollen. Eine, die weiß, was sich gehört, die selbst im größten Siegesrausch noch ein Gespür für die Grenzen des Anstands hat. Noch ist nicht klar, mit wem Merkel ihre nächste Regierung bilden wird. Mit der SPD oder mit den Grünen. Die Koalitionsverhandlungen mit der SPD laufen ganz gut an. Aber auch sie können scheitern, spätestens am Mitgliederentscheid der SPD über einen Koalitionsvertrag. Und dann müssten wohl doch nochmal die

Grünen neu mit Merkel verhandeln. Aber egal mit wem Merkel demnächst regiert: Sie ist schon jetzt die fleischgewordene große Koalition. Längst orientiert sich die Programmatik ihrer CDU nicht mehr an irgendwelchen konservativ- ideologischen Leitplanken. Merkel hat die Partei so sehr geöffnet, dass sie mit ihren Mindestlöhnen, Mietpreisbremsen und Atomausstiegsbeschlüssen bis tief hinein in ehemals sozialdemokratische, grüne und linke Wählerschichten vordrang. Von der SPD wanderten 920.000 Wähler zur Union, 230.000 von der Linken und 560.000 von den Grünen. Unterschiede sind natürlich erkennbar, Merkels Mindestlohn ist nicht der gesetzliche, flächendeckende Mindestlohn, den SPD und Grüne wollen. Aber zu behaupten, da lägen Welten dazwischen, wäre maßlos übertrieben. Angela Merkel kann in alle Richtungen integrieren. Selbst Anhänger der Grünen und der SPD finden mehrheitlich, dass sie einen guten Job macht. Hinter ihr können sich selbst jene versammeln, die mit CDU und CSU nichts am Hut haben. Deutschland ist einig Merkel-Land. Deshalb hat Merkel inhaltlich auch weder ein Problem mit der SPD noch mit den Grünen. Ihre Politik ist maximal kompatibel – um nicht zu sagen beliebig. Merkel ist die Großmeisterin des Machbaren. Sie regiert, um Probleme

zu lösen. Nicht um das Land zu verändern. Genau dort wird die Grenze sein, die sie SPD und Grünen in einer Koalition zeigen würde. Jedes Problem kann auf verschiedene Weise gelöst werden. Aber alles was in ihren Augen mit Wunschdenken zu tun hat, wird sie abblocken. SPD-Chef Sigmar Gabriel macht es da ganz richtig, wenn er sagt, Steuererhöhungen für Reiche seien kein Selbstzweck. Wenn die Union andere Ideen habe, wie sie ihre eigenen Wahlversprechen und die von der SPD identifizierten Probleme bezahlen könne, bitte. Sein Problem ist eher, wie er diese Flexibilität seinen Mitgliedern erklären will, die einen Koalitionsvertrag am Ende absegnen sollen. Die Grünen dagegen wissen selbst noch nicht, wo sie stehen. Ihre Parteiführung hat sich gerade erst neu sortiert. Einen der Partei immanenten Willen zum Regieren gibt es – anders als in der SPD – nicht. Die Grünen fühlen sich auch in der Opposition ganz wohl. Obwohl auch dort viele wissen, sollten Union und SPD nicht zusammenkommen, dann werden sie sich diese Frage noch einmal völlig neu stellen müssen. Und wenn nicht heute, dann in den kommenden zwei Jahren, in denen die Weichen für künftige Bündnisoptionen gestellt werden. Merkel hat die größte Hürde mit dem Atomausstieg nach Fukushima schon abgeräumt. Mit dem brutalen Pragmatismus der Mer-

kel-Union aber sind die Grünen bisher noch überfordert. Die demonstrative Offenheit selbst knarz-konservativer Unionisten gegenüber den Grünen bringt sie in Erklärungsnot. Jetzt zu kritisieren, dass nur Kohle-Leute von Union und SPD über die Energiewende verhandeln aber selbst nicht regieren wollen, das wirkt schon ein wenig verblendet. Inhaltlich wird sich kaum begründen lassen, weshalb die Grünen es im Zweifel auf Neuwahlen ankommen lassen würden. Neuwahlen sind ohnehin eine schwierige Sache. Merkel versteht es prächtig, den Eindruck zu vermitteln, dass an ihr sicher keine Koalitionsoption scheitern werde. Das mindert die Chancen von SPD und Grünen gestärkt aus Neuwahlen hervorzugehen. Mit anderen Worten: Mit Rot-grün wird es dann wieder nix. Und wenn Merkel keine absolute Mehrheit holt, stehen alle am gleichen Punkt, wie nach dem 22. September. Merkel kann sich also relativ entspannt ansehen, wie sich die SPD in den Koalitionsverhandlungen schlägt und die Grünen ihr Verhältnis zur Union klären. Die Zeit spielt immer für sie.

zeitgeschehen@trafficnewstogo.de


Zeitgeschehen / Feuilleton

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Hänge schon voll sind. Dass sie inzwischen auch noch schwer bewaffnet sind, kommt erschwerend hinzu. Doch in Brasilien findet man immer für alles eine Lösung – jeitinho genannt, der kleine Ausweg. Also schickte man eine Spezialeinheit los, welche die Drogenbosse vertrieb, installierte eine Friedenspolizei, die für Ordnung sorgte – und machte somit den Weg frei für die Immobilienspekulanten, die sich nun um die besten Filetstücke streiten und die Einwohner über den Tisch ziehen. Was hier geschieht, ist Sulukule hoch zehn. Nur, keiner regt sich auf. Die Proteste in Brasilien, die etwa zeitgleich wie die in der Türkei begannen – sie hatten andere Themen.

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Vom Verschwinden und Vergehen

STÄDTEBAU III

Zentrum: neue Hotels und Shoppingcenter, Repliken osmanischer Militärschulen sowie die größte Moschee der Welt. Dafür schlägt er brutale Schneisen in den überwucherten Großstadtdschungel, ohne Rücksicht auf Verluste. Als es dem Gezi-Park an die Bäume ging, waren die Massen alarmiert und gingen auf die Straße. „Wem gehört die Stadt?“ fragte sich auch die Kunst-Biennale in Istanbul. Eine Antwort lautete: den Roma zumindest nicht. 1000 Jahre lang lebten sie in Sulukule, dem legendären Roma-Viertel im Schatten der uralten Stadtmauer, bis die Bagger anrückten und ihre Häuser platt machten – für eine neue Siedlung schicker Townhouses. Gleich mehrere Arbeiten der Biennale beschäftigten sich mit dem Verschwinden von Sulukule – und halten, wenn auch nicht das Viertel, dann zumindest die Erinnerung daran lebendig.

Doch was geschehen kann, wenn es mal so richtig bebt und eine Masse unter Druck gerät, war Ende September vor Pakistan zu beobachten. Ein Erdbeben der Stärke 7,7 hatte nicht nur die üblichen traurigen Folgen –hierbei starben mehr als 300 Menschen –, sondern auch eine völlig überraschende: Vor der Küste ploppte plötzlich eine Insel aus dem Meer, 200 Meter lang, 100 Meter breit, 20 Meter hoch – und die Menschen rieben sich verdutzt die Augen. Unheimlich sah das aus, gruselig. Doch wo sie schon mal da ist, bietet die Insel nun Raum für Visionen: Was tun mit dem neuen Land? Hotels draufsetzen? Shoppingcenter? Moscheen? Doch nein, bauen sollte man hier nicht. Denn die Insel ist leicht entflammbar, an vielen Stellen tritt Methangas aus und wer da ein Streichholz rüberhält, riskiert einen Flächenbrand. Auch wird sie, wie so vieles andere, was spontan unter Druck entstand, von künftigen Wellen bald verschluckt werden.

von Cornelia Tomerius STÄDTEBAU I Istanbul leidet bekanntlich an verschiedenen Beschwerden, vor allem an Verstopfung. Wo man auch hinschaut, überall ist es voll: Die Straßen sind verstopft mit Autos, die Wege mit Menschen, der Bosporus mit Tankern. Kein Wunder, dass Bestsellerautor Dan Brown ausgerechnet hier beschloss, sich in seinem Thriller Inferno dem Problem der Überbevölkerung anzunehmen – dessen Lösung er dann allerdings einzig darin sah, dass ein fieser Krankheitserreger die Bevölkerung dezimiert. Biowaffen waren für Erdogan zwar keine Option, dafür der Bulldozer. Einen neuen Bosporus will er bauen, einen dritten Flughafen, ein paar neue Millionen-Städte am Rand und im

STÄDTEBAU II Neue Hotels braucht auch Rio, wo ja bald die WM, dann Olympia gefeiert wird, und wo Gästezimmer in den letzten Jahren so knapp waren, dass man Geschäftsleute schon in Stundenhotels einquartieren musste – dann zwar tage- statt stundenweise, Pornokanal und Rotlicht exklusive. Die beste Lage für ein neues Hotel ist natürlich die an einem Hang mit Blick auf das Meer, am besten noch auf Zuckerhut oder Corcovado. Solche Berge gibt es zwar reichlich in Rio, doch wohnen hier traditionell die Ärmsten der Armen, seitdem man sie Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Zentrum vertrieb. Spätestens im Vorfeld der sportlichen Großereignisse dürfte man sich nun ganz schön geärgert haben, dass die

START-APPS

Mehr als 21 Millionen Deutsche ­nutzen Smartphones und Apps, ihre Zahl hat sich seit 2010 verdoppelt. von Sabine Teller ZWEI FREUNDE SITZEN eines Abends zusammen und diskutieren über ihre Dienstreisen: Warum muss ich so viele Webseiten besuchen, um alle Möglichkeiten zu finden, von A nach B zu kommen? Bus, Bahn, Flugzeug, sie wollen alles in einem Vergleich, nahtlos, mit genauen Preisen und konkreter Zeit. Die beiden heißen Maxim Nohroudi und Tom Kirschbaum und diskutieren die Zukunft des digitalen Reisens. Am 6. Dezember 2010 gründen sie das Software-Start-Up Waymate. Aus einer ­ Abenddiskussion soll eine ­Geschäftsidee entstehens. Mit einer Website und einer mobilen App wollen sie Menschen helfen, einfacher zu reisen als je zuvor. Dazu gehört nicht nur der Vergleich öffentlicher und privater Verkehrsträger, sondern auch die direkte Ticketbuchung. Ein kühnes Unterfangen, ­ wie sich schon bald herausstellt. Denn die Geschäftspartner sind zahlreich und kompliziert. ­ Besonders die Datenqualität, der Transfer der notwendigen Angaben und die

Verknüpfung aller Mobilitätsdetails erweist sich als äußerst kompliziert, kleinteilig und langwierig. „Wir wussten, dass die Markteintrittshürde verdammt hoch ist“, sagt Waymate-Geschäftsführer Nohroudi heute. „Doch wir waren uns sicher: Die Menschen wollen i­ntegrierte Lösungen.“ Nohroudi gehört zu einer Schar von Neugründern und Entrepreneuren in Deutschland, die das Leben als Angestellte hinter sich lassen und mit Produkten für den digitalen Alltag ihre Zukunft bauen. Dabei überzeugen die jungen Unternehmer durch Lebensnähe und Dienstleistungswille. Bei Outfittery etwa können sich Männer nach einem kurzen Style-Check persönlich zusammengestellte Kleiderpakete nach Hause schicken lassen, ohne den Stress in den üblichen Stores zu haben. Ein Experten-Team von Outfittery wählt aus diversen Mode-Marken die Stücke aus, die nach den Präferenzen der Kunden am besten zu den Männern passen. Das Start-Up Blinkist dagegen hilft Menschen, durch den ­Dschungel großartiger Sachbücher zu finden.

WAYMATE

BLINKIST

„Wir wussten, die Markteintrittshürde verdammt hoch ist“, sagt Waymate-Geschäftsführer Nohroudi.

Das Start-Up Blinkist dagegen hilft Menschen, durch den Dschungel großartiger Sachbücher zu finden.

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Feuilleton

Ausgabe N°34 • November 2013 • Jahrgang 5 • trafficnewstogo.de

von Dr. Inge Schwenger-Holst, Medizinerin, Unternehmerin und Vorsitzende des Vereins call a doc.

What a PIDdy?! Seit 2010 ist in Deutschland die PID – Präimplantationsdiagnostik – erlaubt. Erlaubt allerdings nur unter der Bedingung, dass nachweislich die Gefahr für schwere Stoffwechsel- oder andere genetisch bedingte Erkrankungen bei den Eltern vorliegt. Keinesfalls soll hier das ethische Für und Wider von Embryo- bzw. Stammzellforschung, Klonen oder anderen, durch die forschenden öffentlichen oder industriellen Institute diskutiert werden. Genauso wenig, ob hier Tür und Tor für Designerbabys oder die Entstehung eines rein männlichen Babyuniversums geöffnet wird. Nun gilt es, die Frage stellen zu dürfen, warum Freiheiten, die sehr wohl im Forschungssektor für eine Frankenstein ähnliche Vision gut sind, für Paare, die sich lediglich ein gesundes Kind wünschen, nicht gelten. Vollständig sinnentleert wird die Diskussion, wenn man berücksichtigt, dass die PID ja nur bei Embryonen durchgeführt wird, die nicht im Uterus sondern noch in der Retorte weilen, also Ergebnisse einer oft jahrelangen Odyssee der sogenannten „Kinderwunschpaare“ sind. Eine der PID entsprechende genetische Analyse ist problemlos möglich, sobald das Kind im Uterus weilt, nämlich in Form einer sogenannten Amniozentese, sprich Fruchtwasserspiegelung. Diese Untersuchung, die allen Schwangeren ab dem 40. Lebensjahr und bei familiären Häufungen von Gendefekten empfohlen wird, ist entsprechend einiger Studien mit einer Fehlgeburtsrate von bis zu 5% belegt. Ein Risiko, das nicht zwischen gesundem und krankem Embryo unterscheidet. Und es ist erst bei Schwangeren ab einem Alter von 45 Jahren niedriger, als die Wahrscheinlichkeit z.B. ein Kind mit Down Syndrom zu bekommen. Die Konsequenz der jeweiligen, auf das gleiche Ziel gelenkten Maßnahme: Implantation eines gesunden Embryos bei der PID, (relativ späte) Abtreibung mit allen physischen und psychischen Folgen bei der Schwangeren im Falle einer durch Fruchtwasserspiegelung festgestellten Erbkrankheit. Für weitere Fragen finden Sie Antworten auf www.geburtskanal.de oder Sie wenden sich an die Ärzte und Kliniken von calladoc – www.calladoc.com.

CALL A DOC die 24-7 Hotline für Ihr medizinisches Problem 01805 - 32 13 03 (0,14 EUR/min aus dem Festnetz)

© WAYMATE

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Die ­Seite hilft für deutsche und englische Literatur, gestartet wurde mit ca. 50 Buchtiteln, die nun sukzessive ausgebaut werden. Stagelink ist indes behilflich, die Lieblingsband für Konzerte in die eigene Stadt zu holen. Dies funktioniert über das Klicken des „Will ich sehen“-Buttons auf der Facebook-Fanpage der Band. Mit Hilfe des „Live-Radars“ sieht die Band dann, wo die größte Nachfrage besteht und kann diese Infos für die Konzert- und Tourenplanung nutzen. Entscheidet sich die Band dafür, ein Konzert durchzuführen, kann sie über Stagelink Tickets direkt an ihre Fans verkaufen und auch das Risiko für Künstler und Promoter reduzieren. Die Ideen der Start-Uper ziehen sich durchs ganze Leben. Ob Kinderspielzeug-Tausch, Fremdsprachenpartner, Concierge-Service, EchtzeitWerbung, Rabattaktionen oder Cloud-Lösungen – die Unternehmer v­ereinfachen das Leben mit digitalen Angeboten. Je komplexer die Datenlösungen ausfallen, umso ausgefeiltere Angebote entstehen auch im reinen IT-Support-Bereich. 13 Jahre nach der Dotcom-Krise und dem Crash der ersten Gründungswelle hat sich der Markt für Internetdienste und Software-Entwicklungen erholt und setzt zu einem neuen Entwicklungssprung an. Mit einem jährlichen Wachstum von 10% rechnet der Verband der deutschen Internetwirtschaft (2013). Zwar ist die Zahl derer, die in Deutschland ein Unternehmen gründen, erneut rückläufig. Nach Angaben der Kreditanstalt für Wiederaufbau steigt jedoch die Qualität der Unternehmer. Jeder Zweite gründet nicht aus Not, sondern weil er gezielt eine Geschäftsidee umsetzen möchte. 14 Prozent der Gründer, so die KfW, kommen dabei mit einer Produktneuheit auf den Markt. Das Umfeld für Internetgeschäfte ist dabei denkbar günstig. Jeder zweite Internetnutzer hat laut Branchenverband BITKOM schon einmal Finanztransaktionen im Internet durchgeführt. Die Angst vor unsicheren Zahlungsmethoden sinkt also. Gleichzeitig wächst die Nutzung mobiler Services. Im Schnitt hat jeder SmartphoneS. 7

Besitzer 23 dieser Mini-Programme auf seinem Endgerät und die Nutzung steigt. Genau darum geht es auch Waymate. Nach der Entwicklung von Prototyp und Benutzeroberfläche, Roadmap und Betaphase ist das Unternehmen im April 2013 an den offiziellen App-Start gegangen. Seitdem gilt es, Traffic zu generieren und die Beziehung zu Geschäftspartnern und den Vertrieb auszubauen. „In den USA, in Europa oder Asien haben Unternehmen unmittelbar nach Markeintritt das Wachstum im Fokus“, sagt Tom Kirschbaum, Finanzgeschäftsführer von Waymate. „In Deutschland dagegen wird oft konservativ zunächst die Marktreife des Produkts im Heimatmarkt belegt, bis dann erst eine Skalierung in anderen Ländern möglich erscheint.“ Kirschbaum sieht darin große Hürden, um mit Standorten wie dem Silicon Valley, London oder Tel Aviv wettbewerbsfähig zu sein. Dort werde mutiger und schneller international gedacht. „Zwei Drittel der Zeit wird über Chancen diskutiert und der Geist „Yes, and…“ vorangetrieben. Das „YES, but …“, also Bedenken und Probleme, erhalten nur ein Drittel der Redezeit bei Waymate, berichtet Kirschbaum, der davon schwärmt, welche faszinierende Wirkung diese Grundregel auf die Meetings im Star-Up-Unternehmen hat. Positive Einstellungen braucht die Branche auch. Gerade die Suche nach Wagniskapital gestaltet sich schwierig. Zusammengenommen machen in Deutschland Bankkredite, Beteiligungskapital und öffentliche Zuschüsse innerhalb der ersten 4 Jahre nach Gründung lediglich 6% der Finanzierung von Start-ups aus (BITKOM, 2013). In 2012 machten Wagniskapitalinvestitionen in Deutschland gerade einmal 0,02% des BIP aus. Damit kann sich Deutschland zwar mit den führenden Ländern Europas wie UK (0,04%) vergleichen, liegt allerdings weiterhin hinter den USA, dessen Venture-Kapital-Investitionen in 2012 0,18% der G ­ esamtwirtschaftsleistung betrugen. Insider kritisieren insbesondere den Mangel an

lokalen Investoren für nachfolgende Finanzierungsrunden. Ab einem Volumen von 1,5 Millionen Euro ginge der Blick oftmals ins Ausland, wo der Umgang mit Innovationen in einer anderen Liga spiele. Bestes Beispiel dafür ist der geplante Börsengang von Twitter. Wenngleich der Kurznachrichtendienst anders als Facebook mit geschätzten 583 Millionen Dollar durch Werbung noch kein Geld verdient, taxieren Analysten den Wert von Twitter auf 10 bis 15 Milliarden Dollar. „Investoren waren zuletzt entzückt von allem, was mit ,sozial’ und ,mobil’ zu tun hat“, schrieb die New York Times nach ­Verkündung der Pläne. Waymate freut sich indes über die kleinen Erfolge. Das Unternehmen mit aktuell XX Angestellten, ist als beste Smart Mobility Challenge ausgezeichnet worden. Die Ehrung wurde durch EU-Verkehrskommissar Siim Kalles vorgenommen, was dem Start-up viel Auftrieb verschaffte. Allerdings schützt es nicht vor allen Problemen. Schon mehrfach hat sich die Finanzprüfung bei Waymate angemeldet, was Zeit und Personal bindet. Den Kämmerern stehen Einnahmen und Ausgaben in einem verwunderlichen Verhältnis, das die Start-Uper zu rechtfertigen haben. Denn Geld verdienen sie erst, wenn genügend Kunden über ihre App und ihre Website auch Tickets der verschiedenen Verkehrsmittel kaufen. Dafür braucht es noch Zeit und ein engagiertes Vertriebskonzept, insbesondere auch deshalb, weil sich die Konkurrenz lautstark angekündigt hat. Im Herbst will der Verkehrsriese Deutsche Bahn mit seinem Vergleichsportal Qixxit an den Markt. Von „Tür-zu-Tür“ sollen die Verkehrswege dann vergleichbar sein. Neben Bus, Bahn und Flieger ist ebenso mit Carsharing, Straßenbahnen, Taxen und Leihrädern zu rechnen.

https://deutschestartups.org/wp-content/uploads/2013/07/DSM2013_Praesentation.pdf


Feuilleton

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EXPOSING THE INVISIBLE

© ALLE BILDER VON TECHNICAL TECH

Richtig mit dem Netz umgehen: Die digitalen Info-Aktivisten von Tactical Tech vermitteln Werkzeuge für den investigativen ­Journalismus.

von Verena Dauerer DAS PROJEKT TACTICAL Tech kennzeichnet eine neue Generation an digitalen Machern. Diese Info-Aktivisten sind versiert in der Anwendung digitaler Instrumente zur Informationsbeschaffung und geben diese weiter. Zur Vermittlung ihrer Ergebnisse wissen sie visuelles Storytelling für sich zu gebrauchen. Die Dokumentar-Reihe Exposing the Invisible ist ihr neuester Streich. Marek Tuszynski und Stephanie Hankey r iefen Tactical Tech vor zehn Jahren ins ­ Leben. Marek erklärt: „Damals, in der

Prä-YouTube-Ära, waren wir frustriert, wie wenig auf Themen wie Sicherheit und Privatsphäre geachtet wurde und wie wenig auf kreative Arten, Daten und Informationen darzustellen. Es gab zu wenig Kollaborationen zwischen Techies/Hackern, Aktivisten und Kreativen.“ Tactical Tech haben sich genau darauf spezialisiert und fertigten die in-a-box-Leitfäden und Filme zur digitalen Sicherheit und veranstalten Tech Camps für Aktivisten. Ihr Ziel ist es, das digitale Bewusstsein der User zu schärfen: wie sie mit freier Software umgehen, wie sie im Netz anonym kommunizieren oder wie sie mit Daten und Informationen von Dritten u ­ mgehen.

Mit Exposing the Invisible stellen sie nun die eigene Generation der Macher vor. „Seitdem Information als Werkzeug für politischen Machtgewinn und Missbrauch dient, sind InfoAktivisten wichtig. Heute mehr denn je, da unsere Freiheit mehr durch unseren digitalen Schatten, den wir hinter uns lassen, definiert wird, als durch unsere bewussten Entscheidungen“, sagt Marek Tuszynski. Bei Exposing the Invisible geht es auch um Infografiken und Datenvisualisierungen: komplexe Inhalte darzustellen ist wesentlich für den Info-Aktivismus, und das ganz unabhängig von dem derzeitigen Hype um Big Data, wie Marek feststellt. „Visuelle Argumente waren immer substantiell für

die politische Überzeugung. Durch sie können Aktivisten Leute beeinflussen, die Dinge anders zu sehen.“ Visualisierungen sind auch sehr prominent im ersten Teil der Doku-Serie Exposing the Invisible verteilt. Sie ermitteln die Arbeit des rumänischen investigativen Journalisten Paul Radu, wie er transnationale Geflechte des organisierten Verbrechens untersucht und publik macht. Die kommenden Folgen ab Oktober handeln von DIY-Investigationen und Dronen im Kriegseinsatz.

www.exposingtheinvisible.org www.tacticaltech.org


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Das Wetter

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DAS WETTER

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von Natalie Holmes Übersetzt aus dem Englischen (S. 30) von Frances Marabito

MÜNCHEN

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PAWLOWSK

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48° 8', 11° 35' O

59° 41' N, 30° 26' O

HERBSTLICH Der Englische Landschaftsgarten, der sich im 18. Jahrhundert auf der verregneten Insel ausbildete, wurde mit seinen avantgardistischen Stilelementen sehr bald auch auf dem europäischen Festland populär. Bisherige Konventionen in der Gartenkunst wiesen Architekten bewusst zurück, um der Imagination des sich nach Umwälzungen sehnenden Kontinents gerechter zu werden. Der Englische Garten in München ist mit seiner asymmetrischen und orientalischen Gestaltung und seinen mächtigen, sich schlängelnden Wegen besonders beeindruckend. Er wurde 1789 errichtet, in den folgenden Dekaden ausgebaut und umfasst als eine der weltweit größten innerstädtischen Parkanlagen ein japanisches Teehaus, den Chinesischen Turm, ein Amphitheater, eine Schaffarm, mehrere Bäche und unzählige kunstvolle Gestaltungen und Skulpturen. Der durchdesignte Park hypnotisiert durch seinen optimistischen Zugang zur Natur - der Nacktbereich auf der Schönfeldwiese gehört zur deutschen Freikörperkultur und gilt als Symbol der ­Weltoffenheit.

FRISCH UND WINDIG Wenn man einen Englischen Garten suchte, käme man vermutlich nicht auf die Idee, ihn im ländlichen Russland zu finden. Doch knapp eine Stunde von Sankt Petersburg entfernt beherbergt das große Land einen der schönsten Englischen Gärten weltweit. Der schottische Architekt Charles Cameron entwarf den Pawlowsk Park nahe des gleichnamigen Städtchens als Teil der Zarenresidenz im späten 18. Jahrhundert. Palast und Garten stellen ein einzigartiges landschaftsarchitektonisches Ensemble dar, ihre Ausgestaltung stets vorangetrieben durch ihre ersten aristokratischen Bewohner, die sich Inspiration auf anderen Kontinenten geholt hatten. Europäische Einflüsse sind in dieser scheinbar unberührten Naturlandschaft erkennbar - von lübeckschen Lindenalleen bis hin zu charmevollen Nachbildungen rustikaler Chantilly-Dörfern. Heute ist der Pawlowsk Park für die Öffentlichkeit zugänglich, die sich mit dem Besuch in eine längst vergangene Zeit begibt. Ein Besucher sagte über den Garten, bei der Ankunft lege sich eine Melancholie über die Seele. Dem Schmerz folge jedoch unmittelbar die Freude.

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BERLIN

TEEHAUS TEIRGARTEN

wetter@trafficnewstogo.de

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PALERMO

52° 31', 13° 24' O

38° 6' 57" N, 13° 21' 41" O

WOLKIG UND KÜHL Der Sommer ist schnell und hart, so wie es die Berliner gern haben. Doch der sanfte Übergang in frühe kühle Dämmerungen ist ebenfalls beliebt. Mehr Kleidung, mehr Farben, mehr Nachmittagsspaziergänge durch leergefegte Parks, und man fragt sich, was zur Hölle die Stadt mit ihren Bewohnern anstellt, wenn der Sommer zur Neige geht. Nirgends kann man den romantischen Übergang der Jahreszeiten so wunderbar beobachten wie im Englischen Garten, der ursprünglich Teil des Schloss Bellevue im Nordosten des Tiergartens war. Spätestens hier ist Schluss mit dem durchkalkuliert schäbigen Hauptstadt-Look: die Hecken sind gestutzt und getrimmt, kein Blatt tanzt aus der Reihe, malerische Blumenbeete und akribisch angelegte Wege führen zum Teehaus. Sobald der eisige Wind in Berlin einsetzt, findet man hier Unterschlupf und kann zur englischen Quintessenz ­vordringen.

SONNIG In den 1850er Jahren schaffte es der Trend aus England schließlich auch in die sizilianische Hauptstadt. Der natürliche und informelle Stil des Englischen Gartens ersetzte die geometrisch exakte Strenge des giardino all'italiana, was man mit dem heutigen Blick auf damals wohl nicht für möglich gehalten hätte, da gewisse kulturelle Stereotype ein ganz anderes Bild vermitteln. Palermos ­Giardino Inglese wurde von einem italienischen Architekten entworfen und präsentiert eine exotische Pflanzenwelt mit Pflanzen aus Asien und Afrika - eine lebendige Wunderkammer aus vergangenen kolonialen Zeiten. Der Garten ist zwar inspiriert durch das Englische, doch dominiert von einer mediterranen Seele. Mindestens genauso schön wie die anderen, aber ein Englischer Garten mit ewigem Sonnenschein ist schlicht und einfach kein Englischer Garten.

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Sport

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© Stefan Kaz

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CRITICAL MASS

von Natalie Holmes, Übersetzt aus dem Englischen (S. 30) von Frances Marabito

ES IST SONNTAG, zwei Uhr nachmittags. Berlin erwacht im gewohnten Schmuddel und reibt sich den Rest Schlaf aus den Augen. Ich rolle auf den Pariser Platz. Im kühlen Schatten des Brandenburger Tors legt sich der Oktobernebel wie ein Schleier aus Schweiß auf die frische Gesichtshaut der Touristen. Ich brauche einen Moment, bis ich die Critical-Mass-Teilnehmer erspähe: in einer Ecke drängen sich eine Handvoll Fahrradfahrer. Ich hatte mehr Leute erwartet, eine Masse eben. Ich gebe fairerweise zu, dass das Hauptevent letzten Freitag stattfand, und der erste Sonntag im Monat vielmehr als Nachtrag zu betrachten ist. Das Postskriptum der leidenschaftlichsten Teilnehmer sozusagen. Critical Mass entstand 1992 in San Francisco und hat sich seitdem weltweit in über 300 Städte verbreitet. An jedem letzten Freitag im Monat, egal ob bei Regen oder Sonnenschein, treffen sich mindestens 500 Fahrradfahrer um 20 Uhr am Heinrichplatz in Kreuzberg und starten eine zweistündige Tour durch Berlin und nehmen die möglichen Beeinträchtigungen im Stadtverkehr in Kauf. Ziel von Critical Mass ist jedoch nicht die Lahmlegung des Verkehrs, sondern eine ausgewogene Verteilung zwischen den motorisierten Blechlawinen und Fahrrädern

zu ermöglichen; ein feierlicher Demonstrationszug, um die Straßen für Fahrradfahrer sicherer zu machen. Mit diesem Wissen erreiche ich die Berliner Critical-Mass-Ausgabe vor dem Brandenburger Tor. Ich bin jedoch etwas skeptisch. Ich stamme aus Londen, eine Stadt, in der Radwege so selten sind wie verständnisvolle Taxifahrer, und in der vierzehn Fahrradfahrer im letzten Jahr ums Leben kamen, die meisten wurden von einem Lastwagen überrollt. Im Gegensatz zu London hat Berlin endlose Fahrradwege und eine hohe Toleranz für ihre Radfahrer, und Critical Mass stimmt in diesen Chor mit ein. Critical Mass fordere im Verkehr gleiche Rechte für alle, erklärt Christian, einer der rund ein Dutzend engagierter Teilnehmer, die sich an dem klammen Sonntagmorgen hier eingefunden haben. Die Fahrradfahrer würden wie Bürger zweiter Klasse behandelt, spricht er weiter. Ich bitte ihn um ein Beispiel. Ich bin immer noch fasziniert und hingerissen von Berlins Fahrradkultur und kann seine Antwort kaum abwarten. Auch er brennt darauf, von den Ungerechtigkeiten zu berichten. Es sei überhaupt nicht deutlich, welche Verkehrsregeln man einzuhalten habe. Die Vorschriften seien so undurchsichtig, antwortet er, dass dies zu Verunsicherungen führe, und dies sei sehr gefährlich. Und es stimmt, die Straßenverkehrsordnung besteht aus einem irrsinnigen Regelwerk, welches den Radfahrern

unterschiedlichstes Verhalten abverlangt, je nachdem, wie der Fahrradweg der Straße angepasst ist, und wie die Ampeln an einer Kreuzung arrangiert sind. Die Konsequenzen dieses Chaos kriegen die Fahrradfahrer als erstes zu spüren: von der Verhängung von Bußgeldern an Ort und Stelle für Verkehrsverstöße bis hin zu Unfällen und gar Todesfällen durch Zusammenstöße mit motorisierten Fahrzeugen, ganz zu schweigen von der zunehmend brodelnden Stimmung gegen Fahrradfahrer durch andere Verkehrsteilnehmer. Critical Mass wird mit der Mentalität, bei der nur noch von wir und ihr gedacht und geredet wird, in Zusammenhang gebracht. Für das Fahrrad zu plädieren bedeutet in den meisten Städten gegen Autos zu sein. Der allmonatliche Protest ist Höhepunkt einer angestauten Frustration jener Unterlegenen des Stadtverkehrs. Das Gruppenerlebnis euphorisiert, und beim gemeinsamen Zerpflücken der Straße kann man die Autofahrer gegen sich aufbringen und Chaos und Unfrieden kreieren. Obwohl es den Anschein hat, ist Critical Mass kein organisierter Protest, sondern eine spontane Zusammenkunft. Dieser Status verhindert, dass die Bewegung Gesetzen unterliegt, die Bestimmungen bezüglich organisierter Demonstrationen erlassen, zum Beispiel die Anmeldungspflicht bei der Polizei. Unter der Sonntagsgruppe, die ich besuche, ist niemand,

der sich zur Pflege der Critical Mass Berlin Facebook-Seite bekennt, aus Angst vor möglichen Anfeindungen. Als unser kleiner entschlossener Fahrradzirkel schließlich durch Mitte radelt, kriege ich eine leise Ahnung von der berauschenden Wirkung, die die Einheit einer Gruppe erzeugen kann. Etwas später jedoch bin ich leicht verstimmt. Ich halte an einer roten Ampel, um Fußgänger über die Straße zu lassen, während meine Mitradler einfach weiterflitzen. Seit dem ersten offiziellen Critical Mass Ride, also seit mehr als zwei Jahrzehnten, scheint heute der unversöhnliche Gegensatz zwischen Radfahrern und anderen Verkehrsteilnehmern Hauptwesenszug der Bewegung zu sein. Diesem Verhalten wird zur Last gelegt, es würde dem Anliegen der Radfahrer mehr schaden als nützen. So möge der 29. November gerne kommen. Ich werde mit den anderen in die Pedale treten, mit Muskelkraft und tränenden Augen dem Herbstwind trotzend und klingelnd und lärmend die Straßen einnehmen. Aber ich werde an jeder roten Ampel halten, zu Ehren der immerzu leidenden Fahrer von Bussen, Taxis und Lieferwagen, die unserer geliebten Stadt den Puls verleihen.

sport@trafficnewstogo.de


I N T E R N A T I O N A L FA S H I O N T R A D E S H O W H ER BS T— W i n T ER 2014/15

14.—16. JA N UA R S T A T I O N – B E R L I N w w w . p r e m i u m e x h i b i t i o n s . c o m


CHAPTER XXVII

PSALM

PHOTOGRAPHY Patrick Jendrusch ■ ■ ■

ST YLING

Stiina Huhtanen ■ ■ ■

MAKE-UP

Verena van der Heyden @ nude agency ■ ■ ■

MODEL

James Jäger @ Kult Model Agency

Jacket: Topman Shirt and leather decoration: I­ vanman


Trousers: Julia Heuse Jacket: Marc Stone Sweater: Sissi 足G oetze Shirt: Marc Stone

Shoes: Zign Socks: Falke Pullover: Maimai Shirt: Ben Sherman Trousers: Sissi Goetze Ring: Merchant Necklace: LeChatVIVI


Suit: Topman Pullover: Tiger of Sweden Shoes: Zign Socks: Falke




Ring: Merchant Jacket: Franziska Michael Shirt: Ben Sherman Trousers: Tiger of Sweden Necklace: Merchant


Vest: Ivanman Pullover: Tiger of Sweden Trousers: Marc Stone


Jacket: Tiger of Sweden Trousers: Tiger of Sweden Rings: Merchant


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Das Contemporary Food Lab beschäftigt sich mit Fragen rund um das Verhältnis zwischen Kultur und Natur. Essen spielt dabei eine wichtige Rolle. Unser Anliegen ist es, den Horizont üblicher moralischer, p ­ olitischer und ästhetischer Diskussionen zu überschreiten. Von TRAFFIC News to - go wurden wir eingeladen, einen repräsentativen Einblick in die ­Berliner Food Szene zu geben. Wir werden in den nächsten Seiten darauf eingehen, was einige der interessantesten Macher der Stadt ­b ewegt. Wir werden Einblick geben in ihre Gedankenwelten und zeigen, was sie antreibt, ihre u ­ northodoxen Projekte zu realisieren. www.contemporaryfoodlab.com

CONTEMPORARY FOOD LAB MALIN ELMLID

MICHAEL HOFFMANN

Als erstes haben wir uns mit Malin Elmlid getroffen. Die gebürtige Schwedin kam nach ihrem Studium nach Berlin und arbeitete in der Modebranche. Während ihrer Tätigkeit als Sales-Chefin für das dänische Kultlabel Wood Wood, entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Backen. Ohne es anfänglich zu ahnen, entwickelte sich daraus eines der spannendsten Berliner Foodprojekte der letzten Jahre. In ein paar Monaten erscheint ihr Buch über das Projekt. Wir trafen uns mit Malin und ließen uns erzählen, wie es dazu kam.

Als nächstes haben wir mit Michael Hoffmann gesprochen. Der Sternekoch repräsentiert die Alte Schule in unserer Auswahl. Nach langjähriger Arbeit unter Kochlegenden wie Eckart Witzigmann, Lothar Eiermann und Joseph Viehhauser, begann er 2000 mit dem Restaurant Margaux in Berlin. Bereits seit Jahren basiert Hoffmanns Karte auf Gemüse und Kräutern aus dem Berliner Umland. Seit einer Weile verarbeitet er sogar nur noch Produkte aus dem restauranteigenen Garten. Vor kurzem hat er die Öffentlichkeit mit der Ankündigung überrascht, sein Restaurant Margaux schließen zu wollen und Sterne und weitere Auszeichnungen zurückzugeben. Was die Hintergründe seiner Entscheidung sind, wollen wir im nachfolgenden Interview herausfinden.

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VOM EINFACHEN DAS GUTE Unsere dritten Interviewpartner sind die grünen Köpfe Jörg Reuter und Manuela Rehn. Nach langjähriger erfolgreicher Tätigkeit als Öko-Marketing-Berater, erfüllten sich die beiden vor kurzem einen Traum. In ihrem kleinen Delikatessen-Geschäft Vom Einfachen das Gute, verkaufen sie nicht nur genau die Leckereien, die sie sich selbst schon immer in ihrem Traumladen gewünscht haben. Sie demonstrieren auch, was es mit ihrem Verständnis von ­Regionalität auf sich hat.

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MARKTHALLE NEUN Zuletzt trafen wir uns mit den Machern der Markthalle Neun in Berlin-Kreuzberg. Die drei Partner Nikolaus Driessen, Volkswirt und ehemaliger Entwicklungshelfer, Florian Niedermeier, Kulturwissenschaftler und Lebensmittelhändler, und Bernd Maier, Gartenbauwissenschaftler und ebenfalls Lebensmittelhändler, haben 2011 die 120 Jahre alte Eisenbahn-Markthalle wiedereröffnet. Mit einer ungewöhnlichen Mixtur aus kleinen lokalen Anbietern von gekochten Speisen und frischen Lebensmitteln, haben sie das Projekt schnell zu einem Erfolg gemacht.

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MALIN ELMLID

SAUERTEIG Der Ursprung des Sauerteigs wird in der Zeit der alten Ägypter vermutet und liegt 6000 Jahre zurück. In seiner Urform kannte man Brot nur als harten Fladen. Mehl wurde mit Wasser vermischt und in der Sonne oder über dem Feuer getrocknet. Durch Zufall entdeckte man dabei die spontane Säuerung. Es war die Geburtsstunde des Sauerteigs. Durch natürlich vorkommende Enzyme und Milchsäurebakterien wird die Stärke im Mehl in Milchsäure, Alkohol und Kohlendioxid umgewandelt. Diese Stoffe, in Kombination mit den im Sauerteig vorkommenden Hefepilzen, sorgen für einen säuerlichen Geschmack und dafür, dass der Teig beim Backen aufgeht. Es entsteht außen eine Kruste und der Innenbereich bleibt feucht und luftig. Im Laufe der Zeit haben sich viele Verfahren der Teigfermentation herausgebildet. Sauerteig mit mehrstufiger Teigführung ist das aufwendigste Verfahren und erlaubt es, Brot ohne künstliche Hefezusätze herzustellen. Weiter verbreitet ist heute jedoch das zeitsparende Backen mit künstlich gezüchteten Hochleistungshefen und chemischen Treibmitteln. Neben seinem Aroma erfreut sich traditionelles Sauerteigbrot vor ­allem auch wegen seiner besseren Bekömmlichkeit großer Beliebtheit. Bereits 79 n. Chr. beschreibt Plinius in seiner Naturgeschichte, dass „die Körper derer, die mit gesäuerten Broten genährt werden, kräftiger sind“.

Du meinst das Brot mit der Kohle im Teig? Ich wusste nicht, dass diese Idee von einer Japanerin stammt. Wie kam es dazu? Es war nicht die Idee mit Kohle Brot zu backen, die von ihr kam. Sie brachte die Kohle einfach nur als Entgiftungsmittel aus Japan mit. Ich fing dann an, damit herumzuexperimentieren. Verschiedene Mengen ergaben verschiedene Grautöne. Ich bin nämlich sehr farbempfindlich. Bis dann irgendwann das Brot herauskam, das du probiert hast.

In welchen Ländern hast du denn Backerfahrungen sammeln können? Ich habe bei Bäckern in Frankreich, Schweden, der Schweiz, den USA und Afghanistan gebacken. Ich hatte immer meine Sauerteig-Mutter in einem Behälter bei mir und suchte mir, egal wohin ich kam, eine Bäckerei, um dort zu backen. Selbst wenn ich nicht überall Praktika machen konnte, ergab sich meistens ein halbes Stündchen, in welchem man mit den verschiedenen Bäckermeistern über Ihre Philosophien und Techniken sprechen konnte. Das ganze war wirklich eine tolle Reise.

Das war wirklich sehr gut. Also ging es dir bei dem Projekt nicht darum neue Brote zu entwickeln, sondern um den Austausch mit Menschen? Als ich damit anfing, habe ich das nicht so geplant. Los ging alles damit, dass es mich frustrierte, in Berlin kein gutes Weißbrot zu finden. Das nahm ich dann erstmal zum Anlass, überhaupt kein Brot mehr zu essen. Schließlich arbeite ich in der Modebranche und will ja nicht dick werden. Doch irgendwann hielt ich den Verzicht nicht mehr aus. Ich war auf einem Businesstrip in Kopenhagen und probierte dort von einem Weißbrot. Es schmeckte besser als alles, was ich vorher probiert hatte. In dem Moment fasste ich einen Entschluss. Ich konnte nicht auf Brot wie dieses verzichten. Also wenn es diese Art von Brot in Berlin nicht gab, würde ich selber lernen müssen, wie man so etwas macht.

Und wie kam es dann zum BreadExchange? Also, ich wusste schon bald nicht mehr wohin mit dem ganzen Brot. Also fing ich an, es an meine Nachbarn zu verschenken. In jedes Business-Meeting brachte ich Brot mit. Irgendwann machte ich sogar Popup-Bäckereien in unseren Showrooms rund um die Welt und fütterte unsere Kunden. Alles um was ich im Gegenzug bat, war die ehrliche Meinung zu meinem Brot. Das ganze machte ich zwei Jahre, bis ich eines Tages eine Email bekam von jemandem, der mein Brot probiert hatte. Ich kannte ihn gar nicht, er hatte es von einem Freund bekommen. Er schrieb, dass er ein großer Fan meines Brots sei und fragte, ob er mich als Dankeschön in die Philharmonie einladen dürfte. Ich freute mich sehr und akzeptierte. Vollkommen unabhängig davon kam in der gleichen Woche noch eine zweite Person zu mir und gab mir ein Geschenk als Dankeschön. Von da an hörte das nicht mehr auf. Dahinter steckte niemals eine Absicht. Es ist einfach von alleine passiert, deshalb fließt auch alles so. Kannst du verstehen wie ich das meine?

Was war an dem Brot aus Kopenhagen so besonders? Es war ein Sauerteigbrot. Das bedeutet, dass es mit natürlichen Bakterien und Hefen langsam gebacken wird. Es dauert ungefähr 24 Stunden ein Sauerteigbrot aus Weizenmehl zu backen. Im Gegensatz zu Brot aus Roggenmehl, wie es hier in Deutschland verbreitet ist, ist ein Sauerteig aus Weizen viel sensibler. Ein ähnlicher Unterschied wie ­zwischen einem Arbeitspferd und einem Vollblut. Aber es lohnt sich, das Brot hat ein ganz anderes Aroma, innen eine feuchte Konsistenz, bleibt länger frisch und ist durch die Mikroorganismen sehr viel

Absolut, mir geht es mit meiner Arbeit auch nicht anders. Es ist so, wie wenn du nur ausgesucht wurdest, sie auszuführen, eine Art Mission, richtig? Genau. Das Projekt ist nicht meines. Es ist genauso das Projekt all der Leute, die daran teilnehmen. Die Menschen haben solch intime Dinge eingebracht, Familiengeschichten, Rezepte. Alle sind in den Broten enthalten. Um diese Geschichten geht es in meinem Projekt und in meinem Buch. Am Anfang hatte ich nicht verstanden, welche metaphorische Kraft im Brot liegt. Es hat mir Türen auf der ganzen Welt geöffnet.

© Shantanu Starick

Wie hast du gelernt, dieses Brot zu backen? Ich fing mit meinen Recherchen an. Ich backte in meiner Wohnung wie eine Verrückte und machte Praktika in Bäckereien auf der ganzen Welt. Da ich wegen meiner Arbeit ohnehin konstant unterwegs war und von einer großen Stadt in die nächste kam, hängte ich einfach oft noch ein paar Tage an, um von jemandem zu lernen. Egal wo ich hinkam, kontaktierte ich die besten Bäckereien.

© Mirjam Wählen

„NEBEN MEHL, WASSER UND SALZ HABEN MEINE BROTE NOCH EINE WEITERE ZUTAT. DAS SIND DIE TAUSCHGESCHÄFTE, DIE ICH MACHE UND DIE GESCHICHTEN DRUM HERUM.“

Und was ist deine persönliche Perspektive auf das Thema? Ich habe nur das handwerkliche Können ein einfaches Sauerteigbrot zu backen. Alles andere kommt von den Menschen, die ich treffe. Aus Ihren Geschichten entstehen die neuen Brote, wie beispielsweise das von der Japanerin, welches du schon kennst.

besser bekömmlich.

© Farzana Wahidy

©Mary Sherpe

Ich habe gehört, dass du momentan an einem Buch arbeitest. Wie läuft das und über was schreibst du? Es läuft super, vielen Dank. Ich bin unter Vertrag bei dem amerikanischen Verlag Chronicle Books. Im Oktober auf der Frankfurter Buchmesse wird das Projekt präsentiert. Es ist in erster Linie eine Reisegeschichte und erzählt, wie es mit meinem Bread-Exchange-Projekt losging. Von meinen ersten Versuchen zu backen im Jahr 2007 und dem Start des eigentlichen Projekts in 2009. Es handelt auch über Brot im Allgemeinen und meine persönliche Perspektive darauf.


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Sie planen ihr über viele Jahre zur Berliner Institution ­ herangewachsenes Restaurant „Margaux“ aufzugeben. Wie kam es zu der Entscheidung? Im Jahr 2008 hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Damals waren wir stark darauf fixiert, den Durchbruch zum zweiten Stern zu schaffen. Mein Team und ich haben harte Arbeit geleistet und waren überzeugt, dass es klappt. Doch es kam anders. Am Tag der Nachricht, dass wir den zweiten Stern nicht erhalten, brach mein langjähriger Sous-Chef nervlich zusammen. Er hatte im Vorfeld unglaublichen Einsatz gezeigt, lange auf Urlaub verzichtet und viel Verantwortung übernommen. Als er die Nachricht hörte, ist er während des Geschäftes wortlos aus der Küche und war erstmal verschollen. Für mich war es auch schwer, mit der Nachricht umzugehen. Aber zum Glück konnte ich mich dann doch relativ schnell damit abfinden. Dadurch wurde ich freier im Kopf und begann, Nachhaltigkeit umfassender zu verstehen. Ich wollte auch mit den menschlichen Ressourcen nachhaltig umgehen und weg kommen von der Küchenführung mit der Peitsche, wie ich es von meinen Meistern gelernt hatte. Zeitgleich gab es immer wieder Lebensmittelskandale und ich begann, nur noch Fleisch zu verwenden, von dem ich genau wusste, woher es stammt. Schrittweise habe ich meine Küche weiter umgestellt, habe Dinge wie Gänsestopfleber und Thunfisch von der Liste gestrichen und bin bei der Gemüse- und Kräuterküche angekommen, für die ich heute bekannt bin. Sie gelten als einer der kreativsten Köche Deutschlands. Viele Menschen können nicht verstehen, dass Sie den zweiten Stern nie bekommen haben. Zudem zeichnet sich Ihre Küche durch eine Vision aus, die ganz dem Zeitgeist entspricht. Wird so etwas vom „Guide Michelin“ nicht g­ ewürdigt? Woran das Urteil genau festgemacht wird, teilt einem der Guide Michelin nicht mit. Angeblich zählt nur der Teller. Es wird aber allgemein davon ausgegangen, dass gewisse Kriterien der französischen Küchentradition zu den Grundvoraussetzungen gehören. Der Umfang der Weinkarte, die Art des Service oder auch, ob mit klassischen Delikatessen wie ­ Gänsestopfleber

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gekocht wird. Aber offiziell ist das nicht. Zudem sollten Tester des Guide Michelin eigentlich anonym auftreten, doch nach ein paar Jahren im Geschäft kennt man sich natürlich. Als sie zu uns ins Restaurant kamen, haben sie nur die Fleischgerichte bestellt. In Anbetracht dessen, dass ich für meine Gemüseküche bekannt bin, ist das natürlich schon Aussage genug. Sie erwähnten gerade, dass Führer wie der „Guide Michelin“ sich dem Anschein nach in Deutschland stark an der klassischen französischen Gourmetküche orientieren. Im Ausland scheinen aber andere Kriterien zu zählen. Zum Beispiel wird das New Yorker Gastropub „The Spotted Pig“ schon seit sieben Jahren für Burger und Pommes Frites mit einem Stern ausgezeichnet. Hinkt Deutschland da dem Ausland hinterher? Ja. Auch an Restaurants wie dem Noma sieht man, dass im Ausland neue und andersartige Konzepte besternt werden. Da gibt es kein edles Geschirr, nur einfaches Besteck und man sitzt an Holztischen. Dort sind die Tester offen dafür, aber eben nur im Ausland. Bei mir waren interessanterweise auch schon Michelin-Tester aus dem Ausland. Sie waren sehr viel offener als Ihre deutschen Kollegen. Als bekannt wurde, dass ich aufhöre, rief mich der Chefredakteur des Michelin an und wollte wissen, was ich nun vorhabe. Ich meinte, dass ich der kulinarischen Welt sicher erhalten bliebe, aber ich mir nicht so sicher wäre, ob ihm das dann auch gefallen würde. Er fragte, ob ich es zukünftig etwas legerer halten wolle. Ich sagte ihm, dass sich die Zeiten geändert hätten und ich in einen Bereich wolle, in dem mehr Flexibilität und Lebensfreude herrsche. Daraufhin meinte er, dass auch ihnen aufgefallen sei, dass sich da etwas momentan total verändere. Zu meiner Begegnung mit den ausländischen Testern meinte er, dass sie dies nun ganz bewusst machen würden. An dieser Stelle würde ich natürlich auch gerne wissen, was bei Ihnen als nächstes geplant ist. Gibt es schon konkrete Pläne? Ich möchte wieder zurück zum Ursprung. Außerdem wünsche ich mir nach 30 Jahren, 6 Tage die Woche hinterm Herd, mehr Freiheit. Ich habe mich an der Bäckerei Soluna beteiligt und werde Brot backen. Im Herbst kommt außerdem ein Kochbuch raus, und was dann noch kommt lasse ich auf mich zukommen.

„ICH WAR ENTSCHLOSSEN, MIR DIE FREUDE AN MEINEM BERUF NICHT KAPUTT MACHEN ZU LASSEN UND WIEDER FÜR MICH SELBST UND MEINE GÄSTE ZU KOCHEN – UND NICHT, UM AM ENDE DES JAHRES EIN GUTES ZEUGNIS ZU BEKOMMEN. “

MICHELIN Der berühmte Führer des französischen Reifenherstellers erschien zum ersten Mal im Jahr 1900. Er war ursprünglich als Tankstellen- und Werkstattverzeichnis für die Autopioniere Frankreichs gedacht. Restaurants und deren Bewertung wurden erst später ergänzt. Autofahrer sollten damit angeregt werden, Spazierfahrten zu unternehmen und so die Umsätze der Reifenhersteller s­teigern. Mit der Nouvelle Cuisine Ende der 1960er Jahre entstand in Frankreich ein weiterer international bedeutender Restaurantführer, herausgegeben durch die beiden Journalisten Henri Gault und Christian Millau. Anders als der Guide Michelin, bewertet der Gault Millau nicht mit Sternen, sondern mit Hauben und einem System von 12 bis 20 Punkten. Es wird manchmal behauptet, die beiden Führer stünden zueinander wie das alte zum neuen Testament. Beide Publikationen werden immer wieder scharf kritisiert. So enthielten Neuausgaben schon positive Bewertungen von Restaurants, welche zum Erscheinungsdatum noch nicht eröffnet hatten, wodurch vetternwirtschaftliche Verflechtungen offensichtlich wurden. Außerdem führen die alljährlichen Neubewertungen bei vielen Köchen zu starkem psychologischen Stress. Der französische Drei-SterneKoch Bernard Loiseau nahm sich 2003 das Leben, nachdem er vom Gault Millau herabgestuft wurde.

© Alle Bilder Michael Hoffmann / Ursula Borstel

MICHAEL HOFFMANN

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VOM ­EINFACHEN DAS GUTE „DAS WÄRE NUR WIEDER EIN NEUES DIKTAT GEWESEN, EIN MARKETING-KONZEPT, OHNE WIRKLICHE SEELE. ABER BEI DEM, WAS WIR MACHEN, GEHT ES UM SEELE.“

SLOW FOOD Photos © Sonnichsen

„Wer Utopie sät, wird Realität ernten.“ Unter diesem Motto gründete der italienische Soziologe Carlo Petrini 1986 die Slow-Food-Bewe­ gung. Es sollte ein Gegenmodell zur Fast-Food-Kultur entstehen. Aus der Überzeugung heraus, dass gutes Essen ein Grundrecht des Menschen sei, machte er sich daran, es durch die Bewahrung der entsprechenden Kultur, des überlieferten Wissens und der Biodiversität zu schützen. So entstand in den letzten 27 Jahren eine Organisation mit 100.000 Mitgliedern und Niederlassungen in vielen verschiedenen Ländern. Seit 1992 gibt es den Slow-Food-Verein auch in Deutschland, mit mittlerweile rund 12.000 Mitgliedern. Die örtlichen Niederlassungen, Convivien genannt, bemühen sich um den Erhalt regionaler Traditionen und unterstützen die Produktion und Vermarktung von Lebensmitteln aus handwerklichen und kleinbäuerlichen Strukturen. Produzenten und gastronomische Betriebe können sich zertifizieren lassen und erhalten als ­Gütesiegel das Symbol der Bewegung, die Schnecke. Des Weiteren organisiert Slow Food Seminare, Essen, Konferenzen, Diskussionsveranstaltungen, Filmvorführungen, Festivals, Bauernmärkte, Exkursionen zu lokalen Bauern und Lebensmittelhandwerkern und fördert die Geschmacksbildung bei Erwachsenen und Kindern. Seit 2004 gibt es im italienischen Pollenzo eine eigene Slow-Food-­ Universität.

Mit „Vom Einfachen das Gute“ habt ihr eine Art Delikatessenladen geschaffen, der zum momentanen Zeitgeist passt. Im Angebot sind „Slow-FoodProdukte“ aus der ganzen Welt. Wann ist denn die Idee dafür entstanden? Die Ursprungsidee kam uns vor 4 Jahren. Wir saßen für ein Beratungsprojekt im Restaurant Terroir in der Schweiz, das mittlerweile leider geschlossen hat. Dort gab es ausschließlich Schweizer Produkte. Das fanden wir toll. Uns begeisterte, was die Schweizer für einen unverklemmten Zugang zur Swissness haben. Wir stellten uns die Frage, warum es eigentlich keine Germanness gibt. Bei dem Begriff zuckt man ja direkt zusammen. Also fingen wir an uns darüber Gedanken zu machen, ob man nicht eine neue Germanness etablieren könnte. Indem man den Leuten zeigt, dass man für einen guten Käse nicht nach Frankreich und für einen guten Schinken nicht nach Italien oder Spanien fahren muss. Die Idee haben wir dann ein paar Jahre in uns arbeiten lassen. Anfang des Jahres haben wir mit der Umsetzung angefangen und ein halbes Jahr später eröffnet.

dass es den Marken nutzt. Fakt ist aber, dass der Begriff des Regionalen überstrapaziert wird. Es ist unklar, wie ökologisch wertvoll regional ist. Es gibt beispielsweise Studien, die beweisen, dass Lämmer aus großen neuseeländischen Zuchten letztendlich eine bessere Ökobilanz haben, als wenn du hier bei zehn Bauern deine Lämmer zusammenkarrst.

Und jetzt seid ihr aber doch nicht auf deutsche Produkte spezialisiert. Stimmt. Irgendwie fanden wir das dann doch zu begrenzt. Vor allem, wenn du einen ganzen Laden füllen möchtest. Auch wäre es sehr schade, auf so tolle Produkte, wie diesen köstlichen iberischen Schinken verzichten zu müssen. Aber vor allem haben wir irgendwann erkannt, dass Germanness einfach nicht wir sind. Diese ganze Diskussion um Regionalität nervt uns sogar ein bisschen. Wir glauben, dass vor allem die emotionale Nähe wichtig ist. Es ist eigentlich egal, wie viele Kilometer dazwischen liegen, solange du einen emotionalen Bezug hast. Deshalb konzentrieren wir uns lieber darauf, Geschichten von Produkten zu erzählen. Wenn du das tust, ist der andalusische Schinken auf einmal genau so nah wie der Ostseeschinken.

Zudem muss man bedenken: Am Ende bist du im Handel genauso wie in der Gastronomie auf die Zahlungsbereitschaft des Kunden angewiesen. Unserer Meinung nach werden Verbraucher diese Food Miles-Geschichte niemals honorieren. Zahlungsbereitschaft gibt es wirklich nur für emotionale Nähe. Wir handeln nach folgender Regel: Je generischer ein Produkt, desto wichtiger ist die geographische Nähe. Generisch heißt: wenig verarbeitet. Also bei Produkten wie Milch, Äpfel, Tomaten erschließt es sich einfach nicht, weshalb das nun vom Bodensee oder aus Italien kommen soll, wenn das doch genauso hier wächst. Aber je komplexer ein Produkt ist, je anspruchsvoller es von den Rohstoffen oder von den Rezepturen her ist, desto wichtiger ist die emotionale Nähe. Da kommt es auf 500 km überhaupt nicht mehr an. Deswegen gibt es bei uns im Laden so einen Mix. Wenn wir Marmelade aus Berlin verkaufen können oder Tomaten aus der Uckermark, weshalb sollen wir die dann von irgendwo sonst holen. Wir haben aber zum Beispiel eine starke emotionale Nähe zu Freunden aus Dresden, das ist 200 km entfernt, und deshalb verkaufen wir lieber die Marmelade von ihnen. Ein schönes Beispiel ist auch die Butter. Wir haben normale Speisebutter aus dem Brandenburger Umland im Sortiment. Wir bieten aber auch gesalzene französische Fassbutter an, weil das eine Spezialität ist und Tradition hat und es die hier in dieser Form einfach nicht gibt.

Ihr beratet ja Unternehmen zum Thema Nachhaltigkeit. Gibt es denn da nicht, neben der emotionalen Nähe, auch das Verständnis, dass es rein aus Umweltgründen wichtig wäre, mehr regional einzukaufen? Wir sind in erster Linie Strategen und keine Umweltexperten. Wir unterstützen große Unternehmen dabei, Nachhaltigkeit und Verantwortung in Ihre Sortimente zu integrieren, so

Man könnte also sagen, dass ihr auf das Bewusstsein der Verbraucher einwirken, aber ihnen nichts vorschreiben wollt. Durch die emotionale Nähe erweitert sich das Bewusstsein der Menschen und sie können aus sich selbst heraus eine ganz eigene verantwortungsvollere Haltung entwickeln. Richtig. Darum sind wir am Ende auch wieder von der Idee mit der „Germanness“ abgekommen.


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Die „Markthalle Neun“ zeigt, dass ein kleinteiliger, regionaler und saisonaler Lebensmittelhandel erfolgreich sein kann. Was war der Ausgangsimpuls für dieses Konzept? Was wir für Berlin wirklich wünschenswert finden, ist, dass es bei der Lebensmittelversorgung einen Anschluss ans Umland gibt, dass du dich im Prinzip von den Produkten aus dem Umland ernähren kannst. Dass dies möglich ist, zeigen wir in der Markthalle.

das ist auch gewünscht. Perspektivisch möchten wir ein 6-Tage-Markt sein, eine feste Markthalle, die natürlich auch feste Stände hat. Aber wir wollen auch ein Erzeugermarkt sein, und es liegt in der Natur der Sache, dass Erzeuger irgendwann auch Zeit zum Erzeugen brauchen, also auf dem Feld stehen, in der Bäckerei oder der Metzgerei. In der Regel machen sie dann einen Markttag in der Woche, und dafür benötigen sie wiederum einen mobilen Stand. Also brauchen wir beides.

Aber bei der Markthalle geht es doch um mehr als nur ­Regionalität? Natürlich. Die Versorgung mit guten, besonderen, in der Mehrzahl regionalen Lebensmitteln ist das eine. Das andere ist der kulturelle Wert eines solchen Orts. Nimm zum Beispiel jemanden wie Alfredo Serroni, der am Comer See aufgewachsen ist und hier bei uns Pane di Milano anbietet. Das beste Weißbrot der Stadt, unserer Meinung nach. Da stimmt die kulturelle Identität, da stimmt das Produkt. Gleichzeitig stimmt es aber auch, dass es hier verkauft wird, weil er in Berlin lebt, hier Geschichte studiert hat.

Also eine Art Infrastruktur aus festen und mobilen Plätzen, die dann je nach Wochentag unterschiedlich vergeben werden? Genau. Wir machen ja auch an Sonntagen relativ viele Spezialmärkte, also Themenmärkte, zum Beispiel im November die Cheese gemeinsam mit Slow Food, wo es nur Käse gibt. Bei unserem Naschmarkt haben wir 58 Süßwarenproduzenten in unserer Halle an einem Ort versammelt.

Grundsätzlich begrüßt ihr also das, was man Globalisierung nennt? Ja. Wir möchten die Globalisierung jedenfalls nicht verdammen, das wäre zu einfach. Wir glauben, sie ist für uns alle in vielerlei Hinsicht von Vorteil, mit Vielfalt und Möglichkeiten. Aber es ist traurig, wenn irgendwann alles nur noch ein Brei ist, wenn man auf der ganzen Welt das gleiche essen und nur das gleiche einkaufen kann. Dann verschwinden die Unterschiede, die das Leben so reizvoll machen. Was ich wirklich toll finde, ist euer „Street Food Thursday“. „Street Food“ ist für mich großartige Kochkultur, frisch und regional, aber in Europa praktisch verschwunden. Liegt das am Hygiene- und Regulierungswahn in unserem Land? Ja das hängt sicher auch damit zusammen. Vielleicht ist es teilweise auch kulturell bedingt. Aber Berlin ist ein Ort, zu dem Street Food passt. Berlin ist international. Leute kommen mit ihrem Essen, ihrer Kultur hierher. Und wir bieten ihnen eine Plattform, das zu präsentieren. Auch damit ein kleines Geschäft zu machen. Bei uns sind ja die Einstiegshürden vergleichsweise niedrig. Normalerweise gibt es ja in Deutschland Gewerbe-Anforderungen noch und nöcher. Du musst professionell sein, bevor du loslegen kannst. Das erfordert Investitionen, die dich vorsichtig werden lassen. Du kannst nichts mehrprobieren. Daher heißt es wohl am Ende bei vielen oftmals Currywurst oder Döner. Das sind Konzepte, die sich bereits bewährt haben. Setzt ihr eigentlich auf feste oder temporäre Stände? Wir suchen die Mischung. Natürlich gibt es Dinge, die sich bewähren und dann verstetigen. Man wird mit der Zeit automatisch weniger flexibel. Und

Aber euer Konzept geht über den reinen kommerziellen Marktgedanken hinaus, oder? Ja, wir haben Ideen, die ganz ähnlich sind wie das, was du mit dem Contemporary Food Lab machst. Wir wollen die Markthalle auch als einen Ort etablieren, an dem bestimmte Themen diskutiert werden, wo man ganz allgemein über Lebensmittelthemen spricht. Bei Podiumsdiskussionen, Lesungen, Filmvorführungen. Fest in unserem Kalender haben wir die Grünen Tage parallel zur Grünen Woche. Wenn letztere eine Leistungsschau der Lebensmittelindustrie ist, in allen Facetten, dann wollen wir eben hier die Leistungsschau der alternativen Lebensmittelkultur ­machen.

„ES GEHÖRT ZU UNSEREM BILD VON BERLIN, DASS HIER LEUTE AUS DER GANZEN WELT ZUSAMMENKOMMEN, UM IHRE LEIDENSCHAFT AUSZULEBEN, ETWAS BESONDERES ZU SCHAFFEN. DAS GIBT ES IN DER KUNST, IN DER MUSIK UND NUN AUCH IM FOOD-BEREICH.“

STREET FOOD Street Food ist heute vor allem ein Phänomen der südlichen Staaten Asiens, Amerikas und Afrikas. Diese Länder sind berühmt für ihre Garküchen, in denen Köstlichkeiten wie Tandoori-Chicken oder Pho-Suppen angeboten werden. Nicht selten arbeitet die ganze Familie bei Zubereitung und Verkauf mit. Street Food ist nicht nur preiswert, es bietet die Möglichkeit authentische Familienrezepte einfacher Leute zu probieren und unvergleichlich tief in lokale Kulturen einzutauchen. Als die europäische Landbevölkerung in der Frühzeit der Industrialisierung in die Städte strebte, fand sie dort nur beengte Wohnverhältnisse ohne Küchen vor. So entwickelten sich damals auch hier zahlreiche Straßenküchen. Mit steigendem Wohlstand, und aufgrund der stark gewachsenen Hygienevorschriften in Deutschland und der EU, ist diese Kultur jedoch zurückgegangen. Die sich seit dem Zweiten Weltkrieg etablierende und heute allgegenwärtige Imbisskultur mit Hamburger, Currywurst und Döner hat kaum etwas mit den Garküchen des Orients, Asiens und Südamerikas gemein.

Photos © Markthalle Neun / Florian Niedermeier

MARKTHALLE NEUN


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Reisen

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NON CULINARY DELIGHTS...

VEGATABLE PRINTS Beetroots and beans, cabbages, zucchini and artichokes all sautéed together in cream of wool and silk, I'll have what she's having please. Vonschwanenfluegelpupke scarf 200 Euro www.vooberlin.com

KNIFE ON HAND You order the sirloin and the obsequious waiter forgets to bring you a steak knife, never fear, you can enjoy your meal and get your revenge on the way out, the perfect murder purse. Gardian Angel Knife Clutch 240 Euro www.vliegervandam.com

NOTHING BUT BONES The few vegans I know are nothing but skin and bones, not that I don't enjoy their company, it's just that I don't invite them to my dinner parties, nothing like wearing a bit of meat with your rosegold plated bones. After Eden Bone Cuff 422 Euro www.bjorgjewellery.com

SAN FRANC von Stefan Elfenbein

M ILK BOX BAG My Grandmother drinks milk with every meal, she says the calcium is good for her bones- and the milkman is good for her 'humour'- well it certainly works for her!!! Milk Box Bag 715 Euro www.olympialetan.com

TO-GO BOUTIQUE BERLIN’S NEW SHOPS. BY M ILLICENT BYSTANDER

KLEIDERSCHRANK AUF, ALLES auf’s Bett, was warm ist, Windjacke, Pullover, Schal. Bestandsaufnahme! Der erste Abend in San Francisco. Pünktlich zur Ausgehzeit kommt der Nebel, wie im Film The Fog – Nebel des Grauens. Alle haben davon erzählt, vom allabendlichen Schauspiel. Mit dem Nebel fällt das Thermometer. Egal, auf zum Essen, im San FranciscoZwiebellook. Schon im Flugzeug wurde über Restaurants und Küchenchefs parliert, über Neues, Verrücktes, Exzellentes, über alte Bekannte, wie Küchenchef Corey Lee aus der French Laundry, der sein eigenes wunderbares Benu eröffnet hat, und über neue Stars wie Melissa Perello und Dominique Crenn. „Zu jedem Zeitpunkt der Geschichte gibt es eine Stadt oder Region, die man besuchen muss, um zu verstehen, wohin die amerikanische Küche geht“, hat US-Food-Papst Alan Richman im Herbst im GQ-Magazin geschrieben. „Mal war es Chicago, Florida, Los Angeles oder Texas, normalerweise ist es New York - jetzt ist es San Francisco.“ Und los geht’s. Frances schauen wir uns als erstes an, das kleine, feine Restaurant im Bezirk Castro in dem Melissa Perello für Aufsehen sorgt. Die Noe Street hinunter, über die Market Street.

Radierungen von Gemüsen an der Wand, blanke Holztische. Wir bestellen die corn soup. Die kommt in einem großen runden Glas, gefüllt mit gedünstetem Mais und mit süßlichem Ancho Chili angerührter Crème Fraîche. Die Suppe wird am Tisch oben aufgegossen, dazu eine Prise Seesalz und fein geraspelte Limonenschale. Wunderbar auch die Hauptspeise, das Bio-Huhn mit weißen Nektarinen und einem lauwarmen Salat aus Kürbis, Tomate und geröstetem Knoblauch. Der exzellente Hauswein wird in Glaskaraffen gereicht. In den einst großen Restaurants der Stadt hat Perello gekocht, im Aqua, im First Floor. „Die dotcom-Restaurants waren aber“, wie sie formuliert, „alle ähnlich“. Erst als der Geldfluss versiegt sei, habe man sich Gedanken darüber gemacht, was man wirklich wolle. Das neue San Francisco nimmt Form an, wir laufen zurück, auf ins Bett. Gut geschlafen. Kolibris schwirren um fette Hibiskusblüten. Gegen 11 Uhr stanzt die Sonne Löcher in den Nebel. Es wird heiß. Auf zum Atelier Crenn. Wir wandern durch The Haight, das ehemalige Flower-Power-Paradies. Vorbei am Alamo Square, mit den berühmten Seven Sisters. In Cow Hollow, einer Senke im Marina District, liegt das Atelier Crenn, davor ein Gedenkstein für Allen Ginsberg. Der hat 1955 im Haus nebenan sein Skandal-Gedicht Howl vorgetragen.


Reisen

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© Eric Wolfinger

© eater_ny

Ausgabe N°34 • November 2013 • Jahrgang 5 • trafficnewstogo.de

CISCO Poetic Culinaria nennt Crenn ihre Küche. Sanfte Grün- und Erdtöne im Restaurant, Bambusmatten an der Decke, ein Hauch von asiatischer Garküchen-Atmosphäre. Was dann serviert wird, begeistert. Wie ein Stück Erde, herausgeschnitten aus den Muir Woods, dem nahen Mammutbaumwald, wirkt Crenns „Walk in the Forest“: Pilze und Blumen wachsen auf „Holz“, „Flechten“ und „Moosen“ aus Haselnuss-Spänen. Olivenbrei und Kichererbsenpüree für „The Sea“ legt sie abalone, Seeohren und geräucherte Austern auf feinen „Sand“ aus pulversiertem Sesam- und Zitronenöl, dazwischen Anisblüten. Der „Carrot Cake“ kommt in Form einer Möhre, mit echtem Möhrenkraut. San Franciscos Presse schreibt schon vom Entstehen einer „brand-new Northern California cuisine“, mehr noch: von einem Paradigmenwechsel – dem Ende der Zeit, als Alice Waters Idee von kalifornischer Küche das Maß aller Dinge war. Starker Tobak. Um das zu verstehen, gehen wir dahin, wo die Stadt gerade am quirligsten ist, in den Mission District. Star im Viertel ist Danny Bowien in seinem Mission Chinese Food. Vor dem Restaurant schon eine bunte Menschentraube. Danny Bowien, in Korea geboren und in Oklahoma aufgewachsen, zieht gerade lange breite Nudeln. Serviert werden sie mit geschmortem Lamm, Minze, Sellerie und einer Sauce aus Ingwer­

und süßem Soja. „Alice Waters bewundern alle hier“, sagt er. „Natürlich – sie ist die Urmutter der kalifornischen FoodRevolution.“ Aber so viel sei passiert. Ein kurzer Rückblick: Mit dem Neuen-Medien-Boom stiegen in San Francisco auch die Mieten. Noch immer rauschen die Google buses durch die Stadt, mit denen Google, Yahoo, Apple, Intel ihre Mitarbeiter zwischen Silicon Valley und den teuren Stadtwohnungen hinund her shutteln. Auch Räumlichkeiten für Restaurants wurden damals fast unerschwinglich. Die jungen Küchenchefs kamen auf neue Ideen: Die Food Trucks und die Pop-Up-Restaurants entstanden, Restaurants, die sich in bestehenden Orten quasi einnisten, ursprünglich um teure Mietverträge zu umgehen. „Und mit dem Ende der konventionellen Vorstellungen von einem Restaurant“, sagt Bowien, „explodierte die Kreativität.“ Bowien selber serviert beste kalifornische Produkte mit asiatischem Touch. Als Vorspeise kommt ein uftiger Eierpudding mit Seeigel, Forellen-Kaviar, Shiso und Reiswein. Danach in Maisöl gebackene Schweinshaxe im knusprigen Corn-FlakesMantel mit über Schwarzem Tee geräuchertem Aal in CognacSauce. An den Tischen Banker, Geschäftsleute, junge Pärchen aus allen Stadtteilen. Wir machen uns auf den Rückweg. Unsere letzten Tage in der Stadt. Eine kurze Verschnaufpause im

Golden Gate Park. Danach weiter mit der Recherche. Ein ­Stadtteil steht noch aus: SoMa, South of Market. Bester Küchenchef dort und einer der Hauptakteure beim Erschaffen der „new Northern California cuisine“ ist Corey Lee. Im Verladebereich einer alten Druckerei hat er sein Restaurant eröffnet, das elegante Benu. Genau wie Dominique Crenn will er endlich eine Küche kochen, die zur Stadt passt. Ihn fasziniert vor allem das, was die asiatischen Einwanderer mit an die Bay gebracht haben. Lee selber ist Koreaner. Er serviert Xialongboa, eine traditionelle Shanghaier Straßenküchen-Teigtasche, gefüllt mit feiner kalifornischer Gänseleber, dazu eine Steinpilzsuppe mit „tausendjährigem“ Wachtelei, Ingwergelee und mit Pilzen gefüllte Crèpes. Die perfekt abgeschmeckte Hühnersuppe mit Weißem Tee, süßen Datteln, Schalotten und über Jasmintee gegartem Huhn bestreut er mit funkelndem Goldstaub. Exzellent ist auch die Auswahl an Weinen, darunter wunderbare Rieslinge. „Die Menschen hier sind anders“, sagt er, „Goldsucher, Abenteurer, Lebenskünstler.“ Ein paar Jahre lang habe man versucht, New York zu kopieren. „Jetzt sind wir wieder normal.“ Als unser Flugzeug am nächsten Mittag abhebt, hat sich die Nebelglocke schon über die ganze Stadt gelegt, wie ein flauschiger Mantel. Auch den Nebel haben wir irgendwie liebgewonnen.


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Kultur

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ÜBER SICH HINAUS WACHSEN

David Pfeifer Schlag weiter, Herz, Heyne Hardcore München 2013, 252 Seiten, 19,99 Euro

Mark Z. Danielewski Only Revolutions, Klett-Cotta / Tropen Stuttgart 2012, 360 Seiten, 24,95 Euro

von Verena Dauerer „Durch die Decke denken: Design Thinking in der Praxis“ ist ein Anwendungsleitfaden für Design Thinking. Was war das nochmal gleich: Ein Mindset zur kreativen Problemlösung, das beabsichtigt, frischen Wind in feste Arbeitsstrukturen und erstarrte Hierarchien zu bringen, wenn neue Lösungen über den Tellerrand hinaus gefragt sind. Das Buch von Juergen Erbeldinger, CEO der Berliner Strategie-Beratung partake, und Technologie-Journalist Thomas Ramge mit der Gestaltung von Erik Spiekermann beschreibt dazu detaillierte Workshop-Settings zum einfachen Nachbauen in der Firma. Auch gibt es Hilfestellung mit schönen Illustrationen, damit das Unterfangen auch ergebnisorientiert endet. Aber dabei bitte eines nicht vergessen: Design Thinking ist kein Zauberwort und als ManagementTheorie zuerst einmal eine Methodenlehre. Sie gibt Werkzeuge in die Hand, um Problemstellungen anzugehen. Das setzt aber Inhalte voraus. Wenn keine Substanz da ist, sprich, die Beteiligten am Workshop nichts drauf haben, helfen auch die besten Tools nicht. Auch: die Arbeit fängt erst richtig nach dem Workshop an.

Juergen Erbeldinger und Thomas Ramge: „Durch die Decke denken: Design Thinking in der Praxis“, Gestaltung: Erik Spiekermann, 224 Seiten, 24,99 Euro, Redline Verlag. ISBN-10: 3868814795.

von Ralf Diesel

ANGST

In erster Linie lernen sich in Hamburg Menschen kennen: Mert verliebt sich in Nadja, die Schwester seines Vereinskumpels Felix. Ganz einfach, eine Liebesgeschichte. Keine Helden, kein Milieu. Felix bringt seine Boxerausbildung aus Schwerin mit: ausgefeilte Technik. Mert boxt geradliniger: learning by doing. So geht er durchs Leben. Durch Nadja lernt er Feinheiten und Einiges über sich selber. Das klingt wieder ganz einfach. Wäre es auch, wenn Mert nicht so ein sperriger Typ wäre, an den man nie ganz rankommt, an dem man aber auch nicht ganz vorbeikommt. Er arbeitet als Türsteher eines Clubs und macht sich über seine Zukunft keine Gedanken. Für ihn geht es darum, im Jetzt den nächsten Schritt vorauszuahnen und nach seinen Stärken und Fähigkeiten zu reagieren. Sein Leben findet im Ring statt, dort ist er und dort will er werden. Nadja ahnt Schwächen langfristig voraus, hat Ängste, stellt sich der Zeit, die unvermeidlich vergeht. Sie ringt um die Zukunft. Pfeifer haut nie drauf. Nicht bei den expliziten Sexszenen, nicht bei Gewaltbeschreibungen, auch nicht, wenn Blut fließt. Das gelingt ihm, indem er der Sprache die Härte nimmt und konkret bleibt, sachlich, dem, was zu sagen ist, nichts hinzufügt. Der ungebetene Gast Pathos bleibt vor der Tür, wenn dann im richtigen Moment ein sprachliches Bild platziert wird – und Pfeifer gleich wieder aus der Bewegung herausgeht. Die Dinge für sich stehen lässt. Pfeifer grundsaniert das Boxen: es geht nicht um Gewalt, sondern um Angst. Der Austragungsort des Romans ist Hamburg. Jeder kämpft mit sich selber, mit dem Anderen, versucht, nicht zu verletzen, Respekt zu wahren. Die Sehnsucht ist die, zum Anderen vorzudringen, damit der Kampf endlich beendet werden kann, damit man sich gegenseitig nicht weiter verletzen muss. Die Beschreibungen der Kampfabläufe innerhalb und außerhalb des Rings haben Griff, sitzen. Wie kommt man zum Anderen durch? Wie kommt man durchs Leben, über die Runden, ohne selber beschädigt zu werden und zu sehr zu beschädigen? Bleibt man allein? Was kommt, wenn nichts mehr kommt? Das Vokabular, mit dem ­David ­Pfeifer den Roman wunderbar beherrscht und jeden einzelnen Ringkampf wirklich großartig durchbringt, solch ein Vokabular fehlt Mert im Leben – ihm fehlen die Mittel. Die Deckung, die Mert um sich herum aufgebaut hat, wird ­Kapitel für Kapitel durchbrochen, er selber wird aber nie niedergerissen. Vor einem steht eine Seele, die durchs L ­ eben muss. Das letzte Kapitel ist als Epilog, als Instant-Epilog zu nehmen. Das Buch kippt im letzten Moment nochmal nach hinten über. Man geht als Leser dann doch k.o. Und das ist wunderbar, und tragisch – und schön.

VERZETTELTE SEHNSUCHT von Ralf Diesel Danielewski wuchtet wieder ein ausgeklügeltes Werk aus. Protagonistenpärchen Sam und Hailey jagen durch Amerika. Beide Teenager sind verbraucht von ihrer Leidenschaft und von dem, was ihnen an Realität begegnet: alles verkommen, nichts Erhebendes. Sie vereinigen sich oft, sind sich einig, dass sie uneins sind mit der Welt. Sie treiben fiebrig voran, eiern um die Realität wie ein aus dem Lot geratener Trabant, durchstreifen die Zeit in einem Auto, das stets die Marke wechselt, und drehen sich, logisch, um sich selber. Diesem Kreis-Lauf folgend sind die Seiten angeordnet: In der oberen Hälfte verläuft Sams Erzählung von 1863 bis 1963. Dann kippt man das Buch wie eine Spielkarte und verfolgt Haileys Erzählung bis 2063. Jede Doppelseite hat vier „Cantos“ aus je 90 Worten –> 360°, eine Umdrehung, eine Re-volution. Die Reise endet mit dem Tod. Tod schließt sich ans Leben an, Leben an den Tod, man kann es drehen und wenden wie man will, Anfang ist Ende und Ende ist Anfang. Tagebuchartige Einträge historischer Ereignisse, teils imaginär, begleiten die fließenden Erzählungen. Dabei steht die krude Handlung der Sprache in nichts nach: Der Roadtrip aus Gewaltbegegnungen, Liebe und Orgien besteht aus W ­ ortschöpfungen und Verzettelungen, mehr oder ­weniger Joyce auf der Fährte. Round about unentschieden: Die Form hat mit dem Inhalt eines gemeinsam – den Selbstzweck. So kann man das Werk auch als rein k­ ünstlerisches ­betrachten.


Kultur

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© Bettina Strauss

NACHHALL von Ralf Diesel Dans les arbres, Canopée ECM Records, 2012 17,05 Euro

Albrecht Wellmer Versuch über Musik und Sprache Carl Hanser Verlag, 2009 328 Seiten, 27,90 Euro

David Toop Sinister Resonance – The Medium of the Listener Verlag continuum, 2010 Englisch, 256 Seiten, 14,95 Euro Norbert Miller Fonthill Abbey – Die dunkle Welt des William Beckford Carl Hanser Verlag, 2012 320 Seiten, 21,90 Euro

„DIE ANDERE SEITE“ von Ralf Diesel

Eine Wand aus Schimpf und Schande, der ­Gesichtsausdruck ein einziger Vorwurf. Laut, laut, laut. Und plötzlich doch was Gutes: Aha?! ­ Aufgehorcht. Da zerfleischt also einer nicht die Literatur, sondern kämpft verbissen darum, dass die Literatur nicht von schlechten Büchern zerfleischt wird. Als stände die Literatur an der Klippe, ­bereit zum Selbstmord, und der Leser wird mit einem D ­ onnerwetter geweckt, sie vom Sprung abzuhalten. B ­ esser lesen, besser verstehen, besser verstehen, was man macht, wenn man liest, das ist die Wirkung, die Marcel Reich-Ranicki durchs Medium presste. Die Einschaltquoten gingen hoch. Gut, kein Problem. Die Buchverkäufe durch ihn auch? Schwierige Behauptung. Aber hoch gingen die A ­ ugenbrauen: aufmerksamer lesen, wacher, staunender, ablehnender. Augen aufreißen, sich begeistern und empören. Und nicht nur so lesen, sondern auch so leben.Und nun ist er weg, der große Pragmatiker. Und nun fehlt uns das Gegenüber. An dem wir uns abarbeiten. Aber wir wissen nun endlich, dass wir ein Gegenüber brauchen. Oh, diese Leere.

KLANG - MUSIK - SPRACHE

Toop entwickelt eine Kulturgeschichte des Klangs, die er über das Hören aufbaut. Vom vorgeburtlichen Wahrnehmen von Geräuschen zu Freuds Unheimlichen, von Pans Flöte zu Cage, von der Stille bis zu Straßengeräuschen: Klänge und Geräusche scheinen Reste mythologischer Vergangenheit zu bergen, welche immer wieder an die Oberfläche treibt, gerade dann, wenn die Quelle eines Klanges nicht dingfest gemacht werden kann. Um das Unerklärliche wahrzunehmen, bedarf es allerdings eines „Close Listeners“, das ist jemand, der in den Klang hineingeht und etwas aus ihm heraushört, quasi herausliest. Liest man wiederum Toop, so zieht am geistigen Ohr ein Klangund Kulturpanorama vorbei, das einen immer weiter ins Buch treibt. Zuweilen überbordend in der Aufzählung von Künstlern, bleibt er gerade damit am intensivsten am Sujet. Er weckt die Vorstellungskraft über das, was Geräusche beinhalten, und erstellt nicht nur eine Geschichte des Klanges, sondern eine der Zivilisation. Des Menschen, der hört.Man sollte sich herausnehmen, Sinister Resonance in einem Rutsch zu lesen. Für William Beckford waren Töne nur ein Teil seiner Vision vom Unheimlichen. Die architektonische Idee seines Vaters – das Anwesen Fonthill Abbey – trieb Beckford in hedonistische Höhen und veranstaltete Weihnachten 1781 eine Begehung ganz eigener Art: das Schloss wurde zu einem Labyrinth umgestaltet, durch das sich die peinlich genau ausgewählten Gäste durchzufinden hatten. Tag und Nacht waren aufgehoben, geheimnisvolle Düfte taten sich auf wie ebensolche Gänge, unvorhersehbar präsentierten sich erlesene Speisen, ohne dass auszumachen war, wer sie aufstellte, Musik kam aus unauffindbaren Bereichen. Das Geflecht aus Tönen, Gerüchen und Licht diente der Irritation der Besucher. Alles Sinnliche sollte ins Übersinnliche leiten, ins nicht mehr Kontrollierbare. Über allem schwebte ein dunkler Schöpfer. Sein Versuch, die sinistren Wurzeln des Menschen freizulegen, erschöpfte sich nicht in dieser Inszenierung. Später ersann er eine Architektur, die das ohnehin überladene ‚kathedrale‘ Bauwerk von Fonthill Abbey noch übertreffen sollte. Dazu ließ er dieses abreißen. Vollendet wurde sein eigenes Werk jedoch nicht – es verschlang sein ausuferndes Vermögen. Aus dem „Weihnachts-Fest“ heraus schrieb Beckford den Roman Vathek. All sein Gedankengut formuliert er künstlerisch um, in Architektur, in Literatur, in gesellschaftliches Spiel.

Norbert Millers Biografie des Autors zeichnet dessen mythologisch-künstlerisches Weltbild äußerst konzentriert und präzise nach. Die Zusammenstellung der Musik und Klänge, die 1781 durch Fonthill Abbey zogen, war aus einer mythologischen Vorstellung ersonnen. Folgt man nun wiederum Toop, so verließe man mit den Klängen die Gemäuer und käme zurück in einen ursprünglichen Zusammenhang: dem der Natur, aus der sich der Mensch herausgelöst hat, die ihn jedoch stets aufs Neue belangt, mit Ängsten belegt, die ihr Geheimnis einfach nicht preisgibt. Pan als Zeremonienmeister. An einem solchen Geheimnis entlang arbeitet das Improvisations-Quartett Dans les arbres. Die Musiker wirken äußerst subtil untereinander. Hier sind eher bewegende Elemente auszumachen, weniger bedrohliche oder gefährdende. Eine außergewöhnlich leise und dabei kraftvolle Musik. Das Undurchdringliche der Natur scheint durch diese Musik zu atmen. Doch setzt dieses Atmen Geheimnisse frei. Inwieweit dieses Album narrativ wäre, gerade über das Assoziative, und Aspekte des Sprachlichen aufweist, fällt in die Diskussion um linguistische und musikalische Strukturen. Wie im 20. Jahrhundert die Neue Musik sich von sprachlichen Strukturen lossagt, bearbeitet Albrecht Wellmer in Versuch über Musik und Sprache. Musik als Selbstbezügliches, das nicht über sich hinausweist, da es nicht zeichenhaft ist? Oder Musik als etwas, das dadurch über sich hinausweist, dass es seine eigenen Zeichen entwickelt? Wellmer macht diese Diskussion klar und differenziert zugänglich. Er zeichnet z.B. Kants und Adornos Linien über Ästhetik und Inhalt nach und bringt sie auf eine Ebene, die zwar immer wissenschaftlich und philosophisch, dabei aber vermittelnd bleibt. Er stellt seinen eigenen Standpunkt dar, nach dem Musik nicht frei ist vom Sprachlichen und darüber hinaus über etwas Übersprachliches verfügt, wodurch sie, mehr als Sprache, befähigt ist, Zusammenhänge zu befördern. Verfolgt man die Linie dieser CD und dieser Bücher, so kann man durchaus postulieren, dass Musik etwas Vorsprachliches wie auch Übersprachliches aufweist, und dass mit ihr ein Erzählen möglich ist. Demgegenüber kann man jedoch auch postulieren, dass man das Geheimnis hinter den Dingen sprachlich nicht benennen kann, man kann nur drum herum erzählen. Widerspiegeln dagegen kann es nur die Musik. Denn diese hat, wie die Natur, lediglich einen Selbstzweck.

Eurotrash – Ein Buch über Schnauzer, Abenteuer und die Gesundheit des Mannes. Entstanden im Zusammenhang mit dem Movember, eine wohltätige Initiative, bei der jedes Jahr Männer auf der ganzen Welt die Oberlippe unrasiert lassen um Geld für Prostata-, Hodenkrebs oder die männliche Gesundheit im Allgemeinen, zu sammeln. Das Buch nimmt seinen Leser mit auf eine umfassende Tour durch Europa, doch nicht zu Staatspalästen, Museen, Naturwundern oder Denkmälern, sondern von einem herrlichen Schnauzbart zum nächsten. Da gibt es den Viehhalter vom irischen Land, den Dandy des Chap Magazines in London, die Altrocker der schwedischen Provinz, die alternden Liebhaber vom Stiefel Italiens und, ganz in der Nähe, den Berliner Schnauzer Club am Tegeler See. Jeder von ihnen hegt seine eigenen Weisheiten zu Gesundheit, Liebe und PflegeTechniken. Eine Männerdomäne? Schon ein wenig, aber die Autoren reagierten darauf und fanden sogar eine Dame, die nun samt Schnurrbart die Seiten ziert. Autor des Buches ist Conor Creighton, die Fotos stammen von Steve Ryan zudem sind Werke zahlreicher Illustratoren darin enthalten. Wer mehr über den Movember erfahren möchte, findet unter www.movember.de weitere Informationen. Um Conor Creightons Buch zu erstehen, können sich die Berliner unter ihnen direkt an den Autor wenden: conorcreighton@gmail.com


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English Appendix

ARROGANT BASTARD by Adrian Stanley Thomas, New York City In the ever obsessive war on everything that is bad, by bad I mean, processed food, poor neighborhoods all over the world, and horrible writing (I’m trying to stick to the flavor of each issue people), it is I who will go against the grain and profusely defend the rights of the global citizen to consume trash and visit the least among us to take pictures for scrapbooks, Facebook, and as many “LIKES” as possible to receive those cool points. I’m grouping this all together like a big juicy hamburger with everything on it. So how can I talk about all this so intelligently? I haven’t figured that part out yet, but should someone as important as me be bound by man’s law, of course not. It just so happens that at the very same time that I’m thinking about trashy literature, culinary stuff, and travel, TRAFFIC News to-go is doing an entire issue on these very interesting topics. I can’t make this kind of stuff up. It’s just cosmic I tell you. Because of this COINCIDENCE, I thought it would be appropriate to write a synopsis about each one. There’s meaning in everything so I’m told, so there must be a reason why some of us are so attracted to the dark side called trash. We like trashy food, trashy places, and trashy books. Even I like processed food that’s packed with sugar, carbs, and salt because it tastes good and makes me sleepy. And the government knows that I like being sleepy. Do you think this is a form of food manipulation by the government to control me and control what I eat so they can control my mind? If I could somehow eat trashy food without the government taking the credit and manipulating me into buying more and sitting on the couch while doing it, that would be peachy. So maybe I can compromise a bit. I don’t mind being controlled, but the proceeds from that control must go to a far off people like maybe the Pigmies. They can’t be corrupted. Isolation can do that. It’s a moral issue, I do have standards. I should also stay away from poor neighborhoods. But I like poor neighborhoods. Why does that sound so weird to say? Anyway, I like (different) neighborhoods which is the politically correct way to say it because everyone should be considered the same. (Give me a second, I’m laughing). I like poor neighborhoods because the best art always comes from the lower classes. It’s very educational to see people express themselves with all sorts of things like plastic and metal that’s generally found in abandoned buildings and dumping grounds. But wait, whenever there’s interesting art made by the lower classes, the upper classes find out about it and make it popular so the masses think that if they work hard and accept the so called (inferiority) of their neighborhoods, maybe one day they can make it in the general population and sell their art to rich people and move out of that poor neighborhood and into a really nice one where people are making large amounts of money and have really

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extravagant parties where the poor people’s art can be sold for charity and for a lot of money. This money can help the poor neighborhood. This is a really good idea. I should tell the poor people about selling their art. This could be a gold mine! Or maybe I should just curl up with a good trashy novel about poor people and their problems that usually have something to do with selling drugs to other poor people with the hope of selling the drugs to rich people at a higher price depending on what the dollar is worth. Capitalism does trickle down to the poor people every now and then. But if I read a trashy novel written by a poor person, it won’t be given the same relevance as art by a poor person. The trashy novel by the poor person simply has no chance of being taken seriously like novels by “OTHER” kinds of poor people like the folks in Crime and Punishment or War and Peace. That’s classy Neapolitan writing. There’s no anger, or sex (Lovemaking), or violence, or lying in any of the classy novels. It’s only in the novels from (THOSE) people associated with the lower classes. It’s like going to a carnival once a year. It’s not really something worth mentioning. Now this creates a problem in a number of ways because if you want to venture over to the dark side, there are circumstances that you need to consider. What class are you? Should you be concerned about mind control? Is any­ one around that might tell other people what you’re doing? Could you steal some art from the poor neighborhood and make some money. All important questions you should really consider. Enjoy the carnival!

THE WEATHER by Natalie Holmes German version on page 10 MUNICH 48° 8'N, 11° 35' E AUTUMNALLY MILD Emerging from the rainy isle during the 18th century, the English style of landscape garden spread quickly across the mainland, it’s avant-garde rejection of convention capturing the imagination of a continent hungry for change. Munich’s manifestation is a particularly impressive example, characterised by asymmetry and sweeping, oriental curves. Created in 1789 and extended in the decades that followed, the Englischer Garten is one of the world's largest urban public parks, home to a Japanese tea house, a Chinese tower, as well as a lake, amphitheatre, sheep farm and countless ornate structures and sculptures. Today, the high-design space hypnotises with a sense of long-lost optimism and dominion over nature—with the nudist area of Schönfeldwiese providing a distinctly German twist. BERLIN 52° 31'N, 13° 24' E CLOUDY AND BRISK Summer was fast and hard, just how Berliners like it, but let’s not pretend that the soft, slow

slink into semi-permanent twilight is a wholly unappealing prospect. More clothes, more colour, more afternoon walks around deserted green spaces wondering where on earth the city does with all its inhabitants once the mercury hits the mid-teens. Nowhere is there a more romantic spot for spectating the sliding seasons than the English Gardens, originally part of Bellevue Palace grounds on the northeast edge of Tiergarten. Gone is the understated, calculatedly shabby ambiance that epitomises so much of the German capital— here not a leaf sits out of place among the pruned hedges, neat flower beds and fastidious footpaths. And once the cold wins out, duck into the historic Teehaus for a steaming cup of English quintessence. PAWLOWSK 59° 41' N, 30° 16' E FRIGID AND WINDY Rural Russia is perhaps not the most obvious corner of the world to go looking for an English garden, but less than hour outside St. Petersburg lies one of the world’s finest examples. Conceived by the Scottish architect Charles Cameron in the late 18th century, Pavlovsk Park is as grand as the eponymous palace it serves, and inspired by the continental gardens visited by its original aristocratic inhabitants. A melting pot of European influence, from the rows of Lübeck linden to a Chantilly-inspired mock-rustic hamlet, Pavlovsk Park is today open to the public to absorb the high emotion of a bygone era. “Melancholy consumes the soul when you arrive,” said one early visitor, of the garden’s effect. “Then the pain is followed by pleasure.” PALERMO 38° 6' 57" N, 13° 21' 41" E SUNNY AND SLIGHTLY MILD In the 1850s, the english trend eventually reached Sicily's capital. The informal style and natural morphology of the English garden replaced the measured and geometrical giardino all'italiana that existed before – surprising today, given the contemporary stereotypes placed on those respective cultures. Designed by an Italian architect and comprising exotic flora from Africa and Asia, Palermo’s Giardino Inglese remains a living, breathing Wunderkammer of the colonial age. The garden may be Anglo-inspired, but it undoubtedly possesses that indefatigable Mediterranean spirit. Even though it is as beautiful as the other ones - an English garden where the sun always shines is no English garden at all.

CRITICAL MASS by Natalie Holmes German version on page 11 Sunday afternoon, 2 o’clock. This slovenly anomaly of a German city is still rubbing the last flakes of sleep from its eyes. I roll into Parisier Platz, the October mist settling like sweat on the skin of fresh-faced tourists in the cool

shadow of the Brandenburg Gate. It takes me a while to spot the Critical Mass crew: a handful of cyclists huddled in a corner. I imagined there’d be more of a, well, mass. But, to be fair, last Friday was the main event, and this, the first Sunday of the month, is more of an afternoon addendum. A postscript for the passionate. Critical Mass started in San Francisco in 1992 and has since spread to over 300 cities worldwide. The last Friday of every month, come rain or shine, sees at least 500 cyclists meet at Kreuzberg’s Heinrichplatz at 8pm before setting off on a disruptive two-hour tour of Berlin. The meeting’s main agenda, whatever the city, is to redress the balance between motorised traffic and bicycles; a festive demonstration in favour of making the streets a safer place for cyclists. Knowing all this, I approached Berlin’s edition with some skepticism. I’m from London, a city where bike lanes are as rare as compassionate cabbies, and 14 cyclists died last year, the majority crushed horrifically by large lorries. In Berlin, with its endless cycle paths and general tolerance for cyclists, Critical Mass is surely preaching to the choir. “We want equal rights on the road,” explained Christian, one of the dedicated dozen out on this soggy Sunday. “As cyclists, we’re treated like second class citizens.” I ask him to give me an example. I’m still smitten with Berlin’s bike culture and fascinated to hear what he comes up with. “For a start,” he says, already smarting at the injustice he’s about to describe, “it’s completely unclear which traffic signals we should adhere to. The rules are so complicated, and this leads to uncertainty, which is dangerous.” And it’s true, the current highway code lays out a mind boggling set of regulations requiring cyclists to behave differently depending on the location of the cycle path in relation to the road and the presence of particular sets of traffic lights. The consequences of this confusion inevitably go against cyclists, from on-the-spot fines for traffic violations to injury and even death through collision with motor vehicles. Not to mention a seething anti-cyclist sentiment from fellow road users. It’s perhaps this “us versus them” mentality that Critical Mass is best known for. Being pro-cyclist in most cities seems to mean being anti-car, with the monthly protest a culmination of four weeks of underdog frustration. Surging through the streets, fuelled by the euphoria of togetherness, the group antagonises drivers by reclaiming the streets, causing chaos for those unfortunate enough to be caught in the ensuing traffic. Despite appearances, this is technically not an organised protest, but rather a spontaneous gathering, a status that spares the movement from being subject to laws requiring organised demos to be registered in advance with the police. Among the Sunday group, no one will admit to running the Critical Mass Berlin Facebook page, for fear of possible recriminations. As our diminutive but determined collective sets off through the streets of Mitte, I get an inkling of the intoxicating effect of unity. But as the journey progresses I start to feel miffed. I stop to let pedestrians cross at a red light, shocked to see my fellow cyclists cruise on past. Over two decades since the first official Critical Mass, antagonism is today a defining feature of the movement, leading to accusations that such behaviour does more harm than good to cyclists’ causes. So come November 29th, you’ll find me among the pedaling masses, tearing through the wintry streets amid a clash of wheels and bells. But I’ll be stopping at every red light in honour of the long-suffering drivers of Berlin’s buses, taxis and delivery vans – those forgotten vehicles that keep our beloved city alive.


Autumn Winter Collection 2013 Esra Rotthoff meets


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