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Strassenmagazin Nr. 562 3. bis 16. November 2023

CHF 8.–

davon gehen CHF 4.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Migrationspolitik

Tausende Asylsuchende arbeiten als billige Arbeitskräfte fürs Schweizer Gemeinwohl. Darf das sein? Seite 8


© Penelope Caillet

1.10.– 30.11. TANZ THEATER KUNST FOKUS MUSIK FILM LITERATUR

© Dirk Rose

BASEL BADEN BERN DORNACH FREIBURG DE MULHOUSEE FR ZUG ZÜRICH U.A.

CULTURESCAPES.CH

BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen eine spendieren.

IN AARAU Rest. Schützenhaus | Rest. Sevilla | the green corner IN ALSTÄTTEN Zwischennutzung Gärtnerei IN ARLESHEIM Café Einzigartig IN BAAR Elefant IN BACHENBÜLACH Kafi Linde IN BASEL Bäckerei KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet | Barista Bar Basel | Bioladen Feigenbaum Bohemia | Café Spalentor | Didi Offensiv | Elisabethen | FAZ Gundeli | Flore | frühling Haltestelle | HausBAR Markthalle | KLARA | L’Ultimo Bacio Gundeli | Les Gareçons to go | Oetlinger Buvette | Quartiertreff Kleinhüningen | Quartiertreff Lola | Shöp Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite | Wirth’s Huus IN BERN Äss-Bar | Becanto | Brasserie Lorraine | Burgunderbar | Café Kairo | Café Paulus | DOCK8 | Dreigänger Generationenhaus | Hallers brasserie | Lehrerzimmer | LoLa | Löscher | Luna Lena MARTA | MondiaL | Phil’s Coffee to go | Rösterei | Sous le Pont | Treffpunkt Azzurro Tscharni IN BIEL Äss-Bar | Inizio | Treffpunkt Perron bleu IN BURGDORF Bohnenrad Bahnhofplatz & Kronenplatz | Specht IN CHUR Loë IN DIETIKON Mis Kaffi IN FRAUENFELD Be You Café IN LENZBURG Chlistadt Kafi | feines Kleines IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer IN LUZERN Arlecchino | Bistro Vogelgärtli Blend Teehaus | Jazzkantine zum Graben | Markt Wärchbrogg Alpenquai & Baselstrasse | Meyer Kulturbeiz & Mairübe | Netzwerk Neubad | Pastarazzi Rest. Wärchbrogg | Sommerbad Volière IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden IN OBERWIL IM SIMMENTAL Gasthaus Rossberg IN SCHAFFHAUSEN KammgarnBeiz IN SISSACH Cheesmeyer IN STEFFISBURG Offenes Höchhus IN STEIN AM RHEIN Raum 18 IN ST. GALLEN S’Kafi IN UEKEN Marco’s Dorfladen IN USTER al gusto | Kafi Domino IN WIL Caritas Markt IN WINTERTHUR Bistro Sein IN ZOLLIKOFEN Café Mondial IN ZUG Bauhütte | Podium 41 IN ZÜRICH Café Noir Café Zähringer | Cevi Zürich | das GLEIS | Flussbad Unterer Letten | Freud | GZ Bachwiesen | GZ Wipkingen | GZ Witikon | jenseits im Viadukt | Kiosk Sihlhölzlipark Kleinwäscherei | Kumo6 | Quartiertr. Enge | Quartierzentr. Schütze Sport Bar Cafeteria | Täglichbrot | Zum guten Heinrich Bistro

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


TITELBILD: BODARA

Editorial

Arbeit und Asyl: Vom Müssen und Dürfen Es ist eine investigative Recherche von hoher Tragweite, die wir Ihnen in dieser Ausgabe präsentieren. Es geht um Arbeitszwang für Asylsuchende. In manchen Kantonen ist dies Realität, wie unsere freien Autor*innen herausgefunden haben – und wenn es nach den Rechtspopulisten geht, soll das bundesweit so werden. Nun kann man mit Fug und Recht sagen: Es ist gut, wenn Asylsuchenden Beschäftigung geboten wird. Arbeit ist eine Chance auf Integration, Spracherwerb, finanzielle Unabhängigkeit und Ablenkung von schlimmen Erfahrungen und Traumata. Einige befürworten sogar die komplette Öffnung des Arbeitsmarktes. Richtig, einerseits. Aber: Wenn die Entscheidung, ob Asylsuchende arbeiten können und wollen, solange ihr Status noch ungeklärt ist, nicht mehr bei den Individuen liegt, und noch dazu die Entlöhnung nicht zu finanzieller Unabhängigkeit führt, sondern an Ausbeutung erinnert – dann ist es fragwürdig, ob die oben beschriebenen Motive überhaupt im Zentrum stehen. Oder ob es andererseits nicht eher um billig verfügbare

4 Aufgelesen 5 Na? Gut!

8 Migrationspolitik

Arbeiten müssen für Schutz?

Drei Prozent mehr Altbekannte Geschichte 6 Verkäufer*innenkolumne

Unterstützung von Familien 7 Die Sozialzahl

Lebenserwartung bei guter Gesundheit

Sie wissen ganz genau, wie sich wartende Asylbewerber*innen fühlen: Vor vierzig Jahren flohen in Folge des eskalierenden Bürgerkriegs in Sri Lanka hunderttausende Tamil*innen ins Ausland, unter anderem in die Schweiz. Das Staatssekretariat für Migration führte damals erstmals den Status N ein – die Bestätigung, dass ein Asylgesuch gestellt wurde und auf Bescheid gewartet wird. Viele Tamil*innen, die damals kamen, leben heute noch hier. Die erste Generation kommt nun ins Rentenalter, die meisten von ihnen arbeiteten im Niedriglohnsektor. Wie es den schätzungsweise 60 000 Menschen in und mit der Schweiz geht, haben wir uns gefragt. Antworten ab Seite 14. SAR A WINTER SAYILIR

Redaktorin

17 Zwischen Masterarbeit 26 Veranstaltungen

und Aktivismus 27 Tour de Suisse 22 Kino

13 «Das verstärkt 5 Vor Gericht

und weitgehend wehrlose Menschen geht, deren Abhängigkeit ausgenutzt wird, um daraus Profit zu schlagen. Die grosse SurpriseRecherche ab Seite 8.

die Abhängigkeit» 14 Geschichte

40 Jahre Tamil*innen in der Schweiz

Hoffnung, Weichen neu zu stellen

Pörtner in Kerzers 28 SurPlus Positive Firmen

24 Kino

Fische und Gemüse in der Wüste

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

25 Performance

Tanz in die Unterwelt

30 Surprise-Porträt

«Ein Wiedersehen mit dem Leben»

25 Buch

Die Farben der Fantasie

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Aufgelesen News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Energiearm in Österreich Mindestens 803 000 Menschen gelten in Österreich als «energiearm»: Sie können sich die Energie zum Heizen eigentlich nicht leisten. 46 Prozent der Bevölkerung müssen ihren Verbrauch einschränken, um die Rechnung bezahlen zu können. Und 6,6 Prozent der Österreicher*innen vermögen die Strom- und Heizkostenrechnung gar nicht zu zahlen. der Menschen in Österreich vermögen die Energiekosten gar nicht zu zahlen. 20ER, TIROL

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Kunsthaus Bregenz Solange Pessoa 11 | 11 | 2023 — 04 | 02 | 2024

Weniger links, mehr rechts Der deutsche Verfassungsschutz meldet für 2022 einen Anstieg politisch motivierter Straftaten um fast 40 Prozent, darunter Körperverletzungen, Propagandataten und Verstösse gegen das Versammlungsrecht. Die Zahl der Straftaten mit dem Vermerk «nicht zuzuordnen» wuchs auf 3819 an. Die politisch motivierte Kriminalität von rechts stieg im Jahr 2022 auf 3453 Straftaten an, was einer Zunahme von 10 Prozent entspricht. Die politisch motivierte Kriminalität von links ging hingegen um 31,7 Prozent zurück: von 1207 Straftaten im Jahr 2021 auf 824 Straftaten im Jahr 2022.

DRAUSSEN, MÜNSTER

Zugang zu öffentlichen Toiletten In Köln gibt es zu wenige Toiletten, die kostenlos zu nutzen und 24 Stunden geöffnet sind. Zwar bietet die Internetseite der Abfallwirtschaftsbetriebe (AWB) in Zusammenarbeit mit der Stadt Köln einen Überblick über die öffentlichen Klos der Stadt. Dort werden die Toiletten samt Entfernung und Routenbeschreibung angezeigt. Darunter sind aber auch Toiletten in öffentlichen Gebäuden sowie in gastronomischen Betrieben, die zwar ihr Einverständnis für freie Nutzung gegeben haben, aber nicht rund um die Uhr zugänglich sind.

Foto: Alex Marks © Solange Pessoa, Ballroom Marfa, Mendes Wood DM, Blum & Poe

DRAUSSENSEITER, KÖLN

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Na? Gut!

Drei Prozent mehr Über 90000 Personen arbeiten in der Gebäudereinigung, 80 Prozent davon in Teilzeit. Frauen mit Migrationshintergrund bilden einen grossen Teil davon. Zurzeit gibt es drei Gesamtarbeitsverträge (GAV) für die Gebäudereinigung: einen für die Deutschschweiz, dem verbindlich alle Unternehmen mit mehr als fünf Angestellten unterstehen sowie in Abstufung auch Kleinstfirmen; einen für die Westschweiz, wo rund 20 000 Mitarbeitende davon profitieren; und einen für das Tessin. Letzteren hat die Gewerkschaft Unia jedoch nicht unterschrieben, weil die Mindestlöhne dort ihrer Ansicht nach mit 17,75 Franken (2022) zu tief angesetzt sind. Angestellte in Privathaushalten unterstehen dem Gesamtarbeitsvertrag nicht. Nun haben sich der Verband der Schweizer Reinigungsunternehmen Allpura sowie die Gewerkschaften Unia, Syna und VPOD für das nächste Jahr auf eine Lohnerhöhung von drei Prozent geeinigt. Bei den Aushandlungen des laufenden GAV für die Reinigungsbranche in der Deutschschweiz waren für die Jahre 2022 und 2024 zunächst Lohnerhöhungen von jeweils zwei Prozent festgelegt worden. Mit der Erhöhung der Löhne um drei Prozent im 2024 reagieren die Vertragspartner auf die anhaltende Teuerung, welche die Kaufkraft der Reinigungsangestellten massiv belastet. Auch 2023 hatten die Vertragspartner eine ausserordentliche Lohnerhöhung von drei Prozent beschlossen. WIN

An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen. Quelle: www.unia.ch/de/ medien/medienmitteilungen/ mitteilung/a/20236

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Vor Gericht

Altbekannte Geschichte Ein Mann in einer Machtposition vergeht sich an viel jüngeren Frauen. Diese Geschichte lesen wir oft – und doch zu wenig. Der heute knapp 50-jährige Beschuldigte hat gemäss Anklage von 2016 bis zu seiner Verhaftung 2020 an seinem Arbeitsplatz vier Frauen sexuell missbraucht, alle waren Auszubildende. In allen Fällen geht es um sexuelle Belästigung und sexuelle Nötigung, in zwei zudem um Vergewaltigung. Die Schilderungen der Frauen gleichen sich: Er packt sie von hinten, seine Hand gleitet in ihre Unterwäsche, begrabscht ihren Intimbereich, dabei fühlen sie sein erigiertes Glied gegen ihr Gesäss gepresst. Im Tatzeitraum war der Mann ein geschätzter Kollege in einer Pflegeinstitution. «Nur» Hilfspfleger ohne Leitungsfunktion zwar, aber als Kinästhetik-Trainer in besonderer Verantwortung: Er zeigt Auszubildenden, wie Menschen etwa aus dem Rollstuhl ins Bett zu bewegen sind. Man kommt sich nah. Das Arbeitsklima war locker. Am Zürcher Obergericht beschreibt der Angeklagte einen Arbeitsalltag, in dem kollegiale Berührungen und sexuell aufgeladene Neckereien normal gewesen seien. Die Gerichtsvorsitzende fragt nach, ob er es für sozial adäquat halte, mit Lernenden so rumzublödeln? Nein, räumt er ein. Auch dass er mit einer der jungen Frauen Sex hatte, sieht er nun als «dumme Idee». Aber dies sei einvernehmlich gewesen. Auch sonst liege keinerlei strafrechtlich relevantes Verhalten vor, er könne die An-

schuldigungen nicht nachvollziehen. Die Vorinstanz hat ihn der mehrfachen sexuellen Nötigung und der mehrfachen sexuellen Belästigung schuldig gesprochen, bei der Vergewaltigung wurde er in dubio pro reo freigesprochen. Er will einen vollumfänglichen Freispruch. Die Staatsanwältin hingegen fordert einen vollumfänglichen Schuldspruch und eine teilbedingte Freiheitsstrafe von fünfeinhalb Jahren. Der Freispruch bezüglich der Vergewaltigung sei unverständlich. Sie unterstreicht das Alters- und Machtgefälle zwischen dem Beschuldigten und den vier Frauen. Der Verteidiger unterstellt den Frauen ein Komplott, weil der Beschuldigte fehlerhaftes Verhalten der Lernenden gemeldet hatte, was zu Disziplinarmassnahmen führte. Viel dürfe man in solchen Fällen gegen die Frauen ja nicht vorbringen, sonst hiesse es: Victim blaming! Es sei kaum mehr möglich, einen Mann in dieser Lage zu verteidigen, klagt er. Die Anschuldigungen seien nicht glaubhaft. Warum haben die Frauen mit dem Beschuldigten geflirtet? Warum haben sie nicht geschrien? Warum haben sie so lange nichts gesagt? Der Verteidiger verlangt einen vollumfänglichen Freispruch. Den bekommt er auch am Obergericht nicht. Aber die Staatsanwältin fordert auch keinen vollumfänglichen Schuldspruch. Es ergeht ein zusätzlicher Freispruch in einem Fall von sexueller Nötigung: Das Gericht hat zwar keine Zweifel, dass sich ein Übergriff zugetragen hat – doch kein so gravierender. Es wäre sexuelle Belästigung gewesen – die das Opfer innert zwei Monaten hätte anzeigen müssen. Die Freiheitsstrafe wird um 2 Monate reduziert, auf 26 Monate, 17 davon bedingt. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich.

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ILLUSTRATION: HELENA HUNZIKER

Verkäufer*innenkolumne

Unterstützung von Familien Ich habe Freund*innen und Verwandte in der EU, die in Angst leben, dass ihnen die Kinder weggenommen werden. Ich kenne diese Angst nicht. Darum bin ich sehr dankbar und froh, in der Schweiz zu sein. Einer Bekannten in Schweden wurden alle sieben Kinder weggenommen. Sie hat das psychisch nicht verkraftet und einen Zusammenbruch erlitten, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat. Einer anderen in Österreich wurden ihre drei Kinder weggenommen, das kleinste war ein Jahr alt. Sie wollte den Kontakt zu ihren Kindern aufrechterhalten, damit sie nicht vergessen, wer ihre Mutter ist, wurde dabei aber nie mit ihnen alleine gelassen und die Besuche wurden erschwert. Wenn man in ein fremdes Land kommt, muss man sich zuerst daran gewöhnen, wie sich die Leute dort verhalten. Als ich hier ankam, fragte ich, wo ich Unterstützung bekomme, damit sich meine Kinder hier in der Schweiz einleben können, sie wussten nichts von diesem Land. Eine Leiterin im Asylheim hat mir erklärt, was es für Hilfsangebote gibt. Da ich Italienisch spreche, konnte ich mich selber informieren. 6

Mein Sohn, der damals sieben Jahre alt war, hat drei Monate lang kein Wort gesprochen, weil er von einem Erlebnis auf der Flucht traumatisiert war. Ich musste für ihn Hilfe suchen, denn er war manchmal aggressiv und hat zeitweise nicht einmal mehr erkannt, dass ich seine Mutter bin. Die KESB hat mich dabei unterstützt, das möchte ich auch einmal sagen, da diese Behörde oft in der Kritik steht. Ich konnte dank der Hilfe, die ich bekommen habe, und weil ich selber überall anrief, einen Kinderarzt finden, der ihn psychologisch behandelt und ihm Medikamente gegeben hat, damit er wieder schlafen konnte. In der Schweiz, scheint mir, geht man davon aus, dass es das Beste für die Kinder ist, bei ihren Eltern zu bleiben. Ich kenne nur einen Fall, in dem die Tochter einer Bekannten ins Heim kam, weil es nicht anders ging. Sie konnte aber in dieser Zeit die Schule und die Lehre abschliessen. Auch die Lehrpersonen und Behörden haben uns oft unterstützt, ebenfalls meinen Sohn, der zwischenzeitlich Probleme hatte, wie viele junge Männer sie haben, sodass er Schule und Lehre abschliessen

konnte. In der Schweiz wird einem erklärt, was erwartet wird. Fehler werden allerdings nicht leicht verziehen: Wegen seines zeitweilig problematischen Verhaltens ist mein Sohn der Einzige unserer Familie, der nicht eingebürgert wurde und bis heute nur einen F-Ausweis hat. Er ist seit 19 Jahren in der Schweiz, arbeitet und war noch nie auf dem Sozialamt. Mir scheint, dass das Schweizer System im Umgang mit den Kindern geflüchteter Familien offenbar einen vernünftigeren Weg eingeschlagen hat als manch andere Länder. Möglicherweise versucht man hierzulande nur sehr schwierige Situationen über Betreuungseinrichtungen zu lösen, man nimmt Kinder nicht so schnell aus einer Familie.

SEYNAB ALI ISSE, 51, verkauft Surprise am Bahnhof Winterthur und ist froh, dass ihre fünf Kinder bei ihr sind. Es ist nicht immer einfach, allen gerecht zu werden. Auch weil ihre jüngste Tochter mit einer Behinderung lebt, was viel Zeit und Energie in Anspruch nimmt.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

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INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: REMUND, A. & CULLATI, S. (2022). UNGLEICHE LEBENSERWARTUNG BEI GUTER GESUNDHEIT IN DER SCHWEIZ SEIT 1990. SOCIAL CHANGE IN SWITZERLAND, NR. 31.

Die Sozialzahl

Lebenserwartung bei guter Gesundheit Die Schweiz erlebt eine doppelte Alterung. Immer mehr Menschen werden immer älter. Doch wie sieht der Zugewinn an Jahren aus? Bleiben wir auch länger gesund, oder verlängern sich mit der steigenden Lebenserwartung auch die Jahre bei schlechter Gesundheit? Um diese Frage zu beantworten, wurde sowohl die Lebenserwartung als auch die gewonnenen gesunden Jahre bei 30-Jährigen im Zeitraum von 1990 bis 2014 berechnet. In diesen Jahren gewannen Männer 5 Jahre und Frauen 3,1 Jahre an Lebenserwartung. Am Ende der Untersuchungsperiode konnten Männer im Alter von 30 Jahren damit rechnen, im Durchschnitt 81,5 Jahre alt zu werden; Frauen damit, 85,7 Jahre zu erreichen.

erwartung bei guter Gesundheit untersucht wird. Hier steigt der Abstand bei den Männern nach Bildungsniveau von 7,6 auf 8,8 Jahre, bei den Frauen von 3,3 auf 5 Jahre. Menschen mit einem geringen Bildungsniveau kommen zwar auch in den Genuss einer steigenden Lebenserwartung, doch der Anteil an gewonnenen gesunden Jahren ist deutlich kleiner als jener bei Personen mit einem hohen Bildungsabschluss.

Parallel zur steigenden Lebenserwartung nehmen auch die Jahre bei guter Gesundheit zu, bei den Männern um 4,5 Jahre, bei den Frauen um 3,1. Die steigende Lebenserwartung führt also bei Frauen und Männern nicht zu einer Zunahme der Jahre bei schlechter Gesundheit. Diese liegen mehr oder weniger konstant bei rund 2 Jahren bei den Männern und rund 3 Jahren bei den Frauen.

Worauf ist das zurückzuführen? Die Situation auf dem Arbeitsmarkt hat sich im Untersuchungszeitraum für Erwerbstätige mit geringer Bildung deutlich verschlechtert. Sie sind häufiger und länger arbeitslos als gut ausgebildete Arbeitskräfte. Dies spiegelt sich auch in einem schlechteren Gesundheitszustand dieser Personen. Das Gesundheitssystem vermag diese problematische Entwicklung nicht zu kompensieren. Menschen mit einem tiefen Bildungsniveau haben oft auch ein geringes Einkommen. Die Ausgestaltung der Krankenversicherung mit Franchise und Selbstbehalt führt dazu, dass dieser Personenkreis seltener zu ärztlichen Konsultationen geht und weniger häufig Voruntersuchungen macht. Trotzdem wirkt sich das nicht auf die Entwicklung der Lebenserwartung aus. Offenbar gelingt es dem Gesundheitswesen im kurativen Bereich, auch diese Menschen vor einem zu frühen Sterben zu bewahren. Sie werden darum auch älter, aber können den Lebensabend nicht gleich lang und vor allem auch nicht im gleichen Masse bei guter Gesundheit geniessen wie die besser gebildeten älteren Menschen.

Ein anderes Bild zeigt sich, wenn bei diesen Berechnungen noch das Bildungsniveau berücksichtigt wird. Hier lassen sich gegenläufige Tendenzen beobachten. Die Differenz in der Lebenserwartung zwischen Männern mit Tertiärabschluss und jenen mit einem Grundschulabschluss verringert sich über den Untersuchungszeitraum von 6 auf 5 Jahre, bei den Frauen geht die Gesamtveränderung der Lebenserwartung von 4 auf 2,5 Jahre zurück. Das Gleiche gilt nicht, wenn die Lebens-

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Unterschiedliche Lebenserwartung nach Bildung und Gesundheit für 30-jährige Personen (in Jahren) Differenz in der Lebenserwartung je nach Bildungsniveau

6,0 5,0 Männer 1990 – 1994

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Differenz in der Lebenserwartung je nach Bildungsniveau, in Jahren, die die Menschen bei guter Gesundheit noch vor sich haben

8,8

7,6 4,0

3,3

2,5 Frauen

5,0

Männer

Frauen

2010 – 2014

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Arbeiten fürs Gemeinwohl Migrationspolitik In Schweizer Asylzentren schuften Asylsuchende zu Dumpinglöhnen. Wenn sie sich weigern, drohen ihnen Sanktionen. TEXT RETO NAEGELI UND SOPHIE HARTMANN

SH BS TG

BL

AG

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AI SG ZG LU SZ

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TI

GE

VS

Beschäftigungsprogramme, Teilnahmepflicht und Sanktionen

Teilnahmepflicht Ja Teilweise Nein Keine Antwort

Sanktionen Aargau (AG): Finanzielle Sanktion

Bern (BE): Finanzielle Sanktion

St. Gallen (SG): Finanzielle Sanktion

Appenzell Ausserrhoden (AR): Finanzielle Sanktion

Genf (GE): Finanzielle Sanktion

Zug (ZG): Transfer bis Timeout

Basel-Stadt (BS): Finanzielle Sanktion

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Obwalden (OW): Finanzielle Sanktion

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Teller waschen, Hemden bügeln, Brennholz hacken, Neophyten bekämpfen – in Schweizer Asylzentren wird viel gearbeitet. Was nur richtig ist, geht es nach der Schweizerischen Volkspartei (SVP) Aargau. Unlängst reichte sie eine Motion ein, die verpflichtende Beschäftigungsprogramme für Asylsuchende vorsieht: 42 Stunden die Woche, und zwar unentgeltlich. «Durch ihre Arbeit sollen die Asylsuchenden dem Gemeinwesen einen Beitrag in Form von Arbeitsleistung zurückerstatten», fordert die Partei. Zwar wurde der Vorstoss als rechtlich unzulässig abgewiesen. Und doch: Bereits heute arbeiten tausende Asylsuchende als billige Arbeitskräfte für das Schweizer Gemeinwohl – und das zu Dumpinglöhnen oder sogar umsonst. Entsprechend ist, seitens der Asylsuchenden, mitunter von «Ausbeutung» oder gar von «Zwangsarbeit» die Rede. Was hat es damit auf sich? Um das herauszufinden, haben wir in Zusammenarbeit mit dem Recherchekollektiv WAV alle 26 Kantone angeschrieben und danach befragt, wie sie es mit Beschäftigungsprogrammen für Asylsuchende in den jeweiligen Asylzentren handhaben. Denn während diesbezüglich in den Bundesasylzentren schweizweit einheitliche Regeln gelten, haben alle Kantone eigene Richtlinien für die Betreuung von Asylsuchenden in ihren Unterkünften. Auf unsere Fragen erhielten wir von den Behörden mal ein Dementi, ein andermal erreichten uns widersprüchliche oder unklare Stellungnahmen – oder wir bekamen überhaupt keine Antwort. Wir fragten eine Rechtsexpertin nach der rechtlichen Lage von Beschäftigungsprogrammen und erhielten Einschätzungen zu juristischen Gratwanderungen. Und wir reisten nach Zürich, St. Gallen und Genf, trafen Asylsuchende und schrieben ihre Geschichten nieder – Geschichten von Billiglöhnen für normale Arbeit, von Sanktionen der Migrationsbehörden, von der Perspektivlosigkeit des Schweizer Asylsystems sowie dem Wunsch nach einem regulären Zugang zum Arbeitsmarkt und einem besseren Leben. Zürich: Mit Tiefstlöhnen für eine grüne und soziale Stadt Miran Güngör ist 22 Jahre alt, er wirkt abgeklärt und fokussiert, als er seine Geschichte erzählt. Mit 17 reiste der Kurde viel durch sein Geburtsland Türkei, er war auf dem Sprung zum Profifussballer. Später studierte er Internationalen Handel und Logistik, weit weg von seinem Zuhause in Istanbul. Aufgewachsen in einer politisch aktiven Familie, gehörten Repression und Flucht seit Kindestagen zu seinem Alltag. Politisch motivierte Gerichtsverfahren trieben ihn schliesslich in die Flucht: «Das Leben in Istanbul ist schwierig, ich war ständig unter Druck.» In die Schweiz kam Miran Güngör, weil bereits sein Onkel hier Asyl fand. Wenigstens ein Stück Familie sollte er in der neuen Heimat haben. Er erreichte die Schweiz gegen Ende 2021 und lebte unter anderem in den kantonalen Asylzentren Oerlikon und Dübendorf. Sein Asylverfahren läuft noch, er besitzt einen N-Ausweis. Damit hat er zwar ein Aufenthaltsrecht in der Schweiz, eine Erwerbstätigkeit ist hingegen bewilligungspflichtig und wird nur in Ausnahmefällen erteilt. Die ersten Schritte in der Schweiz waren schwer, erzählt Miran Güngör, er wollte arbeiten, etwas tun, aktiv sein. So schrieb er professionelle Fussballclubs an und fragte bei Universitäten nach den Aufnahmebedingungen. Antworten bekam er keine. Im Durchgangszentrum Oerlikon waren die Beschäftigungsprogramme für ihn die einzige legale Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen. Surprise 562/23

Das System der Beschäftigungsprogramme in Zürich ist komplex. Wie in fast allen Kantonen gehören Umgebungspflege, Reinigung und Wäschereiarbeiten zu den internen Hausarbeiten. Die Asyl-Organisation Zürich (AOZ) beispielsweise bietet jedoch auch Arbeitseinsätze in AOZ-eigenen Betrieben an: Fahrräder aushändigen beim Gratis-Veloverleih «Züri rollt», im Brockito Secondhand-Ware sortieren oder im Restaurant «Paprika» in der Küche arbeiten. Miran Güngör lächelt, als er von seiner Zeit beim Veloverleih «Züri rollt» erzählt: «Ich arbeitete mit einem Freund aus dem Asylzentrum. Wir kamen mit Menschen ausserhalb des Asylsystems in Kontakt und kriegten ein Verkehrsbillett für die Stadt.» An der Europaallee händigten er und sein Freund Velos an Tourist*innen aus. Sie arbeiteten an jeweils drei Tagen pro Woche für fünf Stunden. Das sind 15 Stunden pro Woche und etwa 60 pro Monat. Der Stundenlohn lag laut Miran Güngör bei 3 Franken – derweil vermarktet sich Zürich mit einem kostenlosen Fahrradverleih als grüne und soziale Stadt. Im Gespräch fordert rt er eine gerechte Entlöhnung für seine Arbeit, doch er weiss: Asylsuchende Asyls wie er müssen hierzulande zu Dumpinglöhnen arbeiten. eiten Neben Miran Güngör erzählen mehrere Asylsuchende von tiefen tiefe Löhnen und wie ihre Mitarbeitenden mit Arbeitsbewilligung ung für die gleiche Arbeit regulär bezahlt werden. Letztlich hielten en M Miran Güngör auch die schlechten Bedingungen nicht davon n ab, an den Beschäftigungsprogrammen teilzunehmen. Die 100 Fran Franken zusätzliches Monatseinkommen seien für ihn wichtig gewesen. ewe Er finanzierte sich damit seine Grundbedürfnisse – Hygieneprodukte, gien Telefonkosten, Gym-Abo. Aber das Gefühl der Ausbeutung sbeu blieb bestehen. Was meint der Kanton Zürich dazu? ton Z Bereits Anfang Dezember zem 2022 kontaktierte Surprise das Migrationsamt Zürich mit einem e Fragenkatalog zu den Beschäftigungsprogrammen. Nichts Nicht geschah. Nach wiederholten Anrufen und Email-Anfragen n im Mai und Juni dieses Jahres rang sich die Sicherheitsdirektion on zu einer knappen Antwort durch: Sie bestätigte verschiedenee Beschäftigungsprogramme, Bes die mit «einem kleinen Beitrag pro o Stu Stunde entschädigt werden». Die Nachricht geht nicht ins Detail ail und u lässt viele Fragen offen. Weitere Anfragen werd werden ignoriert. Erst als eine rechtsverbindliche Anfrage gestützt ützt auf das Öffentlichkeitsgesetz gestellt wird, klingelt das Telefon. on. F Für Arbeitseinsätze wie jene bei «Züri rollt» sei die Fachstelle Inte Integration zuständig, heisst es. Dort erfahren wir: Arbeitseinsätze sätze bei «Züri rollt» seien gar keine Beschäftigungsprogramme, me, ssondern «Qualifizierungsmassnahmen»; diese würden die ie Teilnehmenden Te dazu befähigen, eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt mar anzutreten. Gemäss der Fachstelle Integration richteten sich diese Qualifizierungsmassnahmen zudem ausschliesslich an Personen P mit den Bewilligungen F, S und B; nicht aber an Asylsuchende im laufenden Verfahren, also ylsu Personen mit Ausweis N. Was W jedoch nicht stimmt, zumindest gemäss Miran Güngör: Als er e bei «Züri rollt» arbeitete, besass er lediglich einen N-Ausweis. weis Die Fachstelle Migration stellt klar, dass es sich bei Güngörs rs Ei Einsatz «aller Wahrscheinlichkeit nach nicht um einen internen en A Arbeitseinsatz im Rahmen der IAZH gehandelt» hat. Über welches welc Programm er letztlich bei «Züri rollt» landete, erfährt Surp Surprise nicht. Genf: Putzen für die Integration nte In Genf stehen Asylsuchende chen finanziell etwas besser da als in Zürich. Dort treffen wir Pierre Pier Patrick. Es regnet in Strömen, wir 9


ziehen unsere Pullover Pullo r üb über den Kopf und hetzen durch die nassen Strassen inss nächste nä ste C Café. Ein karger Raum, kaum ein Tisch ist besetzt. Pierre rre Patrick P rick trinkt Schwarztee und beginnt zu erzählen. Er ist Mitte 30, zuletzt uletz hat er in Uganda gewohnt, geboren und aufgewachsen hsen istt er in Burundi. Pierre Patrick ist Teil der Tutsi-Gemeinschaft chaf und musste m im Jahr 2015 nach den gewaltsamen Unruhen n im Zusammenhang usam mit der Präsidentschaftswahl gemeinsam mm mit sein seiner Frau nach Uganda flüchten. Sie landeten im Nakivale-Flüchtlingslager vale- ücht im Südwesten des Landes, dem achtgrössten ten Camp amp der Welt mit zeitweise über 100 000 Bewohner*innen; en; dort d rt wurden w ihre drei Kinder geboren. «Das Leben im Lagerr wa war eine Katastrophe», sagt Pierre Patrick. Es gab es keine Arbeit, beit, diee Fa Familie litt unter Hunger, und die Furcht vor den bewaffneten nete Miliz Milizen begleitete ihn unentwegt. Wie sehr sich ch die di Situation Situa für Menschen in und aus Burundi in den letzten Jahren ahre verä verändert hat, lässt sich unter anderem an der Schweizer Asylstatistik Asyls tistik ablesen. Reichten im Jahr 2021 gerade mal 10 Personen n au aus Buru Burundi ein Asylgesuch ein, waren es 2022 über 1100. Die Chancen Cha en auf au Asyl in der Schweiz sind für burundische Staatsangehörige geh ge al allerdings eher gering. Gemäss der Kampagne «Stop Dublin ubli Kroa Kroatien» sind besonders viele von ihnen sogenannte Dublin-Fälle: ublin älle: Ihre Fingerabdrücke wurden in Kroatien erfasst, und d obwohl ob ohl ihnen ih dort illegale Pushbacks hinter die EU-Aussengrenzen nzen und nd unzureichende un medizinische Versorgung drohen, plant die Schweiz S weiz ihre Rückführung dorthin, wenn nö-

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hiki hilft hirnverletzten Kindern.

Wir unterstützen und entlasten Familien mit hirnverletzen Kindern in der Schweiz. Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung! Spendenkonto: IBAN CH69 0900 0000 8546 1012 9

tig unter Zwangsmassnahmen. massn Dieses Schicksal droht auch Pierre rre Patrick. Aktuell wird ird sein s Fall vom Staatssekretariat für Migraration (SEM) neu beurteilt; eurt er hofft auf Asyl, bleibt aber bis zum um Entscheid in der Ungewissheit Unge gefangen. Seit Frühjahr 2023 wohnt Pierre Patrick in einer Kollektivununterkunft in der Region egio Genf. Monatlich erhält er 426 Franken en Asylsozialhilfe, wovon ovon er Essen, Hygieneprodukte und Kleidung ng bezahlen muss. Zusätzlich usä verdient er 300 Franken im Monat nat bei Genèveroule, einem gemeinnützigen Verein, der Programme me zur beruflichen Integration nteg anbietet. Pierre Patrick absolviert ert dort ein Praktikum m in der Reinigungsabteilung. «Ich habe keine ne andere Möglichkeit eit zu arbeiten, und dieser Job gefällt mir. Für mich ist es am wichtigsten, icht etwas zu tun und nicht zu Hause use sitzen zu müssen», », sagt sa er auf die Frage, was ihm die Arbeit bedeutet. Vermitteltt werden wer diese Arbeiten von Hospice général, ral, dem Genfer Sozialdienst. ldien Dieser erklärt auf Anfrage, dass sie mit Asylsuchenden Programme rogr zur beruflichen Integration durchchführen, die von einer*m ner*m Sozialarbeiter*in begleitet werden. Nach ach einem Praktikum begleiten beg diese die Asylsuchenden auf uf der de Suche nach einer Anstellung nstel im ersten Arbeitsmarkt. Pierre Patrick arbeitet arbe bei Genèveroule in einem Pensum nsum von on 50 Prozent, Montag ag bi bis Freitag von 15 bis 19 Uhr. Das macht acht etwa wa 80 Stunden im Monat, onat was bei 300 Franken einen Stundenlohn nden hn von 3,75 Franken ergibt. ergib Der Mindestlohn ist in Genf beii 24 FranF anken pro Stunde angesetzt, nge gilt aber für gesetzlich anerkannte erka nte Praktika nicht. Ob b die Anstellung bei Genèveroule ein n so solches hes ist, erfahren wir auf A Anfrage nicht. Neben dem Praktikum ikum hat ihm der Hospice général énér noch weitere Arbeiten vermittelt. elt. S So hat Pierre Patrick etwa wa am Musikfestival Plein-les-Watts beim Sicherheitsdienst gearbeitet earb oder am Festival La Bâtie bei ei de der Billettkontrolle, wo der Stundenlohn 10 Franken beträgt gt – zwar war höher als bei Genèveroule, èver aber noch immer 14 Franken ken unter u ter dem gesetzlichen Mindestlohn. Min Auf die Anstellungsbedingungen ingu gen angesprochen, will ll die di Medienstelle von Hospice général éral diese ese nicht bestätigen, sond sondern hält fest, dass die Arbeiten an n den Fesestivals freiwillig erfolgen, folge und verweist auf den Integrationsions und nd Ausbildungscharakter akte der Programme. Müssen Asylsuchende diese schlechtbezahlten Arbeiten uche eite annehmen? Im Kanton Genf – wie auch in mindestens neun weiton G eiteren Kantonen – dro drohen ihnen finanzielle Sanktionen, sollten n, so en sie sich weigern. Zur Höhe dieser Sanktionen möchte sich HosH ospice générale nicht ht äussern. äu Pierre Patrick war bisher zum um Glück G ück noch nie davon betroffen. etrof Er habe schon so Mühe, mit dem Geld eld aus der Asylsozialhilfe alhil und den Beschäftigungsprogrammen gram en über die Runden zu kommen. k Trotz steigender Lebensmittelnsm elpreise seien die Entschädigungsbeträge Entsc nicht erhöhtt wo worden, en, gibt er zu bedenken. en. Im I Supermarkt stehe er oft vor dem em R Regal gal und überlege sich, h, w was er sich leisten kann. Nur selten en bleibe b ibe etwas Geld übrig,, um seine Familie zu unterstützen, die er in Uganda zurücklassen ssen musste. Umso wichtiger sind für ür Pierre P rre Patrick die sozialen en Kontakte, K die er durch die Arbeitt pflegen pfl en kann: «Bei Genèveroule erou arbeite ich mit Menschen aus Kolumbien olum ien und Nigeria zusammen. mme Mit ihnen, oder auch mit den Schw Schweizer zer Chef*innen, kann ich mich austauschen.» St. Gallen: Arbeit it ha hat Vorrang St. Gallen hat schweizweit weizw eine der restriktivsten Migrationspration raxen rund um die Besch Beschäftigungsprogramme und die Unterbrinnter ingung. Asylsuchende de sind s verpflichtet, an den Programmen men teileil-

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zunehmen. Kooperieren sie nicht, drohen n laut lau Migrationsamt St.Gallen Sanktionen: «Bei Verweigerungen n kann ka ihnen das Taschengeld gestrichen werden», und im Wiederholungsfall erho können sie sogar in andere Zentren verlegt werden.. ong zu spüren. An Diese strikte Praxis bekam auch Ilkay Songün einem Märzmorgen wollten wir uns zum Interview nterv treffen, doch nur wenige Stunden davor kam eine Absage. ge. Er E habe keine Erlaubnis erhalten, für den Termin vom Beschäftigungsprogramm häfti fernzubleiben, schreibt Ilkay Songün. Es istt nicht nic das erste Mal, dass seine Anfragen abgewiesen werden. Ein n paar pa Wochen zuvor wollte er an einer Gedenkveranstaltung für ür di die Erdbebenopfer in der Türkei, Kurdistan und Syrien teilnehmen, hme doch auch dabeit hat Vorrang. Damals wurde der Antrag abgelehnt – die Arbeit rauf angesprochen, sagt das Migrationsamtt St. Gallen, G dass Asylsuchende die Möglichkeit haben, sich vom «vorgesehenen Tagesprogramm» dispensieren zu lassen und dies in der Regel auch gewährt werde. Die Absenzen seien bei der d Zentrumsleitung zu beantragen und unterliegen einem em sstandardisierten Bewilligungsprozess. Ilkay Songün kommt aus einer kurdisch-alevitischen -ale Familie und lebte in der Türkei, wo er im Bereich Bildu Bildungspsychologie forschte. Er ist homosexuell und war in einer ner q queer-anarchistischen Gruppe aktiv, was ihm später Probleme bereitete. Die Beme b hörden verfolgten ihn aufgrund seiner Herkunft, rkun seiner sexuellen Orientierung und seines politischen Aktivismus. ivism So entschied er sich zur Flucht und kam im November 2022 in die Schweiz, genauer: ins Asylzentrum in Amden, einem ehemaligen ehe Kurhaus mit atemberaubender Sicht auf die Glarnerr Alp Alpen und den Walensee – ein «Paradies», wie ein lokales Blatt schrieb. att einmal e «Davon habe ich wenig gespürt», sagt Ilkay kay S Songün. Er fühlte sich nie richtig wohl im Asyzentrum und reiste eiste oft nach Zürich, wo er Menschen aus der kurdischen Diaspora pora traf. Gerne wäre er dorthin oder nach Basel gezogen, aber er hatte h keine Wahl: «Die Ostschweiz ist mein Schicksal.» Im 1800-Seelen-Dorf Amden gibt es nicht ht viel vi zu tun, da sind Beschäftigungsprogramme eine willkommene men Abwechslung. Das Angebot reicht von Arbeiten in der internen erne Brennholzproduktion über den Küchendienst bis zu Deutschkursen. utsch Die Bezahlung hingegen ist lausig. Im Kanton St. Gal Gallen werden Asylsuchende mit 1,50 Franken pro Stunde für ür die d Teilnahme an Beschäftigungsprogrammen entschädigt, einer eine der tiefsten Ansätze in der Schweiz. Dennoch besserte Ilkay ay So Songün damit sein wöchentliches Taschengeld von 31 Franken n auf. auf «Eine geregelte Arbeit und damit ein sicheres Einkommen n sind sin wichtige Integrationsfaktoren», ist er überzeugt. Er sagt abe aber auch: «Die Programme in den Asylzentren haben weniger mit Arbeitsintegration A als mit Ausbeutung zu tun. Tiefe Löhne im Dienst der Gesellschaft Miran Güngör, Pierre Patrick, Ilkay Songün,, die Kantone Zürich, Genf und St. Gallen – das sind keine Einzelfälle, fälle vielmehr stehen sie für ein System, das wenigstens vier Merkmale rkma aufweist: Uneinheitlichkeit. Während in den Bundesasylzentren Bun schweizweit einheitliche Regeln gelten, haben en die di Kantone eigene Richtlinien für die Betreuung von Asylsuchenden end in kantonalen Unterkünften. In den drei besuchten Kantonen anto schafft der Schweizer Föderalismus grundlegend unterschiedliche schie Ausgangslagen für Asylsuchende. Ein Blick auf die restlichen estli 23 Kantone unterstreicht diesen Eindruck. 15 Kantone beza bezahlen zwischen 1 Surprise 562/23

Vergütung von Beschäftigungsprogrammen in kantonalen Asylzentren (Stundenlohn)

AG

CHF 1

1

CHF 5

AI

AR

CHF 1.50

BS

BE

FR

min.

CHF 0 CHF 1.50

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CHF 3.75

1

CHF 12

CHF 3 Intern

OW

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SZ

SO

SG

TI

TG

VD

ZG

ZH

1

(nicht vergütet)

GE

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CHF 6

Extern

CHF 3 CHF 3 CHF 3.75 CHF 3 CHF 1.50 CHF 3 CHF 3 CHF 3.75 CHF 5 CHF 3

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1

keine Angaben: Basel-Landschaft (BL), Glarus (GL), Jura (JU), Luzern (LU), Neuenburg (NE), Nidwalden (NW), Uri (UR), Wallis (VS) 1 Diese Zahlen hat Surprise auf Grund der angefragten Informationen selbst ermittelt/errechnet

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und 5 Franken Fran Stundenlohn, einige machten keine Angaben und im Jura Ju a werden we gar keine Beschäftigungsprogramme angeboten. In G Graubünden ubün können Asylsuchende für «Hilfsarbeiten» bis zu 12 Franken F nken pro Stunde verdienen, während in Bern die Teilnahme an Beschäftigungsprogrammen B chäf – «gemeinnützige Arbeiten und Arbeiten Arbe en in der Kollektivunterkunft», wie sie umschrieben wernicht vergütet wird. Die Begründung des Kantons auf den – gar n unseree Nachfrage: unse Na «Bezahlte Arbeit im ersten Arbeitsmarkt ist bewilligungspflichtig.» bew igun Diese der Beschäftigungsprogramme ist ein EinD ese Auslegung A zelfall, Entschädigungsbeiträge sind schweizweit der Standard. zelfa Ent Besonders Beso ders stossend ist im Kanton Bern, dass die Teilnahme an den Beschäftigungsprogrammen schä – obschon sie nicht entschädigt werden werd n – verpflichtend v ist. Wie eingangs erwähnt, lancierte auch die SVP S P Aargau Aa eine Motion mit genau dieser Forderung; allerdings lehnte ding ehn der Kanton diese Praxis mit Verweis auf das Risiko Zwangsarbeit ab. der Z wang Diese teilt Melanie Studer, Dozentin am InstiD ese Einschätzung E tut für f r So Sozialarbeit und Recht an der Luzerner Hochschule (HSLU): (HS U): «Eine «E Verpflichtung zur Teilnahme an unvergüteten Beschäftigungsprogrammen Besc äftig ist problematisch hinsichtlich des Zwangsarbeitsverbotes. Zwa gsarb Gerade in Kombination mit der Alternativlosigkeit nati osigk für Asylsuchende, irgendwie Geld zu verdienen.» (Siehe Interview Seite 13.) (Sieh Inte Sanktionen. S nktio Insgesamt drohen Asylsuchenden in mindestens 10 K Kantonen nton Sanktionen, falls sie die Arbeit verweigern. In den Kantonen Kan nen St. Gallen und Zug sind Zentrumswechsel Teil des Sanktionsregimes. Sank onsr In erster Linie handelt es sich bei den Sanktionen aber tion abe um finanzielle Disziplinarmassnahmen. Das ist für Asylsuchende Asyl chen unter Umständen verheerend, sind doch die meisten fi finanziell anz von der Asylsozialhilfe abhängig. Melanie Studer mahnt, mah t, dass da die Asylsozialhilfe oft nicht viel höher sei als die Nothilfe Noth fe und un dass eine finanzielle Sanktionierung deshalb unter Umständen Ums nde das Recht auf Nothilfe verletzen könnte. Entgegen den Sanktionen ankt fordert sie: «Freiwilligkeit und die Rücksichtnahmee auf individuelle Fähigkeiten muss im Rahmen von Benah schäftigungsprogrammen schä igun stärker in den Vordergrund gerückt werden. werd n. E Es braucht höhere Entschädigungen, gerade für Jobs, die sonst s nst unter u normalen Arbeitsbedingungen erledigt werden.» Rechtliche R chtlic Unschärfe. Bei den Arbeiten innerhalb und ausserhalb von on Asylzentren A handelt es sich oft um niedrig qualifizierte Jobs ohne hne A Ausbildungscharakter, die sich unter Umständen nicht grundlegend grun legen von der normalen Erwerbstätigkeit unterscheiden. Internee Pr Inte Programme umfassen meist Reinigungs-, Unterhaltsund Küchenarbeiten, üche aber auch Coiffure und Kinderbetreuung. Externe Exte ne Ar Arbeiten sind oft Landschafts- und Holzarbeiten, Jobs in Metallwerkstätten M allw oder Reinigungsdiensten. Die auf Sozialhilferecht spezialisierte Anwältin Rausan Noori sagte gegenüber der Wochenzeitung WOZ mit Bezug auf die Beschäftigungsprogramme in Bundesasylzentren: «Umzugs- und Reinigungsarbeiten etwa werden in der Schweiz üblicherweise sehr wohl finanziell entschädigt.» Während für diese Arbeiten im ersten Arbeitsmarkt branchenübliche Löhne, die keineswegs hoch sind, bezahlt werden, arbeiten Asylsuchende in Asylzentren für einen Bruchteil davon. Je nach Fall könnten Beschäftigungsprogramme als Erwerbstätigkeit betrachtet werden, was jedoch, so Noori, von verschiedenen Faktoren abhängt, wie zum Beispiel dem wirtschaftlichen Nutzen für den Betrieb, für den die Asylsuchenden arbeiten. 12

Darauff angesprochen, angesproc wie sich Beschäftigungsprogramme gung von Erwerbstätigkeit bstätigkeit unterscheiden, schreibt das M Migrationsamt St. Gallen: «Unsere Beschäftigungsprogramme B me sind sin keine Erwerbstätigkeit. it. Vielmehr Vielmeh erlernen Teilnehmende gew gewisse Grundkenntnisse und nd Fertigkeiten Fertigke in den entsprechenden den B Bereichen der Programme. me. (…) Diese Die Erfahrungen können n hilfreich hil sein beim späteren en Einstieg in die Erwerbstätigkeit. t. (… (…) Die Programme finden in der Regel Rege intern statt und sind in keiner kein Weise gewinnorientiert.» ert.» Ähnlich Ähnli äussert sich die Fachstelle telle Migration in Zürich und Stellen in den nd beteuert, beteuert dass die Teilnehmenden n keine ke echenden Betrieben B tste jedoch der Einentsprechenden ersetzen. Es entsteht Velov rollt und weitere Ardruck, dass Veloverleihbetriebe wie «Züri rollt» beitsorte rte im Rahm Rahmen von Beschäftigungsprogrammen rogr durchaus mehr Geld in die Hand nehmen müssten, n, wollten wo sie dieselbe Arbeit von regulär regulä bezahlten Mitarbeitenden den eerledigt wissen. Intransparenz. ransparenz Dass sich die Stellungnahmen ahm von Behörden nicht mit den Aussagen Au von Asylsuchenden den decken oder sich sogar widersprec widersprechen, war in dieser Recherche erch wiederholt der Fall. Zudem udem hatten hatte wir immer wieder Schwierigkeiten, wieri an Informationen nen zu gelangen. gela In Zürich landeten wir in einem unübersichtlichen chen Paragraphenwald, Parag der Kanton n Gl Glarus liess unsere Anfragen gen bis zuletzt zule unbeantwortet, und von einigen Behörden bekamen en wir erst auf mehrmaliges Nachfragen rage hin Antworten. «Arbeitt und Asyl» Asyl ist ein unsichtbares Thema hem in der Schweiz, dabei wäre es – das d zeigt diese Recherchee – durchaus d wichtig, über die ie Gefahre Gefahren von Arbeitszwang und d Ausbeutung Aus in Asylzentren n zu diskutieren disku und den Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylsuchende chende zu überdenken. Denn nn viele Asy Asylsuchende möchten arbeiten, eiten so jedenfalls der Eindruck uck aus unseren uns Gesprächen. Doch müsste müs die Bezahlung besser und die Freiwilligkeit Fr der Teilnahme me g gegeben sein. Das Gefühl der Ausbeutung Ausbe zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Begegnungen egegnunge mit Asylsuchenden – das Gefühl, im Dienst der aufnehmenden fnehmend Gesellschaft zu arbeiten, iten aber dafür nicht angemessen messen bezahlt beza zu werden. Das sieht ht auch au Miran Güngör so: «Diee Wahrheit ist: Man will billige Arbeiter*innen ter*i und benutzt dafür die Geflüchteten.» Geflüch

Dieser Artikel entstand in Kooperation mit dem unabhängigen Schweizer Recherchekollektiv WAV (wav.info). Die Recherche wurde mit Unterstützung des JournaFONDS (journafonds.ch) und des Surprise Recherchefonds (surprise.ngo/recherchefonds) recherchiert und umgesetzt.

Hintergründe im Podcast: Simon Berginz spricht mit Reto Naegeli und Sophie Hartmann über die Hintergründe ihrer Recherche. surprise.ngo/talk

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«Wir brauchen einen Paradigmenwechsel» Freiwilligkeit und Rücksicht auf indivuelle Fähigkeiten – das fordert Rechtsexpertin Melanie Studer für Asylsuchende.

In 10 Kantonen drohen finanzielle Sanktionen, wenn Asylsuchende nicht an den Beschäftigungsprogrammen teilnehmen. Was halten Sie von diesen Sanktionen? Die Bundesverfassung garantiert jeder Person in einer Notlage den Anspruch auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse, bzw. «diejenigen Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind», wie es in Art. 12 der Bundesverfassung steht. Dieses Recht auf Nothilfe spricht Betroffenen, je nach Kanton, 8 bis 12 Franken täglich zu. Asylsuchende erhalten Asylsozialhilfe, die in einigen Kantonen nur wenig höher ist als die Nothilfe. Juristisch gesehen stellt Surprise 562/23

sich die Frage: Reicht die Asylsozialhilfe für die Bestreitung eines menschenwürdigen Daseins? In Kantonen, in denen die Asylsozialhilfe nur wenig höher ist als die Nothilfe, braucht es unter Umständen ein zusätzliches Einkommen, um die Grundbedürfnisse zu finanzieren. Wenn nun auf die Verweigerung der Teilnahme an einem Beschäftigungsprogramm finanzielle Sanktionen folgen, kann das möglicherweise einen Eingriff in die Nothilfe darstellen. Das wäre verfassungsrechtlich unzulässig.

Was muss sich Ihrer Meinung nach ändern? Es braucht einen Paradigmenwechsel. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kantonen sind nicht gerechtfertigt. Sie sind gross, von den Entschädigungsbeiträgen bis zur Freiwilligkeit der Teilnahme, es fehlt an klaren Vorgaben und Richtlinien. Generell sollten sowohl die teilweise äusserst tiefen Ansätze der Asylsozialhilfe als auch die Entschädigungen erhöht werden, insbesondere für Tätigkeiten, die sonst unter normalen Arbeitsbedingungen erledigt werden. Auch muss die Freiwilligkeit der Teilnahme an diesen Beschäftigungsprogrammen stärker in den Vordergrund gerückt werden – und man sollte viel mehr Rücksicht nehmen auf die individuellen Fähigkeiten der Asylsuchenden. Wünschenswert wäre auch ein klares Urteil des Bundesgerichts, wonach für Kürzungen der Asylsozialhilfe wegen der Nicht-Teilnahme an Programmen kein Raum bleibt.

Wie werden Beschäftigungsprogramme und herkömmliche Erwerbsarbeit im Gesetz unterschieden? Rein rechtlich dürfen Beschäftigungsprogramme den ersten Arbeitsmarkt nicht konkurrenzieren. Die Behörden argumentieren also, dass bei diesen Programmen nicht die Erwerbstätigkeit im Fokus stehe, sondern die soziale und berufliche Integration der Asylsuchenden, bzw. dass generell den Folgen der Beschäftigungslosigkeit entgegengewirkt werden solle. So werden diese Programme nicht den Regulierungen der Erwerbstätigkeit unterstellt und es gelten keine rechtlichen Lohnbestimmungen. Das trifft aber nicht auf alle Programme zu. Es gibt Beschäftigungsprogramme, die sich im ersten Arbeitsmarkt bewegen, beispielsweise Programme in der Sicherheitsund Reinigungsbranche. Da ist es rechtlich schwierig zu argumentieren, wieso nicht die gängigen Arbeitsbedingungen gelten sollten.

FOTO: ZVG

Melanie Studer, wie beurteilen Sie die Handhabung von Beschäftigungsprogrammen für Asylsuchende auf kantonaler Ebene? Melanie Studer: Die Entschädigungen, die meisten zwischen 1,50 und 5 Franken pro Stunde, sind zu tief. In der Studie «Arbeiten unter sozialhilferechtlichen Bedingungen» fordern wir einen Arbeitsvertrag und Stundenlohn zwischen 15 und 30 Franken für Beschäftigungsprogramme für Sozialhilfeempfänger*innen. Diese Forderung lässt sich auch auf den Asylbereich übertragen. Ebenfalls problematisch ist die Alternativlosigkeit im System. Asylsuchende fallen unter das Arbeitsverbot und diese Programme sind oft die einzige Möglichkeit, die Asylfürsorge finanziell aufzubessern. Das verstärkt die Abhängigkeitssituation, in der sich die Asylsuchenden sowieso schon befinden.

MEL ANIE STUDER, 35, ist Dozentin und Projektleiterin für Soziale Arbeit an der Hochschule Luzern, wo sie sich in der Aus- und Weiterbildung von Sozialarbeiter*innen sowie in der Forschung vorwiegend mit Sozialhilferecht beschäftigt. Ihre Doktorarbeit hat sie zu Beschäftigungsprogrammen in der Sozialhilfe verfasst.

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Heute ein Teil der Schweiz: Bharatanatyam-Tänzerin in Adilswil.

Kinder spielen an einem Fussballturnier.

Durchatmen am Bodensee: Vater und Kind.

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Geschichte Vor vierzig Jahren flohen tausende Tamil*innen vor dem Krieg in Sri Lanka in die Schweiz. Heute bilden sie die grösste aussereuropäische Community hierzulande.

Prüfstein der Schweizer Asylpolitik Die grosse Anzahl tamilischer Geflüchteter zwang die Schweiz, ihre Migrationspolitik zu überdenken. Willkommen waren die Schutzsuchenden zunächst nicht, irgendwann schwenkte die Meinung um. TEXT KLAUS PETRUS

FOTOS SAHITHYAN THILIPKUMAR

Ein Stück rundes Blech von 3 cm Durchmesser, darauf war – man weiss nicht, wieso – ein König gestanzt mit der Aufschrift «Best best German Silver» und «Made in Switzerland». Es ist Frühjahr 1986 und der «Tamilenbatzen», eine Art Gutschein, mit dem diese »dunkelhäutigen Männer» in der Migros für Gemüse und Brot anstehen, ist in aller Munde. Bald darauf machen «Tamilenwitze» die Runde, bevorzugtes Stereotyp: kleiner Mann in zu grosser Lederjacke. Und mit den Sprüchen kommen die Wutreden und Brandstifter. Allein in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre werden Dutzende Attentate auf Asylheime verübt, sieben Menschen sterben, davon fünf Tamilen – «Raus mit dem Rauschgiftpack aus unseren Dörfern, oder wir verheizen das Gesindel», hiess es in einem Bekennerschreiben. In die Schweiz kamen die Tamil*innen als politische Flüchtlinge, nachdem im Juli 1983 in ihrer Heimat Sri Lanka ein jahrelanger Konflikt zwischen tamilischen Separatist*innen und singhalesischen Regierungstruppen in einen Bürgerkrieg mündete; er endete 2009 mit dem Sieg über die paramilitärische Organisation Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE). In diesen 26 Jahren nach dem «Black July», wie die Tamil*innen den Kriegsbeginn nennen, wurden bis zu 100 000 Menschen getötet, fast eine halbe Million musste aus dem Land fliehen, die überwiegende Mehrheit von ihnen Tamil*innen (siehe Box). Kurz davor, am 1. Januar 1981, war in der Schweiz das erste Asylrecht in Kraft getreten. Damit wurde auch die Einzelfallprüfung eingeführt, was in der bisherigen Migrationspolitik als Novum galt und es erlaubte, die tamilischen Geflüchteten als «Asylsuchende» zu behandeln. Als erste Geflüchtete überhaupt bekamen sie somit den Status N, die Bestätigung, dass sie ein Asylgesuch gestellt haben und auf einen Entscheid des Staatssekretariats für Migration (SEM) warten. Dieser Entscheid zog sich allerdings teilweise über Jahre hin, da die Behörden mit der Surprise 562/23

grossen Anzahl von Gesuchen überlastet waren. Damals waren bereits 15 000 Tamil*innen auf der Flucht in der Schweiz gelandet, was einem Fünftel aller entsprach, die in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre nach Europa kamen; heute sind es schätzungsweise 60 000, die grösste aussereuropäische Minderheit, die in der Schweiz lebt. Allerdings konnten Tamilen mit dem N-Ausweis zumeist keiner Arbeit nachgehen; sie waren entsprechend auf Sozialhilfe angewiesen, was den Unmut der schweizerischen Bevölkerung nach sich zog. Von «Schmarotzern» war die Rede, aber auch davon, dass «die Tamilen» gar nicht arbeiten müssten, da sie in Drogenhandel, Prostitution und Menschenhandel verstrickt seien und so eine Gefahr für die schweizerische Gesellschaft darstellen würden. Migration bricht Traditionen auf Tatsächlich wurde das Asylgesetz infolge dieser gesellschaftspolitischen Debatte über die «Tamilenfrage» schrittweise verschärft. So wurden tamilische Geflüchtete auf der Grundlage von «Rückkehrabkommen» mit der Regierung von Sri Lanka in ihre Heimat zurückgeschafft, und das trotz anhaltendem Bürgerkrieg. Damit sollte die Schweiz als Asylland unattraktiv gemacht werden, was hierzulande wiederum zu heftigen Diskussionen führte und die Politik spaltete. 1987 wurden diese Abschiebungen vorübergehend ausgesetzt. Zu jener Zeit hatte sich eine Bewegung aus Einzelpersonen, Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen gebildet, welche die Diskriminierung tamilischer Geflüchteter zum Anlass nahm, gegen eine weitere Verschärfung des Asylgesetzes zu protestieren – allerdings grösstenteils ohne Erfolg (seitdem wurde das Asylgesetz sieben Mal verschärft). Immerhin wurde im Zuge dieser Debatte die Asylpraxis insoweit gelockert, als das Recht auf Familiennachzug, welches bisher bloss für Arbeitsmigrant*innen galt, nun erstmals auch auf politische Geflüchtete ausgeweitet 15


wurde. So konnten ab den frühen 1990er-Jahren Tausende tamilische Frauen als Ehefrauen oder Verlobte ihren Männern in die Schweiz nachreisen; vereinzelt waren es ledige Tamilinnen, die nicht in die Reihen der LTTE eingezogen werden wollten. Der Familiennachzug hatte Auswirkungen auf die tamilische Gemeinschaft. In der Anfangszeit waren es vor allem Männer, die ohne familiäre Anbindung in die Schweiz flüchteten; ihre Lebensumstände waren oft von sozialer Isolation und Einsamkeit geprägt. Nun etablierten sich nach und nach Familienstrukturen. Auch wurden religiöse Zeremonien und Feste abgehalten – in den 1980er-Jahren gab es in der Schweiz noch keine Hindu-Priester –, was für die soziale und kulturelle Identität der tamilischen Gemeinschaft, die in der Schweiz zu 70 Prozent aus Hindus besteht, von grosser Bedeutung ist. Als Nachreisende waren die Tamilinnen ökonomisch in hohem Masse von ihren Ehemännern abhängig. Teilweise wurde die damit verbundene, geschlechtsspezifische Rollenverteilung aufgebrochen, indem Frauen ebenfalls erwerbstätig wurden – was allerdings häufiger bei Tamilinnen der nachfolgenden Generationen der Fall ist. Die Auseinandersetzung mit geschlechterspezifischen wie auch kulturell und religiös bedingten Rollenbildern ist offenbar generell ein Thema unter tamilischen Jugendlichen, die sich mitunter als «Grenzgänger*innen» bezeichnen (siehe Zweittext Seite 17). Auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht hatte der Familiennachzug Folgen. Eine davon betraf das öffentliche Image der tamilischen Bevölkerung. War es in den 1980er-Jahren überwiegend negativ geprägt, entwickelte sich nun zunehmend das Bild des «emsigen», «unauffälligen» und «familienfreundlichen Tamilen». Wo Jahre davor in der Boulevardpresse noch von «Scheinflüchtlingen» die Rede war, hiess es jetzt: «Der Tamile hat und macht keine Probleme. Er ist der ideale Immigrant.» Dazu passte, dass viele Tamil*innen in Sektoren arbeiteten – in

der Reinigung, Pflege oder Gastronomie –, wo es eine hohe Nachfrage nach ungelernten Arbeitskräften gab. Oder weniger unverblümt gesagt: Wo sie für wenig Lohn Arbeit fanden, welche viele Schweizer*innen nicht verrichten wollten. Gerade die arbeitsrechtliche Situation hat für Tamil*innen der sogenannten ersten Generation bis heute Konsequenzen: Von den rund 10 000 Personen, die in den nächsten Jahren ins Rentenalter kommen oder bereits pensioniert sind, droht vielen die Altersarmut, da sie mehrheitlich im Niedriglohnsektor tätig waren. Einer neuen Studie des Schweizerischen Roten Kreuzes zufolge gibt es unter den Betroffenen zudem eine kulturell bedingte Scham, die Angebote der Altersvorsorge in Anspruch zu nehmen. Eine Rückkehr in die Heimat ist für die meisten der älteren Tamil*innen jedenfalls keine Option. Das Land hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend verschuldet, dadurch sind die Preise für Mieten, Elektrizität und Benzin stark angestiegen, ebenso die Steuern. Es wäre dies eine Rückkehr in ein Land, dem (wieder einmal) viele Menschen den Rücken zukehren – 300 000 waren es allein letztes Jahr. Nicht zuletzt sitzt bei den Tamil*innen das Misstrauen gegenüber den Mächtigen in Sri Lanka sehr tief, auch vierzig Jahre nach dem «Black July». Zwar hat die Regierung zugesagt, die Kriegsverbrechen aufzuarbeiten, Wiedergutmachung zu leisten und konkrete Massnahmen zur Aussöhnung vorzuschlagen. Ob sie ihre Versprechen aber auch in die Tat umsetzen wird, daran zweifeln viele.

In diesem Text werden bewusst rassistische Begriffe, Stereotypen und Geisteshaltungen reproduziert, es handelt sich dabei um Zitate aus anderen Medien. Wir halten dies hier für notwendig, um die politische Stimmung in der Schweiz gegenüber der tamilischen Community in ihrer Entwicklung darstellen zu können. Wir bitten Betroffene um Verständnis.

Vazhakaapu ist ein traditionelles Fest, um Schwangere auf eine gesunde Geburt vorzubereiten.

Das Aufkochen von Milch in einem traditionellen Topf soll Glück symbolisieren.

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«Wie habe ich das damals geschafft?» Sie kam vor 31 Jahren als junge Frau aus Sri Lanka in den Aargau, er wurde 1996 in der Schweiz geboren. Sivayogam Ramachandran und Sahithyan Thilipkumar erzählen, was ihr Leben prägt. TEXT LEA STUBER

Bald wird Sivayogam Ramachandrans jüngere Tochter so alt sein wie sie, als sie mit 23 in die Schweiz kam. Das Einzige, was sie damals im Jahr 1993, als der Bürgerkrieg in Sri Lanka bereits zehn Jahre dauerte, über die Schweiz wusste: Ihr künftiger Mann hatte dort Asyl erhalten und arbeitete in einem Restaurant. Er kam aus dem gleichen Dorf wie sie, die Eltern hatten die Heirat arrangiert. Das war so üblich. Heute ist Ramachandran 54 Jahre alt und lebt länger in der Schweiz als in Sri Lanka. Sie wohnt mit ihrem Mann in einem Haus in Brugg, hört oft CTBC, ein tamilisches Radio aus Kanada, oder IBC, eines aus England, und geht an der Aare spazieren. Die zwei Töchter sind ausgezogen. Die ältere ist 27 Jahre alt, studiert Erziehungswissenschaft und wohnt mit ihrem Mann zusammen, er stammt ebenfalls aus der tamilischen Community. Ihre jüngere Schwester studiert Psychologie und teilt mit einer Freundin in Bern eine WG. Ramachandran arbeitet in einem Kinderheim – im Dezember werden es 30 Jahre sein –, sie machte eine Ausbildung für interkulturelles Dolmetschen und übersetzt Gespräche in Schulen, im Spital oder für die Gemeinde. Mehr als zwei Jahrzehnte lang habe sie auch als Tamilisch-Lehrerin gearbeitet, erzählt sie an einem Tisch im Migros-Restaurant. AufSurprise 562/23

gewachsen ist Ramachandran in Poonakary, einem Dorf gut 30 Kilometer von Jaffna entfernt. Dort, in der Provinzhauptstadt im Norden Sri Lankas, seien die Schulen besser, trotz der latenten Gefahr durch den Bürgerkrieg, fand der Vater und schickte sie, zusammen mit vier der acht Geschwister, nach Jaffna in das Hindu Ladies’ College. Am meisten Spass hatte sie an Biologie und Chemie, sie interessierte sich für Laborarbeit. Nach dem Advanced Level, was der Matur entspricht, wollte sie Medizin studieren, doch dafür erzielte sie nicht genug Punkte. Stattdessen wurde Ramachandran Lehrerin und kehrte 1991 nach Poonakary zurück, um dort unter anderem Mathematik zu unterrichten. Deutsch in der Migros-Klubschule Ihre Eltern wollten nicht flüchten, sie empfanden sich als zu alt. (Später, als die Gefahr sich Ende der Nullerjahre noch einmal markant zuspitzte, flohen auch sie.) Zu seiner Tochter Sivayogam sagte der Vater damals, sie solle besser heiraten und Sri Lanka verlassen, er kenne jemanden, der dabei helfen könne. Die Zeit drängte, weil das Militär auf das Dorf vorrückte. Ramachandran beantragte im September 1992 in der Schweiz Asyl. Sie lebte zunächst in Clarens am Genfersee in einer Unterkunft für Frauen, arbeitete ohne legale An-

stellung in einer Arztpraxis als Putzfrau und lernte erste französische Wörter: Ça va? Au revoir! Attention! Ihr Asylantrag wurde abgelehnt, Familienzusammenführung hatten sie gar nicht beantragt – Ramachandran wollte unabhängig einen Status erhalten. Doch dann verbesserte sich der Status ihres Zukünftigen, sie heirateten im Juni 1993 und Ramachandran zog zu ihm in den Aargau. «Noch heute frage ich mich: Wie habe ich das damals geschafft? Es ist einfach alles passiert, ich hatte keine Ahnung.» In der Freizeit spielte ihr Mann Cricket. Bald trafen sie sich am Wochenende zum Essen mit anderen Tamil*innen und feierten gemeinsam Feste. Wenn sie besser Bescheid gewusst hätte, hätte Ramachandran vielleicht die Berufsbildungsschule angefangen. «Es war aber so schwierig, sich zu orientieren.» Sie sagte sich, dann lerne ich wenigstens die Sprache, und ging in die Migros-Klubschule. Sie musste alle Deutschkurse selbst bezahlen. Irgendwann hörte sie, das Kinderheim in Brugg suche eine Hauswirtschaftsmitarbeiterin für Küche, Waschküche und Lieferdienst. «Ich sprach noch kaum Deutsch, doch die Leiterin des Heims habe ich gut verstanden.» Im Restaurant, wo Ramachandrans Mann arbeitete, hinterliess die Leiterin einen Zettel. Ob sie schnuppern kommen wolle. Anrufen 17


Es gibt Rituale auch zur Hauseinweihung nach tamilisch-hinduistischer Art.

konnte man nicht, Ramachandran hatte kein Telefon. «Bei der Arbeit merkte ich: Meine Traurigkeit war nicht so gross wie jene der Kinder im Heim, die von Geburt an getrennt sind von ihren Eltern.» Schliesslich hatte sie 23 Jahre mit ihrer Familie gelebt. Und doch litt sie anfangs unter starkem Heimweh. Dass sie damals keine Lehre beginnen konnte, das macht sie heute noch traurig. Immer noch träumt sie von einer Ausbildung zur Sterilisationsassistentin, das interessiert sie. 1992, noch bevor Ramachandran in die Schweiz kam, hatte ihr späterer Mann mit einem Kollegen in Brugg eine tamilische Schule gegründet. Später arbeitete Ramachandran dort als Tamilisch-Lehrerin, sie brachte den Kindern das Alphabet bei, Lesen und Schreiben. Auch ihre Töchter gingen in die Tamilische Schule und tanzten Bharatanatyam, einen klassischen Tanzstil, der unter Tamil*innen sehr beliebt ist. Ramachandran und ihr Mann hatten selten einen Tag frei; 2012 fanden sie, nun sei es genug. «In meinem Dorf in Sri Lanka wäre ich immer beschäftigt gewesen, etwa 18

auf dem Bauernhof meiner Eltern. Hier musste ich unbedingt etwas zu tun haben, sonst wäre mir langweilig geworden.» Pendeln im Alter Als sie nach der Geburt ihrer ersten Tochter wieder im Kinderheim arbeitete, durfte Ramachandran das Baby zum Stillen mitnehmen. Nach einem Jahr ging die Tochter in die Kita. Ramachandran und ihr Mann teilten sich die Arbeit im Haushalt. «In Sri Lanka haben viele Frauen keine Anstellung. In der Schweiz musste ich arbeiten, alleine hätte ich den Haushalt gar nicht machen können.» Sie zu guten Menschen erziehen, aber auch die kulturellen Werte ihrer Heimat weitergeben, das wollte Ramachandran mit ihren Töchtern. «Ich kann nicht ihren Partner für sie suchen, ich kann nicht ihr Studium auswählen, ihren Beruf. Sie wählen das alles selber. Mir bleibt der Wunsch, dass sie damit zufrieden sind.» Als einer ihrer Brüder aus Sri Lanka zu Besuch war und die Töchter, gerade in der Pubertät, abends ausser Haus waren, fragte er: «Wieso bist du so ruhig? Wieso rufst du

sie nicht an?» Ramachandran aber wollte ihren Töchtern die Freiheit lassen, sie sollten selber Erfahrungen sammeln. Die Secondas und Secondos seien aktiv, auch politisch, findet Ramachandran. Aus der ersten Generation aber verbringen viele Menschen, gerade die Frauen, viel Zeit daheim, allein mit ihren Traumata, und glauben, ihr Leben sei verloren. «Wir tragen einen grossen Rucksack mit dem, was wir alles erlebt haben. Als Migrantin ist das Leben hier immer schwerer als für Schweizer*innen. Manchmal fühle ich mich hier wie eine exotische Pflanze.» Ramachandran hat die Idee, regelmässige Treffen, etwa Spieleabende, zu organisieren. «Ich möchte unseren Leuten bewusst machen: Wir müssen jeden Tag geniessen, wir wissen nicht, was morgen kommt.» In zehn Jahren wird Ramachandran pensioniert. «Ich kann mir nicht vorstellen, nach Sri Lanka zurückzukehren, die Kinder sind hier, ihr Leben ist hier.» Viele Menschen aus ihrem Heimatort Poonakary leben heute verstreut in anderen Dörfern, die jüngeren kennt sie nicht mehr. Wenn Surprise 562/23


Über Gleichstellung kann auch in der Community inzwischen diskutiert werden: hier an der Uni Zürich.

Der Bürgerkrieg von 1983 – 2009

Karnatisches Ensemble an der Uni Zürich: Der Musikstil gehört zur klassischen südindischen Musik.

sie dann noch gesund ist, möchte Ramachandran als Pensionierte einige Monate im Jahr bei ihren Geschwistern in Sri Lanka leben und die restlichen Monate in der Schweiz. Sahithyan Thilipkumar ist ein guter Freund von Sivayogam Ramachandrans Tochter und, wenn man so will, ein Kind der Flucht. Seine Eltern lernten sich bei der Arbeit in der Schweiz kennen. Wären sie in Sri Lanka geblieben, in zwei Dörfern 53 Kilometer voneinander entfernt, wären sie sich wohl nie begegnet. Als der Bürgerkrieg 1983 begann, war seine Mutter erst zehn, sein Vater vierzehn Jahre alt. Dreizehn Jahre später, 1996, kam ihr Kind Sahithyan im Kanton Schwyz zur Welt. Wie schätzungsweise eine halbe Million Tamil*innen mussten die Eltern aus Sri Lanka flüchten, und wie an die 60 000 weitere kamen sie in die Schweiz. Heute ist Sahithyan Thilipkumar 27 Jahre alt und wohnt mit seinen Eltern und seiner Schwester in Zürich-Höngg. Eine eigene Wohnung wäre zu teuer. Er schreibt seine Masterarbeit in Rechtswissenschaft, Surprise 562/23

Ende Juli 1983 brach in Sri Lanka ein Bürgerkrieg zwischen den Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) und der singhalesischen Regierung aus. Anlass war ein Anschlag der LTTE auf Regierungssoldaten, woraufhin im ganzen Land Pogrome gegen Tamil*innen mit hunderten Toten stattfanden. Der Konflikt begann bereits nach Ende der britischen Kolonialherrschaft 1948, als nationalistisch gesinnte Singhalesen eine «Singhalisierung» Sri Lankas forderten, die von der buddhistischen Mehrheitsbevölkerung unterstützt wurde. Damit einher ging eine jahrzehntelange Diskriminierung der überwiegend hinduistischen Tamil*innen bezüglich Sprache, Arbeitsund Bildungschancen. Anfang der 1970er-Jahre bildete sich in Reaktion darauf die paramilitärische Organisation LTTE und forderte einen eigenen Staat «Tamil Eelam» in den hauptsächlich von Tamil*nnen bewohnten Gebieten im Norden und Osten von Sri Lanka. In der Folge und dann ab 1983 lieferten sich die LTTE und die Regierungstruppen mit wenigen Unterbrüchen etwa 1987 und 2002 schwere Kämpfe mit Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten. Im Mai 2009 verkündete die Regierung Sri Lankas den Sieg über die LTTE und damit das Ende des Bürgerkriegs mit schätzungsweise 100 000 Toten. Wiederholt hat der UNO-Menschenrechtsrat Sri Lanka aufgefordert, die Verbrechen der Vergangenheit aufzuarbeiten und Wiedergutmachung zu leisten. 2015 hat die Regierung diesem Ansinnen zugestimmt, es bis heute aber nicht umgesetzt. KP

macht ein Praktikum in einer Beratungsstelle für Asylsuchende, arbeitet als Aktivist für eine NGO, die sich für Gerechtigkeit und Selbstbestimmung für Tamil*innen einsetzt, in der Freizeit fotografiert er – die Liste seiner Aktivitäten ist lang. Unweit der Josefstrasse, wo das, wie Thilipkumar sagt, «tamilische Viertel» mit Lebensmittel- und Sari-Läden, Restaurants und Coiffeursalons liegt und es zudem ein gutes Fotogeschäft gibt, kehrt Thilipkumar manchmal in ein Café ein, um an der Masterarbeit zu schreiben. Draussen an einem der weinroten Tische erzählt er engagiert und mit kritisch-wohlwollendem Blick aus seinem Leben und von der tamilischen Community. Als Kind konnte Thilipkumar in der Schweiz morgens alleine zum Kindergarten laufen, im Fernsehen dagegen sah er fürchterliche Bilder aus Sri Lanka, tote Kinder, so alt wie er. Seine Tante kämpfte bei den LTTE, den Liberation Tigers of Tamil Eelam. Weil es teuer war, telefonierte er nur selten mit seinen Grosseltern. Thilipkumars Vater und Mutter, die in Sri Lanka keine Ausbildung machen konnten und

nun in einer Kantine und in der Hotellerie arbeiteten, hielten ihre Kinder dazu an, eine solide Ausbildung zu machen, um später einen guten Job zu bekommen. Es hiess: Mach so viel du kannst, hol das Beste aus dir raus! Einfach mal etwas ausprobieren, das lag selten drin. Wenn er mit den Hausaufgaben Probleme hatte, konnte er seine Eltern nicht immer fragen. Stattdessen ging er zu Freund*innen, einer der Väter war Bauingenieur und half gern. Auch von seinen Lehrer*innen wurde Thilipkumar gefördert. Ein Moment allerdings, es muss in der ersten oder zweiten Klasse gewesen sein, ist ihm in Erinnerung geblieben: In der Musikstunde erwähnte die Lehrerin eine Musikschule, wo Kinder in der Freizeit ein Instrument lernen konnten. Thilipkumar sagte, er würde gerne Keyboard spielen. Deine Eltern, antwortete sie, können sich das nicht leisten. «Ich erzählte es ihnen damals nicht.» Vom Schweizer Umfeld hörte Thilipkumar immer wieder: Wirst du das Gymi auch schaffen? Oder: Machst du nicht besser 19


eine Lehre und verdienst Geld? Als er nach der Matur ein Zwischenjahr einlegte – um tatsächlich ein bisschen Geld zu verdienen und herauszufinden, was er im Leben wollte –, fragten manche aus der Verwandtschaft: Warum machst du das? Verlierst du nicht Zeit? Thilipkumar überlegte lange, an die ZHdK zu gehen, die Zürcher Hochschule der Künste. «Das wäre bestimmt cool gewesen. Aber halt auch ein Struggle, wenn du keine reichen Eltern hast.» An der Universität Zürich dann organisierte Thilipkumar mit dem Tamilischen Verein der Studierenden verschiedene Anlässe. Zum Beispiel für ihre Eltern, bei denen sie den grossen Druck thematisierten, den viele auf ihre Kinder ausübten. Euer Kind, sagten sie den Eltern, muss nicht Arzt oder Informatikerin werden. Es gibt auch andere Möglichkeiten – eine Lehre, den Weg als Schriftsteller oder eine Karriere als Musikerin wie Priya Ragu. Und es darf auch Fehler machen oder mal eine Pause einlegen. Irgendwann kaufte sich Thilipkumar ein Gleis 7, das damalige Extra-Abo für Jugendliche bis 25 Jahre, und fuhr mit dem Zug jeden Freitagabend in eine andere Stadt. Mal nach St. Gallen, wo er das Kind eines älteren Cousins hütete, mal nach Biel, wo er mit einer Cousine ein Konzert besuchte. Die sieben Geschwister des Vaters und drei der Mutter leben auch in der Schweiz. Die Cousinen und Cousins stritten und feierten zusammen, verbrachten gemeinsam Ferien. Im Vergleich mit seinen älteren Cousin*en, die in Sri Lanka zur Welt gekommen waren, durfte Thilipkumar abends länger wegbleiben, und er durfte reisen. Seine Eltern gestanden ihm mehr Freiheiten zu. Als der Krieg 2009 mit der Niederschlagung der tamilischen Unabhängigkeitsbewegung durch die Regierungstruppen endete, erlebte Thilipkumar das als «heftigen Einschnitt im kollektiven Gedächtnis». In Bern und Genf protestierten Tamil*innen, sie waren enttäuscht, dass «alle anderen wegschauten». Thilipkumar, damals dreizehn, war mit seinen Eltern auch dabei, verständnislos dafür, dass die internationale Gemeinschaft untätig blieb. «Andere Eltern haben ihren Kindern lieber nicht zu viel vom Krieg erzählt und sich darauf konzentriert, hier etwas aufzubauen.» Als die ersten Tamil*innen ab 1983 in die Schweiz kamen, gründeten sie wie Sivayogam Ramachandrans Mann Schulen für die eigene Sprache und Kultur, organi20

An einer Verlobungsfeier.

Fotograf der Community Sahithyan «Sagi» Thilipkumar, 27, ist ein Aktivist, Fotograf und Jurist aus Zürich. Ein Fokus seiner fotografischen und aktivistischen Arbeit ist der beharrliche Kampf der unterdrückten Tamil*innen für Gerechtigkeit und Selbstbestimmung.

Turnier des Schweiz-Tamilischen Fussballverbandes.

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sierten Nachhilfeunterricht oder Sport für ihre Kinder. (Heute betreibt der Tamil Education Service Switzerland 106 Schulen mit fast 5000 Kindern.) Daneben arbeiteten sie viel, mussten die Sprache lernen und ihre Identität neu justieren. «Um über gesellschaftliche oder politische Fragen nachzudenken, hatten sie keine Zeit.» Thilipkumar aber, ganz Aktivist, kritisiert den «fehlenden politischen Willen» der Schweiz und der internationalen Gemeinschaft, sich aktiver für die Aufarbeitung der Verbrechen des Krieges und für die Rechte der Tamil*innen einzusetzen. Die USA hatten 2020 unter Trump Sanktionen gegen den Oberbefehlshaber der sri-lankischen Armee verhängt, Kanada erklärte zwei Jahre später den 18. Mai zum Gedenktag an den Tamilischen Völkermord und erkannte diesen damit offiziell an.

Die schweizerisch-tamilische Musikerin Priya Ragu und Japhna Gold an einer Benefizveranstaltung.

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Kollektive Geschichte verbindet Ab 2015 reiste Thilipkumar mehrere Male nach Sri Lanka, in die von Tamil*innen besiedelten Gebiete. Er erzählt von der hohen Militarisierung des tamilischen Nordostens, von fehlender politischer Selbstbestimmung, nicht wieder aufgebauter, fehlender Infrastruktur, von sich selbst zensierenden tamilischen Journalist*innen und Singhales*innen, die nichts von Kriegsverbrechen wissen wollen. Dennoch spürt er eine Art Sehnsucht nach dem Teil des Landes, der seinen Eltern einmal Heimat war und auch für ihn einen Teil seiner Identität darstellt. Mehrere Male stand Thilipkumar kurz vor einem Burnout. Gerade die Männer würden häufig denken, dass sie nicht verletzlich oder traurig sein dürften, dass sie – wie die eigenen Eltern und die Leute in der Widerstandsbewegung – immer weiterkämpfen müssten, erzählt er. «Über psychische Gesundheit zu sprechen, ist für die erste Generation ein Tabu.» Andere Aktivisten jedoch erzählten Thilipkumar von ähnlichen schwierigen Phasen in ihrem Leben. Hol dir Hilfe, rieten sie ihm, und so ging Thilipkumar in eine Beratung. Gleichzeitig plagen ihn Schuldgefühle: «Darf ich mich überhaupt über mein Leben beklagen, während andere für unser Volk gekämpft und sogar ihr Leben verloren haben? Ich habe das Gefühl, etwas zurückgeben zu müssen.» Schon früh versuchte Thilipkumar seine Verwandten zum Wählen und Abstimmen in der Schweiz zu motivieren. «Wenn jemand sagte, Sagi, sag mir, wie ich abstimmen soll, sassen wir zusammen und blät-

terten die Unterlagen durch.» Wie es ist, wenig Geld zu haben, wie schwer der Zugang zur schweizerischen Gesellschaft ist und wie streng Schweizer Asyl- und Sozialhilfepolitik sein können – Thilipkumar kennt diese Themen, seit er klein ist. Damals wurde mit Ricardo Lumengo ein Schwarzer Politiker in den Nationalrat gewählt. Das beeindruckte Thilipkumar. In Grossbritannien etwa sprechen die Parteien Tamil*innen explizit als Wähler*innengruppe an. Das hat auch historische Gründe, das Land war unter dem Namen Ceylon eine britische Kolonie und ist heute noch Teil des Commonwealth. Es gibt die «Tamils For Labour» oder die «British Tamil Conservatives». Willst du nicht auch Politiker werden, fragen die Leute Thilipkumar. So wichtig er es fände, als Vorbild voranzugehen: Dafür hat er nicht auch noch Zeit. Gerade wenn es um die vermeintlich kleinen Dinge geht, um Beziehungs- oder Uniprobleme etwa, merken Thilipkumar und seine tamilischen Freund*innen, dass sie viel verbindet. Ihr datet doch nur Leute aus der Community, behaupten Leute von aussen manchmal, das sei ein Zeichen für misslungene Integration. «Nein», sagt Thilipkumar dann. Eine Person aus der Community verstehe ihn einfach auf einer anderen Ebene. Etwa wenn es um die Beziehung zu den Eltern gehe. Seine älteren Cousin*en setzten sich dafür ein, dass sie selbst und nicht ihre Eltern entscheiden, mit wem sie zusammen sind. Schon die Ehe seiner Eltern war nicht arrangiert – obwohl ihre Familien keine Freude daran hatten, dass sie nicht jemanden aus demselben Dorf heirateten. «Für mich ist das normal.» Die zweite Generation, sagt Thilipkumar, wolle zwar überall dazugehören, so ganz gehöre sie aber bisher nirgends hin. Er suche noch nach der Balance, könne aber überall etwas mitnehmen. «Ich fühlte mich oft unsicher. Was gibt mir Halt?» Die Jüngeren seien heute lockerer und selbstbewusster. «Die Wunden werden heilen, mit den eigenen Kindern, mit der nächsten Generation.»

Die Flucht der ersten Tamil*innen in die Schweiz jährt sich 2023 zum 40. Mal. Zu diesem Jubiläum organisieren Secondas und Secondos einen Anlass mit Diskussionen, Workshops und Ausstellungen zur tamilischen Diaspora in der Schweiz. «40 Years», So, 3. Dezember, 8.30 bis 22.00 Uhr, Haus der Religionen, Bern.

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BILDER: FILMCOOPI

Die Hoffnung, dass Menschen Weichen neu stellen Kino Der Dokumentarfilm «The Driven Ones» von Piet Baumgartner erzählt persönliche Geschichten und deckt damit auf, woran unsere Wirtschaft krankt. INTERVIEW DIANA FREI

Während sieben Jahren begleitet der Schweizer Regisseur Piet Baumgartner mit «The Driven Ones» fünf junge Frauen und Männer vom Studium an der Universität St. Gallen (HSG) bis in die ersten Jahre ihrer Karrieren. Sie alle absolvieren das renommierte Masterprogramm «Strategy and International Management» und treten als Consultants oder Inhaber*innen eigener Unternehmen in die Wirtschaftswelt ein. Das bringt Verantwortung mit sich. Baumgartner geht der Frage nach, ob sie im bestehenden System überhaupt wahrgenommen werden kann. Piet Baumgartner, in «The Driven Ones» geht es darum, dass die, die schon sehr viel haben, versuchen, noch mehr zu kriegen. Ist das korrekt? Piet Baumgartner: Ich habe versucht, meinen fünf Protagonist*innen zunächst als Student*innen und dann beim Berufseinstieg nahezukommen. Es ging mir nicht darum, mit dem Finger auf sie zu zeigen und zu sagen: Das sind die «Bösen». Wenn 22

ich etwas kritisiere, dann das Wirtschaftssystem und nicht diese fünf Menschen. An den Filmvorstellungen, bei denen sie bisher anwesend waren, spürte ich jeweils auch die Anerkennung für sie und ihren Mut, dass sie hinstehen und einen Einblick in ihr Leben geben. Die Zusammenfassung ist also insofern zu kurz gegriffen, weil wir alle in dieses System involviert sind. Die Frage ist, wer in unserer Welt Verantwortung übernimmt in sozialen Fragen, in Verteilungsfragen, in umweltpolitischen Fragen. Also anders: Es geht darum, dass die globalen Unternehmen die Macht und Mittel hätten, die Welt zu verändern, aber ihre Verantwortung nicht wahrnehmen. Ja, und das ist eine Systemfrage. Was mich wirklich schockiert hat, war zu sehen, wie in der Wirtschaftswelt gesellschaftliche Verantwortung zu einer diffusen Grösse gemacht wird. Das System ist gar nicht darauf gebaut, dass jemand Verantwortung übernehmen kann. Man setzt Unternehmensberater*innen ein, die innerhalb von drei Monaten eine

Entscheidung anstossen, etwa eine Restrukturierung planen. Aber das Resultat sehen sie nicht mehr, weil sie zu dem Zeitpunkt schon wieder weg sind. Ausserdem entscheiden Consultants nicht, sie beraten nur. Die CEOs entscheiden zwar – aber auf Grundlage eben dieser Beratungsfirma. Und wenn alle Seiten den Gewinn als oberste Zielvorgabe anstreben, dann bleibt die Verantwortung zwangsläufig auf der Strecke. Sehen die Protagonist*innen denn eigene Möglichkeiten, Dinge zu verändern, etwa soziale Werte einzubringen? Einer der Protagonist*innen sagt im Film, wenn man wirklich etwas bewirken wolle, dann müsse man nicht in die Politik oder zu einer NGO gehen. Man müsse in der Privatwirtschaft sein, um wirklich Einfluss zu haben. Das stimmt vielleicht, aber dort sind halt die Maximen andere. Veränderung scheint mir kaum möglich. Wie werden die fünf Protagonist*innen durch die Wirtschaftswelt geprägt? Surprise 562/23


zum Abarbeiten auf, dass sie alles nur oberflächlich antippen können. Sie werden darauf getrimmt, sehr schnell Entscheidungen zu treffen. Ob diese Entscheidungen aber wirklich fundiert waren, fällt unter den Tisch. Was die Student*innen lernen ist, mit Zeitdruck umzugehen. Das Tempo im Berufsleben scheint mir manchmal fast unmenschlich, dass sie anders gar nicht überleben würden.

BILD: PHILIP FROWEIN

Die Ausbildung steht am Anfang. Die Prägung beginnt also an der HSG in St. Gallen. Das Studium gibt den Student*innen nicht die Zeit, über gesellschaftliche Verantwortung nachzudenken. Es wird zwar Ethik unterrichtet, es werden sogar soziale Projekte durchgeführt. Handkehrum ist der Zeitdruck bereits im Studium so hoch und man lädt den Student*innen so viele Aufgaben

PIE T BAUMGARTNER, 39, ist Regisseur und Visual Artist mit einem transdisziplinären Ansatz für Film, Theater und bildende Kunst. Nach einer weiterführenden Ausbildung bei Andrzej Wajda in Warschau arbeitete er als Assistent von Frank Castorf und René Pollesch am Schauspielhaus Zürich. Seine Inszenierung «EWS» über Eveline Widmer-Schlumpf wurde zum Schweizer Theatertreffen eingeladen. Baumgartner lebt in Zürich.

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Sie bearbeiten auch in Ihrer Theaterarbeit immer wieder wirtschaftliche oder politische Systeme. Im Stück «EWS» im Zürcher Theater Neumarkt ging es um politische Taktik bei der Abwahl von Bundesrat Blocher und im «TrottinettBallett» um aktuelle Wirtschaftsformen wie Gig Work oder Sharing Economy. Wieso interessiert Sie das? Ich habe früher als Wirtschaftsjournalist bei Ringier gearbeitet, und ich finde, nichts prägt uns so stark wie die Wirtschaft. Vielleicht noch die Liebe und der Tod. Die Wirtschaft beeinflusst unser ganzes Leben, weshalb ich ihre Mechanismen zu verstehen versuche. Was mich interessiert, sind die Auswüchse des Systems. Beim «Trottinett-Ballett» waren es ökonomische Veränderungen, die als Absurditäten in unser tägliches Leben einsickern. In «The Driven Ones» sind es Momente wie der, in dem Protagonist David erklärt, dass unsere eigenen Pensionskassen mit ihren Investitionen die Immobilienpreise in die Höhe treiben, sodass wir uns wiederum die eigene Miete nicht mehr leisten können. Alle Ihre Protagonist*innen im Film kommen aus wohlhabenden Familien. Ich hatte den Eindruck, dass sie in erster Linie ihren eigenen Status quo bewahren müssen. Ihre Motivation ist womöglich von einer Angst vor Abstieg getrieben, ein klassisches Mittelschichtsthema. Will man aus demselben Grund auch die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen bewahren? Dass man erst mal in die gleiche Richtung steuert wie die Eltern, ist naheliegend. Die Motivation meiner fünf Protagonist*innen ist unterschiedlich. Anerkennung von den Eltern spielt sicher eine grosse Rolle. Das wiederum führt natürlich dazu, dass die Elite die Elite ausbildet. Für Menschen aus reichen Familien ist es ein grösseres Selbstverständnis, an einer HSG zu studieren, als für jemanden, der aus einem weniger wohlhabenden Milieu kommt.

Heisst das, dass man nicht davon ausgehen kann, dass Student*innen der HSG zu System-Changern werden? Ich kenne meine Protagonist*innen unterdessen wirklich gut und habe einen langen Einblick in ihr Leben erhalten. Ich bin natürlich nicht mit allem einverstanden, was sie sagen, denken, tun. Aber ich sehe ihre Fähigkeiten, ihr Potenzial, und ich habe Einblick in ihr persönliches Denken bekommen. Da entwickelt man schon Hoffnung, dass hier einflussreiche Menschen Weichen neu stellen könnten. Aber wenn ich auf der anderen Seite sehe, wie das System funktioniert, dann bin ich ratlos. Wie sollen wir unsere Probleme lösen, von Klimawandel über Arm-reich-Schere bis hin zum Populismus und dem Umgang mit der Migration? Die Protagonist*innen geben mir selber keine klare Antwort darauf. Gleichzeitig kann ich nicht von Menschen in ihren Zwanzigern erwarten, dass sie die Welt retten. Das müssen wir als Gesellschaft leisten. Es gibt gegen Schluss eine Szene im Restaurant, wo die fünf, jetzt im Berufsleben stehend, nochmals über die Frage der Verantwortung reden. Jemand sagt, letztlich seien es die Konsument*innen, die entscheiden. Jemand anderes, man müsste eben doch in die Politik gehen, wenn man etwas verändern möchte. Fühlen sie sich selbst machtlos? Die Reflexion über das Thema Verantwortung ist da. Trotzdem – und das ist meine subjektive Wahrnehmung – glaube ich, sie alle haben unterdessen auch sehr viel gesehen und gespürt, wie wenig sie verändern können. Das ist frustrierend, und es ergibt sich daraus ein gewisser Sarkasmus, mit dem man Probleme verarbeitet oder eben eher zur Seite legt. Ich glaube, der Vorschlag mit der Politik ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Denn der Gedanke zu wechseln ist ja nicht ernsthaft da. Ich persönlich dachte mir oft: Ihr seid so intelligent, ihr habt eine gute Ausbildung und gehört zu den Besten auf eurem Gebiet. Und damit geht ihr nun zu diesen globalen Wirtschaftsunternehmen. Wenn ihr stattdessen alle zu NGOs gehen würdet, zu Hilfsorganisationen oder doch in die Politik, dann könntet ihr etwas ganz anderes bewirken.

«The Driven Ones», Regie: Piet Baumgartner, CH 2023, 92 Min. Läuft zurzeit im Kino.

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Fische und Gemüse in der Wüste Kino Eine Kurzfilmreihe im Rahmen von Culturescapes dokumentiert die Resilienz, aber auch die Entwurzelung von Menschen aus Westsahara. TEXT CÉLINE GRAF

Sie habe den gleichen Traum wie der Tilapia-Fisch, sagt eine der drei Protagonistinnen im Kurzfilm «Solo son peces». Beide seien aus ihrer Heimat gerissen worden und lebten nun als Beherrschte mit geringen Mitteln. «Wir müssen überleben.» Mit «Solo son peces» rückt das Neue Kino Basel als Kooperationspartner von Culturescapes Sahara einen Dokumentarfilm aus einer Region in den Fokus, in die man selten Einblick erhält. In dem 2019 erschienenen Werk der baskischen Regisseurinnen Ana Serna und Paula Iglesias besuchten die beiden die drei sahrauischen Frauen Teslem, Dehba und Jadija, die auf einer Farm in der Wüste Fische züchten. Skepsis und Prophezeiungen, dass ihr Experiment scheitern werde, kontern sie gelassen mit: «Es gibt keinen Grund, Angst zu haben.» An Infrastruktur sei schliesslich alles Nötige vorhanden. Und die Tilapia-Barsche aus dem Nil seien an warme Gewässer angepasst. In Brutstationen werden die Jungfische aufgezogen, in Aussenbecken schwimmen die erwachsenen Tiere. Hingegen machen den Biologinnen Hitze, Stromausfälle, Krankheiten und insbesondere die Verweigerung der Wasserrechte sowie internationale Fischereiabkommen zu schaffen. Ihr Herkunftsland Westsahara ist seit Ende der spanischen

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Kolonialherrschaft von Marokko besetzt. Die Regierung, die drei Viertel der Landesfläche kontrolliert, ist, mit Ausnahme der USA, von der internationalen Staatengemeinschaft nicht anerkannt. Westsahara wird darum auch als die «letzte Kolonie Afrikas» bezeichnet und verharrt im Konflikt zwischen der widerständigen Polisario-Front und dem marokkanischen Militär. Die indigenen Sahraui leben unter schwierigen Bedingungen. Ihre nomadische Lebensweise mussten sie aufgeben, die Mehrheit lebt im Exil in Flüchtlingslagern in der westalgerischen Provinz Tinduf. Die Autorinnen von «Solo son peces» haben mit der Asociación de Amigos y Amigas der von den Sahrauis gegründeten Demokratischen Arabischen Republik Sahara sowie einer lokalen Filmschule zusammengearbeitet. Sie sagen, dass ihr Film durchaus eine politische Absicht habe: den Wandel. Das sei auch die Bedingung der Protagonistinnen gewesen. Ihre Stärke steht im Mittelpunkt und harmoniert mit einer ruhigen, ästhetischen Bildsprache. Allerdings hätte man sich etwas mehr Einbettung in Fakten gewünscht. Mit Wüstenfischen, Resilienz und Selbstermächtigung kennt sich auch der Protagonist in einem weiteren der fünf Filme im Programm des Kinoabends aus.

«A garden means more than a garden» des deutschen Künstlers Mario Pfeifer begegnet dem Permakultur-Spezialisten Taleb, der sagt: «Ich weiss nicht mehr, wie es ist, ein Zuhause zu haben.» Mit fünf Jahren flüchtete der Sahraui mit seiner Familie nach Algerien. Im Lager tüftelt der Agronom an einer Low-Tech-AquaponikMethode für die Wüste, bei der sich Gemüse, Kräuter und Tiere gegenseitig nähren. Solche nachhaltigen Kreisläufe würden global angesichts von Wassermangel und Desertifikation unter dem Klimawandel immer bedeutsamer, erklärt Taleb: «Alles, was wir hier machen, kann andernorts leicht nachgemacht werden.» Sein Wissen gibt Taleb auch an andere Campbewohnende weiter. Er erzählt von den Widersprüchen des Gärtnerns – einem Sinnbild für Bindung und Bleiben – auf einem Land, das sie als Entwurzelte eigentlich verlassen möchten. Doch für die Unterstützung und den Schutz, welche die Menschen ihm hier bieten, hinterlasse er zum Dank wenigstens einen «grünen Ort». Kurzfilmabend Westsahara – Resilienz: Neues Kino Basel, 23. und 24. November, 21 Uhr, Hinterhaus der Klybeckstrasse 247, culturescapes.ch/de/thema/sahara/ short-films-resilience

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Die Farben der Fantasie Buch Ein wunderbar gestaltetes Bilderbuch aus

China erzählt von der Wehmut des Abschieds vom Land und der Neugier auf eine ferne Stadt.

Tanz in die Unterwelt

FOTOS: 1 SOLO SON PECES, PAULA IGLESIAS, ANA SERNA, 2 DIRK ROSE, COURTESY PACT ZOLLVEREIN

Performance Im Stück «Akal» von Choreograph Radouan Mriziga trifft nordafrikanische Mythologie auf räumliche Verspieltheit.

Radouan Mriziga sieht seine Performancekunst als «Erschaffen von Quellen des Wissens», aus denen er schöpfen kann. Die Sprache der Bewegung und des Körpers im Raum hat er erstmals in Marrakesch vernommen, wo er 1985 geboren wurde. Heute lebt Mriziga in Brüssel und ist aktuell Artist-in-Residence am Kunstzentrum De Singel in Antwerpen. Im November gastiert er im Rahmen von Culturescapes mit einem Stück in der Kaserne Basel. «Akal» gehört zu einer Trilogie über Göttinnen aus der Mythologie der Amazigh, der Berbergemeinschaften Nordafrikas. Die beiden ersten Teile waren den Göttinnen des Mondes («Ayur», 2019) und der Sonne («Tafukt», 2020) gewidmet. In «Akal» (2021), was im marokkanischen Tamazight «Erde» bedeutet, tritt die ägyptische Kriegs- und Jagdgöttin Neith auf. Die Gehörnte lotst die Seelen der Verstorbenen in die Unterwelt. Verkörpert wird die Figur, die nicht nur tanzt, sondern auch erzählt, singt, dichtet und rappt, durch die Sängerin, Schauspielerin und Tänzerin Dorothée Munyaneza. Sie floh 1994 mit ihrer Familie vor dem Genozid in Ruanda und ist von dieser Erfahrung geprägt. Die Künstlerin hat eine Ahnung von Neiths Zwischenreich. «Ich bin Opfer, ich bin lebendig, ich bin tot», sagte sie einmal in einem Interview. Zwar sei sie auf der Bühne sie selbst, und manchmal würden echte Tränen fliessen. Zugleich aber schaffe die Rolle, die sie spiele, eine Distanz. «Akal» ist damit auch konzeptuell eine Zusammenarbeit der beiden Künstler*innen. Radouan Mriziga, der seine Themen meistens in Zyklen beackert, bezeichnet die Göttinnen-Performances als «Amazigh-Studien». Sie sollen Lücken im historischen Gedächtnis schliessen und die alten, mündlich überlieferten Kulturen, die lange politisch unterdrückt wurden, wieder aufleben lassen. In seinen räumlich verspielten Werken nimmt auch Architektur eine bedeutende Rolle ein. Arithmetische Prinzipien und geometrische Ornamente, mit denen Mriziga als Junge in Marokko in Berührung kam, sind Teil seiner Performances. Entsprechend liess er denn auch schon Architekturstudierende in Belgien mit Tanz CÉLINE GR AF experimentieren.

«Akal», Sa, 25. November, 20 Uhr und So, 26. Nov., 19 Uhr, Kaserne Basel, Klybeckstrasse 1b, Basel. culturescapes.ch/de/thema/sahara/akal

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Zwei Jahre! Zwei Jahre lang hat der Illustrator Li Xiaoguang an den achtzehn Bildern von «Damals, im Sommer» gearbeitet. Das liegt vor allem daran, dass sich Li Xiaoguang für die traditionelle Technik des Holzschnitts entschieden hat, bei der er Linie für Linie aus glatt geschliffenem Birnenholz geschnitten hat. Dies erfordert grösste Sorgfalt – und Geduld, denn jeder falsche Schnitt wird sichtbar und ist nicht mehr rückgängig zu machen. Die Geschichte, von der diese achtzehn Bilder erzählen, ist so schlicht wie berührend. Und stützt sich auf Kindheitserfahrungen, die der Illustrator und die Autorin Wei Jie gemeinsam haben. Beide haben ihre Kindheit auf dem Land verbracht und sind in jungen Jahren mit ihren Familien in die Stadt gezogen. Beide kennen den schwebenden Zustand zwischen Vorfreude, Aufregung und Wehmut, den eine solch einschneidende Veränderung mit sich bringt. Den drei Kindern der Familie, von der dieses Bilderbuch erzählt, ergeht es nicht anders. Die Familie zieht in die ferne Stadt, und so heisst es Abschied nehmen. Abschied von allem Vertrauten, von Haus und Garten, Dorf und Nachbarschaft, Wald und Bergen. Und da es Sommer ist und alles blüht und gedeiht, suchen die Kinder noch einmal alle ihre Lieblingsorte auf. Sie baden und spielen im Fluss, ersteigen den Kirschenberg, schlendern über den Markt. Um sie herum erklingen die gewohnten Laute und Lieder der Natur, die Vögel, der Wind in den Bäumen, das Plätschern der Wellen. Doch über allem schwebt die bange Frage, was sie von all dem in die ferne Stadt mitnehmen können und was sie unwiederbringlich zurücklassen müssen. Was davon die Holzschnitte von Li Xiaoguang alles einfangen, ist unglaublich. Unzählige Blumen, Blätter, Bäume und Gräser. Ganze Landschaften, Wälder, Berge. Und in all dieser Fülle von Natur und Weite die Menschen und Häuser, die kleinen und grossen Verrichtungen des Alltags. Alles so detailliert, vielgestaltig und lebendig, dass es einem vor Staunen schier den Atem verschlägt. Man kann sich nicht sattsehen. Dabei setzen sich diese Bilder aus nichts anderem zusammen als den schwarzen Linien des Holzschnitts. Nur die Schrift der Texte und die Vorsatzblätter sind grün. Und dennoch fehlt keine einzige Farbe dieses Sommers. Denn die Betrachtenden füllen das Schwarzweiss der Holzschnitte wie selbstverständlich mit den Farben der eigenen Fantasie. Ein magisches Erlebnis, das Menschen jeden Alters begeistern wird. CHRISTOPHER ZIMMER

Wei Jie (Text), Li Xiaoguang (Illustration): «Damals, im Sommer» Ein Bilderbuch aus China Baobab Books 2023, CHF 28.90

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BILD(1): ALPINES MUSEUM DER SCHWEIZ, BILD(2): MICHELLE ETTLIN, BILD(3): BEAT SCHMID

Veranstaltungen

Bern «Biwak#33: Check-in Check-out. Alles über Gastfreundschaft», Ausstellung, bis 19. Mai 2024, Alpines Museum der Schweiz, Helvetiaplatz 4. alpinesmuseum.ch

jungen Kurden, die auf dem Bau arbeiten – so wie es ihre Väter und Grossväter jahrzehntelang taten. Ferhat ist Lehrer und wartet auf eine Anstellung, sein Cousin Emrah plant ebenfalls zu studieren. Beide träumen von einem anderen Leben und wollen den Teufelskreis der prekären Anstellung durchbrechen. DIF

Zürich «Cosima Grand: things veer», Tanzstück, Di, 7. Nov., Di bis Sa, 9. bis 11. Nov., jeweils 20 Uhr, So, 12. Nov., 18 Uhr, Tanzhaus Zürich, Wasserwerkstrasse 127a. tanzhaus-zuerich.ch

Die Ausstellung im Alpinen Museum der Schweiz gibt Einblick in die exklusive Gästekartei des Grandhotels Waldhaus in Vulpera. Über Jahrzehnte führte das Hotelpersonal Buch über seine meist gut betuchten Besucher*innen. Auf rund 20 000 Karteikarten aus den Jahren 1921 bis 1960 wurden Beobachtungen und Macken der Gäste festgehalten. 1989 brannte das Waldhaus bis auf die Grundmauern nieder, aber die Gästekartei überlebte. Die Ausstellung «Check-in Check-out» zeigt eine Auswahl der Karten im Original und stellt sie der heutigen TripAdvisor-Bewertungskultur gegenüber. Während früher das Hotelpersonal die Gäste kommentierte, ist es heute meist umgekehrt. Rund um die Uhr werden Hotelaufenthalte von Feriengästen auf öffentlichen Portalen bewertet. Das Personal steht unter Dauerbeobachtung und die ganze Welt liest mit. Gastgeber*innen wiederum wollen ihren Gästen den bestmöglichen Aufenthalt ermöglichen und sind angewiesen auf gute Bewertungen. In der neuen Social-Media-Realität werden dafür nicht selten auch Influencer*innen engagiert, die positiv über touristische Angebote berichten. An drei Hörstationen lässt die Ausstellung Fachleute aus der Hotelbranche sprechen: Welches Verständnis haben heutige Hoteldirektor*innen von guter Gastfreundschaft? Themen sind Empathie, «Affective Hospitality», das Prinzip der Bewertung und die vielfältigen Anforderungen, die durch die internationale Kundschaft an Gastgeber*innen gestellt werden. Die Besucher*innen sind denn auch prompt selber aufgefordert, die Ausstellung und das Alpine Museum auf TripAdvisor zu bewerten. DIF

«Orient Express Filmtage 2023», bis 5. Nov. in Zürich, div. Spielorte; 8. bis 9. Nov. in Basel, Neues Kino; 9. bis 27. Nov. in St. Gallen, div. Spielorte. oeff.org Die vierten Orient Express Filmtage und Kulturwochen zeigen 18 Filme aus dem Orient, die in die Türkei und nach Kurdistan führen, nach Syrien, Aserbaidschan, Georgien, Armenien, in den Iran und nach Afghanistan, nach Griechenland, in die Schweiz und in verschiedene Länder Europas. Das Festival will Brücken bauen zwischen Regionen, Ethnien, Nationen. Entsprechend geht es in allen Filmen unter anderem um Hoffnung. Nicht immer nur auf fröhliche, aber auf eindrückliche, kraftvolle Art und Weise: Der Doku-

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mentarfilm «Sieben Winter in Teheran», der dieses Jahr auf der Berlinale lief, verwendet originales Ton- und Bildmaterial, das aus dem Land geschmuggelt wurde, um das Schicksal der Iranerin Reyhaneh Jabbari nachzuzeichnen, die von einem älteren Mann vergewaltigt wurde und ihn in Notwehr erstach. Sie wurde zum Tod verurteilt, trotz der Kämpfe ihrer Familie, trotz nationaler und internationaler politischer und menschenrechtlicher Bemühungen. Der Film macht die Ungerechtigkeit in der iranischen Gesellschaft greifbar und porträtiert eine unfreiwillige Heldin, die im Kampf für Frauenrechte ihr Leben gab. Im türkischen Dokumentarfilm «Boşlukta / Drifting» dagegen bleibt den Porträtierten auch persönliche Hoffnung: Erzählt wird von zwei

Die Choreografin Cosima Grand entwickelt in ihrer Arbeit ihre eigene Bewegungstechnik stetig weiter. «Transformative Repetitive Movements» nennt sie sie. Es sind schaukelnde, zitternde, hüpfende Bewegungen, die eine Art von eigenem Resonanzraum bilden. So beschreiten in «things veer» vier Performer*innen unsichtbare Bahnen. Sie schwingen und stimmen sich aufeinander ein. Sie treten in Beziehungen, die auf Bewegungen aufbauen und sich als solche auch

manifestieren. Sie versetzen sich gegenseitig in Schwingung. Als Hintergrund ist interessant zu wissen: Cosima Grand interessiert sich immer wieder für die Verflechtungen von Menschen und Nicht-Menschen. Ihre letzte Arbeit «Restless Beings» war von Mikroben und Bakterien inspiriert, «things veer» widmet sich nun Planetensystemen und begibt sich dementsprechend in galaktische und kosmische Sphären. Ein Stück ohne Sprache, aber mit viel Körper-Dialog. DIF

Dornach SO Eröffnung unserer Streetsoccer-Halle, Sa, 18. Nov., 9 bis 24 Uhr, Weidenstrasse 50, surprise.ngo/eroeffnungsfest Das beliebte Strassenfussball-Angebot von Surprise hat endlich wieder ein Zuhause: Für unsere wöchentlichen Trainings und den Frauenfussball-Treff, für Turniere von uns und anderen und für gesellige Veranstaltungen. Unsere neu bezogene Streetsoccer-Halle feiern wir mit einem Eröffnungsfest mit ganztägigem Programm, Benefizturnier und Gastro- und Unterhaltungsangebot. Alle sind herzlich willkommen: Kommen Sie vorbei und lernen Sie uns und die rasante Fussball-Variante Streetsoccer kennen – oder machen Sie gleich selbst mit, denn für das Frauen-Turnier gibt es noch freie Plätze. FUX

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365 Tage offen von 8-20 Uhr St. Peterstr. 16 | 8001 Zürich | 044 211 44 77 www.stpeter-apotheke.com

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fenster, wo sie, mit vielen anderen, von der Sonne ausgebleicht wird. Bleibt zu hoffen, dass sich die Investition lohnt und genügend nicht ausgebleichte Exemplare verkauft werden. Vielleicht behalten die Besitzer*innen dieses Exemplar auch für die persönliche Sammlung. Herausfinden lässt sich das nicht, der Laden ist nur Freitag und Samstag geöffnet, was darauf hinweist, dass es sich eher um ein Liebhaber-, denn um ein streng kommerzielles Projekt handelt. Ganz im Gegensatz zu den gleich nebeneinanderliegenden, konkurrierenden Pizza/Kebab-Läden und Lieferdiensten. Möglich, dass sich deren Personal im nahen Geschäft für Berufs-, Sicherheitsund Vereinsbekleidung eindeckt. Vereine gibt es einige, etwas überraschend wirbt der Verkehrsverein für das Projekt Pedibus, mit dem das hier scheinbar so unbeliebte Zufussgehen gefördert werden soll.

Tour de Suisse

Pörtner in Kerzers Surprise-Standort: Bahnhof Einwohner*innen: 5565 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 31,7 Sozialhilfequote in Prozent: 1,3 Papillorama: 40 m, Höhe 14 m, 1000 Schmetterlinge

Die berühmteste Sehenswürdigkeit von Kerzers ist das Papillorama, das über einen eigenen Bahnhof verfügt. Er liegt etwas ausserhalb des eigentlichen Dorfes, das von zwei Hauptstrassen durchschnitten wird. Autos und Lastwagen donnern durch den Ortskern, für Fussgänger*innen ist nur auf einer Seite der Strasse Platz, und selbst diese Trottoirs dienen teils als Parkplätze vor Geschäften, dem Modegeschäft Issler etwa, das in einem langen, flachen Gebäude untergebracht ist, oder dem danebenliegenden Geschäft für portugiesische Spezialitäten, das um 14.00 Uhr öffnet. Die Strasse säumen teils alte Bauernhäuser, die, nach den Scheiterbeigen zu urteilen, noch mit Holz geheizt werden. Sogar ein Pferdestall ist zu sehen, neben einer Kulturgrotte, einem schönen Riegelhaus, in dem ein vielfältiges Programm geboten wird. Surprise 562/23

Vor dem Schulhaus sind Transparente mit der Forderung «Keine Elterntaxis» angebracht. Das ist das Dilemma der verkehrsgeplagten Ortschaften. Je gefährlicher es wegen der Autos für die Kinder ist, umso grösser der Wunsch der Eltern, sie im Auto zur Schule zu bringen. Eine Alternative bietet der etwas weiter die Strasse aufwärts befindliche Kinderschuhladen. In guten Schuhen geht es sich besser zu Fuss. Gegenüber, unter dem Parken-Verboten-Schild, ist ein leuchtoranges Mofa geparkt. Ob die Person, der es gehört, wohl auch einst diese Schule besuchte?

Unter dem offiziellen Plakat der Schweizer Armee, auf dem das militärische Aufgebot und die Fortbildungsdienste der Truppe bekannt gegeben werden, wirbt ein kleines Flugblatt für die Vernissage des Buches «Einem Alkoholabhängigen ausgeliefert», die im Kirchgemeindehaus stattfindet. Daneben die Daten der Kurse in der Feldenkrais Methode sowie die Ankündigung des «Interkantonalen Tages der betreuenden Angehörigen». An der Hauptstrasse befindet sich ein kleines Einkaufszentrum, in dem es einen Raum für Zeit gibt. «Stop the Money Pulation» hat jemand an die Säule gesprayt.

STEPHAN PÖRTNER

An der einen Hauptstrasse liegt ein Plattenladen. «Schön gits euch» steht auf einem Plakat, was aber nicht eine Botschaft der Geschäftsleitung ist, sondern der Titel des neuen Albums der Band Bubi Eifach. Die Platte steht im Schau-

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

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Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

FairSilk social enterprise www.fairsilk.ch

Eine von vielen Geschichten

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Breite-Apotheke, Basel

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Pub Pfiff, Haltbergstrasse 16, 8630 Rüti

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www.tanjayoga.ch, Lenzburg

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Gemeinnützige Frauen Aarau

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Zubi Carrosserie, Allschwil

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Beat Hübscher, Schreiner, Zürich

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AnyWeb AG, Zürich

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Fachschule LIKA, Stilli b. Brugg

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Beat Vogel - Fundraising-Datenbanken, Zürich

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Buchhaltungsbüro Balz Christen, Dübendorf

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Ref. Kirche, Ittigen

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

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Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

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Benita Cantieni CANTIENICA®

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Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

Merima Menur kam 2016 zu Surprise – durch ihren Mann Negussie Weldai, der bereits in der Regionalstelle Bern arbeitete. Zuvor lebten sie fünf Jahre getrennt – er in der Schweiz, sie in Äthiopien. Einige Zeit nach ihrer Ankunft in der Schweiz begann Merima auch mit dem Verkauf des Surprise Strassenmagazins und besuchte einen Deutsch-Kurs, mit dem Ziel selbständiger zu werden und eine Anstellung zu finden. Dank Surplus besitzt Merima ein Libero-Abo für die Stadt Bern und kann somit leichter an ihren Verkaufsort reisen. Surplus gibt der 41-Jährigen ausserdem die Möglichkeit, sich einige bezahlte Ferientage zu gönnen.

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Madlen Blösch, Geld & so, Basel

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Spezialitätenrösterei derkaffee, derkaffee.ch

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Boitel Weine, Fällanden

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Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

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Kaiser Software GmbH, Bern

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InoSmart Consulting, Reinach BL

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Maya-Recordings, Oberstammheim

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

Weitere Informationen gibt es unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 27 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise #558: Fairer Preis für alle

#559: Entfesselt

«Fundierter und quälender»

«Roland Walter — aber nicht nur!»

Das Surprise von heute ist viel, viel besser und fundierter und wichtiger und eindrücklicher, aber auch quälender und nachdenklich-stimmender also noch vor 5 geschweige denn vor 20 Jahren. Es werden Themen aufgegriffen und dargestellt, die ansonsten in der Schweizer Medienlandschaft nicht beachtet werden. HEINZ MOOR, Basel

#Strassenmagazin

«Flüssig und verständlich» Immer wieder kaufe ich Ihre Zeitschrift von Strassenverkäufer*innen, die durchwegs stets freundlich und für ein kleines Gespräch zu haben sind. Auch erstaunt mich stets aufs Neue, welch interessante und aktuelle Artikel zu lesen sind. Insbesondere fällt mir auch der flüssige, verständliche Schreibstil auf. Herzlichen Dank für Eure Arbeit und Euer Engagement für Arbeitslose, das ist in der heutigen Zeit nicht mehr selbstverständlich. Macht weiter so, ich freue mich schon auf die nächste Ausgabe. RÖSLI FRICK, ohne Ort

TR AUDE HERZELE, ohne Ort

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Beundenfeldstrasse 57, 3013 Bern T +41 31 332 53 93 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 43 321 28 78 M+41 79 797 94 10 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp) Reporterin: Lea Stuber (lea) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ihre Artikel sind – wie dieser hier – eine aussergewöhnlich gut beobachtete Ergänzung der vielen Dinge, die wir Normalsterbliche kaum, unvollständig oder gar verzerrt wahrnehmen. Was für ein Mut, für eine Kraft, zu sich zu stehen und gleichzeitig zu kämpfen und zu schenken. Dieser Mann bietet uns an, das neu zu überdenken, wovor wir uns scheuen, was uns erschreckt, und was – anders als Roland Walter – uns steckenbleiben lässt. Da wird transparent, dass unser Schöpfer nicht über unsere Köpfe hinweg handelt, sondern mit unseren Köpfen rechnet. In diesem Fall ist die Rechnung wohl aufgegangen: Herr Walter ist durchgedrungen, wir werden aufmerksam. So kann, was wir Menschen anstellen, obwohl wir in so arg vielem nicht wissen, was wir tun, dennoch Gewinn abwerfen. Dieser kann uns zugutekommen, wenn wir ihn denn auch nutzen. Es gibt so viel Gutes in dieser Welt, auch wenn wir es nicht auf Anhieb erkennen.

Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Carlo Knöpfel, Yvonne, Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Seynab Ali Isse, Céline Graf, Sophie Hartmann, Helena Hunziker, Sahithyan Thilipkumar, Reto Naegeli, Poppy Sundeen Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Ich möchte Surprise abonnieren Das Abonnement ist für jene Personen gedacht, die keinen Zugang zum Heftverkauf auf der Strasse haben. Alle Preise inklusive Versandkosten.

25 Ausgaben zum Preis von CHF 250.– (Europa: CHF 305.–) Reduziert CHF 175.– (Europa: CHF 213.50.–)

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Probe-Abo für CHF 40.– (Europa: CHF 50.–), 4 Ausgaben Reduziert CHF 28.– (Europa: CHF 35.–)

Halbjahres-Abo CHF 120.–, 12 Ausgaben Reduziert CHF 84.– Der reduzierte Tarif gilt für Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben. Es zählt die Selbsteinschätzung.

Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage 27 120

Bestellen Email: info@surprise.ngo Telefon: 061 564 90 90 Online bestellen surprise.ngo/strassenmagazin/abo

Abonnemente CHF 250.–, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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FOTO: POPPY SUNDEEN

Internationales Verkäufer*innen-Porträt

«Ein Wiedersehen mit dem Leben» «Mit 16, in einem Alter, wenn die meisten Jugendlichen die Highschool besuchen, begann für mich eine 30-jährige Haftstrafe in einem Gefängnis in West Texas. Sie steckten mich mit erwachsenen Männern zusammen, obwohl ich noch ein Kind war. Mein Ruf eilte mir schon damals voraus, ich war ein Gangster während meiner Zeit auf der Strasse und ich blieb einer im Gefängnis. Weil ich im Knast immer wieder Probleme machte, nahmen sie mich in Einzelhaft. Dort war ich 23 Stunden allein, die eine Stunde brachten sie mich in Handschellen in einen Aufenthaltsraum. In Einzelhaft bist du komplett von der Aussenwelt abgeschnitten. Ich hatte während der gesamten Haft bis zu meiner Freilassung 2020 kein Fernsehen, das Internet ging komplett an mir vorbei, ich wusste nicht einmal, wie man ein Handy benutzt. Auch jetzt, drei Jahre nach meiner Entlassung, bin ich immer noch dran, mich zurechtzufinden. Mein Vater verstarb 2020 nur zwei Tage vor meiner Freilassung, meine Mutter bereits drei Jahre zuvor. Das war hart. Zum Glück holte mich meine Schwester am Gefängnistor ab und fuhr mich zu Tante Lucy, bei der ich heute noch lebe. Sie kochte ihre einzigartigen Spaghetti für mich. Das war wie ein Wiedersehen mit dem Leben. Damals war ich auf Bewährung und musste noch 20 Monate lang Fussfesseln tragen, dazu kam noch die Corona-Pandemie. Alles zusammen führte dazu, dass ich in dieser Zeit kaum einen Schritt vor die Türe machte. Seither wurde mir aber von der Gemeinde eine Betreuerin zugewiesen, die mir hilft, ausserhalb der Gefängnismauern allmählich Tritt zu fassen, auch beim Ausfüllen von Formularen, bei den Steuern und, ganz wichtig, bei der Arbeits- und Wohnungssuche. Ich meide weiterhin die Öffentlichkeit. Das hat bestimmt auch damit zu tun, dass ich im Knast so lange allein war. Ein sicherer Ort für mich ist die Kirche. Während meiner Haft, das war vor zehn Jahren, bin ich gläubig geworden, das hat mir damals geholfen und das hilft mir heute noch, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Auf der Strasse habe ich Angst vor der Gewalt. Das mag für manche seltsam klingen, ich weiss. Schliesslich war früher ich derjenige, der mit seinem Auftreten und seinem aggressiven Verhalten anderen auf der Strasse Angst gemacht hat. Ich bereue vieles, doch was nützt das? Ich wurde nicht als bösartiger Mensch geboren, aber früh in ein bösartiges Umfeld hineingeworfen. Wo ich aufgewachsen bin, haben die Leute kaum Perspektiven, sie müssen viel arbeiten für wenig Geld, es gibt überall Drogen, viele haben kein Zuhause und stürzen irgendwann ab. So war es auch bei mir: ein Leben und doch kein Leben. Am meisten Sorgen bereiten mir die Kids, die unter solchen Bedingungen aufwachsen. Werden sie je eine Chance 30

Michael Calhoun, 39, war lange im Gefängnis, er verkauft in Dallas das Strassenmagazin STREETZine und träumt von einem Coiffeurgeschäft.

haben? Kein einziges Kind sollte den Weg gehen müssen, den ich gegangen bin. Vielleicht schreibe ich eines Tages ein Kinderbuch über meine Geschichte – und über den Weg aus dem Chaos. Dass ich STREETZine verkaufen kann, ist mir wichtig, denn das zwingt mich rauszugehen, gibt mir Struktur und verschafft mir Kontakte. Die Beiträge im Heft lese ich immer mit viel Interesse. Im Knast bin ich zu einem Bücherwurm geworden. Zu Beginn der Haft konnte ich kaum lesen und schreiben, da ich schon vor Ende der Grundschule auf der Strasse landete. Während der Haft besorgte ich mir ein Wörterbuch und notierte mir alle Begriffe, die ich in einem Buch oder einer Zeitung nicht lesen oder verstehen konnte. So bekam ich langsam Übung – Zeit genug hatte ich im Gefängnis ja. Ich habe in all den Jahren der Haft nicht nur schreiben und lesen, sondern auch Haare schneiden gelernt und bin, glaube ich, recht gut darin geworden. Vielleicht eröffne ich mal einen Coiffeurladen. Die wichtigste Lektion aber war letztlich eine ganz einfache: Mach immer das Beste aus deinem Leben und frag dich jeden Tag, wer du sein möchtest!»

Aufgezeichnet von POPPY SUNDEEN Mit freundlicher Genehmigung von STREETZINE/ INTERNATIONAL NET WORK OF STREET PAPERS

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JEDEN FRANKEN WERT. Das Strassenmagazin Surprise für CHF 8.– Menschen in prekären Verhältnissen leiden gerade besonders unter steigenden Preisen. Surprise reagiert und erhöht am 8. September erstmals seit 14 Jahren den Heftpreis um zwei Franken. Die Verkäufer*innen erhalten so einen Franken mehr Lohn pro Heft, um ihre gestiegenen Lebenskosten zu decken. Auch Surprise erhält einen Franken mehr, um höhere Produktionspreise und nötige Investitionen zu finanzieren. Haben Sie Fragen?

Lesen Sie mehr auf surprise.ngo/heftpreis oder kontaktieren Sie uns unter info@surprise.ngo | 061 564 90 90 Surprise | Münzgasse 16 | 4051 Basel | www.surprise.ngo


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