Die Geschichte von Sylvia

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VOM GLÜCK VERLASSEN Komplettrenovierung auch ihre Wohnung aufgeben musste, nahmen die Schicksalsschläge ihren Lauf. «Als ich am Pfingstsamstag mit dem Umzug begann, wusste ich noch nicht, wo ich am Mittwoch darauf schlafen werde.» Nach vier Freinächten fand sie bei der Heilsarmee an der Geroldstrasse eine dauerhafte Bleibe. Dies bot ihr die Möglichkeit, Ruhe in ihr bewegtes Leben zu bringen und sich neu zu orientieren. Im August 2013 startete sie mit der gestalterischen Berufsmatur (BMS) und wollte anschliessend an die Fachhochschule. Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Im Dezember und Januar erlitt sie zwei Hirnschläge.

«Ich bin immer wieder aufgestanden.» Sylvia Maag, Bewohnerin Im Sommer fand sie ihre Mutter tot in deren Wohnung auf. Im Jahr darauf folgte die erste Herzoperation, die durch die beiden Hirnschläge zu Komplikationen führte, was Sylvia beinahe ihr rechtes Bein kostete. Dieses konnte nur durch mehrere Operationen innerhalb weniger Wochen gerettet werden. Bei ihrer Rückkehr an die Geroldstrasse kümmerten sich einige Mitbewohnerinnen und Mitbewohner rührend um sie und halfen, wo sie konnten.

Ihr Lachen spricht Bände: Sylvia geniesst ihr Leben wieder und schöpft Kraft aus der Natur

EIN RASTLOSES LEBEN «Jemand muss gewusst haben, was auf mich zukommt», sagt Sylvia Maag. Nach einem unsteten Leben trafen sie mehrere Schicksalsschläge – auch, nachdem sie bei der Heilsarmee an der Geroldstrasse in Zürich eine beständige Bleibe gefunden hatte. Das Leben von Sylvia war bereits in der Kindheit von Rastlosigkeit geprägt. Als sie drei Jahre alt war, liessen sich ihre Eltern scheiden. Sie und ihr Zwillingsbruder wurden getrennt voneinander bei den Grosseltern untergebracht. Es folgten Pflegefamilie und Kinderheim. Als ihr Vater wieder heiratete, kehrten die Kinder zu ihm zurück. Doch Ruhe fand Sylvia keine. Das Verhältnis zu ihrer Pflegemutter war von Beginn an getrübt und ihr in Traditionen behafteter Vater war der Ansicht, dass es für ein Mädchen nur ein Ziel geben kann: heiraten, Kinder gebären und den Haushalt führen. Sylvia hatte jedoch andere Pläne. «Bevor ich hierherkam, hätte ich nicht gewusst, wen ich anrufen oder fragen sollte.» Um Abstand von Zuhause zu erlangen, absolvierte sie nach der abgebrochenen Lehre als Bäckerin/Konditorin das bäuerliche Haushaltsjahr und die Bäuerinnenschule in Langenthal. Da sie nach dem Abschluss keine Anschlusslösung fand, drohte ihr zum ersten Mal die Obdachlosigkeit.

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Nun wurde das Leben der jungen Frau richtig turbulent. «Dass ich keinen eidgenössischen Lehrabschluss habe, ist mir dann mein Leben lang zum Verhängnis geworden», berichtet sie. Arbeitslosigkeit im Wechsel mit immer ändernden Arbeitsstellen und Wohnorten liessen sie mehr und mehr in die soziale Isolation abrutschen. Ihre seit der Kindheit auftretenden gesundheitlichen Probleme verstärkten sich. Doch Sylvia gab nicht auf. Sie bildete sich auf verschiedenen Gebieten weiter und wagte den Schritt in die Selbständigkeit. Da sie aber die Steuern und die AHV-Beiträge nicht mehr bestreiten konnte, häuften sich Schulden an. Sie hatte weder eine Krankentaggeld- noch eine Arbeitslosenversicherung, die Zahlungen an die Pensionskasse hatte sie längst eingestellt. «Wenn man dann krank wird, steht man mit nichts da.» «Das Schicksal hatte andere Pläne.» Als dann 2012 ihr einziger Freund aus Jugendtagen an einem Herzinfarkt starb und sie durch ihre Schulden nach der

Ihr vom Schicksal geprägtes Leben hat Sylvia viel Kraft gekostet

Ihre körperlichen Beeinträchtigungen hinderten sie nicht an der Rückkehr an die BMS. Die gesundheitlichen Belastungen nahmen zu, führten zu starken Konzentrationsproblemen und zwangen die Kämpferin 2016 zur Aufgabe. Sylvia stand einmal mehr auf und ging weiter. Nochmals nahm sie einen Anlauf für eine berufliche Reintegration. Nach knapp einem Jahr wurden die körperlichen Probleme so stark, dass sie wieder gezwungen war, zu kapitulieren. Diagnose: Lupus. Unheilbar. Dadurch wurde sie zu 100 Prozent IV-Rentnerin. «Immer, wenn es hart auf hart ging, standen meine Schutzengel bereit.» Überglücklich berichtet Sylvia von ihrer zweiten Herzoperation im Mai 2019: «Jetzt bin ich wirklich herzgesund.» Zurzeit sucht sie ein Heim für körperlich Beeinträchtigte. Idealerweise auf dem Land umgeben von der Natur und trotzdem stadtnah genug, um die notwendige medizinische Versorgung zu gewährleisten. «Heute, nach mehreren Schicksalsschlägen, geht es mir besser als damals, wo ich hierhergekommen bin.» Bevor sie zur Heilsarmee kam, fühlte sie sich oft einsam, sass allein in ihrer Wohnung und wusste nicht, an wen sie sich hätte wenden können. Dies hat sich nun geändert. «Seit meinem Einzug an der Geroldstrasse habe ich Menschen kennengelernt, die an mich glauben und hinter mir stehen.» Für die Zukunft wünscht sie sich Harmonie und ein weitmöglichst selbstbestimmtes Leben trotz körperlicher Leiden. Ein geschützter Lebensraum für psychisch und sozial Benachteiligte Das Angebot des Wohnheims Geroldstrasse in Zürich mit 23 Betten und einem Notfallzimmer richtet sich an Menschen ab 18 Jahren mit unterschiedlichen Problemlagen. Sie haben keine Wohnmöglichkeit, sind auf eine betreute Wohnsituation angewiesen, haben psychische, somatische und soziale Schwierigkeiten oder Suchtprobleme. Gemeinsam mit einer Bezugsperson wird der Aufenthalt im Wohnheim individuell geplant und gestaltet. Dabei werden die Betroffenen als eigenverantwortliche Personen und entwicklungsfähige Individuen wahrgenommen. Ziele des Aufenthalts sind die Stabilisierung der persönlichen, sozialen und gesundheitlichen Situation und die Stärkung der persönlichen Entwicklung bis hin zu einer möglichst selbständigen Lebensweise. Ende 2019 ziehen die Bewohnerinnen und Bewohner dann ins neu errichtete Wohnheim an der Ankerstrasse mit 36 Plätzen. Eröffnet wird das Gebäude im Januar 2020 mit einem Gottesdienst und einem Fest für die Besucherinnen und Besucher.

heilsarmee.ch/geroldstrasse Text: Judith Nünlist | Fotos: Ruben Ung

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