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Strassenmagazin Nr. 563 3 17. bis 30. November 2023 3

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Frauen

Unsicher Betroffene, Täter und Expertinnen berichten über Gewalt gegen Frauen. Ein Schwerpunkt. Seite 8


Geben warm: Die SURPRISE-HOODIES

Gutes tun – sinnvoll schenken

Geben einen coolen Look: Die SURPRISE-MÜTZEN Gibt andere Perspektiven: Ein SOZIALER STADTRUNDGANG

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SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf2die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TITELBILD: DINAH WERNLI

Editorial

Hin- und Wegschauen Surprise soll nicht immer nur über schwere und traurige Themen berichten. Das schreiben uns Leser*innen. Die Weltnachrichten seien gerade mal wieder besonders schlimm, die Menge der dringenden Probleme kaum zu bewältigen. Können wir nicht mal was Aufstellendes bringen und uns abheben von der Nachrichtenlage? Ich kann den Wunsch gut nachvollziehen. Man möchte sich ablenken lassen. Ich weiss nicht, ob es besonders düstere Zeiten sind oder ob wir es nur so wahrnehmen, weil wir mit hoher Frequenz mit Informationen und Agitation versorgt werden. Vielleicht ist es beides. Allerdings wird es wird nicht besser, wenn wir aufhören hinzuschauen. Im Gegenteil. Nehmen wir das Thema dieser Ausgabe: Gewalt gegen Frauen. Erschreckend sind die Zahlen und vielfältig die Formen von Gewalt gegen Frauen, die immer noch als normal angesehen werden.

Ich bewundere zutiefst den Mut der Frauen, die sich aus diesen menschlichen Abgründen herauskämpfen. In diesem Heft sprechen wir mit einer Überlebenden schwerer Gewalt, lassen ein Paar zu Wort kommen, das versucht, die Gewaltspirale zu durchbrechen, erklären, warum geschlechtsspezifische Morde als Femizide bezeichnet und erfasst werden sollten, und berichten, wie sich eine mutige junge Frau gegen die Beschneidung von Mädchen einsetzt. Ich habe die Luft angehalten beim Redigieren und auch mal geweint. Als Journalistin glaube ich daran, dass wir als Gesellschaft nur weiterkommen, wenn wir uns kritisch mit uns selbst auseinandersetzen: mit den Taten, den Folgen, den Mechanismen, den (fehlenden) Schutzsystemen. Und auch dem Bedürfnis, wegzuschauen.

Wir haben uns von unseren Kolleginnen von den Sozialen Stadtrundgängen inspirieren lassen, die sich als Betroffene dieser Thematik auskennen.

5 Na? Gut!

Keine Todesstrafe mehr

8 Ein Überblick 11 Internationale Daten

5 Vor Gericht

Ein teurer Shitstorm

und Fakten erzählt 16 Wie Gewalt in den

Griff bekommen? 20 Einsatz gegen FGM/C 22 Was sind Femizide?

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Redaktorin

4 Aufgelesen

Gewalt gegen Frauen

12 Eine Überlebende

SAR A WINTER SAYILIR

Illustratorin Dinah Wernli hat ihre Lust am Zeichnen zum Beruf gemacht und an der HSLU Illustration studiert. Heute ist sie freischaffende Illustratorin und Autorin – und kann sich sehr gut vorstellen, das noch eine ganze Weile lang zu bleiben.

24 Verein Surprise

20 Jahre Integration durch Sport 26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse

Pörtner in Pieterlen

6 Verkäufer*innenkolumne 28 SurPlus Positive Firmen Weit weg 7 Moumouni antwortet

Wie komme ich mit Unbekannten in einen Dialog?

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Ich lache gerne mit den Leuten»

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Aufgelesen News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Volksdroge Alkohol Fast 15 Prozent aller Menschen in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren trinken Alkohol in gesundheitsschädlichen Mengen, so eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich im oberen Drittel, was gemäss BZgA auch darauf zurückzuführen ist, dass Alkohol in der Gesellschaft bagatellisiert und als «Volksdroge» weitgehend normalisiert werde, und zwar bereits früh; im Schnitt wird in Deutschland bereits mit 15 Jahren zum ersten Mal Alkohol konsumiert. aller Menschen in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren trinken Alkohol in gesundheitsschädlichen Mengen.

ASPHALT, HANNOVER

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Probleme mit Obst und Gemüse Deutschland ist europaweit der Hauptabnehmer von Gemüse und Obst aus dem südspanischen Almería: 30 Prozent aller Exporte der dortigen Landwirtschaft landen in deutschen Supermärkten, was in wenigstens zweierlei Hinsicht problematisch ist. Erstens werden für den Anbau grosse Mengen an Wasser benötigt, das angesichts der zunehmenden Dürre in Spanien immer knapper wird. Und zweitens entstehen in diesem Gebiet immer grössere Müllhalden aus den Resten des Plastiks, das zur Verpackung der Lebensmittel benötigt wird und teilweise in Böden und Grundwasser gelangt.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

Kulturelle Teilhabe + + + Gewinner des Piazza Grande Publikumspreises von Locarno

Der neue Film von KEN LOACH

(«I, Daniel Blake»)

«Ein Film, der direkt zu Herzen geht.» FILMSTARTS.DE

Seit 20 Jahren erhalten Menschen mit geringem Einkommen österreichweit freien Eintritt zu 1200 Kultureinrichtungen. Die Aktion heisst «Hunger auf Kunst und Kultur» und wurde 2003 von Vertreter*innen des Schauspielhaus Wien initiiert. Allein in Wien wurden durch diese Aktion bisher mehr als 1,5 Millionen Kulturbesuche ermöglicht, das sind täglich rund 200 Eintritte.

AB 23. NOVEMBER IM KINO AUGUSTIN, WIEN

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Na? Gut!

Keine Todesstrafe mehr 23 von 55 afrikanischen Ländern haben bereits die Todesstrafe für alle Straftaten abgeschafft. Nun hat auch Ghana einen wichtigen Schritt gemacht. Diesen Juli stimmte das Parlament des westafrikanischen Staates zu, die Todesstrafe aus dem Gesetz über strafbare Handlungen und andere Verbrechen von 1960 sowie aus dem Gesetz über die Streitkräfte von 1962 zu streichen. Präsident Nana Akufo-Addo hat die entsprechenden Gesetzesvorlagen im August unterschrieben. Eine Revision der ghanaischen Verfassung zur Eliminierung der Todesstrafe steht allerdings noch aus, Hochverrat wird weiterhin mit dem Tod geahndet. Im August sassen in Ghana noch 176 Menschen im Gefängnis und mussten mit der Vollstreckung ihres Todesurteils rechnen. Die letzten sieben Urteile waren erst 2022 verhängt worden. Allerdings wurden seit 1993 keine Hinrichtungen mehr durchgeführt. Nun können die Strafen der betreffenden Personen in lebenslange Haftstrafen umgewandelt werden. Ghana folgt damit dem Vorbild von Tschad, Sierra Leone, Sambia, der Zentralafrikanischen Republik sowie Äquatorial Guinea, die allesamt in den letzten drei Jahren die Todesstrafe für sogenannte gewöhnliche Verbrechen abgeschafft haben. WIN

An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen. Quellen: tinyurl.com/2tf9v83e tinyurl.com/2hx734sa tinyurl.com/3fzhtccp tinyurl.com/yckxzz8s

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Vor Gericht

Ein teurer Shitstorm Einmal mehr steht der bekannteste Gefangene der Schweiz vor Gericht: Brian Keller. Mit 15 ist er schon Dauerdelinquent und begeht ein erstes gravierendes Delikt: einen Messerangriff. Es folgen Haft, Einzelhaft, Suizidversuch, Psychiatrie. Mit 18 verhilft ihm eine SRF-Dok zu unfreiwilligem Ruhm, damals unter dem Pseudonym «Carlos». Das halbe Land empörte sich nach einem vom Blick initiierten Shitstorm so sehr, dass die Zürcher Justizbehörden sein kostspieliges Sondersetting samt Rindsfilet und Thaibox-Training stoppten. Rückblickend lässt sich sagen: Selbst wenn der junge Mann Kaviar gelöffelt hätte, wäre der Staat mit dem als «Sozial-Wahn» verschrienen Spezialprogramm weit günstiger gefahren. Denn damals war Brian Keller endlich auf gutem Wege – nach der Aufregung entgleiste er wieder. Es kam zu weiteren Delikten und Anklagen, zu zahlreichen Verfahren bis vors Bundesgericht und retour. Heute ist Brian Keller 28. Seit sechs Jahren ist er ohne Gerichtsurteil in Haft. Nun fordert die Staatsanwaltschaft am Bezirksgericht Dielsdorf 9 Jahre und 7 Monate Freiheitsstrafe für insgesamt 32 Delikte – allesamt begangen, während er in der Strafanstalt Pöschwies in Einzelhaft sass. Dreieinhalb Jahre lang. Deshalb sprechen seine Verteidiger von einer Notstandssituation: Brian Keller habe sich wehren müssen. Seine Verteidiger fordern einen Freispruch. Brian Keller hat sich von der Verhandlung dispensieren lassen. Es geht an den zwei Prozesstagen auch nicht nur um seine

Person, sondern auch darum, wie er vom Staat behandelt wurde. Es geht um Folter, um Menschenrechte, um Rechtsstaatlichkeit. 2021 kritisierte die UNO die lange Isolationshaft, im selben Jahr ordnete das Bundesgericht die Lockerung des Haftregimes an. In Dielsdorf äussert sich ein Berner Strafrechtsprofessor zu den Haftbedingungen: «Es lag eine nach menschenrechtlichen Vorgaben verbotene Langzeithaft vor.» Denn Isolationshaft, während der ein Insasse an 22 Stunden pro Tag keinen sinnvollen menschlichen Kontakt habe, dürfe nicht länger als 15 Tage andauern. Gerade bei einer vulnerablen Person wie Brian Keller, bei dem mehrere psychische Erkrankungen diagnostiziert wurden. Klar ist, dass wohl ein Schuldspruch erfolgte, würden die Strafvollzugsbehörden vor Gericht stehen. Ob sich Brian Keller mit seinen Ausfälligkeiten deswegen «nur» in einer entschuldbaren Notstandssituation wehrte? Es wird ein schwieriger Entscheid für das Gericht – der zweite sachverständige Zeuge, ein Chefarzt und Psychiater aus Basel, spricht von einem hohen Rückfallrisiko – den Beschuldigten einfach laufen zu lassen, wäre «ein grosses Experiment». Und das Dielsdorfer Gericht wagt’s. Die Rückfallgefahr sei zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht genügend begründet, so die Richter. Das harte Haftregime habe die Situation eskalieren lassen. «Die Behörden hätten schneller eine andere Lösung finden müssen.» Brian Keller kommt frei – eng begleitet von Sozialarbeitenden. Wegen der im Gefängnis Pöschwies begangenen Taten kassiert er 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt, eine Strafe, die er wohl im Voraus abgesessen hat. Bleibt zu hoffen, dass es nun ruhig wird ihn. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich.

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Verkäufer*innenkolumne

Weit weg Wenn ich in der Bahnhofunterführung zu Rapperswil stehe und meine Surprise-Hefte verkaufe, begegnen mir viele Kinder, insbesondere während der Schulferien, denn in Rapperswil befindet sich seit Jahr und Tag Knies Kinderzoo. «Mami, Mami, guck mal, die schöne Sonnenblume.» Ein Mädchen hat die Sonnenblume, die mich stets, bei jedem Wetter, unter allen Umständen und zu jeder Zeit begleitet, an meinem Wägeli entdeckt. Die Mutter soll an dieser Entdeckung natürlich gebührlich teilhaben. Die Mutter aber reagiert nicht. «Mami», diesmal etwas drängender, «guck mal, die schöne Sonnenblume.» Keine Reaktion. «Mami, Mami», nach einer Pause mit Nachdruck «Ma-mi!», dann dringlicher «Ma-mi!». Keine Reaktion. Dem Mädchen geht es jetzt nicht mehr darum, der Mutter meine Sonnenblume zu zeigen. Inzwischen würde ihm ein Blick der Mutter oder ein Kopfnicken, eine Geste ihm zugewandt, ein Zeichen der Aufmerksamkeit, der Zuneigung, genügen. «Mami», nun zögerlich, bittend.

Wie hat das Hans Rhyner, ein Kolumnisten-Kollege, an dieser Stelle mal so treffend formuliert: Ständig damit beschäftigt sein, nicht dort zu sein, wo man ist. Es ist schon vorgekommen, dass sie in mich hineingelaufen sind, während ich so dastehe und meine Hefte verkaufe. Menschen, mit Augen nur für ihr Handy, nichts anderes sehend und hörend. Ich sehe es jedes Mal kommen, wenn sie in mich hineinlaufen, aber ich sage nichts, ich wecke sie nicht auf, ich rufe nicht, ich weiche nicht aus, ich lasse sie in mich hineinlaufen. Immerhin ist es ihnen peinlich, und sie entschuldigen sich mit einem verlegenen Lächeln. Doch das Leben zieht unbemerkt an ihnen vorbei. Das Mädchen hat resigniert. Mit hängendem Kopf trottet es traurig hinter seiner Mutter her. Es verwünscht wahrscheinlich das Handy der Mama, wünscht es irgendwohin, weit weg, vielleicht in das Land, wo der Pfeffer wächst, einfach an einen Ort, wo es die Mutter niemals wieder finden würde, damit es, das Kind, Beachtung und Anteilnahme von der Mutter bekäme. Ich möchte der Mutter zurufen: «Gute Frau, legen Sie mal Ihr Handy weg, Ihr Kind braucht Sie. Ihr Kind, das leibt und lebt!» URS HABEGGER, 67, verkauft Surprise seit 15 Jahren in der Bahnhofunterführung Rapperswil. Wie sein Kollege Hans Ryhner sieht auch er an seinem Standort, was alles Suchtpotenzial haben kann: Alkohol, Nikotin, harte Drogen und auch das Handy.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

ILLUSTRATION: ADELINA LAHR

Aber unverwandt starrt die Mutter auf ihr Handy, gefangen von der digitalen, virtuellen Welt, die ihr alle Sinne raubt, auch das Gehör, und nicht nur die Sinne, auch die Erinnerung, dass da noch ein Kind ist. Ihr Kind. Sie ist weit weg, mit Haut und Haar eingenommen von diesem viereckigen, unscheinbaren Kästchen, das die Menschheit im Nu erobert hat, absorbiert

von bunten, laufenden Bildern. Ein Wisch mit dem Finger und schon öffnen sich wieder neue Welten. Zeit und Raum, alles um sich vergessend, selbst ihr Kind.

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ILLUSTRATION: CHRISTINA BAERISWYL

wenn Kinder in der Schule von ihren Lehrpersonen gezwungen werden, sich für Menschen zu rechtfertigen, mit denen sie nichts zu tun haben. Wenn die Frage nach der Distanzierung kommt, als sei es für uns natürlicher, zu Gewalt und Terror zu stehen, als nicht. Wenn Empathie vor Hautfarbe, Misstrauen und Parteinahme «für den Westen» Halt macht. Wir hätten nicht vergessen, dass ein «nie wieder» uns alle betrifft und dass, sobald man aus Menschen eine «Rasse» machen und sie verfolgen kann, niemand sicher ist vor rechtsnationalistischem Gedankengut und unschuldiger Apathie.

Moumouni antwortet

Wie komme ich mit Unbekannten in einen Dialog? Haben Sie die schönen Kürbisse gesehen? Ich trauere ihnen nach, denn ich habe sie nicht gesehen. Ich sitze mit dem Rücken zur Stimme, die in einem Viererabteil mit dem Rücken zu mir sitzt und durch das gleiche Fenster im gleichen Zug schaut. Die Sonne strahlt uns entgegen und die Landschaft behauptet, die Welt sei schön. Ein idyllisches Bächlein, dann kommen die Kälber. Haben Sie den süssen Esel gesehen? Ich habe wieder etwas verpasst. Bin ihr aber dankbar, sie klingt beide Male so entzückt, dass ich mir die schönsten Kürbisse und den süssesten Esel leicht vorstellen kann. Dann sehen wir beide ein Pferd und sind Freundinnen. Als ich aussteige, sehe ich sie und verabschiede mich, sie lächelt. Wir redeten nicht über den Nahostkrieg. Surprise 563/23

Wir normalisierten keinen Krieg, keinen Terror und keine Gewalt und rechtfertigten sie auch nicht. Wir redeten nicht über den 7. Oktober und die vielen Getöteten und über die schrecklichen Videos und die Angst der Angehörigen. Und wir sprachen nicht darüber, wie man zwischen Rache und Verteidigung unterscheiden kann. Wir redeten nicht über Babys und Geiseln, nicht über Antisemitismus oder Anti-muslimischen Rassismus, obwohl wir darüber Bescheid gewusst hätten. Wir hätten nicht vergessen, dass es jüdisches Trauma gibt und dass «selbst in der Schweiz» viele jüdische Menschen mit der Angst aufwachsen, sich besser nicht als solche zu outen. Wir sprachen nicht davon, dass jüdische Menschen nirgendwo sicher sind. Wir hätten nicht vergessen, dass Muslim*innen Angst haben vor Vergleichen mit 9/11 und Sippenhaft und davor, wie es ist,

Wir wussten, was komplex ist und was nicht, und spielten das nicht gegeneinander aus. Wir waren für freie Geiseln und freie Palästinenser*innen und wir sahen keinen Gegensatz darin. Wir schwiegen in Andacht für menschliche Opfer. Sogar für Männer. Nicht nur für Babys, Kinder und Frauen. Wir sagten auch nicht queeren Menschen, dass sie für die eine oder andere Seite sein müssten, als ginge es um Fussball. Wir redeten nicht über die Shoa, über Imperialismus oder was der Kolonialismus mit allem zu tun hat und was nicht. Wir sprachen nicht über antisemitische Tropen. Wir wussten nur, dass die sicher nicht einfach importiert wurden, sondern zu unserer Kultur gehören wie unsere Demokratie, die sich selbst immer mal wieder für rassistischen Populismus entscheidet. Wir redeten nicht über Angst und Weltschmerz und das Gefühl, zuzugucken. Ich war vollkommen zufrieden mit unserer Interaktion. Und doch hätte ich gern mit ihr geflucht, und ich hätte gerne mit ihr über Frieden geredet, den man ernstnehmen kann, der genauso einleuchtet wie die Selbstverständlichkeit von Krieg. Wir hätten uns verstehen können.

FATIMA MOUMOUNI

möchte Frieden ernstnehmen.

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Frauen Am 25. November ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Wir fragen in diesem Schwerpunkt nach unterschiedlichen Formen der Gewalt, lassen Betroffene sprechen und reden mit Tätern.

Weil sie Frauen sind Geschlechtsspezifische Gewalt reicht von Diskriminierung, ökonomischem Ausschluss über Stalking bis hin zu Mord. Ein Überblick. TEXT LEA STUBER

ILLUSTRATIONEN DINAH WERNLI

Die Zahlen beziehen sich auf die EU und auf 2014, die Situation 2023 in der Schweiz dürfte aber nicht viel anders sein: Die Wahrscheinlichkeit, dass ich als Frau im Laufe meines Lebens körperliche und/oder sexualisierte Gewalt erlebe, liegt bei über 30 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich sexuell belästigt werde, zwischen 45 und 55 Prozent. Und dabei dachte ich bis vor einigen Jahren, bis in meine Zwanziger, dass ich als Frau heute gleichberechtigt sei. Was für eine Illusion. Die Uno definiert Gewalt an Frauen als «eine Ausdrucksform der historisch ungleichen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, die zur Beherrschung und Diskriminierung der Frauen durch die Männer geführt hat». Die Wurzel der Gewalt, sie liegt im Patriarchat,

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gefördert durch soziale und politische Institutionen. Ein Beispiel: Eine Person, die einen Fall von Gewalt, Bedrohung oder Belästigung vor Gericht bringt, muss erst seit dem 1. Juli 2020 die Kosten des Verfahrens nicht mehr selbst tragen. Auch die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Machtstrukturen haben Einfluss auf das Ausmass und die Form der Gewalt an Frauen. Armut und Stigmatisierung, Kultur und Tradition, Krieg und Frieden, Flucht und Migration, all das befördert auch Gewalt an Frauen. Sie lernen früh, mit der gesellschaftlich verankerten Unterordnung zurechtzukommen. Diese Verinnerlichung macht es für Frauen auch schwieriger, Gewalt in all ihren Formen überhaupt zu erkennen.

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Gewalt an Frauen kann sich mit anderen Formen von Gewalt überschneiden. Dann, wenn ein Mensch nicht nur wegen des Geschlechts diskriminiert und bedroht wird, sondern auch wegen einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung, der Hautfarbe, Herkunft, sozialen Stellung, sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität. So erleben etwa Frauen mit einer geistigen Behinderung drei bis vier Mal häufiger sexualisierte Gewalt. Obdachlose Frauen und Mädchen erleben besonders häufig Gewalt. Natürlich kann man die Opferzahlen nicht eins zu eins in Täterstatistiken umwandeln. Doch irgendwo müssen die Täter, und auch die selteneren Täterinnen, ja sein. Die deutsche Familienrechtsanwältin und Autorin Asha Hedayati kritisiert in einem Interview mit der Wochenzeitung Zeit, dass die Gesellschaft sich immer wieder auf das Verhalten der Frau – und nicht auf das der Täter – konzentriere und eine Mitschuld suggeriere. Dadurch werde die Verantwortung verschoben. Hedayati fordert auf politischer Ebene eine echte Prävention von Gewalt, die über die blosse Täterarbeit hinausgeht. Solange die Wirtschaftsstrukturen Macht, Dominanz, Konkurrenz und Kontrolle belohnen – und nicht Liebe, Empathie und Fürsorge –, werde sich nichts ändern. Im Folgenden eine kurze Übersicht über verschiedene Formen geschlechtsspezifischer Gewalt: Femizid

Wenn Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts getötet werden, weil sie die Erwartungen nicht erfüllen, die ein Mann, eine Familie oder eine Kultur an sie hat, ist von Femizid die Rede. Gemeint sind also auch Morde im Namen der «Ehre» oder die gezielte Abtreibung von weiblichen Föten. 2022 zählte das Rechercheprojekt «Stop Femizid» in der Schweiz 16 Femizide und 5 versuchte Femizide. 2021 gab es laut der UNODC (für Drogen- und Verbrechensbekämpfung) und UN Women weltweit 81 000 Morde an Frauen und Mädchen. Das ist ein Femizid alle zwölf Minuten (siehe Beitrag ab Seite 22). Sexualisierte Gewalt

Jede Form von unerwünschter oder erzwungener Handlung und grenzverletzendem Verhalten mit sexualisiertem Bezug (siehe Beitrag ab Seite 12). Auch Stealthing, das heimliche Abstreifen des Kondoms, oder Catcalling, das Belästigen durch sexuell konnotierte Worte oder Pfiffe. Ein weiteres Beispiel: der damalige spanische Fussballverbandspräsident Luis Rubiales, der Weltmeisterin Jennifer Hermoso nach dem Titelgewinn gegen ihren Willen küsste.

ternet zielen Frauenhass und geschlechtsspezifische Gewalt unter anderem darauf ab, Frauen aus dem virtuellen und dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Stalking

Beobachten, abpassen, nachstellen, verfolgen, belästigen, bedrohen. Wirtschaftliche Gewalt

Verbieten zu arbeiten (in der Schweiz bis 1987 gesetzlich erlaubt: eine Frau brauchte die Bewilligung ihres Ehemannes, wenn sie erwerbstätig sein wollte), den Lohn einziehen, Geld vorenthalten, die Bankkarte wegnehmen, ausbeuten; strukturelle Lohnungleichheit, Armut (insbesondere im Alter). Soziale Gewalt

Kontakte zu Freund*innen und zur Familie einschränken oder verbieten, in die Wohnung einsperren oder aussperren, isolieren, bevormunden, kontrollieren, öffentlich demütigen. Häusliche Gewalt

Körperliche, psychische, sexualisierte, wirtschaftliche und/oder soziale Gewalt innerhalb der Familie, des Haushalts oder der Partnerschaft. Häufig existiert ein Machtgefälle, das ausgenutzt wird. Bei der Hälfte der Polizeieinsätze wegen häuslicher Gewalt sind laut kantonaler Statistiken Kinder anwesend (siehe Beitrag ab Seite 16). Strukturelle Gewalt

Benachteiligung in Beruf, Medien, Politik, Sport und Sprache. Auch die schwierige finanzielle Situation der Frauenorganisationen und -häuser. Strukturelle Gewalt beruht auf gesellschaftlichen Normen, ihre Auswirkungen sind oft Teil einer akzeptierten Gesellschaftsordnung. Ein Beispiel von Mehrfachdiskriminierung: die Koppelung der Aufenthalts- oder Arbeitsbewilligung von Migrantinnen an den rechtlichen Status ihrer Ehemänner. Erleben sie häusliche Gewalt, harren sie oft in der Beziehung aus; nur ein Härtefallgesuch könnte ihren Aufenthalt trotzdem sichern. Weiter zählen besonders weitreichende Formen wie Zwangsheirat, Zwangsprostitution, Frauenhandel, geschlechtsspezifische Gewalt in bewaffneten Konflikten und auf der Flucht, erzwungene Sterilisation, eingeschränkter Zugang zu Abtreibungen, Gewalt bei der Geburt und weibliche Genitalverstümmelung (siehe Beitrag ab Seite 20) zu struktureller Gewalt.

Körperliche Gewalt

Einer Person einen Gegenstand anwerfen, diese stossen, packen, schütteln, fesseln, ohrfeigen, beissen, einen Fusstritt oder Faustschlag geben, verprügeln, würgen. Psychische Gewalt

Drohen (z.B. mit Gewalt, Waffen), erniedrigen, beleidigen, nötigen, der Freiheit berauben. Kann genauso beeinträchtigend sein wie körperliche Gewalt. Cyber-Gewalt: Im In10

Erleben Sie Gewalt? Unterstützung finden Sie unter opferhilfe-schweiz.ch/de/wo-finde-ich-hilfe oder stopfemizid.ch/kontaktliste. Und Kinder sowie Jugendliche zum Beispiel unter 147.ch von Pro Juventute. Üben Sie Gewalt aus? Unterstützung finden Sie beim Fachverband Gewaltberatung Schweiz: fvgs.ch/Fachstellen.html

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Häusliche Gewalt nach Ländern

Finnland

Schweden Estland

Frauen, die mindestens einmal in ihrem Leben körperliche Gewalt durch einen Beziehungspartner erfuhren. (Durchschnitt in Prozent, Daten erhoben seit 2010)

Lettland

20% und weniger

Dänemark

Litauen

21%–35% 36%–50% keine Angaben

Grossbritannien Irland

Belgien: 22% Bulgarien: 22% Dänemark: 29% Deutschland: 20% Estland: 19% Frankreich: 25% Finnland: 27% Irland: 14% Italien: 17% Griechenland: 18% Grossbritannien: 28% Kroatien: 12% Lettland: 31% Litauen: 24% Luxemburg: 21% Niederlande: 22% Österreich: 12% Polen: 12% Portugal: 18% Rumänien: 23% Schweden: 24% Slowakei: 22% Slowenien: 12% Spanien: 12% Tschechische Republik: 19% Tunesien: 20% Türkei: 36% Ungarn: 19% Zypern: 14%

Niederlande

Polen

Deutschland Belgien Tschechische Republik

Luxemburg

Slowakei Österreich Frankreich Slowenien

Italien

Griechenland

Tunesien

26% 20%

Kamerun

QUELLEN: JONI SEAGER, DER FRAUENATLAS

15% Palästina 14%

11%

Bulgarien

Spanien

Portugal

37%

10%

Rumänien

Kroatien

Anteil der Frauen, die mindestens ein Mal in ihrem Leben Opfer sexueller Gewalt durch ihren Partner wurden. (Ausgewähle Beispiele, Durchschnitt in Prozent, Daten erhoben seit 2011)

12%

Ungarn

Mali, Japan

Türkei Haiti, Niederlande

Grossbritannien, Schweden

9% USA, Frankreich, Jordanien 8% Peru

Simbabwe

Bangladesch

Türkei

Zypern

Das Schweigen durchbrechen Was es bedeutet, als Frau Gewalt zu erleben, davon berichten die Surprise Stadtführerinnen Lilian Senn und Danica Graf in Basel, Franziska Lüthi und Kathy Messerli in Bern und Sandra Brühlmann in Zürich. Sie alle sind Überlebende körperlicher und psychischer, teils sexualisierter Gewalt. Auf ihren Touren schildern sie ihre persönlichen Geschichten und ordnen ein, was diese mit den gesellschaftlichen Strukturen zu tun haben, in denen wir leben. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag, um das Thema Gewalt gegen Frauen an die Öffentlichkeit zu tragen und den dringend benötigten gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen.

6% Mexiko 5% Australien, Nigeria

Mehr Informationen und Buchungen auf surprise.ngo/stadtrundgaenge

4% Spanien

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Davongekommen Jahrelang wurde sie von ihrem Ehemann vergewaltigt, dann zeigte sie ihn an – was es nicht einfacher machte. TEXT KLAUS PETRUS

Anywhere I roam Where I lay my head is home Metallica An einem späten Freitagnachmittag im Herbst 1991, der Himmel ist wild und der Weg matschig, geht sie, wie immer um diese Zeit, mit dem Nachbarshund den Matten und Maisfeldern entlang auf einen Hügel, von wo aus man das Dorf sieht, die Kirche und all die Reben drumherum, ein prächtiger, wohliger Anblick ist das. Da hört sie eine Stimme. Wie das Hündli heisst, fragt der Mann mit Hut und Mantel, eine Zigarette in der Hand. Worauf sie einen Schritt zurücktut und sagt, sie müsse nach Hause, es sei spät. Ach was, erwidert er. Sie ruft nach Samy, doch der alte Hund, auf beiden Ohren taub, trottet davon. Da zerrt der Mann sie ins Maisfeld, er reisst sie an den Haaren, presst sie zu Boden, sie soll den Mund öffnen, und als er sich über sie hermacht, erstarrt sie, sie ist wie ein Brett und es ist keine Stimme mehr in ihr und kein Gefühl. Alles Wüste hat er mit mir angestellt, wird sie Jahre später sagen. Wieder daheim, deutet sie, verstrubbelt und verstört, den Eltern bloss hier und dort etwas an. Als tags darauf die von der Polizei am Küchentisch sitzen, zwei Männer sind es und eine Frau, und ihr Fragen über Fragen stellen, da verstummt Yvonne, gerade 14 geworden, ob all der Scham. So könnte diese Geschichte, zur Hälfte eine himmeltraurige, beginnen. Oder so: 24 Jahre später, Sommer 2015, im Spital einer Schweizer Grossstadt. Sie muss sich das Handgelenk operieren lassen, eigentlich Peanuts. Da erleidet sie einen Herzstillstand. Und schwebt fort an einen Ort, wo es warm ist und friedlich und voller Liebe und so gar nicht wie in dieser Welt. Wie schön sterben sein kann. Doch sie wird wiederbelebt und denkt sich, kaum zurück in der trüben Realität: Ich muss nach vorne blicken, muss endlich aufrecht gehen. Damals war Yvonne 38 Jahre alt, verheiratet, Mutter einer 14-jährigen Tochter und für einen Augenblick im Himmel gewesen. Aus der Traum Yvonne Lörtscher büschelt in der Küche ihrer Drei-Zimmer-Wohnung in einem Mehrfamilienhaus am Stadtrand ihre vielen Geschichten von früher und ein paar von heute, sie sortiert Fotos und erzählt von Zico, dem rotweissen Kater, der blieb, als andere gingen: ihre Schwester etwa, nach einem Sturz von der Brücke, ob Unfall, Suizid oder Mord, man weiss es bis heute nicht. Und irgendwie ging damals auch ihre Mutter, die das alles nicht verkraften konnte, wie denn auch. Yvonne, noch ein Kind, musste sich fortan um vieles sorgen. Dass sie bereits mit zehn Saxophon spielte, jonglieren lernte und sich einredete, ihr Meersäuli, obschon tot, sei beim Tierarzt und morgen wieder quietschfidel bei ihr, auch davon erzählt sie. Überhaupt, all diese Tiere in ihrem Leben, Samy, Ricco, Sheila, Surprise 563/23

Amel, Rina, Selfie. Schon als kleiner Knopf legte Yvonne jeden Franken in ein Schächteli, sie wusste: Eines Tages werde ich mein eigenes Tierheim haben, dazu ein Haus, einen Mann, Kinder. Der ganz grosse Traum. Als sie ihrem Künftigen begegnet, fünfzehn Jahre älter als sie, funkt es sofort, die beiden können gut miteinander, haben gemeinsame Interessen, sie mögen Tiere und Brettspiele. Yvonne Lörtscher zieht in sein Heimatdorf, knapp tausend Leute, ein Männerchor, Turnverein und Pistolenclub, hier kennt man sich. An einem Freitag im Herbst 2002 wird geheiratet, Yvonne, Mitte zwanzig, zierlich und hochschwanger, trägt ein dunkelblaues Kleid. Sie sitzt auf der Festbank, schaut in die Runde und winkt ihrem Ehemann zu. Sie ist glücklich. Noch vor ein paar Jahren wechselte sie die Strassenseite, kam ihr ein Mann entgegen. Ein altes Bauernhaus am Dorfrand wird für die nächsten sieben Jahre ihr Zuhause sein. Dort zieht sie Tochter Tanja gross, richtet ihr Tierheim ein, sie füttert Katzen, Hunde, Schwäne und Meerschweinchen, sie putzt und kocht und rackert sich ab. Irgendwann beginnt sie seufzen, auch mitten im Schweigen, an manchen Tagen zieht sie ihr linkes Bein nach, an anderen ist sie wie gelähmt, dann bricht sie zusammen, sie verstummt und aus der Traum. «Beim ersten Mal redete ich mir ein, es sei nicht das gewesen, was es war. Mein Mann wusste ja, was mir passiert war mit 14, als ich missbraucht wurde. Es war ihm egal.» Es passierte immer wieder. Und alles tat weh Das erste Mal, das war ein Jahr nach der Hochzeit, die Tochter sechs Monate und der Mann immer öfter betrunken. Nach Feierabend torkelte er vom «Hirschen» nach Hause, stieg über die Holztreppe ins Schlafzimmer, legte sich ins Bett, zog seine Ehefrau an sich. «Ich will nicht», sagte sie zu ihm, «nein», und drehte sich weg. Da packte er sie, drückte sie auf den Bauch und drang von hinten in sie ein, wehren ging nicht, er lag, schwer und keuchend, auf ihr, und alles tat weh. Am Morgen danach mochte er sich nicht mehr erinnern, und wenn da was war, nun gut, sagte der Mann, dann will ich mich bessern und es soll nicht mehr passieren. Einmal kam er nach Mitternacht betrunken nach Hause und vergewaltigte seine Ehefrau so oft, bis er, es muss gegen fünf in der Früh gewesen sein, vor Erschöpfung einschlief. Wie benommen kroch sie aus dem Bett, wusch sich, nahm Ricco, ihren Hund, und ging bis zur Kirche am anderen Ende des Dorfes, wo sie betete, der Mann möge auf der Arbeit sein, wenn sie nach Hause kommt. Oder für immer weg. Irgendwann kam Yvonne Lörtscher der Gedanke: Lieber mir geschieht das als anderen Frauen. Ich bin es schon gewohnt. Wie oft er sie missbrauchte, kann Yvonne Lörtscher nicht sagen. Weil sie nicht darüber reden konnte, weil sie den Schnauf nicht hatte, um zu schreien oder nur schon zu weinen, schrieb 13


sie manches in ein Heft, anderes vertrieb sie aus ihrem Kopf. Hätte sie all das bewusst bei sich getragen jeden Tag, sie wäre zugrunde gegangen. Aber sie musste funktionieren, sich um Tanja kümmern, all die Arbeit machen; sie wollte überleben, das war alles. Hingegen erinnert sich Yvonne Lörtscher ganz genau an das letzte Mal, auch das war an einem Freitag, Sommer 2009, nach sieben Jahren Ehe. Am nächsten Morgen erstattete sie Anzeige und gab zu Protokoll, ihr Mann, alkoholisiert, habe in der Nacht davor sein Sturmgewehr aus dem Schrank geholt, sie bedroht, gewürgt und vergewaltigt. Der Prozess Aus mehreren hundert Seiten Gerichtsakten geht hervor, wie Yvonne Lörtscher, gemäss ihren Aussagen, missbraucht wurde, welche Verletzungen sie davontrug und mit wem sie darüber geredet hatte. Neben Therapeutinnen wurden Nachbarn und Bekannte befragt, die meisten aus dem Dorf und seit Kindesbeinen mit dem Ehemann befreundet. Viele konnten sich angeblich nicht mehr erinnern oder sie wollten keine Aussage machen, unter ihnen der Dorfpfarrer, einer der Ersten, denen sich Yvonne Lötscher anvertraut hatte. Andere führten aus, der Beschuldigte zeige im angetrunkenen Zustand keinerlei aggressives Verhalten, im Gegenteil: Er sei lustig, gesprächig, gesellig, ein «charakterlich einwandfreier Mann», wie es im Leumundsbericht heisst, überdies ein Chrampfer und von seiner Erscheinung her kein Disco-Typ, sondern eher der Gemütliche. Einzig eine Zeugin, mit Yvonne Lörtscher befreundet, gab zu Protokoll, der Angeklagte habe bei ihr einen dominanten, rechthaberischen, rüpelhaften Eindruck hinterlassen. Yvonne Lörtscher wird in den Einvernahmen charakterisiert als: sonderbar, zurückhaltend, verschlossen, unsicher und hilflos, «ein typisches Opfer», so heisst es an einer Stelle. Der Beschuldigte selbst wies die Vorwürfe der Vergewaltigung zurück, «ein Ding der Unmöglichkeit», wiederholte er immer wieder und: «Ich komme aus der ganzen Geschichte nicht draus. Irgendetwas stimmt hier nicht.» Der Wahrheit sei: Seine Frau war überfordert mit dem Tierheim, dem ganzen Papierkram, dem Haushalt, sie hatte sich geritzt, gekniffen und ihren Kopf blutig geschlagen, nicht zu reden von all den seltsamen Dingen aus ihrer Kindheit, mit denen sie nicht zurande kam – wen wundert es also, so der Ehemann, dass sie Geschichten erfindet. «Haben Sie mit Ihrer Frau geschlafen, ohne dass Sie es wollte?», fragte das Gericht den Angeklagten. «Eigentlich nicht», war seine Antwort. Während der Einvernahme, so steht es in den Akten, sass Yvonne Lörtscher zusammengesunken auf dem Stuhl, ihr langes Haar vor dem Gesicht, als spreche sie durch einen Vorhang, und kam die Rede auf die Vergewaltigungen, habe sie gewürgt, gezittert und gestottert. Die Anwälte wollten von ihr in sämtlichen Details wissen, wie der Mann sie missbraucht hatte, wie oft es zum Samenerguss kam, was sie im Bett anhatte, zu welchem Zeitpunkt der Tat sie «Nein» sagte, mit welcher Stimmlage sie es sagte und in welcher Lautstärke, ob sie sich gewehrt habe und wenn ja, wie, und falls nein, wieso und warum sie nicht bei der Polizei war oder bei Ärzt*innen wegen Anzeichen einer Vergewaltigung und überhaupt: Weshalb sie erst jetzt, nach all den Jahren, Anzeige erstattet und ihren Mann nicht schon früher verlassen hatte. «Weil ich starr vor Angst war.» 14

«Weil meine Arme und Beine ganz taub waren.» «Weil ich ihn nicht wegbekommen habe, er einfach zu schwer war.» «Weil ich nur noch auf den Wecker schaute, während er es machte, weil ich nicht bei mir sein wollte.» «Weil ich mich vor mir selbst ekelte, mich schämte.» «Weil er mir drohte, er würde sich erhängen, sollte ich ihn verlassen. Oder mir die Tochter wegnehmen.» «Weil mir sowieso niemand geglaubt hätte.» «Muss ich noch mehr sagen?» «Die Polizei, die Richter, die Leute aus dem Dorf, es war eine Hexenjagd von Anfang an», sagt Yvonne Lörtscher heute. «Je öfter ich alles wiederholte – dass ich mich zu wehren versuchte, ich jedes Mal Nein sagte –, umso weniger haben sie mir geglaubt.» Bis zur Urteilsverkündigung sollte es noch fünf Jahre dauern. Im Frühling 2010 wurde der Angeklagte mangels Beweisen freigesprochen. Als Yvonne Lörtscher vom Urteil erfuhr, rastete sie zum ersten Mal in ihrem Leben aus, sie schlug um sich, schrie sich alle Wut aus dem Leib – und landete für drei Monate in einer Klinik. Bald fünfzehn Jahre ist das her, und vieles ist anders. Yvonne Lörtscher, 46, hält Vorträge, spricht vor Wildfremden über das Grauen im Leben missbrauchter Frauen, über zertrampelte HerSurprise 563/23


zen, sie hält inne, streicht ihr Haar aus dem Gesicht, sie lacht, kann wieder in einen Sattel steigen, wagt sich in den Flieger, spielt Badminton, arbeitet mit Süchtigen, lebt von 2700 Franken im Monat, kauft in Brockis ein und trinkt ausnahmsweise einen Limoncello. Sie wandert, liest und fährt mit einer Ladung Kleidern und Spielzeugen nach Osteuropa, und kriechen die Dämonen wieder einmal aus allen Löchern, dreht sie auf und hört Metallica, «Wherever I May Roam». Dann denkt sie: Nichts und niemand kann mich je wieder plattmachen. Ihr Künftiger sollte sein: ungebunden, sozial, tierlieb, weltoffen, witzig und interessant, Hauptsache keiner, der zu wissen meint, was für sie das Beste ist. Eine schmale Linie Am Schlimmsten sei der Hass gewesen. Noch Jahre nach der Trennung frass er sich durch ihren Körper, stiess auch die seltenen Augenblicke des Glücks in einen Abgrund. Der Hass auf ihn, der Hass auf sich selber, dazu Ekel und Scham, immer und immer wieder. Sie hätte von ihm fortgehen müssen, sie weiss es, aber sie konnte es nicht. War es Abhängigkeit, war es die Kraft, die ihr fehlte? Das fragt sich Yvonne Lörtscher bis heute, und auch: Wer war ich eigentlich? Lange Zeit dachte sie, sie trage ein Schild mit sich, auf dem steht: Opfer. Und noch heute gibt es diese Momente, Surprise 563/23

da sie sich selbst beobachtet, wie sie sich bewegt, wie sie dasteht, wie sie lacht, wie sie redet, wie sie auf andere wirkt. Doch sie werden seltener. Anderes bleibt, die Frage etwa: Wie soll das gehen, vergessen und vergeben? War der Mann ein Ungeheuer, ein Schläger, einer, der sie tagaus, tagein niederdrückte? Dafür ist er viel zu normal, sagt Yvonne Lörtscher. In den Gerichtsakten gab eine Freundin von ihr zu Protokoll: «Er ist nicht grundsätzlich ein böser Mensch. Darin sah ich die Gefahr.» Zwischen Dulden und Sich-nicht-wehren-Können ist eine schmale Linie, sagt Yvonne Lörtscher, und erinnert sich an die Abende, da der Mann nach Hause kam und sie ihm als Erstes ein Bier öffnete und die Tochter ihm die Finken brachte. Wie herabwürdigend das war, sagt sie, dabei wollte sie bloss ein wenig Ruhe in diesem Leben, in dem es keine Ruhe gab, auch für ihre Tochter nicht. Noch Monate nach der Nacht mit dem Sturmgewehr konnte Tanja nur einschlafen, wenn die Mutter ihre Hand hielt. Yvonne Lörtscher sagt, ich bin davongekommen, das Leben meiner Tochter aber ist kaputt. Doch das sei eine andere Geschichte – oder auch nicht, schiebt sie nach und fragt: Wird das alles je ein Ende haben? Menschen, Tiere sowie Orte wurden anonymisiert.

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Eine Kopfnuss fürs Leben Vor sechs Jahren schlug Martin Egenter seine Frau Tamara Oporta. Nach einer Paartherapie, zwei Pausen und vielen Kompromissen ist es heute besser. Weil sie daran arbeiten. TEXT LEA STUBER

Kennengelernt haben sie sich beim Tanzen in einem Club in einer grossen Schweizer Stadt. 18 Jahre später wohnen Tamara Oporta und Martin Egenter, die eigentlich anders heissen, in einem dreistöckigen Haus in einem Dorf im Mittelland. Ein Trampolin und ein Spieltraktor im Garten, an der Pinnwand in der Küche die Stundenpläne der Kinder. Er arbeitet 100 Prozent im Marketing einer internationalen Firma. Sie, Akademikerin, ist zuhause bei den Kindern – sie haben mehr als ein Kind, aus Schutzgründen möchten sie die genaue Zahl und Konstellation lieber nicht erwähnt haben. Beide sind Mitte 40. Vor sechs Jahren hat er sie zum ersten Mal geschlagen, und noch immer sind sie ein Paar. Ein Jahr, nachdem es passierte, nahm Martin Egenter an einem Programm der kantonalen Stelle gegen Häusliche Gewalt teil. Mit anderen Männern arbeitete er während eines halben Jahres auf, wie es zu der körperlichen Gewalt hatte kommen können. Alles begann 2016, erzählen sie, als erst eine Geburt und wenige Monate später der Hauskauf anstand. Er: Alles kam miteinander, Geburt, Hauskauf, Umbau, Umzug, Stress im Job, knappe finanzielle Lage. Es war zu grossen Teilen unsere Wahl, klar, doch es war nicht menschlich. Das ist vielleicht eine Erklärung, warum es so weit gekommen ist, aber es ist keine Entschuldigung. Sie: Die Kinder waren klein, wir standen immer unter Stress. Er: Du warst alleine mit ihnen zuhause, ich arbeitete. Obwohl wir nie eine klassische Rollenverteilung wollten. Sie: Du hast Türen zugeschlagen, wurdest laut. Ständig diese Aggressionen. Er: Ich liess mich packen, antwortete giftig, wenn ich mich provoziert und in die Enge getrieben fühlte. Oder ohnmächtig. Ich verlor immer wieder den Respekt. Sie: Ich wollte die Polizei rufen, doch deine Familie bat mich, stattdessen sie anzurufen. Ich war wütend auf sie, weil 16

sie mir nicht beistand. Okay, sagte ich mir, ich bin intelligent, ich werde eine Lösung finden. Eskaliert ist die Situation dann an einem Samstag während einer Diskussion. Ich hatte die Kinder im Arm und du hast in deiner Wut deinen Kopf gegen meinen geschlagen. Ich sagte dir sofort: «Martin, du musst das Haus verlassen.» Was du getan hast. Er: Es war der 1. Juli 2017. Daran werde ich mich das ganze Leben erinnern. Sie: Bis Weihnachten fühlte ich mich wie tot. Ich dachte: Oh mein Gott, es ist vorbei. Ich hatte nicht einmal Zeit nachzudenken. Wir lebten einfach weiter. Manchmal haben wir nicht einmal miteinander gegessen, ständig waren wir spät dran. Er: Wir haben nur funktioniert. Und in meinem Kopf drehte es. Zu wie viel Gewalt bin ich fähig? Würde beim nächsten Mal die Polizei und die Staatsanwaltschaft entscheiden, wie es weitergeht? Sie: Weihnachten kam, und endlich begann ich nachzudenken. Und dann hast du mich ein zweites Mal geschlagen. Ich sagte mir: Nicht noch einmal! Wir können nicht so tun, als wäre nichts passiert. Tamara Oporta rief verschiedene Organisationen an. Und sprach mit den Kindern darüber. Auch ihnen gegenüber hatte der Vater Grenzen überschritten. Wenn es nicht so lief, wie er es sich vorgestellt hatte, wenn die Kinder nicht zuhörten, dann packte er eines so schnell, dass es erschrak. Sie: «Papa ist gestresst, er befindet sich in einer schwierigen Phase», sagte ich ihnen. «Darum ist er böse mit uns, aber das ist nicht in Ordnung.» Besonders mit der Ältesten warst du aggressiv. Ich sagte ihr: «Sag Papa: Stopp, das ist verboten. Oder: Papa, das tut mir weh.» Er: Irgendwann will man auch mal Ruhe. Aber klar, das ist nicht gut, gar nicht. Ich bin ein schlechtes Vorbild. Das motiviert mich aber, es in den Griff zu bekommen. Nicht nur für die Kinder.

Auch für dich, Tamara, für uns. Das Risiko wird für den Rest meines Lebens bleiben, ich muss mein Leben lang daran arbeiten. Sie: «Man darf niemals eine Frau schlagen, niemals ein Kind schlagen», sagte ich den Kindern. Dich machte das wütend. «Du bringst die Kinder gegen mich auf. Es ist ein Problem zwischen dir und mir», hast du gesagt. Nein. Die Kinder sehen alles, was in diesem Haus passiert. Es gab Gewalt um 7.30 Uhr morgens, wenn sie sich für die Schule parat machten, es gab mittags Gewalt, abends. Zum Beispiel, wenn wir die Schuhe nicht finden konnten. Der ganze Stress zuhause. Wenn wir so tun, als sei Gewalt normal, dann entwickeln die Kinder eine Toleranz. Und dann sind sie die nächste Generation, die dasselbe tut. Der Ältesten sagte ich: «Ich kann nicht mehr mit deinem Vater leben. Wenn er hier bleiben will, muss er in einem anderen Zimmer schlafen.» Ich wollte nicht, dass es für sie eine Überraschung wird, falls wir uns scheiden lassen. Dir, Martin, sagte ich: «Du darfst mich nicht berühren, nicht mit mir sprechen – ausser über die Kinder –, du darfst nichts sagen, wenn ich ausgehe, und nichts dazu sagen, wie ich geschminkt bin.» Du warst wegen allem eifersüchtig. Er: Ja, als du nicht mehr mit mir zusammen sein wolltest, war ich eifersüchtig. Ich liebe dich. Und ich hatte Angst, dass du zu jemand anderem gehst. Sie: Das waren Freund*innen, mit denen ich ausging. Wir waren nicht mehr zusammen, ich war frei. Ich musste mein Leben wiederentdecken, ich fühlte mich gefangen in diesem Haus. Ich besuchte Tanz- und Malkurse. Du hast gedroht, die Lehrerin anzurufen, um zu fragen, ob ich da war. Ich war so wütend. Du darfst mich nicht kontrollieren. Selbst wenn wir zusammengewesen wären. In der Paartherapie wurde Surprise 563/23


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uns bewusst, dass wir unterschiedliche Prioritäten haben. Dir ist es wichtig, fünf Bücher pro Woche zu lesen. Mir, mit Freund*innen wegzugehen. Zwei Mal waren sie mehrere Monate getrennt. Sie: Ich wollte ausziehen. Aber du sagtest: «Bitte, bleib, das ist nicht gut für die Kinder.» Er: Alles Organisatorische musste weitergehen. Die Kinder, die Einkäufe, der Haushalt. Sie: Wir sprachen kaum miteinander, schauten keine Filme gemeinsam, nichts. Der erste Monat war schwierig. Ich war unglücklich, denn ich liebte dich auch noch. Doch mit den Aggressionen begann es zu schmerzen. Ich konnte so nicht mehr weitermachen. Für mich warst du auch ein Monster. Wenn es die Scheidung ist, sagte ich mir, dann soll es die Scheidung sein. Ich war zu allem bereit. Meine Grenzen waren sehr klar, ich hatte eine Nulltoleranz. Keine Türen zuschlagen, nicht schreien. Nicht gemein sein zu mir, keine gemeinen Kommentare vor anderen, nicht gemein sein zu den Kindern. Eine Zeit lang wohnte zur Entlastung eine Nanny bei ihnen. Tamara Oporta hatte

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endlich wieder Zeit für sich, für Sport etwa. Heute macht sie Yoga und Wassersport. Martin Egenter geht laufen oder wandern. Sport, um den Kopf zu lüften, war eine der Strategien, auf die sie sich einigten. Sie: Ein anderer Kompromiss war weniger Besuch. Wir hatten immer viele Menschen bei uns, zum Essen, Spielen, auch zum Übernachten. Er: Das bedeutete mehr Lärm, mehr Chaos, mehr Gereiztheit. Sie: Wenn jemand von der Familie in der Nähe war und fragte, ob sie vorbeikommen dürfe, wollte ich nett sein. Und meine Freund*innen und ihre Kinder kamen im Sommer, um im Garten zu baden, und im Winter für ein Fondue. Es war schön, aber auch grosser Stress. Ich musste lernen, öfter Nein zu sagen. Tamara Oporta hatte zwei Burnouts. Seit Jahren hat sie das chronische Schmerzsyndrom, früher blieb sie manchmal drei, vier Tage im Bett und konnte sich kaum bewegen. Inzwischen geht es besser. Er: Wenn ich merke, dass heute ein schwieriger Tag werden könnte, nehme ich mein Medikament. Sie: Etwas Pflanzliches, das emotional stabilisierend wirkt. Das war auch ein Kompromiss. Nach dem zweiten Schlag

wollte ich, dass du zum Arzt und in eine Psychotherapie gehst. Oder du hättest aus meiner Sicht ausziehen müssen. Dort wurde bei dir dann eine Depression diagnostiziert. Seither geht es besser. Und ich versuche geduldig zu sein. Wenn es dir nicht gut geht, schaue ich in die Packung und weiss, dass du das Medikament wohl nicht genommen hast. Er: Ja, ich nehme es nicht jeden Tag, so wie ich sollte. Sie: Am Anfang sollte ich das Medikament kaufen gehen, du wolltest es nicht machen. Aber du musst das selber machen. Du musst dich ändern wollen. Wenn du mir nur sagst, dass du mich liebst und mir Blumen kaufst, aber am Ende bleibt alles beim Alten, will ich dich nicht. Wenn ich keine Veränderung sehe, werden wir uns scheiden lassen, war meine Bedingung. Und ich habe dir geholfen. Ich habe im ganzen Haus Zettel aufgehängt. «Schliesst bitte die Türe.» «Löscht das Licht.» Du wirst wütend, wenn das Licht brennt, ohne dass es nötig ist. Er: Wenn es drei Mal am Tag passiert, sage ich nichts. Aber wenn es 25 Mal ist! Sie: Nein, doch nicht 25 Mal. Er: Ich übertreibe. Aber ihr könnt auch

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ein wenig achtgeben. Irgendwann denke ich nämlich, dass ihr es extra macht, um mich zu provozieren – auch wenn ich weiss, dass dem nicht so ist. Sie: Diese Woche starb unser Haustier. Die Kinder weinten. Und du? Jedes Mal, wenn du das Licht gelöscht hast, ein Kommentar, das war nicht nett. Du sagtest, es sei gegen dich. Und die Kinder schauten mich an, sie kennen es schon. Es ist einfach nicht nötig, wegen so kleinen Sachen wütend zu werden. Er: Wenn ich grob werde, kann ich nicht sagen: «Du hast mich provoziert.» Die Entscheidung, wie ich handle, liegt bei mir. Ich versuche mir zu sagen: Okay, lasse dich nicht aus der Ruhe bringen, ignoriere es und erledigte einfach deine Sachen. Ich mache viele Kompromisse, wir beide tun das. Sobald eine Situation schwieriger, emotionaler wird, ist man schneller wütend, nicht nur ich, wir alle. Wenn ich richtig wütend bin, sagst du mir: «Geh raus, jetzt!» Und ich verlasse das Haus für fünfzehn Minuten, vielleicht für zwei Stunden. Wenn wir später zusammenkommen, ist das Problem noch nicht gelöst, aber die Situation beruhigt. Im Prinzip ist das das Geheimnis.

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Häusliche Gewalt: Täterberatung In der Schweiz gibt es laut der polizeilichen Kriminalstatistik jedes Jahr etwa 20 000 Delikte im Bereich häuslicher Gewalt. Die häufigsten Straftaten sind Tätlichkeiten, Drohung, Beschimpfung und einfache Körperverletzung. Das Bundesamt für Statistik geht von einer hohen Dunkelziffer aus. Der Fachverband Gewaltberatung Schweiz zählte 2022 gut 3500 Personen, die an einem Lernprogramm teilnahmen. 85 Prozent davon waren Männer, davon über 60 Prozent zwischen 30 und 49 Jahre alt. 65 Prozent nahmen auf Eigeninitiative oder Empfehlung teil, 35 Prozent aufgrund behördlichen Zwangs. Die Beratung ist für die meisten gratis oder kostet maximal 50 Franken. LEA

Sie: Ja, heute funktioniert es viel, viel, viel besser. Und doch. Gestern zum Beispiel, um 6.30 Uhr, wurdest du wütend, weil die Kleine ihre Velolichter nicht fand. Warum muss man sich schon am frühen Morgen ärgern? Er: Du hast recht. Du warst aber die, die zuerst wütend auf die Kinder wurde. Sie: Wenn ich mich ärgere, sage ich: «Ihr wisst, zum Frühstück gibt es keinen Zucker.» Ich schreie aber nicht, ich schimpfe nicht. Okay, manchmal verliere ich die Nerven. Dann kann ich auch laut werden. Das kommt einmal im Jahr vor.

Er: Ein bisschen öfter. Sie: Manchmal bin ich auch frustriert und habe es satt. Ich mache alles, um eine gute Familie zu haben, ich arbeite nicht, ich habe meine Karriere zurückgelassen, mein ganzes Leben. Aber dann versuche ich auch wieder, dankbar zu sein für das, was ich habe. Für meine warmherzigen und klugen Kinder, die ich liebe. Vieles machen wir gut. Er: Wir haben alles, Geld – reich sind wir nicht, aber es reicht –, ein Haus, gesunde Kinder und uns. Und wir haben ein gutes Gleichgewicht gefunden. Es funktioniert, im Grossen und Ganzen.

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«Es wird nur gemacht, um uns kleinzuhalten» Taliso Cabdi ist eine Frau und ist beschnitten. Heute hilft sie anderen Somalierinnen dabei, ihren Körper wertschätzen zu lernen. TEXT NAOMI GREGORIS

Taliso Cabdi ist sechs Jahre alt, als ihre Grossmutter die Worte sagt, die ihr Leben verändern werden: «Heute ist dein Tag.» Das kleine Mädchen weiss sofort, was das bedeutet. Fast alle ihrer Freundinnen haben die «Gudniin» bereits hinter sich, und jetzt ist es auch bei ihr so weit. Die Grossmutter, mit der Taliso in einer grossen Wohnung in Mogadischu lebt, seit ihre Mutter früh verstorben ist, bereitet alles vor. Tanten kommen zu Besuch und Taliso ist aufgeregt. Sie hat keine Angst, auch wenn sie weiss, dass der bevorstehende Eingriff schmerzhaft wird. «Ich hatte ja keine Ahnung!» Taliso sitzt in einem Sitzungsraum in der Basler Innenstadt und lacht herzlich. Sie ist mittlerweile 23 und hat eine kleine Tochter. Die furchtlose Sechsjährige von damals ist nie ganz verschwunden. Nur ist Talisos Unerschrockenheit heute eine andere. «Ich muss mich nicht für meinen Körper schämen und andere Frauen sollen das auch nicht müssen.» Taliso ist hier, um ein Tabu zu brechen, von dem schätzungsweise 22 000 Frauen und junge Mädchen in der Schweiz betroffen sind. Als «Gudniin» wird in Somalia die Beschneidung oder Verstümmelung von jungen Mädchen bezeichnet. Für die verschiedenen Typen von Beschneidung gibt es entsprechende Bezeichnungen. «Sunno» ist eine davon. Es kommt von einem arabischen Ausdruck, der im Islam für eine vorbildliche, am Propheten orientierte Handlungsweise gebraucht wird. Was unter anderem dazu führt, dass viele Menschen in bestimmten Weltregionen die Beschneidung von Mädchen als islamische Pflicht interpretieren. Auch Talisos Familie sieht «Sunno» als Pflicht. In Somalia sind rund 98 Prozent der Frauen beschnitten. Wer es nicht ist, erlebt eine tiefgreifende Stigmatisierung und wird als unrein beschimpft. Das weiss auch Taliso. Also liegt sie ruhig da, als die Frau, eine Gelehrte aus der Nachbarschaft, die Talisos Grossmutter für den Tag organisiert hat, sich zu ihr hinunterbeugt. Sie spürt einen Stich an einer Stelle, die sie sonst nur beim Pinkeln wahrnimmt, und schreit laut auf. Es tut so weh, dass sie ihren Grossvater beleidigt, als er den Raum betritt. «Bax!» sagt sie, zu Deutsch: Geh weg! Was die Frau danach anstellt, spürt Taliso nicht mehr. «Wenigstens war da unten alles taub.» Nach der Beschneidung werden Talisos Oberschenkel mit einem dicken Seil verbunden. Ihr wird eingeschärft, dass sie sie eine Woche lang nicht spreizen darf, nicht einmal, wenn sie auf die Toilette muss. Wie sie das ausgehalten hat, weiss sie heute selbst nicht mehr. Der Gestank sei bestialisch gewesen, das hat Taliso nie vergessen. Die WHO und führende Fachorganisationen unterscheiden zwischen vier Typen von Genitalverstümmelung (FGM/C) (siehe Box auf Seite 21). Sie reichen von der teilweisen Entfernung der Klitorisvorhaut über die Entfernung der äusseren Klitoris und 20

inneren und äusseren Vulvalippen bis hin zur Verengung der vaginalen Öffnung, indem die inneren oder äusseren Vulvalippen zusammengenäht werden. Je nach Tradition wird FGM/C kurz nach der Geburt, beim (Klein-)Kind, in der Pubertät, unmittelbar vor oder nach der Eheschliessung oder nach der ersten Entbindung ausgeführt. Meistens sind die Mädchen zwischen 0 und 15 Jahren alt. Taliso ist Typ 2. Die Frau hat ihr die inneren Vulvalippen weggeschnitten und die äusseren zusammengenäht. «Das galt als ganz normal», sagt sie und schüttelt ungläubig den Kopf. «Un es gilt immer noch als normal.» Nach der Beschneidung entzündet sich Talisos Vulva im Laufe der Jahre immer wieder und sie hat regelmässig Schmerzen. Mehrfach operiert Mit elf Jahren flieht sie mit ihrer Grossmutter und drei Onkeln zu ihrem Vater in die Schweiz. Kurz nach der Ankunft bekommt sie zum ersten Mal ihre Tage und die Beschwerden werden schlimmer, bis sich ein mit Eiter gefüllter, walnussgrosser Abszess an ihren Genitalien oberhalb der beschnittenen Stelle bildet. «Das war der schlimmste Schmerz, den ich je erlebt habe.» Sie versucht, es vor ihrer Grossmutter zu verheimlichen, die sich fragt, weshalb Taliso plötzlich so seltsam läuft. Als sich Taliso einen Ruck gibt und der Grossmutter davon berichtet, informiert diese den Vater. Entgegen Talisos Befürchtungen zeigt er sich sofort unterstützend. Sie müsse ihm solche Dinge mitteilen, erklärt er ihr, hier gehe es um ihr Leben. Gemeinsam mit ihrem Vater und der Grossmutter fahren sie ins Kinderspital, wo Taliso am selben Tag operiert wird. Die Naht zwischen ihren Vulvalippen wird aufgetrennt, im Fachjargon spricht man von Defibulation. Taliso ist froh um den Eingriff, schämt sich aber auch, lieber möchte sie mit anderen nicht über den Grund ihres Aufenthalts im Spital reden. «Du musst dir vorstellen: In Somalia sagen uns unsere Mütter und Grossmütter, dass wir auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen dürfen. Schon das Sitzen mit etwas gespreizten Beinen gilt als unsittlich. Wie soll man da frei über seinen Körper reden lernen?» In der Hochzeitsnacht im Mai 2020 liegt Taliso neben dem Mann im Bett, den sie liebt, und zittert trotzdem, als hätte sie einen Fieberschub. Vor Schmerz, aber auch vor Unsicherheit und Angst. Jede Berührung an den Genitalien fühlt sich an, als würde jemand mit Schmirgelpapier an einer offenen Wunde reiben. Ihr Mann beruhigt sie, macht ihr einen Tee. Irgendwann klappt das Eindringen, aber Taliso plagen dabei starke Schmerzen. Als sie ein paar Monate später schwanger wird, denkt sie: Wie in aller Welt soll ich ein Kind aus diesem schmerzenden Körperteil pressen? Surprise 563/23


Die Schwangerschaft verläuft reibungslos und 40 Wochen später kommt ihre gesunde Tochter zur Welt – nach einer langen Geburt, die in einen Kaiserschnitt mündet. Taliso hat in den ersten Tagen wenig emotionalen Zugang zum Baby und gibt sich und ihrem versehrten Körper die Schuld. Sie hinterfragt ihr Muttersein, wie auch sonst viele Mütter in diesen ersten Tagen. Nur spricht bei Taliso auch eine tiefgreifende Scham mit: für ihre mehrfach operierten Genitalien, die ihr Schmerzen bereiten und die Lust auf Geschlechtsverkehr auf ein Minimum reduzieren. Und jetzt auch noch verhindern, dass sie ihr Baby so gebären kann, wie sie es möchte. Dass die Gründe für den Kaiserschnitt eigentlich andere waren, kann sie innerlich nicht auseinanderhalten. In der Schweiz ist FGM/C seit 2012 per Strafrecht verboten. Das Bundesamt für Gesundheit und das Staatssekretariat für Migration unterstützen seit 2016 das Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz. In den vergangenen Jahren entstanden spezialisierte Präventions- und Beratungsangebote und kantonale Anlaufstellen. Der Weg zur Sensibilisierung läuft in vielen Fällen über Gynäkolog*innen ab, die Betroffene untersuchen und aufklären. Ein grosser Teil ist aber auch Engagement innerhalb der praktizierenden Gemeinschaften. «Du kannst nicht einfach im Büro sitzen und erwarten, dass die Frauen zu dir kommen», sagt Monica Somacal. Sie ist Sexologin und Sexualtherapeutin und leitet die Anlaufstelle gegen FGM/C im Auftrag beider Basel. Die Anlaufstelle bietet auch Einzelberatungen an und ist zuständig für die Sensibilisierung von Fachpersonen wie Schulsozialarbeitende, Lehrpersonen, Hebammen und Gesundheitspersonal. Zehn Workshops kann Somacal mit dem gesprochenen Geld pro Jahr durchführen. Meist kommen die Frauen aus Eritrea, Ägypten, Somalia oder dem Sudan, aus Ländern, in denen über 85 Prozent der Frauen beschnitten sind. Dabei arbeitet Somacal immer mit Frauen aus den jeweiligen Kulturen zusammen. Auch Taliso gehört zu Somacals Netzwerk. Die beiden organisieren gemeinschaftliche Treffen zwischen somalischen Frauen, meist in Wohnräumen. Kürzlich waren sie bei Taliso zuhause, es gab etwas zu essen, die Frauen sassen auf dem Sofa und unterhielten sich. Somacal erteilte medizinischen Rat, es wurde über Rituale, Werte und Normen diskutiert und wie sich diese in einer Gesellschaft verändern. Somacal erklärte, wie Intimpflege funktioniert und was man gegen Trockenheit in der Vagina tun kann. Dann kam das Thema auf FGM/C. Neben gesundheitlichen Informationen wies Somacal auch auf das Verbot der Genitalbeschneidung in der Schweiz hin und machte auf die spezialisierte Sprechstunde des Unispitals Basel aufmerksam. Taliso übersetzte und ermutigte die Frauen, sich bei Schmerzen Hilfe zu holen. «Warum solltet ihr leiden?», fragte sie. «Man kann geheilt werden» Nach der Geburt ihrer Tochter vertraute sich Taliso ihrer Frauenärztin an und erzählte von den Schmerzen, die sie immer noch hatte. Die Ärztin nahm noch einen weiteren Eingriff vor und faltete die zwei seitlichen Hautlappen wieder nach aussen. Dies veränderte Talisos Leben. Als sie das Spital verliess und wieder zuhause war, legte sie sich vor den grossen Spiegel zuhause und schaute alles an. Sie spürte grosse Erleichterung, aber da war auch noch ein anderes Gefühl. «Ich realisierte, dass ich mich für meinen Körper nicht schämen muss. Dass er schön ist. Und dass ich ein Recht habe, Lust zu empfinden.» Surprise 563/23

Dieses Gefühl will Taliso in den Workshops mit anderen Frauen weitergeben. «Zeit vergeht und man kann geheilt werden. Das will ich vermitteln.» In den letzten drei Jahren habe sie sich sehr verändert. Sie kann wieder Lust empfinden, sie ist auch selbstbewusster. «Ich war schon immer ein fröhlicher Mensch, aber dass ich selbst dafür sorgen kann, dass es mir gut geht – das war eine grosse Erkenntnis für mich.» Die zweite Erkenntnis sei, dass es für Aufklärung Zeit brauche. Manche Frauen wüssten nicht einmal, dass sie eigentlich zwei Ausgänge für Monatsblut und Urin hätten, sagt Taliso. Gerade ältere Frauen behaupteten oft, dass sie keine Hilfe bräuchten. «Sie haben sich einfach mit ihrem Schicksal abgefunden.» Sie sage ihnen dann jeweils, dass im Koran nichts von Beschneidung stehe. Es sei keine Pflicht, wie oft behauptet wird. «Es wird nur gemacht, um uns klein zu halten.» Davon ist Taliso überzeugt, und dafür spricht, dass die Praxis auch innerhalb der muslimischen Welt umstritten ist und zudem auch in nicht-muslimischen Ländern verbreitet war und ist. Laut UN Population Fund, der Organisation der Vereinten Nationen, die sich um reproduktive Gesundheit kümmert, wurde FGM/C bis in die 1950er-Jahre beispielsweise auch in Europa vorgenommen. Es ist nicht das Problem «anderer Leute», als das es gern dargestellt wird. «Wir wollen, dass die Frauen Stolz auf ihren Körper entwickeln können», sagt Monica Somacal. «Dass nichts an einer Frau als schmutzig betrachtet wird.» Die Workshops finden meist einmalig statt, gut wäre es jedoch, die Mittel für weitere Treffen zu haben. Für solch ein heikles und intimes Thema brauche es eigentlich eine längerfristige Begleitung, damit sich die Frauen regelmässig austauschen können. Oder wie Taliso es formuliert: «So lange, bis sie sich darauf einlassen können.»

Wissenswertes zu FGM/C Die Bezeichnung «Genitalverstümmelung» (Female Genital Mutilation, FGM/C) wurde von Aktivist*innen geprägt, und hat sich in den 1990er-Jahren international durchgesetzt. Viele Betroffene lehnen diese Begriffsverwendung ab, da sie sich vom Bild der «verstümmelten Frau» stigmatisiert fühlen. Sie bevorzugen die neutralere Form «Beschneidung», daher das C für engl. circumcision. Fachlich wird zwischen folgenden Praktiken unterschieden: Typ I (Klitoridektomie): Teilweise oder komplette Entfernung der äusseren Klitoris und/oder der Klitorisvorhaut. Typ II (Exzision): Teilweise oder vollständige Entfernung der äusseren Klitoris und der kleinen Vulvalippen mit/ ohne Entfernung der grossen Vulvalippen. Typ III (Infibulation oder «pharaonische Beschneidung»): Verengung der vaginalen Öffnung durch die künstliche Erzeugung einer bedeckenden Gewebeschicht. Dies geschieht, indem die äusseren und/ oder inneren Vulvalippen zusammengenäht werden, wobei die Klitoris entfernt werden kann oder auch nicht. Typ IV: Alle anderen Formen, die die weiblichen Genitalien aus nichtmedizinischen Gründen schädigen, zum Beispiel das Einstechen oder Einreissen der inneren und äusseren Genitalien.

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Alle 14 Tage eine weniger Wird eine Frau aus bestimmten Motiven getötet, spricht man von einem Femizid. Die rechtliche Lage in der Schweiz sowie die Hilfsangebote für Gefährdete sind dürftig. TEXT MIRIAM SUTER UND NATALIA WIDLA

Immer nach einer bestimmten Art Mord an einer Frau finden sich am folgenden Donnerstag auf dem Helvetiaplatz in Zürich Menschen ein. Oft sind es nur eine Handvoll, manchmal auch mehrere Dutzende. Manche von ihnen haben Kerzen bei sich, andere Pappschilder. Auf ihrem Instagram-Account postet die Gruppe mit dem Namen Ni Una Menos (von Spanisch «Nicht eine weniger»), die zu diesen Protestkundgebungen aufruft, jeweils dasselbe Bild: Eine kleine rote Kerze und davor ein auf dem Boden liegendes Pappschild auf dem geschrieben steht «Sag es: Femizid.» Der letzte solche Instagram-Post wurde am 3. Oktober abgesetzt. Am Tag zuvor wurde in der Zürcher Gemeinde Embrach eine 30-Jährige von einem Mann ermordet. Wie Ni Una Menos Zürich schreibt, ist dies der 16. Femizid in der Schweiz seit Jahresbeginn, von denen wir wissen. Darunter: «Ein Angriff auf eine ist ein Angriff auf alle!» Im Schnitt wird alle 14 Tage in der Schweiz eine Frau ermordet. Die Täter sind fast immer männlich, in der Mehrheit der Fälle kennen Opfer und Täter sich gut, sind gar verheiratet oder verwandt. Die Expertin für häusliche (auch: partnerschaftliche) und sexualisierte Gewalt, Agota Lavoyer, definiert den Begriff «Femizid» in Abgrenzung zu anderen Morden gegenüber dem Online-

Femizide in den Medien Immer wieder werden Morde an Frauen in den Medien mit blumiger Sprache umschrieben, der Begriff «Femizid» setzt sich dort nur zögerlich durch. Die Verharmlosung von Frauentötungen durch Euphemismen beeinflusst, wie diese in der öffentlichen Wahrnehmung bewertet werden. Wer etwa von einem «Mord aus Leidenschaft» oder «Eifersuchtsdrama» schreibt, impliziert einen höheren Beweggrund für die Frauentötung. «Mord aus Leidenschaft» weckt Sympathie für den Täter, «Mord an der Ehefrau» nicht. Ähnlich verhält es sich mit «Familiendrama» oder «Eskalierter (Familien-)Konflikt». Sie implizieren, dass die Täter-Opfer-Verhältnisse unklar sind. Es wird sprachlich eine Beteiligung oder gar Mitschuld des Opfers an dessen eigener Ermordung suggeriert. Die Verknüpfung von Morddelikten mit Worten wie «Familie», «Leidenschaft» oder «Liebe» bestärkt ein gesellschaftlich ohnehin weit verbreitetes Bild solcher Fälle: Eines, in dem es sich um private, intime Angelegenheiten handelt, die weder durch die jeweilige Gesellschaft noch durch die Politik hätten verhindert werden können. Dabei passt der altbekannte Satz: Das Private ist politisch. Der Staat trägt die Verantwortung für den Schutz aller Personen auf seinem Territorium.

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magazin Watson wie folgt: «[Ein Femizid] ist ein geschlechtsbezogenes Tötungsdelikt an einer Frau. Dabei geht es nicht nur um das Geschlecht der getöteten Person, sondern um die Motivation dahinter. Diese geht auf misogyne und sexistische Haltungen des Täters zurück.» Als Femizide bezeichnen Frauenrechtler*innen also jene Tötungen, bei welchen in der Presse noch oftmals von einem «Beziehungsdelikt» oder auch in Kombination mit rassistischen Reflexen von einem «Ehrenmord» gesprochen wird (siehe Box). Die betroffenen Frauen werden nicht getötet, weil sie Opfer eines Raubmordes oder im Strassenverkehr willkürlich überfahren werden. Sie müssen sterben, weil sie Frauen sind. Sie werden dafür bestraft, einen Freund oder Ehemann verlassen zu wollen oder bereits verlassen zu haben, ihre Sexualität frei auszuleben oder sich ganz generell nicht so zu verhalten, wie es ein Mann in ihrem Leben von ihnen erwartet. Keine Statistiken In der Schweiz gibt es keinen spezifischen Straftatbestand für Femizide. Zwar gibt es aktuell einige Vorstösse im Parlament, doch der politische Wille, gegen geschlechtsspezifische Gewalt konsequent vorzugehen, ist eher schwach. Dabei wäre dies wichtig, sagt Anna-Béatrice Schmaltz von der feministischen Friedensorganisation Frieda (ehemals cfd): «Die geschlechtsspezifische Dimension und die patriarchalen Machtstrukturen, die der Nährboden für Femizide sind, müssen benannt werden. Ansonsten bleibt es schwierig, adäquat gegen geschlechtsspezifische Gewalt vorzugehen.» Welche spezifischen rechtlichen Bestimmungen es braucht, müsse intensiv diskutiert werden, ergänzt sie. In der Schweiz fehle es aber an einem breiten Diskurs dazu. Ein wichtiger Punkt in dieser Diskussion: Die Beziehung zwischen Täter und Opfer – also zum Beispiel, wenn die beiden verheiratet waren oder sind – darf nicht dazu führen, dass das Strafmass verringert wird. Dies fordert im Übrigen auch die Europaratskonvention zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen, die sogenannte Istanbul-Konvention, die 2018 in Kraft trat. Ein weiteres Problem: Es fehlen Statistiken über Femizide. «Es gibt keine offizielle Definition und der Begriff wird von offizieller Seite nicht verwendet. Es werden lediglich Tötungsdelikte im Kontext häuslicher Gewalt erfasst. Femizide werden jedoch auch ausserhalb von häuslicher Gewalt ausgeübt», sagt Schmaltz. Ausserdem werde von offizieller Seite oft verpasst, die geschlechtsspezifische Dimension der Gewalt zu berücksichtigen – also eben, dass Frauen getötet werden, weil sie Frauen sind. Solange es keine genauen Zahlen gibt und keine Studien zu den Hintergründen und Motiven der Taten, sei es schwierig, wirksame Präventionsarbeit zu leisten. Was nicht erfasst wird, gilt in der Regel auch nicht als existentes Problem. Weiter fehle auch Surprise 563/23


noch eine nationale Gewaltpräventionskampagne durch den Bund: «Die Schweiz macht zu wenig, um geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern. Auch das GREVIO, das Expert*innengremium zur Umsetzung der Istanbul-Konvention, hat sich diesbezüglich sehr klar so geäussert.» Die Webseite stopfemizid.ch listet, inspiriert von der Ni-UnaMenos-Bewegung, jeden Mord oder Mordversuch an Frauen auf. Neben den sechzehn Ermordeten (Stand Oktober) haben in der Schweiz dieses Jahr noch drei Frauen einen versuchten Femizid überlebt, steht dort. Literaturwissenschaftlerin Nadia Brügger, die das Projekt mitgegründet hat, sagt: «Femizide können nur in einer Gesellschaft geschehen, die es hinnimmt, dass Frauen in dieser Regelmässigkeit getötet werden. Das Auflisten verstehe ich als eine Weigerung, Femizide als Normalität hinzunehmen: Indem man die massive Gewalt gegen Frauen sichtbar macht und sie benennt, erinnert man an die ermordeten Frauen und stellt sich gleichzeitig solidarisch an die Seite von Angehörigen, Überlebenden von geschlechtsspezifischer Gewalt und gegenwärtig Gewaltbetroffenen.» Im Kampf gegen Gewalt an Frauen brauche es dieses kollektive Entgegenstehen, sonst werde sich nicht viel verändern, befürchtet Brügger. Femizide werden auch als politische Verbrechen bewertet, da sie ein bestimmtes politisches und gesellschaftliches Klima brauchen und aufrechterhalten. Dies lässt zu, dass Männer derart viel Anspruch auf das Leben und den Körper einer Frau erheben, dass sie es als ihr Recht erachten, den Frauen dieses Leben oder ihre Unversehrtheit auch abzuerkennen. Weil die jeweils zuständigen Staaten zu wenig unternehmen, um das Leben der Frauen zu schützen, erklärte die mexikanische Anthropologin Marcela Lagarde den Begriff Feminiziden (vom spanischen feminicidio) für passender. Dadurch soll die Mitschuld des Staates an jeder einzelnen Frauentötung ausgedrückt werden. Entscheidend ist: Femizide sind ein strukturelles Problem, welches nicht dadurch gelöst werden kann, einzelne straffällige Individuen aus dem Verkehr zu ziehen. Um männliche Selbstjustiz an Frauen nachhaltig zu verhindern, braucht es noch mehr gesellschaftlichen und politischen Wandel. Natalia Widla und Miriam Suter haben das Buch «Hast du Nein gesagt? Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt» veröffentlicht (2023, Limmat Verlag). Darin nehmen die beiden Journalistinnen die Praxis unserer Polizei und Beratungsstellen sowie das Recht unter die Lupe. Aktuell arbeiten sie an einem neuen Buchprojekt, das sich mit der Frage beschäftigt, warum Männer zu Tätern werden. Die Recherche für diesen Artikel wurde vom JournaFONDS unterstützt.

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20 JAHRE INTEGRATION DURCH SPORT Der Surprise Strassenfussball feiert Jubiläum und die Eröffnung einer neuen Strassenfussball-Halle in Dornach.

2003 rollte der Ball zum ersten Mal im Namen von Surprise über einen Strassenfussball-Platz, und das gleich in zweifacher Hinsicht: Erstens veranstalteten wir damals die ersten eigenen Turniere, zweitens nahmen wir zum ersten Mal an der internationalen Strassenfussball-Weltmeisterschaft teil, dem «Homeless World Cup». Seitdem ist viel passiert, der Kern des Projekts aber ist derselbe geblieben: Strassenfussball bietet armutsbetroffenen und sozial ausgegrenzten Menschen nicht nur Spiel und Spass, sondern fördert auch Gesundheit, Teamgeist, Konfliktfähigkeit und Selbstvertrauen – daher auch unser Motto «More Than A Game».

FOTO: CHRISTIAN SCHNUR

FOTO: BEAT SCHMID

Seit 20 Jahren unterstützen wir mit dem Surprise Strassenfussball Menschen in schwierigen Lebenssituationen – das ist ein Grund zu feiern. Und wir bedanken uns bei unseren zahlreichen Unterstützer*innen und ganz besonders all den Strassenfussballer*innen für zwei Jahrzehnte voller Emotionen, Erlebnisse und Zusammenhalt. Als besonderes Highlight durften wir vor wenigen Monaten zudem unsere eigene Streetsoccer-Halle in Dornach bei Basel beziehen, welche wir am 18. November eröffnen (siehe Ankündigung rechte Seite unten). NICOL AS FUX

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FOTO: BEAT SCHMID

1 – Die Schweizer Strassenfussball-Liga Vier Ligaturniere plus ein Benefizturnier organisieren wir jährlich für rund 150 Strassenfussball-Spieler*innen in verschiedenen Teams, die von verschiedenen sozialen Institutionen gestellt werden – 2023 waren es 17 Teams. Auf einem 16 × 22 Meter grossen Feld mit verkleinerten Toren stehen sich je 3 Feldspieler*innen und 1 Torhüter*in für 14 Minuten gegenüber – auch bei strömendem Regen auf dem Kasernenareal Basel 2008.

2 – Professionelle Beratung und Begleitung Das letzte Spiel besprechen und nebenbei noch um Rat fragen wegen der Krankenkassenrechnung: Dafür ist Raum im Strassenfussball. Denn unsere Mitarbeiter*innen sind für derlei Beratungen geschult und nehmen sich Zeit, direkt und unbürokratisch sozialarbeiterische Hilfe zu leisten. Sie unterstützen einander: Die Coaches und Spieler*innen sind ein Team, wie hier in Olten 2023.

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3 – Fairplay steht an erster Stelle Tore sind wichtig, an erster Stelle stehen aber der Spielspass und das Miteinander. Der «Neutrale» zählt deshalb 2013 in Bern nicht nur den Spielstand, sondern sorgt mit einem besonderen Fairplay-Punktesystem dafür, dass auch in intensiven Spielsituationen der Sportgeist erhalten bleibt.

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4 – Der einmalige «Homeless World Cup» Einmal im Jahr findet die Weltmeisterschaft im Strassenfussball statt, für die Surprise seit 20 Jahren das Schweizer Nationalteam stellt. Das internationale Turnier ist für die Spieler*innen ein einzigartiges Erlebnis, hier 2004 in Göteborg.

5 – Die Surprise-Kickerinnen Zweimal im Monat bieten wir einen Frauenfussball-Treff an. Hier gehören Kinderbetreuung zur Entlastung von Alleinerziehenden und eine sichere Atmosphäre dazu. Die Teilnehmerinnen lernen die Regeln des Spiels und werden darauf vorbereitet, auch an unseren Turnieren teilzunehmen, hier 2023 in Olten.

Halleneröffnung mit Rahmenprogramm in Dornach (SO)

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Am Samstag, 18. November feiern wir das neue Zuhause vom Surprise Strassenfussball. Es gibt drei Benefizturniere, leckere Verpflegung und ein unterhaltsames Rahmenprogramm. Alle sind herzlich eingeladen, unsere neue Halle, die Sportler*innen und natürlich den Strassenfussball selbst kennenzulernen. Samstag, 18. November, 9 bis 24 Uhr, Weidenstrasse 50, Dornach, Gebäude 93. Mehr Infos auf surprise.ngo/eroeffnungsfest

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Zürich «Jubiläums-Ausstellung Schweizer Pressefotografen und Videojournalisten», bis So, 3. Dez., Mi und So, 12 bis 18 Uhr, So bis Sa, 12 bis 21 Uhr, Photobastei, Sihlquai 125. s-p-v.ch

Der Verband der Schweizer Pressefotografen und Videojournalisten feiert sein 75-Jahre-Jubiläum mit einer Gruppenausstellung. Begleitet wird das Ganze von mehreren Veranstaltungen. Besonders möchten wir Ihnen den Vortrag und die Podiumsdiskussion von und mit Klaus Petrus ans Herz legen (So, 19. Nov., 15 Uhr). Er ist sowohl sozial engagierter freier Fotojournalist als auch Co-Leiter des Magazins, das Sie gerade in den Händen halten. Er zeigt einige seiner Reportagearbeiten und spricht darüber, wie wichtig die Geschichten hinter den Fotografien sind und welche Fallen das Erzählen in Bildern auch stellen kann. Was darf, soll oder muss die Pressefotografie, um nicht Stereotypen zu bedienen? Des weiteren gibt es zwei Filmvorführungen: «Biographie eines Blicks» (So, 26. Nov., 15 bis 18 Uhr) von Heinz Bütler widmet sich Henri Cartier-Bresson, dessen Werk Referenzcharakter für den Bildjournalismus des 20. Jahrhunderts hatte. Und in «Der schöne Augenblick» (1986) gehen «Höhenfeuer»-Kameramann Pio Corradi und Dokumentarfilmer Friedrich Kappeler dem fotografischen Handwerk dreier älterer Wander- und Strassen-Fotografen kurz vor dem digitalen Wandel nach. DIF

Schweiz «16 Tage gegen Gewalt an Frauen», Aktionstage, Sa, 25. Nov. bis So, 10. Dez., gesamte Schweiz. 16tage.ch

Die Präventions- und Sensibilisierungskampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» beginnt alljährlich am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, Abschluss ist der Tag der Menschenrechte, der 10. Dezember. Sie soll deutlich machen, dass Frauenrechte Menschenrechte sind. Geschlechtsspezifische Gewalt ist immer auch eine Men26

schenrechtsverletzung. Während 16 Aktionstagen wird geschlechtsspezifische Gewalt in Podiumsdiskussionen, Theatern, Selbstverteidigungskursen, Workshops oder Strassenaktionen thematisiert. Dieses Jahr steht die psychische Gewalt im Zentrum, die oft so subtil stattfindet, dass sie von aussen unsichtbar bleibt. Vorbild für die Aktionstage ist die Kampagne «16 Days of Activism Against Gender Violence», die 1991 von Women‘s Global Leadership ins Leben gerufen wurde. Schweizweit beteiligen sich über 150 Organisationen an «16 Tagen». DIF

Bern «Work», Theater, Do, 7. bis Sa, 9. Dez., jeweils 20.30 Uhr, Tojo Theater Reitschule Bern, Neubrückstrasse 8. tojo.ch Die Compagnie Buffpapier verschreibt sich in ihren Theaterstücken der Poesie des Körpers. Nun geht es in ihrer neuen Produktion um die historische Entwicklung sowie die Zukunft der Arbeit.

Menschliches wird also mit Maschinellem gepaart, und in szenischer Symbolik und Abstraktion wird gefragt: Wie beeinflusst die fortwährende Evolution der Arbeit unseren Körper und unser Selbstverständnis? Die Figuren stecken in polymorphen Kostümen aus blauen IKEA-Taschen. Es sind irrationale, emotionale Wesen, wie es Menschen eben sind, doch sie sollen rationalisiert werden im Arbeitsprozess. Leider leidet dann die Kreativität. Und man fragt sich wiederum: Wäre diese nicht im Grunde die Quelle der Innovation und somit der Zukunft der Arbeit? Dieses Sisyphuswerk zum Wechselspiel zwischen Körper und Arbeit wird von Electro-Industrial-Glitch-Musik begleitet, live performt von Marcel Gschwend aka Bit-Tuner. DIF

Basel «Morgennebel», Fotoausstellung, bis So, 10. Dez., Sa und So, 11 bis 17 Uhr, BelleVue – Ort für Fotografie Basel, Breisacherstrasse 50. bellevue-fotografie.ch

Kriege prägen die Erinnerung und das Handeln, sie hinterlassen Spuren in der Landschaft und in den Körpern der Menschen, die einen Umgang finden müssen mit seinen Konsequenzen – über Generationen hinweg. Die Ausstellung des Berner Fotografen und Künstlers Marco Frauchiger und des Basler Fotografen Roland Schmid beleuchten langfristige Auswirkungen des Vietnamkriegs (1955– 1975). Frauchigers Bilder stammen aus der Foto- und Videoinstallation «how to dismantle a bomb» – einem Langzeitprojekt, das danach fragt, wie die Bevölkerung in Laos mit diesem Erbe umgeht. Roland Schmid thematisiert die Folgen des

massiven Einsatzes des Herbizids Agent Orange durch die USA und ihre Verbündeten. Schmid, der auch regelmässig für Surprise fotografiert, steht mit seinen dokumentarischen Bildern in einer aufklärerischen Tradition, die auf die Würde des Menschen abzielt. Führungen am So, 19. November, 14 Uhr, und So, 10. Dezember, 14 Uhr mit Marco Frauchiger und Roland Schmid. DIF

Zürich «Interdependencies: Perspektiven zu Care und Resilienz», Ausstellung, bis So, 21. Jan., Eintritt frei, Migros Museum für Gegenwartskunst, Limmatstrasse 270. migrosmuseum.ch Die internationale Gruppenausstellung widmet sich dem Thema «Care», also der Fürsorge. Und zwar im dreifachen Sinn: als Selbstfürsorge, als kollektive Fürsorge und als Fürsorge im politischen, gesellschaftlichen Kontext. Grundsätzlich kommt der Diskurs um Care immer stärker auch im Zeitgeist an: Künstler*innen erarbeiten zunehmend Modelle, die Ableismus, Gender-Normativität und den gesellschaftlichen Leistungsdruck ablehnen. So kritisiert Maryam Jafri in der Installation «Depression» die Vereinnahmung traditioneller chinesischer Heilpraktiken durch eine globale Wellnessindustrie. Ezra Benus erforscht den Zusammenhang zwischen Krankheit, Kapitalismus sowie Erotik und thematisiert, wie gelebte Erfahrungen zur konsumierbaren Ware gemacht werden. Sharona Franklin untersucht mit ihrem Quilt aus Gelatine, Kräutern und Biomaterial die Machtdynamik zwischen Pharmaindustrie sowie alternativen Heilmethoden und setzt ein Zeichen für die Rechte von Menschen mit Behinderung. Und Carolyn Lazard verweist in ihrer modifizierten Pain Scale (Schmerzskala) auf die Ungleichbehandlung von Schwarzen Menschen, die von medizinischem Personal in ihren Schmerzen weniger ernst genomDIF men werden als weisse.

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BILD(1): KLAUS PETRUS, BILD(2): NATHALIE JUFER, BILD(3): ROLAND SCHMID, BILD(4): STUDIO STUCKY

Veranstaltungen


zu bemängeln und nichts wirkt beschädigt, ausser dass von dem kleinen Turm, von dem nicht ganz klar ist, was er darstellt, ein Stofffetzen herunterhängt, aber das muss allenfalls so sein. Die Holzbank wurde von der Burgergemeinde, dem Jugendwerk und der Gesellschaftskommission gestiftet, ein echtes Gemeinschaftswerk. Daneben gibt es eine Boccia-Bahn, die nicht allzu benutzt aussieht. Im Schaufenster des Coiffeursalons Debbie wird der heimischen Korbballmannschaft zum SchweizermeisterTitel gratuliert. Es gibt einen Pub und ein Hotel Restaurant, grundsätzlich sind die Mehrfamilienhäuser eher unten, in der Nähe des Bahnhofs, während oben, in Richtung Kirche, die älteren Bauern- und Wohnhäuser stehen.

Tour de Suisse

Pörtner in Pieterlen Surprise-Standort: Bahnhof Einwohner*innen: 5170 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 32,4 Sozialhilfequote in Prozent: 6,8 Anzahl Vereine: 42

Dass man hier schon im Jura oder am Fusse desselben ist, merkt man daran, dass mitten im Dorf Pferde weiden, vor der gut ausgebauten Entsorgungsstelle Mattenweg, wo fast jeder erdenkliche Wertstoff abgegeben werden kann. Dahinter eine Wiese mit Zwetschgenbäumen, die Zwetschgen sind allerdings schon gepflückt. Gleich daneben befindet sich das Mehrzweckgebäude. Daran sind grossformatige Fotos der Vereine angebracht, die es nutzen: Die Samariter*innen, die Blasmusik und eine Frauengruppe, es könnte sich um den Frauenchor handeln, um den im Schaufenster der Vereine angeschlagenen Gemeinnützigen Frauenverein oder den Landfrauenverein. Neben dem Stall, wo Ponyreitstunden angeboten werden, steht ein aussergewöhnlich grosses Radargerät, das an Surprise 563/23

den AT-AT Walker aus Star Wars erinnert. Kulturell wird einiges geboten, es gibt einen Kulturverein, der monatlich etwas auf die Beine stellt, eine Galerie, ein Atelier für Keramikkunst, und beim Fotografen können originelle Schwangerschafts- und Kinderfotos gemacht werden. Die Hauptstrasse heisst ab hier Bielstrasse, wie zwei übereinander angebrachte Schilder klarmachen. Auch gebaut wird, in Handarbeit restauriert oder auf Dächern herumgeklettert. Ein Hausanbau ist ausgesteckt. Vor der ehemaligen Molkerei weht sowohl die Schweizer wie auch die amerikanische Flagge. Auf dem kleinen Dorfplatz gibt es ein Wasserspiel, das aber nicht in Betrieb ist, am Papierkorb ist ein QR-Code angebracht, mittels welchem Mängel und Schäden gemeldet werden können. Es gibt allerdings nichts

Auch Wiesen und Felder gibt es noch in der Kernzone, wo ein kleiner Bach fliesst, entlang dessen ein Weg führt, der bei Hochwasser gesperrt werden muss. Überhaupt ist es nicht ganz risikofrei, hier entlangzugehen, ein Schild vor der Brücke warnt vor Einsturzgefahr wegen Biberbaus. Darauf zu sehen ist ein fröhlicher Biber, der es sich unter der Strasse gemütlich eingerichtet hat. Wenig beeindruckt davon zeigt sich ein mächtiger Lastwagen mit Anhänger, der über die Brücke donnert. Etwas weiter vorne gibt es Blumen zum Selberschneiden und für jene, die sich überlegen, hierher zu ziehen, wird eine Siedlung erstellt: «Dein Zuhause für ein Leben im Flow». Bleibt zu hoffen, dass dieser nicht von Bibern untergraben wird.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

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Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Die Mappe - Agentur für Dies und Das, Basel

Eine von vielen Geschichten

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Yogaloft GmbH, Rapperswil SG

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iris-schaad.ch Qigong in Goldau

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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FairSilk social enterprise www.fairsilk.ch

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Breite-Apotheke, Basel

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Pub Pfiff, Haltbergstrasse 16, 8630 Rüti

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www.tanjayoga.ch, Lenzburg

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Gemeinnützige Frauen Aarau

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Zubi Carrosserie, Allschwil

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Beat Hübscher, Schreiner, Zürich

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AnyWeb AG, Zürich

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Fachschule LIKA, Stilli b. Brugg

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Beat Vogel - Fundraising-Datenbanken, Zürich

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Buchhaltungsbüro Balz Christen, Dübendorf

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Ref. Kirche, Ittigen

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 50-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor über 10 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

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Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

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Benita Cantieni CANTIENICA®

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Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

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Madlen Blösch, Geld & so, Basel

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Spezialitätenrösterei derkaffee, derkaffee.ch

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Boitel Weine, Fällanden

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Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Aleksandra Bruni Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 52 I marketing@surprise.ngo

Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

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Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 27 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

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Wir alle sind Surprise #561: Tour de Suisse – Toffen

#Strassenmagazin

«Wohnen auf dem Land versteht er nicht»

«Ohne Hass und Diskriminierung»

Ab und zu kaufen wir beim Migros in Belp ein Surprise, nicht weil uns die Zeitschrift besonders interessieren würde, aber weil wir gerne den netten Herrn unterstützen wollen, welcher beharrlich seit Jahren an diesem Standort die Zeitschrift verkauft. Der Artikel «Pörtner in Toffen» irritiert mich so sehr, dass ich das Bedürfnis verspüre, diesen Leserbrief zu schreiben. Ich verstehe schon, dass die Schreibweise von Herrn Pörtner als Kunst angesehen werden soll, und ich muss zugeben, von Kunst verstehe ich nichts. Gerne versuche ich mich einmal in dieser fremden Welt der Literatur und porträtiere nachfolgend Herrn Pörtner in seinem Kunststil. Ich kenne Herrn Pörtner so wenig wie er die Gemeinden Toffen und Kaufdorf: «Herr Pörtner, ein Mensch, welcher sich äusserlich als Stadtmensch zu erkennen gibt, vermutlich sehr stolz, in der (Gross-)Stadt Zürich zu wohnen. In wohlhabendem Hause aufgewachsen, mit Bildung überhäuft, hat er sich in jungen Jahren für ein Studium in Literatur entschieden und konnte sich fortan der Muse Schreiben widmen. Wohnen auf dem Land oder mühsames Geldverdienen mit handwerklichen Berufen versteht er nicht und äussert sich entsprechend herablassend darüber. Er hat jedoch eine soziale Ader und spendet das Honorar für seine Artikel in Surprise den Verkäufer*nnen desselben Magazins. Sein Schaffen erfährt dadurch auf für Nicht-Kunstverständige einen positiven Nutzen.» Selbstverständlich dürfen sich alle über Herrn Pörtner, über mich, über Toffen, über Kaufdorf oder über Zürich ihre eigene Meinung bilden. THOMAS MEIER, Gelterfingen, Gemeinde Kirchdorf

Anm.d.Red.: Leserbriefschreiber und Autor haben sich ausgetauscht und Missverständnisse über Text und Autor aus dem Weg räumen können. Die Absicht dieser Kolumne ist es nie, sich über die Orte und ihre Bewohner*innen lustig zu machen, es sind Momentaufnahmen, die aus Beobachtungen eines kurzen Besuchs entstehen und aus einer subjektiven Perspektive beschrieben werden.

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Beundenfeldstrasse 57, 3013 Bern T +41 31 332 53 93 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 43 321 28 78 M+41 79 797 94 10 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Lea Stuber (lea), Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Carlo Knöpfel, Yvonne, Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Naomi Gregoris, Urs Habegger, Ruben Hollinger, Adelina Lahr, Miriam Suter, Dinah Wernli, Natalia Widla Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb die Gendersprache so viel Aufregung verursacht. Jeder Mensch hat das Recht, beachtet, wahrgenommen und respektiert zu werden, unabhängig von Hautfarbe, Religion, Geschlecht. Dafür, dass wir Frauen auch sprachlich abgebildet werden, haben wir lange gekämpft, und so ist dies auch Menschen zuzugestehen, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlen. Statt sich zu ärgern, können wir uns alle den wirklichen Problemen zuwenden und aktiv unsere Gesellschaft verbessern, ohne Hass und Diskriminierung. URSUL A LEUTHARD, Schaffhausen

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FOTO: RUBEN HOLLINGER

Surprise-Porträt

«Ich lache gerne mit den Leuten» «Ich komme aus Rumänien, habe aber schon mehr als die Hälfte meines Lebens im Ausland verbracht. Als ich 18 war, entschieden mein Mann und ich, nach Spanien auszuwandern. Das war 2002. Die wirtschaftliche Lage in Rumänien war schon damals so schlecht, dass viele das Land verliessen und irgendwo im Ausland eine Arbeit suchten. 15 Jahre lang war Málaga im Süden Spaniens unsere Heimat. Unsere Söhne, die heute 21 und 14 Jahre alt sind, kamen dort zur Welt. Mein Mann und ich arbeiteten beide und hatten mit unseren Kindern ein gutes Leben. Ich habe als private Haushaltshilfe gearbeitet, meistens bei älteren Leuten. Neben Waschen, Putzen und Einkaufen habe ich ihnen auch beim Duschen geholfen. Manchmal hatte ich auch Arbeit in Familien mit Kindern. Das hat mir immer speziell gut gefallen, weil ich Kinder so gernhabe. Mit den Jahren veränderte sich die Situation in Spanien und mein Mann und ich hatten nicht mehr genügend Arbeit und Einkommen. Also überlegten wir uns, wie und wo wir unseren Lebensunterhalt am besten verdienen könnten. 2017 beschlossen wir dann, dass der ältere Sohn und ich in Deutschland leben und arbeiten, während mein Mann mit dem jüngeren Sohn zurück nach Rumänien nach Timișoara zieht, wo der Junge zur Schule gehen und eine Ausbildung machen kann. Weil die Arbeitssituation in Deutschland für uns jedoch nicht viel besser war als in Spanien, zogen mein Sohn und ich vor zweieinhalb Jahren in die Schweiz. Seither arbeiten wir hier. Er hat im Moment zwar keine feste Stelle, findet aber immer wieder Temporärjobs, meist als Staplerfahrer. Bei mir ist es ähnlich. Seit wir hier sind, hatte ich schon mehrere befristete Anstellungen als Lager- und Logistikmitarbeiterin sowie in einer Reinigungsfirma. Im Moment verkaufe ich aber nur Surprise. Mit dem Heftverkauf angefangen habe ich vor bald zwei Jahren in Solothurn, weil ich ganz in der Nähe in Luterbach wohne. Doch irgendwie lief es in Solothurn nicht so gut. Nach ein paar Monaten sprach ich zufälligerweise mit einem Surprise-Verkäufer, der beim Bahnhof Olten verkauft. Er sagte, er sei immer nur frühmorgens für ein paar Stunden dort, dann sei sein Platz den ganzen Tag frei; ich solle es doch einmal dort probieren, falls das Vertriebsbüro einverstanden sei. Dieses Angebot nahm ich dankend an und bin nun sehr zufrieden, auch wenn die Zugfahrt nach Olten deutlich teurer ist als 30

Pepi Sonia Munteanu, 39, nimmt für ihren Verkaufsstandort im Bahnhof Olten sogar einen längeren und teureren Arbeitsweg in Kauf.

jene nach Solothurn. Am Bahnhof Olten läuft viel mehr, und ich habe gute Kontakte zu meiner Stammkundschaft, aber auch zu Menschen, die ich nur einmal sehe. Ich rede und lache gerne mit den Leuten – das ist ähnlich wie früher bei meiner Arbeit als Haushaltshilfe in Spanien. Eigentlich würde ich auch hier gerne als Haushaltsund Pflegehilfe arbeiten und ältere Menschen oder Familien mit Kindern unterstützen. Doch dafür reichen meine Deutschkenntnisse nicht, hat man mir gesagt. Mein Deutsch ist nicht schlecht, aber ich kann es eben nur sprechen und lesen, nicht aber schreiben. Ich hoffe, es klappt sonst irgendwo, zum Beispiel als Küchenhilfe, das habe ich schon in Deutschland gemacht. Momentan ist mein grösster Wunsch einfach: eine feste Stelle finden und über ein regelmässiges Einkommen verfügen. Denn diese Unsicherheit jeden Monat, ob mein Sohn und ich alle Rechnungen bezahlen können, ist sehr unangenehm und auch belastend.»

Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN

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JEDEN FRANKEN WERT. Das Strassenmagazin Surprise für CHF 8.– Menschen in prekären Verhältnissen leiden gerade besonders unter steigenden Preisen. Surprise reagiert und erhöht am 8. September erstmals seit 14 Jahren den Heftpreis um zwei Franken. Die Verkäufer*innen erhalten so einen Franken mehr Lohn pro Heft, um ihre gestiegenen Lebenskosten zu decken. Auch Surprise erhält einen Franken mehr, um höhere Produktionspreise und nötige Investitionen zu finanzieren. Haben Sie Fragen?

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Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS

IN AARAU Rest. Schützenhaus, Aarenaustr. 1 | Rest. Sevilla, Kirchgasse 4 | the green corner, Rain 27 IN ALSTÄTTEN Zwischennutzung Gärtnerei, Schöntalstr. 5a IN ARLESHEIM Café Einzigartig, Ermittagestr. 2 IN BAAR Elefant, Dorfstr. 1 IN BACHENBÜLACH Kafi Linde, Bachstr. 10 IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstr. 18 & Elsässerstr. 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Barista Bar Basel, Schneidergasse 16 | Bioladen Feigenbaum, Wielandplatz 8 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café Spalentor, Missionsstr. 1 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Flore, Klybeckstr. 5 | frühling, Klybeckstr. 69 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | KLARA, Clarastr. 13 | L’Ultimo Bacio Gundeli, Güterstr. 199 | Les Gareçons to go, Bad. Bahnhof | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreff Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreff Lola, Lothringerstr. 63 | Shöp, Gärtnerstr. 46 | Tellplatz 3, Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 | Wirth’s Huus, Colmarerstr. 10 IN BERN Äss-Bar, Marktgasse 19 | Becanto, Bethlehemstr. 183 | Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Burgunderbar, Speichergasse 15 Café Kairo, Dammweg 43 | Café Paulus, Freiestr. 20 | DOCK8, Holligerhof 8 | Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Generationenhaus, Bahnhofplatz 2 | Hallers brasserie, Hallerstr. 33 | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa, Lorrainestr. 23 | Löscher, Viktoriastr. 70 | Luna Lena, Scheibenstr. 39 | MARTA, Kramgasse 8 MondiaL, Eymattstr. 2b | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 | Rösterei, Güterstr. 6 | Sous le Pont, Neubrückstr. 8 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Tscharni, Waldmannstr. 17a IN BIEL Äss-Bar, Rue du Marché 27 | Inizio, Freiestrasse 2 | Treffpunkt Perron bleu, Florastrasse 32 IN BURGDORF Bohnenrad, Bahnhofplatz & Kronenplatz | Specht, Hofstatt 5 IN CHUR Loë, Loestr. 161 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstr. 3a IN FRAUENFELD Be You Café, Lindenstr. 8 IN LENZBURG Chlistadt Kafi, Aavorstadt 40 | feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer, Rheinstr. 20b IN LUZERN Arlecchino, Habsburgerstr. 23 | Bistro Vogelgärtli, Sempacherstr. 10 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Markt Wärchbrogg, Alpenquai 4 & Baselstr. 66 | Meyer Kulturbeiz & Mairübe, Bundesplatz 3 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Rest. Wärchbrogg, Alpenquai 4 | Sommerbad Volière, Inseliquai IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse, Emil-Frey-Str. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN OBERWIL IM SIMMENTAL Gasthaus Rossberg, Rossberg 557 IN SCHAFFHAUSEN KammgarnBeiz, Baumgartenstr. 19 IN SISSACH Cheesmeyer, Hauptstrasse 55 IN STEFFISBURG Offenes Höchhus, Höchhusweg 17 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN UEKEN Marco’s Dorfladen, Hauptstr. 26 IN USTER al gusto, Zürichstrasse 30 | Kafi Domino, Gerberstrasse 8 IN WIL Caritas Markt, Ob. Bahnhofstr. 27 IN WINTERTHUR Bistro Sein, Industriestr. 1 IN ZOLLIKOFEN Café Mondial, Bernstrasse 178 IN ZUG Bauhütte, Kirchenstr. 9 | Podium 41, Chamerstr. 41 IN ZÜRICH Café Noir, Neugasse 33 | Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 das GLEIS, Zollstr. 121 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Freud, Schaffhauserstr. 118 | GZ Bachwiesen, Bachwiesenstr. 40 | GZ Wipkingen, Breitensteinstr. 19a | GZ Witikon, Witikonerstr. 405 | jenseits im Viadukt, Viaduktstr. 65 | Kiosk Sihlhölzlipark, Manessestr. 51 | Kleinwäscherei, Neue Hard 12 Kumo6, Bucheggplatz 4a | Quartiertr. Enge, Gablerstr. 20 | Quartierzentr. Schütze, Heinrichstr. 238 | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76 | Täglichbrot, Friesenbergplatz 5 | Zum guten Heinrich Bistro, Birmensdorferstr. 431 32 Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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