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Strassenmagazin Nr. 561 20. Okt. bis 02. Nov. 2023

CHF 8.–

d davon gehen CHF 4.– a an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Klimawandel

Berge voller Seen Weil die Gletscher schmelzen, gibt es hunderte neue Seen. Sie verändern die Berglandschaft. Seite 8

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Bild: Marc Bachmann

SURPRISE WIRKT GEGEN ARMUT UND AUSGRENZUNG

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SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Erlebnis


TITELBILD: FLORIAN WÜSTHOLZ

Editorial

Im Wandel Eine Schweiz ohne Gletscher? Unvorstellbar. Und doch, wir wissen es alle: Sie schmelzen weg. Prognosen deuten darauf hin, dass es schon in wenigen Jahrzehnten in den Alpen keine Gletscher mehr geben wird. Die Folgen: Überschwemmungen in den Tälern, Erdrutsche und Steinschläge, am Ende Wasserknappheit. Ganz besondere Zeugen dieses Wandels sind Bergseen, die infolge der Gletscherschmelze entstehen (auf dem Cover: einer unterhalb des Windegghorns). Es sind viele Hunderte, manche von der Grösse eines Tümpels, andere beachtliche Seen. Der Journalist und Bergläufer Florian Wüstholz ist ihnen bereits vor Jahren begegnet. Nun nimmt er uns auf eine seiner Touren mit – und erzählt, wie das Phänomen der neuen Bergseen ihn gleichermassen fasziniert wie auch besorgt, ab Seite 8.

eine Dating-App. Was für viele angeblich normal ist, ist für andere unvorstellbar, und zwar aus Gründen, an welche die meisten wohl gar nicht denken: Es fehlt am Internetzugang oder an einer E-Mail-Adresse, an Geld und einem Zuhause – alles Faktoren, die unabdingbar sind, um einen virtuellen Flirt in etwas Reales und Verbindliches zu verwandeln. Was Menschen unter prekären Bedingungen von Online-Dating halten, lesen Sie ab Seite 14. Und in eigener Sache: In der letzten Nummer 560 wurde auf Seite 30 zwar das richtige Foto unserer Surprise-Verkäuferin Gabi Disch abgedruckt, jedoch dazu ein falscher Text. Das haben wir in diesem Heft korrigiert, lesen Sie auf Seite 30 das beeindruckende Porträt von Gabi Disch und entschuldigen Sie bitte das Versehen.

Ob auf der Suche nach der ewigen Liebe oder der schnellen Nummer – 1,8 Millionen Schweizer*innen benutzen regelmässig

4 Aufgelesen 5 Na? Gut!

Rechte für 24Stunden-Pflegende 5 Fokus Surprise

Aus dem Herzen von Surprise

8 Klima

Weniger Gletscher, mehr Seen Die Liebe und das Geld 18 «Online-Dating ist

6 Verkäufer*innenkolumne

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24 Demokratie

«Wer schreibt denn überhaupt die Geschichte?»

26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse

Pörtner in Toffen

25 Culturescapes

Die Sahara im Zentrum

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

20 Verein Surprise

10 Jahre engagierte Aufklärung

7 Moumouni antwortet

Was tut mehr weh: Stillstand oder Erneuerung?

Redaktor

14 Dating

diskriminierend» Abschied vom liebsten Menschen

KL AUS PETRUS

30 Surprise-Porträt

«Heute gehe ich meinen Weg»

22 Kino

«Es gibt kein Zurück mehr»

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BILD(1): ALGER LIANG, BILD(2): CHRISTIAN YVES JONES

Aufgelesen News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Bunte Kunst Sie brechen Geschlechterstereotypen auf und mischen in ihren wilden Auftritten moderne Queer-Kultur mit traditioneller asiatischer Theaterkunst: das Künstlerkollektiv «House of Rice» aus Vancouver, bestehend aus acht queeren Asiat*innen, die inzwischen in Vancouver leben und arbeiten. Ebenfalls Thema ihrer Aufführungen ist der Rassismus gegenüber Asiat*innen. Gemäss Shay Dior, Gründerin der Gruppe, ist er in Nordamerika noch immer weit verbreitet und mündet nicht selten in Gewalt.

MEGAPHONE, VANCOUVER

Unzumutbare Wohnungen

Europas Vorreiter

Mehr als 19 Millionen Menschen leben in Europa in einer unzureichenden Wohnsituation, so der europäische Dachverband FEANTSA (European Federation of National Organisations Working with the Homeless). Die Wohnungen seien zu klein oder überbelegt, schlecht gedämmt und feucht, sie würden schimmeln und kein Bad haben. In der Folge erkranken die Bewohner*innen sehr viel häufiger. FEANTSA fordert Sanierungen, Mietpreisregulierungen sowie soziale Schutzmassnahmen für Geringverdienende.

72 Femizide vermeldete Spanien 2004, im Jahr 2021 waren es 48. Das Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt, das «Nur Ja heisst Ja»Gesetz, die Strafbarmachung von Catcalling, aber auch die Beurlaubungsmöglichkeit bei starken Regelschmerzen machen Spanien zum feministischen Vorreiter Europas.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

MEGAPHON, GRAZ

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FOTO: NICOLAS FUX

Na? Gut!

Rechte für 24-StundenPflegende Pflegepersonen, die in Privathaushalten arbeiten, sind arbeitsrechtlich schlecht abgesichert. Schätzungen zufolge arbeiten in der Schweiz bis zu 30 000 Menschen als sogenannte 24-Stunden-Betreuer*innen. Viele von ihnen betreuen unter intransparenten und oft menschlich sowie körperlich herausfordernden Bedingungen Pflegebedürftige, in der Regel alte Menschen. Die überwiegende Mehrheit dieser Pflegenden kommt aus dem Ausland. Erst im Februar 2022 wurden diese Pflegemigrant*innen per Bundesgerichtsentscheid überhaupt dem Arbeitsrecht unterstellt, allerdings nur, wenn die anstellende Stelle nicht der Privathaushalt selbst ist, sondern beispielsweise eine Personalvermittlung. Das damit geschaffene Schlupfloch bleibt gross: Auch über ausländische Agenturen vermittelte Personen fallen weiterhin nicht unter die Schweizer Arbeitsgesetzgebung. Darauf berufen können sich also noch längst nicht alle. Im September stimmte der Nationalrat nun einem Postulat der SPAbgeordneten Samira Marti zu, das den Bundesrat verpflichtet, Vorschläge für eine Unterstellung aller 24-Stunden-Pflegepersonen unter das Arbeitsgesetz auszuarbeiten. Damit ist der Kampf um Gleichbehandlung von Live-in-Pflegenden noch nicht gewonnen, aber ein wichtiger Schritt getan. WIN

An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen. Quellen: samira-marti.ch/alles-wird-teurer-dochdie-buergerliche-mehrheit-schautweg, woz.ch/ taeglich/2023/09/21/24-stundenbetreuung-ist-ein-job

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Trägt stolz das von Surprise-Verkäufer Hans Rhyner gestaltete Jubiläums-T-Shirt: Jannice Vierkötter, Co-Geschäftsleiterin.

Fokus Surprise

Aus dem Herzen von Surprise Wie Sie vielleicht wissen, feiert Surprise in diesem Jahr das 25-Jahr-Jubiläum (mehr dazu auf surprise.ngo/jubiläum). Zu unseren Jubiläumsaktivitäten gehört auch ein Produkt, das unserer Meinung nach viele Werte von Surprise sehr schön widerspiegelt und das wir Ihnen hier vorstellen möchten: unsere Jubiläums-T-Shirts. Entstanden sind sie in unserer Schreibund Medienwerkstatt. In diesem kleinen Projekt fördern wir interessierte Verkäufer*innen, indem wir gemeinsam mit ihnen Texte und andere kreative Ausdrucksformen erarbeiten – dort entstehen zum Bespiel auch unsere Verkäufer*innen-Kolumnen. Für uns war klar, dass dies ein idealer Rahmen ist, um uns anlässlich des Jubiläums mit unseren Verkäufer*innen zusammenzusetzen und zu fragen: Was beschäftigt sie eigentlich? Was ist ihnen wichtig im Leben? Welche Erfahrungen wollen sie weitergeben? Die Vielfalt der Charaktere, Perspektiven und Ideen abzubilden war kein einfacher Prozess: Immer wieder mussten wir uns auf neue Situationen einstellen, kleine Planänderungen vornehmen, zuhören, be-

sprechen und beschliessen. Aber jedes Mal auch mit dem Wissen, dass es sich lohnt, die Verkäufer*innen darin zu unterstützen, ihre ganz eigene Botschaft zu formulieren. So sind nach und nach 13 Aussagen entstanden, welche die ganz individuellen Erlebnisse, Lebenssituationen und Weltsichten der Autor*innen widerspiegeln. Einerseits in von den Verkäufer*innen selbst erarbeiteten Aphorismen auf Deutsch und Somali, andererseits in von ihnen ausgesuchten Sprichwörtern auf Amharisch und Tigrinya – wobei bei den fremdsprachigen Sätzen noch die Herausforderung dazukam, diese sinnesgetreu zu übersetzen, damit sie auch von der überwiegend deutschsprachigen Bevölkerung der Schweiz gut verstanden werden. Umso glücklicher sind wir gemeinsam mit den Autor*innen über die Ergebnisse, die wir stolz auf Surprise-rote T-Shirts haben drucken lassen. Und dies eben auch, weil sie für vieles stehen, was Surprise ausmacht: Dass wir mit einfachen Mitteln eine spürbare Wirkung erzielen, dass wir gesellschaftliche Vielfalt unterstützen und natürlich, dass wir armutsbetroffene und sozial benachteiligte Menschen darin unterstützen, gehört zu werden. JANNICE VIERKÖT TER UND NICOLE AMACHER,

Co-Geschäftsleiterinnen Surprise Verkauf der Jubiläums-T-Shirts auf surprise.ngo/jubi-shirt

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Verkäufer*innenkolumne

Abschied vom liebsten Menschen

Als wir danach noch im Dorf ins Restaurant gingen, hat sich mein Bruder bei mir bedankt, dass ich ihm ins Gewissen geredet hatte und er noch dazugekommen ist. Zwei Tage später kamen auch die Cousinen, die ich kontaktiert hatte und die Enkel, das hat sie gefreut, und so konnte sie loslassen. Meine Mutter war Gotte und Tante von vielen, die sie liebhatten und sie in Erinnerung behalten. In den Herzen meiner Geschwister, der Enkel und Urenkel sowie aller, die Schwändi-Anni gekannt haben, wird sie weiterleben. HANS RHYNER, 68, verkauft Surprise in Zug und Schaffhausen und macht Soziale Stadtrundgänge in Zürich. Ein Porträt über seine Mutter erschien in Ausgabe 458/19, geschrieben von Amir Ali, es war ein Text über ein Frauenleben in Armut.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

ILLUSTRATION: EVELIINA MARTY

Meine Mutter war der wertvollste Mensch in meinem bisherigen Leben. Am Samstag, dem 29. Juli um 3 Uhr morgens, durfte meine liebe Mutter für immer einschlafen. Am Montag, dem 10. Juli, besuchte ich sie mit meiner Schwester Romi im Altersund Pflegheim in Elm. An diesem Tag trafen wir sie im Bett an, und das mitten am Tag. Das haben weder meine Schwester noch ich jemals erlebt, dass unsere Mutter tagsüber im Bett lag. Romi und ich spürten, dass sie uns bald für immer verlassen würde. Romi und meine andere Schwester, Barbara, haben von da an ein paar Nächte bei ihr übernachtet. Ich bin, nachdem sie eingeschlafen war, jeweils ins Elternhaus zurück und am Morgen wieder gekommen. Mein jüngerer Bruder wollte eigentlich nicht herkommen, er sagte zu mir, er halte es nicht aus, die Mutter so zu sehen. Ich habe auf ihn eingeredet, dass er kommen solle, denn sie wollte ihn noch sehen, das spürte ich. Meine Schwester meinte noch, die Mutter wartet auf etwas, und ich war sicher, dass sie auf meinen Bruder wartete.

Am Mittwoch, dem 19. Juli, kam er dann tatsächlich, und so standen alle ihre Kinder, die noch am Leben sind, an ihrem Bett. Das hat ihr gutgetan. Auch wenn sie kaum mehr sprechen konnte, hat man das gemerkt.

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ILLUSTRATION: CHRISTINA BAERISWYL

kümmern, das fanden sie gut. Damals waren wir allerdings Teenies und wussten gar nicht so recht, was das heisst. Es war wie im Bilderbuch. Oder wie in französischen Integrations-/Diversitätsschnulzen, wir massierten zwar keine Ohren, aber es entstand ein bisschen ein Vibe wie im Film «Les Intouchables». Einer in der Gruppe, ein Deutsch-Türke, der sich frisch eingestanden hatte, dass er schwul sei, besprach seine Gedankenwelt und Verliebtheiten und war immer ganz glücklich, wenn er sich auslabern konnte oder gar einen guten Rat bekam, was ja auch nochmal mehr wiegt mit diesem Altersweisheitsbonus. Ich hatte eine Lieblingsperson, die nicht viel sprach. Ich schob sie rennend durch den Altersheimgarten, das fand sie lustig. Wenn doch mal jemand von den Angehörigen auf Besuch kam, war erst kurzes Misstrauen, dann Gerührtheit da. Bis auf einen älteren Herrn knackten wir alle.

Moumouni antwortet

Was tut mehr weh: Stillstand oder Erneuerung? Als Jugendliche haben wir ein Projekt gegründet. Wir hatten einen cheesy Namen, so was wie «ausgestreckte Hand», und wir fühlten uns wichtig und gut. Unsere Haupttätigkeit war, in einem Altenheim regelmässig, einmal die Woche, alte Menschen zu besuchen. In der Kerngruppe waren wir zu viert, einige weitere kamen sporadisch mit. Wir hatten alle einen Migrationsvordergrund und wollten auch Vorurteile abbauen. Wir suchten uns einfach irgendein Heim und fragten dort für unsere wöchentliche Besuchsintervention an. Die Klient*innen im Heim waren fast ausschliesslich weisse Deutsche. Viele wollten nicht mit uns reden, dabei waren wir doch so Surprise 561/23

motiviert. Bei einigen war es klar Rassismus, sie hatten keine Lust, mit «Ausländer*innen» zu reden. Wir wurden häufig angeschnauzt und beschimpft. Viele waren dann doch irgendwann neugierig und vor allem war ihnen wahrscheinlich so langweilig, dass sie sich doch dazu entschieden, sich von uns bespassen zu lassen. Wir bauten Beziehungen zu diesen Leuten auf, erzählten uns viel, es war oft lustig. Viele Geschichten waren traurig, und einige der Bewohner*innen waren auch nicht mehr gegenwärtig genug, um ein Gespräch zu führen. Es gab einige, die nie besucht wurden. Wir erzählten ihnen, dass man das in unseren Kulturen so macht, sich um die Alten zu

Eines Tages bekamen wir von der Stadt sogar einen Preis, das ehrte uns sehr. Ich wusste nicht, was ich anziehen sollte, und kaufte mir einen karierten Zweiteiler. Bei der Ehrung waren auch viele ältere Menschen anwesend, ich teilte mit ungefähr sechs von ihnen meine Kleiderwahl. Es muss unglaublich witzig ausgesehen haben, wie wir in unserer steifen Garderobe den über ein halbes Jahrhundert Älteren glichen. Aber irgendwie spiegelte das wohl auch unsere Message: Wir sind alle gleich – wenn wir uns in einen karierten Seniorenanzug zwängen. Heute, über zehn Jahre später, sind die meisten der Alten wohl verstorben. Mit ihnen starb auch ihre spät entdeckte Offenheit. Inzwischen ist im Altenheim wahrscheinlich eine neue Garde alter Menschen, die davon überzeugt werden wollen, wozu sie sich in mobileren Zeiten nicht durchringen konnten.

FATIMA MOUMOUNI

glaubt, dass es wichtig ist, gerade zur Wahlperiode mit der Familie über Rassismus und Vorurteile zu sprechen.

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Steghorngletscher, 2800 m ü. M.

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Zeugen eines gefährlichen Wandels Klima Hoch in den Bergen entstehen durch die Klimaerhitzung neue Landschaften. Mitten-

drin: kleine Gletscherseen. Der Bergläufer und Journalist Florian Wüstholz hat sich auf die Suche gemacht und einige von ihnen gefunden – und andere wieder verloren. TEXT UND FOTOS FLORIAN WÜSTHOLZ

Die Sommer werden heisser. Trockenheit hat uns im Griff. Und die Gletscher. Ja, die Gletscher schmelzen weiter. Jedes Jahr ziehen sie sich weiter zurück. In grössere Höhe, wo ihnen Sonne und Hitze weniger auf den Leib rücken. Wo sie im Winter meterdick eingeschneit werden. Mit Schnee, der sich langsam setzt, verdichtet und zu Eis wird. Erst weiss, dann gelblich, dann blau. Eis, das langsam ins Tal fliesst. Einen, zehn, manchmal zweihundert Meter pro Jahr. Eis, das irgendwann schmilzt. Wo einst die Gletscher waren, hinterlassen sie jetzt eine Mondlandschaft. Geröll, Kiesel, Sand. Brocken so gross wie Einfamilienhäuser liegen durcheinandergewürfelt in der Gegend. Ein Chaos – brüchig, wild und unüberschaubar. Dazwischen mäandernde Flüsse, erste Gräser und Blumen, ein paar Büsche und Sträucher. Und dann: Gletscherseen. Gespiesen von der ständigen Schmelze der Gletscher. Kleine Tümpel, die blau, braun, grün oder türkis in der Sonne schimmern. Manchmal sogar grosse, milchige Seen, in denen noch Eisschollen schwimmen. Der Gletscher in Griffweite, sozusagen. Doch die Seen liegen nicht bloss da. Sie erzählen eine Geschichte. Die Geschichte der Veränderung. Von einer Landschaft, die von der Klimaerhitzung im Zeitraffer umgepflügt wird. Wo Neues schneller entsteht, als Altes be-

griffen werden kann. Manchmal denke ich: Je schneller die Gletscher schmelzen, desto mehr haben diese Seen zu erzählen. Die Moräne ist steil. Und mit jedem Schritt wird sie steiler. Hinter mir höre ich die Kander im wilden Gasterntal rauschen. Das mächtige Balmhorn – schwarzer Fels und weisser Firn – verdeckt die Sonne. Der kompakte Schotter der Moräne zeigt mir, bis wohin der Balmhorngletscher vor 170 Jahren vorgerückt war. Ihre Form deutet an, wie viel Raum das vermeintlich ewige Eis im Jahr 1850 am Ende der kleinen Eiszeit einnahm. In einer Zeit, als man in der Schweiz betete, das Eis möge nicht weiterwachsen. Die Gebete wurden erhört: Heute ist dort nur noch Leere. Immer schneller immer weniger Das Eis ist verschwunden, die Gletscherschmelze schreitet stetig voran. 2003: 2800 Millionen Tonnen Eis weniger. 2011: 2000 Millionen Tonnen. 2017: 1900 Millionen Tonnen. 2018: 1700 Millionen Tonnen. 2022: 3200 Millionen Tonnen. 2023: 2200 Millionen Tonnen. In 75 Jahren werden nur noch 300 der heute rund 1400 Gletscher übrig sein – klein und verkümmert. 9


Aber ich bin nicht hier, um zu trauern. Ich bin auf der Suche. Irgendwo in dieser grauen Einöde verstecken sich zwei Seen, die ich finden will. Ich schaue mir die Karte nochmals an und beschliesse, ein paar Meter weiter nach oben zu steigen. Dann sehe ich sie. Dunkles Türkis, daneben weisse Schneefelder. Der Gletscher schmiegt sich 200 Meter weiter oben fast schwerelos an die glatte Felswand. Die Wand ist glattgeschliffen vom Eis – rund und weich liegt sie da. Wie ein gigantisches Wesen, das im Berg schläft und mir seinen Rücken zeigt. Die beiden Seen sind dagegen klein und beinahe unbedeutend. Zwei Tümpel – 50 Meter lang, 30 Meter breit –, die bei Hitze auszutrocknen drohen. Wäre da nicht der Gletscher, der sie mit frischem Wasser nährt. Die beiden Seen faszinieren mich. Sie sind eine Neuheit der Erdgeschichte. Ein Blick auf alte Karten zeigt: Vor fünf Jahren gab es erst einen von beiden. Und vor zwanzig Jahren gar keinen. Wie schnell sich die Landschaft wandeln kann. Bergseen verzaubern mich seit meiner Kindheit. Ich erinnere mich an eine Wanderung im Graubünden. Ich war vielleicht sieben Jahre alt und es war höllisch heiss – für damalige Verhältnisse. In der prallen Sonne wanderten wir zu einer Hütte, wo man uns versicherte: Die Erfrischung ist ganz nah. Man gab uns ein Handtuch, so gross wie ein Blatt Papier. Fünf Minuten später tauchte ich meinen Kopf ins Wasser. Und war glücklich. Ein Vierteljahrhundert später tauchten die Seen wieder in meinem Leben auf. In Form eines Forschungsprojekts an der Eawag. Die Wasserforschungsanstalt in Dübendorf hatte anhand von historischem Kartenmaterial und Luftaufnahmen das rasante Abschmelzen der Gletscher erforscht und nachgezählt, wie viele Seen sich aufgrund dessen in den letzten Jahren neu gebildet hatten. Es waren hunderte, die seit der kleinen Eiszeit plötzlich in der Landschaft lagen. Allein in einem Jahrzehnt entstanden 180 Seen, wo früher noch Eis war. 180 Seen. Das musste ich mir genauer anschauen. Wo sonst ist die schnelle Veränderung unserer Alpen augenscheinlicher? Wo sonst zeigt sich die Dynamik einer Welt im Wandel deutlicher? Ich besorgte mir den Datensatz und zeichnete die Seen auf der Karte ein. Dann machte ich mich auf den Weg. Ende August 2022. Die Fahrt ins Bedrettotal dauert lange. Und das Wetter ist garstig. Im Nieselregen laufe ich zum Gerenpass auf knapp 2700 Metern über Meer. Der Weg führt an der Pianseccohütte vorbei, von dort geht es über eine instabile Geröllhalde, wo ein Jahr später grosse Brocken herunterstürzen werden. Einen offiziellen Wanderweg gibt es hier nicht. Dunkle Wolken hängen zwischen den Spitzen des Poncione di Cassina Baggio, und zwischendurch frage ich mich: Was machst du hier? Mein Ziel ist der Chüebodengletscher, der auf der Nordseite des Passes vor sich hin schmilzt. Mit seinem Gewicht hat er eine kleine Mulde ausgegraben. Jetzt, da er jährlich kleiner wird, füllt sich die Mulde mit Wasser. Um die Jahrtausendwende entstand so ein proglazialer See – jene Sorte Gletscherseen, die sich direkt am Ende des Gletschers befinden. Und der See wurde grösser und grösser. 10

Nun ist er ein weiterer Punkt auf meiner Karte. Ein weiterer See, den ich dokumentieren will. Doch für einmal ist es kein Tümpel in einer öden Landschaft, im Gegenteil: Der See wird zum viralen Wanderziel. Wo früher nichts als Eis war, heben sich heute an schönen Tagen die Eisschollen vom Türkis des Wassers ab. Nur, davon sehe ich nichts. Alles ist weiss. Ein paar Wanderinnen kommen mir kurz vor dem Pass entgegen. Der Wind pfeift, der Gletscher verschwimmt in der Nebelsuppe. Nur ein paar Eisschollen schwimmen im See. So bahne ich mir einen Weg ans Ufer. Mit jedem Schritt löse ich einen kleinen Steinschlag unter mir aus. Auch das ist ein Zeichen des Wandels. Dass die Berge instabil werden, wenn sie auftauen. Ein Schwumm im Gletschersee ist für mich auch bei garstigem Wetter Pflicht. Was ich allerdings sofort bereue. Neben den Eisschollen halte ich es keine fünf Sekunden aus, bevor ich an Land hetze und alle verfügbaren Schichten wieder anziehe. Es nützt nichts. Der Wind ist unerbittlich heute. In der Einsamkeit des Gerentals frage ich mich, wie die Gletscherwelt wohl in zehn oder zwanzig oder fünfzig Jahren aussehen wird. Werden die von mir dokumentierten Seen weiter anwachsen? Oder werden sie wieder verschwinden? Wer könnte das besser wissen als Daniel Odermatt, der die Studie der Eawag geleitet hat. Ich treffe ihn in Dübendorf. Vor seinem Büro hängt eine alte Luftaufnahme des Vierwaldstättersees. Ein klassischer Gletschersee, der vor rund 16 000 Jahren in der letzten grossen Eiszeit entstanden ist. Jahrtausendelang hatten mächtige Gletscher das kreuzförmige Seebecken ausgegraben. Heute sind die Ausgrabungen der Gletscher kleiner. Aber nicht weniger vielfältig. «Wir haben neue Gletscherseen analysiert, die in der geologisch relativ kurzen Zeit seit 1850 freigelegt wurden», sagt Odermatt. So fand man 1200 Seen. Drei davon werden heute näher erforscht: der See am Rhonegletscher, der Steinsee am Sustenpass und der Lej da Vadret am Ende des Rosegtals. Man erhofft sich davon ein besseres Verständnis der Entwicklung dieser neuen Ökosysteme. «Wir messen unter anderem den Wasserpegel, die Seeoberfläche und die Temperatur», sagt Odermatt. Auch wie viele Monate im Jahr sie vom Eis bedeckt sind, sei interessant. Und die Farben. Schützen oder nutzen? Die Farben: ein Schauspiel der Natur, das aber auch Aufschluss über das Leben der Seen gibt. Ich zeige Odermatt ein Bild zweier Seen im Vorfeld des Unteraargletschers. Sie liegen nur wenige Meter voneinander entfernt. Beide sind vielleicht 25 Jahre alt – Zwillinge fast und doch so unterschiedlich. Der eine ist milchig grün, der andere klar und blau. Wie passiert so etwas? Odermatt zeigt auf das Geröllfeld neben den Seen. «Von dort werden bei Niederschlag vermutlich Partikel in den einen See gespült», sagt er. «Dann fliesst das Wasser durch den bewachsenen Damm in den anderen See und wird dabei gefiltert.» Es ist eine Hypothese, die man genauer überprüfen müsste. In meinen Ohren klingt sie aber plausibel. Surprise 561/23


Mal sind es kleine Tümpel, braun, blau oder türkis schimmernd, dann wieder sind es grosse, milchige Seen. Was ihnen gemeinsam ist: Es gibt sie nur, weil die Gletscher dahinschmelzen.

Triftgletscher, 2900 m ü. M.

Hohlaubgletscher, 2930 m ü. M. Breithorngletscher, 2300 m ü. M.

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Gornergletscher, 3259 m ü. M.

Auf seinen Touren wird für Autor Florian Wüstholz (unten) die rasante Veränderung unserer Alpen augenfällig. Ein Zurück werde es nicht mehr geben.

Turtmanngletscher, 3500 m ü. M.

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Es ist nicht das Einzige, das Odermatt aus der Farbe und der Trübung der Seen herauslesen kann. Anhand von Satellitenbildern schätzt er, wie alt ein See werden könnte, bevor er mit Erosionsmaterial aufgeschüttet wird. «In Gletscherseen treiben zehn bis hundert Mal so viele Partikel wie in Seen im Mittelland», sagt er. Sand, Silt und Tonpartikel werden kontinuierlich vom Gletscher herantransportiert. Je trüber das Wasser und je kleiner der See, desto schneller füllt er sich auf – und verschwindet wieder. «Wir konnten beobachten, dass jeder zehnte See in den letzten 170 Jahren wieder verschwunden ist.» Manche Seen werden ein paar Jahrzehnte alt, andere können Jahrhunderte und Jahrtausende überdauern. Ich frage Odermatt, welche Geschichten ihm die Seen erzählen. Eine Geschichte handle von der vermeintlichen Unberührtheit dieser jungen Landschaften, sagt er: «Ich war überrascht, dass in manchen Seen bereits Fische schwammen. Diese haben den See kaum natürlich besiedelt.» Eine andere Geschichte handle von neuen Chancen. «Wir sprechen viel davon, dass die Gletscher verschwinden. Was dabei Neues entsteht, ist kaum Thema. Man diskutiert höchstens, ob man in einem See Strom gewinnen kann oder ob Seen eine Gefahr darstellen. Für mich ist aber zentral, dass sich durch den Klimawandel auch neue Ökosysteme bilden, wenn wir ihnen die Gelegenheit dazu geben.» Schützen oder nutzen? Es ist diese Frage, über welche in der Schweiz in Bezug auf die Natur intensiv debattiert wird. Die Fronten sind verhärtet. «Was schützenswert ist, hängt natürlich von Interessen ab», sagt Odermatt und erklärt ein Dilemma mit den Gletscherseen. «Sie entstehen oft an lebensfeindlichen Orten, die jahrtausendelang vom Eis bedeckt waren.» Am Anfang gibt es dort im Wesentlichen nichts – und schon gar keine schützenswerten Arten. Doch die Natur sucht sich schnell einen Weg. Pionierpflanzen siedeln sich an, Amphibien ziehen in die Seen ein. Und dann wächst plötzlich eine arktische Pflanze wie die zweifarbige Segge, die es sonst eigentlich nirgends mehr gibt. 700 neue Seen Gemäss Daniel Odermatt befinden wir uns derzeit sozusagen in der Blütezeit der Entstehung der Gletscherseen in den Alpen. Weil die Gletscher immer weniger Fläche einbüssen können und sich in immer steilere Lagen zurückziehen, werden sich in Zukunft weniger neue Seen bilden. Glaziolog*innen der ETH Zürich wollten es in einer Studie von 2022 genauer wissen und prognostizierten die Grösse und Lage zukünftiger Gletscherseen – und zwar in einer Zeit, da die Gletscher schon fast komplett geschmolzen sein werden. Sie kamen auf fast 700 neue Seen, die in den nächsten 70 Jahren entstehen werden. Manche davon wären klein – wie die meisten, die ich selber auf meinen Touren dokumentiere. Andere wären gross und tief wie zum Beispiel am Konkordiaplatz, wo sich der Grosse Aletschfirn, der Jungfraufirn und das Ewigschneefeld zum Grossen Aletschgletscher vereinen. Heute ist es noch eine Eisfäche mit mehreren Kilometern Durchmesser. Surprise 561/23

Auch am Unteraargletscher wird mit dem unaufhaltsamen Rückzug ein langer See entstehen. Bereits heute zeigen sich an der Gletscherzunge die ersten Anzeichen. Im September 2023 will ich mir die Sache genauer anschauen. Ich laufe vom Gletschertor zum Grimselpass. Weg vom schuttbedeckten Gletscher. Ich fühle mich wie in einer Zeitreise. Mit jedem Schritt wird die Vegetation anders. Mal moosige Teppiche, mal sandige Flächen, Pionierpflanzen wie das Fleischers Windröschen oder das Alpenleinkraut schauen zwischen den Steinen hervor. Dann wieder finde ich eine Mulde, hinter der sich ein kleiner See versteckt. Auf meiner Karte sind neun Seen eingezeichnet. Ich finde Dutzende weitere. In ihnen schwimmen Kaulquappen und ab und zu ein Frosch. Heckenbraunellen, Rotkehlchen, Bergpieper und Steinschmätzer schwirren durchs Gebüsch, das seit ein paar Jahren hier wächst. Murmeltiere haben Gänge in den Boden gegraben. Sie alle zeigen die Veränderung. Von einer Landschaft, die sich täglich mit einer immensen Geschwindigkeit wandelt. 2016 bedeckten die Gletscherseen in der Schweiz eine Fläche von rund 850 Fussballfeldern. Nun kommen pro Jahr weitere 20 Fussballfelder dazu. Die Gondel trägt mich im Nu von Saas-Fee zur Station Felskinn. Von dort laufe ich über den Chessjengletscher zum Egginerjoch und weiter zur Britanniahütte. Gemäss meinen Daten wimmelt es hier nur so von neuen Seen. Das ist wenig erstaunlich, hängen die Gletscher doch hier an jeder Flanke. Und tatsächlich: Kaum bin ich auf dem Joch angelangt, blinzelt es vor mir in der Sonne. Ein Mosaik aus Fels, Schnee und Wasser. Als ich ein Jahr später am gleichen Ort bin, treffe ich eine neue Landschaft an. Sie erzählt mir eine neue Geschichte. Der Chessjengletscher ist unpassierbar, Geröll prasselt unentwegt vom Hinter Allalin aufs Eis. Schon längst bietet die Eisschicht dem Berg keinen Halt mehr. Und so löst er sich langsam auf. Die Passage, die ich vor einem Jahr in Turnschuhen gemacht habe, ist heute lebensgefährlich. Auf meinen Touren passiert es immer wieder, dass ein auf meiner Karte eingezeichneter See nirgends mehr sichtbar ist. Dann frage ich mich: Versteckt er sich unter den Schneefeldern? Oder ist er im heissen Sommer ausgetrocknet? Wurde er vom Geröll aufgefüllt und ist nun für immer verschwunden? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur: Die Veränderung lässt sich nicht aufhalten.

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Marcel, 49, hat sein Glück beim Online-Dating gesucht. Meistens auf kostenlosen Seiten. «Auf diesen Seiten sind viele merkwürdige Menschen unterwegs. Da schreiben dir Frauen: ‹Oh, ich finde dich so toll. Aber um mit dir weiter chatten zu können, brauche ich 50 Euro oder eine iTunes-Karte.› Alles Verarsche», sagt Marcel. «Ich bin ehrlich. Wenn jemand mit mir zu tun haben möchte, soll er auch wissen, dass ich ein schwieriges Leben hatte.»

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Dating Vielen Singles ist finanzielle Stabilität der anderen Person wichtig. Wie findet man also die Liebe, wenn man Sozialhilfe bezieht oder keine Wohnung hat?

Die Liebe und das Geld Dating-Apps funktionieren meist kostenlos und sind offen für alle. Spielt Geld deshalb keine Rolle für das Online-Dating? Ganz so einfach ist es nicht. TEXT ANNA-ELISA JAKOB

FOTO MAURICIO BUSTAMANTE

In den Fünfzigerjahren, als es noch kein Internet, aber durchaus viele datinginteressierte Menschen gab, etablierte sich in den USA eine erste Partner*innenvermittlung mit Lochkarten: Es gab blaue Kärtchen für Männer, rosa Kärtchen für Frauen. Die Kund*innen dieses Lochkartendatings waren in der Regel weiss, protestantisch und verdienten überdurchschnittlich viel Geld. Der Historiker Michael Homberg beschreibt in seinem Buch «Computerliebe», wie die Partnervermittlung damals ablief: dass Männer eine Liste mit Namen und Telefonnummern möglicher Partnerinnen zugewiesen bekamen, Frauen jedoch nur benachrichtigt wurden, dass sie «in nächster Zeit, werktags zwischen 19 und 21 Uhr, die Anrufe möglicher Partner zu erwarten hätten». Die Agenturen rieten, der Mann solle den ersten Schritt machen – es allerdings der Frau überlassen, Gefühle anzusprechen. Es war ein exklusiver Dating-Markt für heterosexuelle weisse Gutverdiener*innen. In den Augen der Matchmaker von damals dürfte heute grosses Chaos herrschen, denn ihr Markt hat sich weit geöffnet: Auf Dating-Apps wie Tinder oder Bumble lädt man nur ein paar Fotos hoch, schreibt vielleicht noch ein paar Sätze über sich, sein Leben, seine Hobbys, und landet in einem Pool voller Menschen, die alle nach Liebe, nach Nähe oder allein nach Sex suchen. Auch die Regeln des Datings haben sich verändert: Bestimmte Anbieter, zum Beispiel die weit verbreitete App Bumble, stellen sich ganz bewusst gegen die Dating-Regeln aus den Fünfzigern. Hier können nur Frauen den potenziellen Partner oder die potenzielle Partnerin anschreiben, Bumble bewirbt das als «ersten Schritt für einen guten Zweck». Jedes Mal, wenn eine Frau jemanden anschreibt, spendet Bumble für Menschenrechte und Lohngleichheit. Andere Apps, zum Beispiel Tinder oder OkCupid, werben damit, dass ihre Dating-Apps auch die Beziehungen unserer Zeit vielfältiger werden lassen, dass sie Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammenbringen. Was früher nur reichen US-Amerikaner*innen möglich war, ist nun allen Menschen mit einem kostenlosen App-Download zugänglich – oder doch nicht? Machen Dating-Apps unsere Gesellschaft vielfältiger und gerechter? Spielt Geld wirklich keine Rolle mehr? Sagen wir: Es ist kompliziert. Surprise 561/23

Die wohl bekannteste Dating-App Tinder antwortet auf Nachfrage, dass sie keine Informationen über die Einkommensverteilung ihrer Nutzer*innen hat. Bei Anmeldung fragt Tinder nur wenig ab: das Geschlecht, das Alter, den Standort. Der Algorithmus funktioniere so, dass vor allem diejenigen Profile häufiger in der App angezeigt werden, die Tinder häufig nutzten. Und diejenigen, die dafür zahlen: Tinder Plus kostet zwischen 5 und 15 Euro pro Monat, die teuerste Version Tinder Platin bis zu 30 Euro. Damit können Nutzer*innen beispielsweise endlos swipen (also per Wischbewegung nach rechts oder links Profile als unpassend oder passend bewerten) und auch Nutzer*innen anschreiben, bevor es zu einem Match gekommen ist. Das verschafft natürlich Vorteile, doch Tinder funktioniert auch ohne dieses Plus-Modell. Rund 85 Prozent nutzen die App kostenlos. Tinder gehört zu dem grossen Tech-Unternehmen Match Group, wie auch die Dating-Apps OkCupid und Hinge. Auch diese Apps sind kostenlos; wer zahlt, erhält – ähnlich wie bei Tinder – bestimmte Vorteile. Bei den meisten braucht es nur wenige Informationen für ein Profil. Bumble, Hinge und OkCupid antworten nicht auf die Frage, welche Rolle die finanzielle Situation ihrer Nutzer*innen auf das Datingverhalten und den Algorithmus hat. Wer sich bei den Apps anmeldet, wird aber auch hier nicht nach dem eigenen Einkommen gefragt. Job oder Ausbildung kann man meist angeben, muss es aber nicht. Egal, ob wahr oder eine Illusion Es ist allerdings so, dass beispielsweise für den Tinder-Algorithmus nicht die Nutzungsdauer allein darüber entscheidet, welchen Menschen das eigene Profil angezeigt wird. Der Algorithmus merkt sich die Fotos, die Nutzer*innen gefallen, und schlägt ihnen ähnliche Profile vor. Swipt man nur ein paar Minuten durch die App, wird schnell klar, dass diese Bilder nicht nur die äusserliche Erscheinung widerspiegeln. Manche zeigen sich auf ihrem Profil beim Skifahren oder im Urlaub am Meer, andere mit dem Champagnerglas auf der Yacht. Niemand weiss, wie viel Geld diese Menschen wirklich haben, die App gibt aber in jedem Fall die Möglichkeit, den finanziellen Status zu präsentieren, egal, ob er wahr ist oder eine Illusion. So kann Geld ganz bewusst in die Mitte des Datings gestellt werden. 15


Die klassischen Partnervermittlungen bewerten Geld jedenfalls als entscheidenden Faktor für das Dating, sowohl Parship als auch Elitepartner fragen das Einkommen ihrer Nutzer*innen ab. Auch hier haben wir nachgefragt: Welche Rolle spielt das für den Algorithmus, werden auch Paare mit unterschiedlichem finanziellen Hintergrund zusammengeführt? «In der psychologischen Forschung ist vielfach belegt worden, dass Ähnlichkeiten hinsichtlich Bildung, Lebenseinstellungen, Werten, Herkunft und Interessen für eine stabile Partnerschaft vorteilhaft sind», sagt Lisa Fischbach, Forschungsleiterin bei Elitepartner. Vielen Singles sei eine stabile finanzielle Situation des Partners oder der Partnerin wichtig, so Fischbach, dies sei seit der Pandemie noch deutlicher geworden. Jede vierte Singlefrau und rund drei von zehn Singlemännern gaben in der Elitepartner-Studie an, dass durch Krisen wie Corona, Krieg und Inflation die finanzielle und berufliche Situation noch wichtiger geworden sei. Ähnliches hat auch Parship in einer Befragung herausgefunden: 40 Prozent gaben an, dass ihnen finanzielle Stabilität in einer Beziehung wichtig ist. Nur 4 Prozent fanden Karriere oder Erfolg entscheidend – letztlich zählt also vor allem das Geld. Allerdings gilt das mehr für ältere Menschen, die den Finanzen eine deutlich höhere Bedeutung zumessen als jüngere. Die Sorge vor dem Machtgefälle Sowohl Parship als auch Elitepartner betonen, dass sie allen Nutzer*innen empfehlen, die eigenen Suchkriterien nicht allzu eng einzustellen. Online-Dating sei immerhin eine «gute Möglichkeit, ausserhalb des eigenen Umfelds eine glückliche Beziehung zu finden», sagt eine Sprecherin von Parship. Inwiefern Armut das Dating tatsächlich beeinflusst, fragte 2021 die Online-Partnervermittlung Gleichklang ihre Nutzer*innen. Von 1044 Befragten zeigten sich nur 27 Prozent der weiblichen Singles bereit, eine Beziehung mit einem mittellosen Partner oder einer Partnerin einzugehen; unter den Männern waren es hingegen 68 Prozent. Je besser die Befragten selbst verdienten, desto weniger waren sie bereit für eine Beziehung mit einer armen Person. Gleichklang fragte auch nach den Gründen der Ablehnung: Die Befragten wollen keine Versorgerolle übernehmen und hatten Angst, dass nur wenig gemeinsam unternommen werden kann. Sie sorgten sich vor Machtgefällen, welche die Beziehung erschweren könnten. Der Autor der Studie und Psychologe Guido F. Gebauer begründet diese Ergebnisse auch damit, dass Menschen häufig nach ähnlichen Partner*innen suchten. Er rät aber zu mehr Offenheit, da es viele positive Beispiele für glückliche Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Einkommensklassen gebe. Gleichklang fragt dennoch mögliche Vorbehalte gegen eine Beziehung mit armen Menschen bei der Anmeldung ab – damit arme Nutzer*innen später danach filtern können, dass ihnen Menschen mit Vorbehalten gar nicht erst angezeigt werden. Geld spielt also nach wie vor eine Rolle für das Kennenlernen, manchen Menschen ist es wichtiger als anderen. Während Partnervermittlungen deshalb den Beruf und die finanzielle Situation abfragen, scheint Dating-Apps das Thema weniger zu interessieren: Bei ihnen ist der Zugang erst mal für alle offen, für das Dating muss nicht zwingend bezahlt werden. Wer letztlich zusammenfindet, welche Rolle das eigene Einkommen dabei spielt – das hängt dann von individuellen Werten und Einstellungen ab. Oder, natürlich, von der Liebe auf den ersten Klick. 16

Matas, gebürtiger Litauer, der eigentlich anders heisst, ist unglücklich verliebt. In ein Gemeindemitglied seiner Freikirche. «Die Frau hat nicht Nein gesagt», erklärt er. «Aber auch noch nicht Ja.» Der Litauer wirkt schüchtern, zurückhaltend. Ihn treibt der Wunsch nach Arbeit um und nach einer Wohnung. «Ohne Wohnung, ohne Auto und dann noch ohne Job – so ist es sehr schwierig, eine Frau zu finden.» Bei einer Dating-App hätte er womöglich längst Gewissheit, wenn seine Liebe beim Anblick seines Fotos in der App den virtuellen Daumen gehoben oder gesenkt hätte. So aber wird er weiter regelmässig zu den Gemeindetreffen gehen müssen. Alle hier Porträtierten verkaufen in Hamburg das Strassenmagazin Hinz&Kunzt.

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Achim, 60, hat Erfahrung damit, Bekanntschaften am Verkaufsplatz zu knüpfen. «Wir reden aber nur.» Ein Smartphone für das Dating würde er nie benutzen. «Ich lerne auch so immer noch und immer wieder Frauen kennen», sagt er selbstbewusst. «Ich will nicht angeben. Aber es ist tatsächlich so: Die Mädels quatschen mich an.»

Petra, 62, hat «keinen Bock» mehr auf Partner. «Ich habe Prügel durch, ich habe Typen durch, die auf meine Kosten gelebt haben.» Vor etwa 20 Jahren habe sie sich dann gesagt: «Lasst mich in Ruhe. Ihr könnt mich alle mal.» Mit der Entscheidung gehe es ihr gut. Nie wieder Rechenschaft ablegen. Keine Kompromisse mehr machen. Sie erzählt, dass sie vor zwei Jahren zwei Katzen übernommen habe. «Dann noch einen Kerl?», fragt Petra und schüttelt den Kopf.

Frank, 50, sagt, es sei grundsätzlich kein Problem für ihn, Frauen kennenzulernen. Allerdings hat er kein Internet, er lebt auf der Strasse. «Auch dort entsteht eine Form von Liebe zwischen Menschen. Nur können wir das nicht so richtig leben. Man hat kein Zimmer, man hat viele Dinge nicht, die man braucht, um Intimität und Nähe herzustellen.»

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«Online-Dating ist diskriminierend» Die Sozialpsychologin Johanna Degen erforscht, wie Dating-Apps unsere Gesellschaft verändern – und wie wir es schaffen, die kapitalistische Logik von Tinder & Co. auszutricksen. INTERVIEW ANNABEL TRAUTWEIN

Johanna Degen, was ist der besondere Reiz von Dating-Plattformen? Johanna Degen: Wir haben uns entwöhnt, im öffentlichen Raum Nähe herzustellen. Weil wir schnell das Gefühl haben, es sei unerwünscht, unpassend oder auch riskant, dort andere Menschen anzusprechen. Online-Dating fühlt sich einfacher an. Man weiss, hier ist ein Ort, an dem Flirten erlaubt ist. Man unterstellt den anderen ähnliche Absichten – die sie übrigens oft gar nicht haben. Die Hälfte der Nutzer*innen beim Online-Dating sind gar nicht verfügbar. Aber es fühlt sich so an, als könnten die Apps Bedürfnisse erfüllen, die wir woanders nicht mehr erfüllt bekommen.

so Verletzungen ersparen. Aber quantitativ funktioniert so eine Beschreibung im Profil richtig … entschuldigen Sie, jetzt hätte ich fast Kraftausdrücke benutzt. Was ich meine, ist: Ich werde nicht viele Matches oder Dates haben, wenn ich schreibe, dass ich Sozialhilfe beziehe. Ich kann es aber auch positiv drehen.

Dabei ist nicht einmal sicher, dass die Dating-App unsere Wünsche wirklich wahr macht. Das stimmt, vor allem für Menschen mit wenig Geld. Online-Dating ist eine sehr diskriminierende Sphäre. Status spielt eine Rolle.

Armer Schlucker datet reiche Lady: Das ist doch ein Märchen, oder? Ich kenne viele solche Geschichten. Zum Beispiel die von einer sehr erfolgreichen Geschäftsfrau, die hat sich verliebt in einen, der nur 1000 Euro im Monat hatte. Das ist für manche sehr viel, aber nicht auf ihrem Level. Der ist mit ihr in seinem heruntergekommenen Mercedes Vito nach Sankt Peter-Ording an den Strand gefahren, eine Matratze hinten drin, eine Flasche Jim Beam und eine Cola, das war’s. Das war für sie die pure Freiheit. Weil alles anders war! Es war nicht der Beachclub, nicht das Theater, es gab nicht mal eine Toilette. Das war ihr erstes Date, am Ende haben sie geheiratet.

Das heisst, wenn ich arm bin oder aus dem Rahmen falle, habe ich ohnehin keine Chance? Doch, wenn ich meine Lebensbedingungen vorweg beschreibe und deutlich mache, dass ich jemanden suche, der damit klarkommt oder ähnlich situiert ist. Dann muss ich mich nicht der Gefahr aussetzen, dass mich deshalb jemand zurückweist. Die, die mich anklicken, haben es ja eh schon gesehen. So wird der Umgang mit der Plattform zum Schutzmechanismus. Und wie kommt es an, wenn ich schreibe: «Ich lebe von Sozialhilfe» oder «Ich bin obdachlos»? Qualitativ funktioniert es gut. Ich kann mich davor schützen, dass ein Date auf dem Hacken kehrtmacht, und mir 18

Wie denn das? Zum Beispiel so: «Antikapitalist, sitze gern am Strand und suche jemanden, für den Geld und Status keine Rolle spielen.» Oder auch: «Freigeist» oder «Systemaussteigerin». Das sind Gewinner-Narrative, die findet man schon öfter auf Dating-Portalen.

Wie hat es dieser Mann geschafft, dass sich die Frau für ihn interessiert? Er hat ihr etwas angeboten, zu dem sie Ja sagen konnte. Er hat nicht gesagt: «Du, ich hab kein Geld fürs Theater», sondern: «Mit mir kannst du die Nacht unter den Sternen tanzen.» Surprise 561/23


rallel daten, sondern sich lieber auf einen Menschen richtig einlassen. Aber man möchte auch nicht der Trottel sein, der es ernster meint als der oder die andere. So reproduzieren wir die ganze Zeit die negativen Effekte der Apps. Die Leute wissen das sogar selbst. Niemand sagt: «Gestern war schön, ich habe den ganzen Abend getindert.» Tindern bringt keinen positiven Spill-over-Effekt.

So selbstbewusst muss man erst mal sein, wenn das Leben von Armut und Stress geprägt ist. Alle haben etwas zu bieten: Freiheit, Ungebundenheit, eine andere Perspektive auf die Gesellschaft. Das erleben Menschen in schwierigen Lebenslagen oft nicht so, aber es ist eine gute Denkübung: Was ist eigentlich meine starke Position? Es hilft auch, um rauszukommen aus diesem Schuld-Narrativ, das unsere Gesellschaft den Leuten antut. Ausserdem: Wonach hungern wir denn alle, auch die Leute mit Geld? Danach, etwas zu erleben, etwas zu fühlen, Freiheit zu finden und berührt zu werden.

Das heisst: Es bleibt nichts Schönes hängen? Wenn man mit Freundinnen auf zehn Konzerte geht, um jemanden kennenzulernen, aber nie klappt es – dann hat man trotzdem die Konzerte erlebt, getanzt, vielleicht einen leckeren Falafel-Döner gegessen und die Freundschaften vertieft. Man war unerfolgreich, was Dating angeht, aber man hat sich das Leben angeeignet. Wer wochenlang zuhause tindert, hat diese Effekte nicht, sondern vereinsamt auch noch. Und dann wird die App immer bedeutsamer. Das ist schon eine Tendenz, die mir Sorgen macht.

Daran verdienen die Anbieter*innen der Dating-Plattformen offenbar gut. Jetzt muss ich doch fluchen: Die ganze Dating-Branche ist ein verdammtes Business. Ich werde auch ständig angefragt, für diese Apps zu werben. Das mache ich nicht! Denn egal wie die sich selbst darstellen, sie kapitalisieren die Not der Menschen nach Beziehungen. Wie kann man sich dieser Geschäftemacherei entziehen und trotzdem online flirten? Auf keinen Fall sollte jemand, dem es wehtut, auch nur einen Rappen für eine Dating-App ausgeben. Denn das, was die Apps versprechen, kriegt man nicht. Da warten nicht 100 Likes oder die tollen Dates nach dem 50. Swipe. Das Schöne an den Dating-Apps ist, dass sie Zugänge nach aussen gewähren, wo man sie gefühlt oder tatsächlich nicht hat. Mein Rat ist: Boykottiert die Apps mit den hohen Bezahlschranken. Die neuen Apps sind immer billiger, da würde ich verschiedene ausprobieren und mein Hauptanliegen auf positive Art nach vorne stellen – zum Beispiel, jemanden zu finden, der sich auch nicht vom System unterkriegen lassen will.

Sind vielleicht auch viele erschöpft von Tinder und Co., weil sie falsch suchen? Mein Gefühl ist: Wir suchen zu genau nach dem, was wir kognitiv, also bewusst, für passend halten. Das führt zu so einer Art Checklisten-Logik. Wir sagen dann: Ich möchte gerne einen Surfer mit Bus, aber ohne Hund. Und dann finden wir auch so jemanden, weil wir ja so viele zur Verfügung haben, aber wir beschneiden unser Leben um das ganze Mystische. Was ist, wenn da noch mehr ist als das, was wir zu wollen meinen? Aber dass man zusammenpasst, ist doch auch wichtig für eine Beziehung, oder? Kompatibilität ist wichtig, wenn es um Werte geht. Bin ich jemand, der vom Arbeitsmarkt enttäuscht ist, oder jemand, der von ihm träumt? Möchte ich mich hocharbeiten oder lieber an die spanische Küste auswandern und Minijobs machen? Darüber sollten wir uns unterhalten.

Wie meinen Sie das? Niemand ist gezwungen, 500-mal am Tag nach rechts oder links zu wischen. Manche App sagt sogar: Nach 100 Swipes musst du zahlen. Da müssten wir sagen: Die App bietet mir das an, aber ich mach da nicht mit. Das Tempo rauszunehmen ist eine gute Strategie. Warum daten viele trotzdem exzessiv? Ich habe viel Mitgefühl mit den Leuten, die mehr swipen oder daten, als ihnen guttut. Denn sie verhalten sich aus gutem Grund so. Vielleicht will man eigentlich nicht paSurprise 561/23

FOTO: ZVG

Das Swipe-Prinzip, also das nach rechts oder links wischen, um ein Profil negativ oder positiv zu bewerten, ähnelt ein bisschen dem Shopping: Ich wähle aus wie in einem Katalog. Muss das so sein? Nein. Die Apps zwingen uns nicht, sie so zu nutzen. Wenn wir alle Tinder und Co. benutzen würden, um lange romantische Texte zu schreiben, dann würde die App langsamere Modi anbieten. Die Macher*innen der Apps gucken ja darauf, was funktioniert. Ich bin da vielleicht sehr in meiner Rolle als kritische Theoretikerin, aber ich glaube: Wir haben die Macht, uns die App anzueignen und ihre Logik zu verändern.

JOHANNA LISA DEGEN, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Psychologie an der Europa-Universität Flensburg. Zu den Forschungsschwerpunkten der Paartherapeutin gehören Beziehungskonstellationen und (Online-)Dating.

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FOTO: DANIEL SPEHR

10 JAHRE ENGAGIERTE AUFKLÄRUNG Stadtführungen stehen meistens für Sightseeing und Tourismus. Unsere «Expert*innen der Strasse» machen daraus gesellschaftliche Bildungsarbeit.

Aktuell geben 13 Stadtführer*innen – drei weitere sind in Ausbildung – auf ihren Touren einen authentischen Einblick in ihr Leben, welches von Armut und sozialer Ausgrenzung geprägt ist. Anhand ihrer Biografien erzählen ehemalige obdachlose und armutserfahrene Personen über ihre Lebensbrüche, mangelnde Chancen in ihren Herkunftsfamilien und ihre vorgezeichneten Wege in die Armut. Sie berichten von ihrem Leben am Rand der Gesellschaft und zeigen, dass Not und Armut kein Einzelschicksal sind. Hierfür führen sie die Besuchergruppen in ihr öffentliches Wohn- und Esszimmer in den Tageshäusern und Gassenküchen oder erzählen von ihrer privaten Notschlafstelle unter Bäumen und Brücken. Und sie ermöglichen einen Einblick in die Arbeit von insgesamt rund 60 Organisationen, welche Betroffene unterstützen. Alle Stadtführer*innen kennen ein Leben in Einsamkeit mit Existenzängsten, Gewalt- und Missbrauchserfahrungen, Sucht oder psychischen Erkrankungen. Gemeinsam haben die Stadtführer*innen eine Mission: Sie wollen auf ihren Touren Vorurteile abbauen und kämpfen für ihre Würde und Anerkennung. Sie sprechen für rund 1,2 Millionen Armutsbetroffene und -gefährdete in der Schweiz und machen Armut öffentlich – denn viele Betroffene ziehen sich zurück, die Scham macht sie unsichtbar.

Stimmen der Armut erstmals in der Schweiz Am Anfang stand eine Idee: Die vielen Verkäufer*innen des SurpriseMagazins waren bereits bekannt als Gesichter der Armut – neu sollten betroffene Personen auch zur Stimme der Armut werden. Nach intensiver Recherche und Planung starten im April 2013 die ersten Sozialen Stadtrundgänge der Schweiz mit drei Stadtführern in Basel. Erstmals stehen Betroffene als Experten für Armut und Ausgrenzung im Zentrum und geben den Besucher*innen einen hautnahen Einblick in ihre Lebensrealitäten – gemeinsam besuchen sie die Gassenküche, das Tageshaus für Obdachlose oder die private Notschlafstelle am Bahnhof.

2014 2013

Ein Rückblick auf zehn Jahre individuelle und intensive Sozialbegleitung zeigt: Positive Veränderungen sind möglich. Einen eigenen Lohn zu erwirtschaften, eine neue Wohnung oder unbürokratische Unterstützung im schwierigen Alltag sind die Voraussetzungen für neue Lebensperspektiven. Die eigene Biografie in eine Erzählung über Armut zu verpacken ist Arbeit an der eigenen Persönlichkeit – und ein therapeutischer Prozess. Während ihrer Ausbildung werden die Stadtführer*innen von Armutsbetroffenen zu Armutsexpert*innen. Grossartiger Start in Zürich

Seit dem Start vor zehn Jahren haben fast 130 000 Besucher*innen die aktuell 20 Touren besucht und konnten für die Hintergründe von Armut und die gesellschaftlichen Folgen sensibilisiert werden. Die Feedbacks zeigen, dass die Besucher*innen dankbar für den Perspektivenwechsel sind und die direkte Begegnung hilft, Gräben und Vorurteile zu überwinden. 20

Mit gleich sechs Stadtführer*innen und sieben neuen Touren startet das Sozialangebot in Zürich. Während ihrer rund einjährigen Ausbildung entwickelten die neuen «Expert*innen der Strasse» gemeinsam mit den Angebotsleitungen ihre persönlichen Tour-Texte und die Routen der Stadtführungen – immer entlang der individuellen Lebensgeschichte. Dadurch ist jeder Rundgang authentisch und setzt unterschiedliche thematische Schwerpunkte. Surprise 561/23


Psychische Erkrankung und Armut

Start in Bern und erste Frauenarmuts-Touren Drei Stadtführer und eine Stadtführerin starten 2018 mit vier verschiedenen Touren in Bern. Bereits ein Jahr zuvor gelang es nach intensiver Suche, mit Lilian Senn die erste Frau als Stadtführerin in Basel auszubilden. 2018 folgen mit Danica Graf ebenfalls in Basel, Sandra Brühlmann in Zürich und Franziska Lüthi in Bern drei weitere Frauen, die bis heute auf ihren Touren zeigen, wie sie in Not geraten sind. Sie informieren darüber, was es bedeutet, als Frau schutzlos auf der Gasse zu leben, und warum obdachlose Frauen auf der Strasse in der Minderheit sind, warum sie ihre prekäre Lebenssituation verstecken und warum deutlich mehr Frauen als Männer in der Schweiz Armut erleben.

FOTO: RUBEN HOLLINGER

Nach einer zweijährigen Vorbereitung startet in Bern Kathy Messerli mit der ersten Tour zum Thema «Gewalt, psychische Erkrankung und Armut». Der neue Stadtrundgang thematisiert ein Tabuthema: psychisch, körperlich und sexuell erlebte Gewalt. Messerli informiert darüber, wie Traumata zu psychischen Erkrankungen und Armut führen können – und was ihr half, wieder aufzustehen. Ihr Weg in die Armut ist geprägt von Einweisungen in Psychiatrien, Berufsabbrüchen, chronischen Schmerzen und Drogenkonsum. Mit der Ausbildung zur Stadtführerin schaffte sie ihren ersten Abschluss.

2021 2018

2024 2022

Über Schuldenspiralen

FOTO: LUCIA HUNZIKER

Nach einem Workshop mit der Fachhochschule Nordwestschweiz zum Thema Schulden lanciert Surprise 2021 den neuen Rundgang «Wege aus der Schuldenspirale». Der Stadtführer Tersito Ries erzählt seither auf der Basler Stadtführung von seinem Weg vom Unternehmer zum Obdachlosen. Er schildert, wie schnell er durch einen Firmenkonkurs und persönliche Schicksalsschläge alkoholsüchtig wurde und in der Armut landete. Zudem erfahren die Besucher*innen, wie schwierig es in der Schweiz ist, der Schuldenfalle zu entkommen.

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Armutsrisiko Migration Nach über einem Jahr Vorbereitung startet Anfang nächstes Jahr in Basel die erste Tour von Lucy Oyubo, einer Pädagogin aus Kenia. Vor fast 20 Jahren gründete sie erfolgreich eine Sprachschule und absolvierte in der Schweiz mehrere Weiterbildungen. Jahrelang läuft alles bestens, bis sie nach einem Unfall und einer Operation die Krankenkosten nicht bezahlen kann und in eine Schuldenspirale gerät. Auf ihrer Tour wird sie darüber erzählen, dass Migrant*innen in der Schweiz ein überdurchschnittliches Armutsrisiko haben und viele Hürden bei der Integration erleben – und informiert darüber, wie sich Racial Profiling im Alltag anfühlt und warum sie sich gegen Rassismus engagiert. 21


«Es gibt kein Zurück mehr» Kino Der Dokumentarfilm «Big Little Women» erzählt von feministischen

Kämpfen und den damit einhergehenden sozialen und politischen Entwicklungen in Ägypten und in der Schweiz. INTERVIEW MONIKA BETTSCHEN

Nadia Fares, in «Big Little Women» kommen Frauen aus drei Generationen zu Wort. Wo steht die Frauenbewegung in Ägypten heute? Nadia Fares: Ich zeige die junge Generation einige Jahre nach dem Arabischen Frühling 22

in Ägypten. Damals, im Jahr 2011, wurde eine Bewegung sichtbar, die sich nicht mehr aufhalten lässt. Der Wandel, der heute stattfindet, mag vielleicht nicht mehr so spektakulär sein wie die Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo, aber er ist in den Köpfen der Leute. Seither haben die Frauen nicht mehr aufgehört, sich zu organisieren, sich gegenseitig zu unterstützen und miteinander zu kommunizieren. Der Arabische Frühling hat ihnen gezeigt, dass sie ihren Platz selber einnehmen können und nicht erst darauf warten müssen, bis ihnen jemand diesen zuweist. Es ist, als hätten sie die eigene Furcht überwunden. Und jetzt gibt es kein Zurück mehr, kein Jawohl, sondern ein Warum und Wieso. Eine Revolution, die im Kopf weitergeht. Ängste zu überwinden, erfordert viel Mut. Die Grenzen der Furcht existieren, damit wir sie überwinden. Die junge Generation ist mutiger und furchtloser, sie bewegt sich im öffentlichen Raum und befreit sich aus den gesellschaftlichen Zwängen, sie will ihr eigenes Leben bestimmen und nicht

das Leben, das von ihr erwartet wird. Für «Big Little Women» bin ich von diesem Mut ausgegangen, nicht von ihrer Furcht. Im Film begleiten Sie drei junge Frauen, die mit offenem Haar und sportlicher Kleidung auf Velos in die ärmeren Quartiere von Kairo fahren, um dort Mahlzeiten zu verteilen. Damit brechen sie mehrere Tabus, oder? Unter dem Vorwand, Mahlzeiten zu verteilen, fahren die jungen Frauen auf ihren Velos und in körperbetonten Kleidern in ärmere Quartiere, in denen oft nur das Wort des Mannes zählt. Aber in Wirklichkeit wollen sie alte Gewohnheiten und Mentalitäten aufrütteln, indem sie mit den Bewohner*innen ins Gespräch kommen. Sie hinterfragen, warum das Velo – ein einfaches Transportmittel – den jungen Mädchen verboten wird. Nach traditioneller Ansicht gefährdet Velofahren die Jungfräulichkeit. Das Fahrrad wird hier zu einer Metapher für den steten feministischen Widerstand: Nur wer ununterbrochen in die Pedale tritt, kommt vorwärts. Surprise 561/23

FOTOS: ZVG

Die Regisseurin Nadia Fares kam Anfang der 1960er-Jahre als Tochter einer Schweizer Mutter und eines ägyptischen Vaters in Bern zur Welt. Dass sich ihre Mutter in einen Ägypter verliebte, war in jener Zeit ein Tabubruch. Als Fares noch ein Kind war, wurde ihr Vater aus der Schweiz ausgewiesen – was von ihrer Berner Grossmutter unter dem Druck patriarchaler Erwartungen mitgetragen wurde. Dieser Bernerin stellt die Filmemacherin die Lebensgeschichte ihrer ägyptischen Grossmutter gegenüber und entwirft dabei ein bildgewaltiges Panorama des Frauenkampfes sowohl im Orient als auch im Okzident. Ihr Dokumentarfilm «Big Little Women» verbindet die ägyptische Frauenbewegung mit Fares’ eigener, von einem tiefen Bruch gezeichneter Familiengeschichte.


Beim Austausch mit den Menschen dort scheint sich auch zu zeigen, dass der gesellschaftliche Wandel davon abhängt, dass man nicht nur über Geschlechter-, sondern auch über Klassengrenzen hinweg denkt. Diese emanzipierten jungen Frauen stammen eher aus der Mittelklasse und der oberen Mittelklasse. Und wenn sie mit den Frauen der ärmeren Klassen diskutieren, sind sie überrascht, wie stark diese Frauen sind, denn diese mussten schon früh gegen patriarchale Strukturen kämpfen. Viele Bewohner*innen dieser ärmeren Viertel sind aus dem Süden Ägyptens nach Kairo emigriert und haben oft ihre patriarchalen Traditionen mitgenommen. Trotzdem kämpfen diese Frauen, genau wie die anderen, für Respekt und Würde. In einer Szene, die das Gewicht solcher Traditionen veranschaulicht, besuchen Sie Angehörige Ihres Vaters. Ihr Onkel Kamal sagt, er trage als Mann die Verantwortung für alles, um zu begründen, weshalb Frauen nicht frei leben können. Warum begegnen sich die Geschlechter hier nicht auf Augenhöhe? Das patriarchalische System ist immer noch der Massstab aller Dinge – und wo der Mann glaubt, die alleinige Verantwortung für die Familie zu tragen, ist die Freiheit der Frau beschränkt, sowohl im Süden Ägyptens als auch in der Schweiz. Denn das zeigt ja auch die Geschichte meines Surprise 561/23

Schweizer Grossvaters, eines Patriarchen, der über das Schicksal meiner Mutter und mir bestimmt hat: Das patriarchalische System kennt keine Grenzen, es ist schon fast ein Brauchtum, das oft unreflektiert von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das ist auch einer der Gründe, warum Gleichberechtigung immer noch nicht der Normalzustand ist. Bemerkenswert ist ja auch, dass solche Systeme von Täter*innen, aber auch von Opfern, weitergetragen werden und Menschen dabei in eine Doppelrolle rutschen können. So wie es auch in Ihrer Familie in der Schweiz geschehen ist. Das ist richtig. Als sich meine Mutter Ende der 1950er-Jahre in meinen Vater, einen Ausländer, einen Afrikaner, verliebte, war das ein Tabubruch. Obwohl wir alle zusammen im Haus meiner Grosseltern wohnten, orchestrierte mein Grossvater die Ausweisung meines ägyptischen Vaters. So wurde meine Schweizer Grossmutter zur Komplizin des Patriarchen, meines Grossvaters. Manchmal rutschen Frauen innerhalb eines Patriarchats in eine solche Rolle, geben es im Schatten des Mannes weiter und reproduzieren so die gleichen Mentalitäten und Mechanismen. «Big Little Women» umfasst drei Generationen, drei Perspektiven, drei Geschichten – wie schon Ihr Spielfilm «Miel et Cendres». Was interessiert Sie an dieser Herangehensweise?

In «Big Little Women» werden persönliche Geschichten zu universellen Geschichten und zeigen den Mut, die Hartnäckigkeit und den Widerstand von Frauen – ein Vermächtnis, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die Begegnung zwischen der 86-jährigen bekannten Feministin, Autorin und Ärztin Nawal El Saadawi und der jungen Generation ist ein Zeichen dieses Vermächtnisses. Die Verbindung der Geschichten schärft unseren Blick und hinterfragt unsere eigenen Klischees, sei es in Bezug auf den Orient oder auch auf den Westen. Eine Generation kann ein Licht auf die zweite werfen und die zweite Generation kann ein Echo der dritten Generation sein.

NADIA FARES, 61, lebt als Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin in Genf, Kairo und Los Angeles. Ihr erster Spielfilm «Miel et Cendres» (1996) gewann zahlreiche internationale Preise. «Big Little Women» war an den Solothurner Filmtagen 2023 für den Prix de Soleure nominiert.

«Big Little Women», Regie Nadia Fares, Dokumentarfilm, Schweiz/Ägypten 2022, 86 Min. Läuft zurzeit im Kino.

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FOTO: JACOB LONDRY BONKIAN

Die Sahara im Zentrum Culturescapes Wegkommen von Geschichtserzählungen aus westlicher Sicht:

das ist eines der Ziele von Culturescapes 2023. Einblick in das vielseitige Schaffen junger afrikanischer Künstler*innen geben drei preisgekrönte Solotanzstücke. TEXT JULIA RÜEGGER

Anfang Oktober wurde die zehnte Ausgabe von Culturescapes eröffnet, diesmal mit dem Schwerpunkt Sahara. Der Fokus liegt auf Regionen, die ökologische und soziale Räume von globaler Bedeutung sind. Das Basler Festival bringt während zwei Monaten über 80 Tänzer*innen, Theater- und Filmschaffende, Musiker*innen und Schriftsteller*innen vom afrikanischen Kontinent zusammen, deren Identität, Geschichte und künstlerische Arbeit mit dem (Kultur-)Raum der Sahara verknüpft sind. Darunter sind die jungen Choreograf*innen Tchina Ndjidda, Bibata Ibrahim Maïga und Asanda Ruda, die am dreiteiligen Tanzabend «Laureates of Africa Simply the Best» jeweils ein Solostück zeigen. Sie alle gewannen am Tanzfestival «Africa Simply the Best» 2021 in Bobo-Dioulasso in Burkina Faso einen Preis. Teil der Jury dieses Festivals war der Gründer und Co-Leiter von Culturescapes, Jurriaan Cooiman, der die Preisträger*innen nun nach Basel eingeladen hat. «Wie ein Grossteil der Produktionen, die am Festival in Burkina Faso gezeigt wurden, handeln auch die drei prämierten Stücke von der Spannung zwischen Tradition und Moderne», sagt Cooiman. «Sie behandeln den 24

Gegensatz von dörflichen, ländlichen Strukturen und dem pulsierenden, dynamischen Leben in Grossstädten.» Während sich die aus Mali stammende Bibata Ibrahim Maïga im Stück «Esprit Bavard» mit den Einschränkungen des Individuums durch Religion, Tradition und Normen auseinandersetzt und diese zu dekonstruieren versucht, erforscht Asanda Rudas Stück «Kemet (black lands)» Generationenwandel und Kultur als Weg der Emanzipation. Und der kamerunische Künstler Tchina Ndjidda behandelt im Stück «Cross» den oft schmerzvollen Weg eines jungen Tänzers, dessen Traum eine Karriere in Europa ist. Ndjiddas Tanz setzt sich aus Elementen des zeitgenössischen Hip-Hop sowie aus rituellen, therapeutischen und traditionellen Tänzen aus Nordkamerun zusammen. Alle drei Soloperformances zeigen ein gegenwärtiges junges Afrika; seine Hoffnungen, Kämpfe und Tragödien, die auch von den kulturellen und historischen Brüchen geprägt sind. Denn die Sahara ist geprägt von Migration, den Grenzziehungen kolonialen Ursprungs und einem intensiven Kulturaustausch. Während der Kolonialzeit war die West-Sahara eine prägende Region für den

Dreieckshandel mit Amerika und Europa. «Gerade darum wollen wir wegkommen von Geschichtserzählungen aus westlicher Sicht», sagt Cooiman.

«Laureates of Africa Simply the Best», Tanzsolos, Sa, 4. Nov., 19.30 Uhr, Neues Theater Dornach; Do, 16. Nov., 20 Uhr, Theater Casino Zug. culturescapes.ch

Tickets zu gewinnen! Surprise verlost in Kooperation mit Culturescapes 3 x 2 Tickets für «Laureates of Africa Simply the Best» am Samstag, 4. November. Senden Sie eine E-Mail oder Postkarte mit dem Betreff «Culturescapes» und Ihrer Postadresse an info@surprise.ngo bzw. Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel. Einsendeschluss ist der 31. Oktober. Die Gewinner*innen werden ausgelost und schriftlich benachrichtigt. Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt. Ihre Adressdaten werden nicht an Dritte weitergegeben und ausschliesslich von Surprise für Marketingzwecke verwendet. Zur Einlösung des Preises werden die Namen der Gewinner*innen an das Theater kommuniziert.

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«Wer schreibt denn überhaupt die Geschichte?» Demokratie Die «Tour de Nouvelle Suisse» des Instituts Neue Schweiz (INES) macht

in der Ostschweiz halt. Es wird über grundlegende Fragen der Demokratie, über moderne Bürger*innenrechte und postmigrantische Erinnerungskultur diskutiert. TEXT CORINNE RIEDENER

Die Ostschweiz ist ein hartes Pflaster. Obwohl stark von Migration geprägt, gehört sie zu den konservativsten Regionen der Schweiz. Das zeigt sich nicht zuletzt regelmässig in den Abstimmungsresultaten. Aber man sollte sich davon nicht täuschen lassen, denn wo es der Wandel schwer hat, dort spriessen zwischen all den Betonköpfen auch immer wieder progressive Pflänzlein. Vielen ist zum Beispiel nicht bekannt, dass die Ausserrhoder Gemeinden Wald, Rehetobel, Trogen und Speicher ein Ausländer*innenstimm- und -wahlrecht kennen. Oder dass die Stadt St. Gallen die Einführung einer City Card prüft und sich damit den grossen Städten Bern und Zürich anschliesst. Zu verdanken sind diese kleinen Erfolge vielen Menschen und Gruppen, die sich seit Jahren beharrlich für mehr Rechte und demokratische Teilhabe einsetzen. Mit einigen davon spannt nun die «Tour de Nouvelle Suisse» zusammen, ein Projekt des Instituts Neue Schweiz (INES). Ziel der Veranstaltungsreihe und ihrer Folgeprojekte ist es, gemeinsam und laut über ein neues Bürger*innenrecht nachzudenken. Sie will verschiedene Akteur*innen aus Politik, Kultur, Zivilgesellschaft und Verwaltung in einen Dialog auf Augenhöhe bringen.

Am 8. November werden ebenfalls im Palace Strategien für mehr Demokratie diskutiert. Konkret: Was tun gegen den Aufschwung der Neuen Rechten? Mit dabei sind unter anderem die Rechtsextremismusexperten Hans Stutz und Cenk Akdoganbulut. Besonderes Augenmerk will die «Tour de Nouvelle Suisse» auf die Erinnerungskultur legen. «Wer schreibt denn überhaupt die Geschichte?», fragt Arvanitis. «Es existieren grosse Leerstellen im kollektiven Geschichtsbewusstein der Schweiz. Migrationsbiografien, insbesondere von Frauen, werden beispielsweise kaum dokumentiert.» Hier stösst INES mit der Veranstaltungsreihe ein Oral-History-Projekt des Ostschweizer Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte an: Am 16. November diskutieren dort unter anderem Era Shemsedini, Dragana Ljuboja-Oehninger, Judith Grosse und Thuraya Abbass darüber, was es braucht, damit die Leerstellen gefüllt und anerkannt werden. Passend dazu zeigt Filmemacher Samir am 5. Dezember im Kinok Ausschnitte aus seinem neuen Film «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» über das ehemalige Gastarbeiter*innen-Regime Schweiz (siehe Surprise 559/23). Beendet wird die «Tour de Nouvelle Suisse» am 14. Dezember in der St. Galler Grabenhalle in Zusammenarbeit mit dem «Stadtgespräch» von Kubik & Fässler. Dieses Format hat es sich seit seiner Gründung vor zwei Jahren zur Aufgabe gemacht, verschiedene Lebensrealitäten, politische Sichtweisen und Bubbles zusammenzubringen. Diese «Öffnung» sei an dem Abend auch explizit das Ziel, sagt Arvanitis. «Uns ist es wichtig, auch Menschen ausserhalb der aktivistischen Szene zu erreichen.»

Wo der Wandel es schwer hat, dort spriessen zwischen all den Betonköpfen auch immer wieder progressive Pflänzlein.

Netzwerk und diverse Verbündete «Wir kommen nicht in die Ostschweiz, weil die Region diese Diskussionen besonders nötig hätte, sondern weil wir hier bereits ein Netzwerk und diverse Verbündete haben», sagt Projektleiterin Myrsini Arvanitis von INES. Zu diesen Verbündeten gehören das Kollektiv Ostschweiz mit Migrationsvorsprung, das Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte, das Forum Kritische Soziale Arbeit (Kriso), die Erfreuliche Universität des Kulturlokals Palace und weitere. Gemeinsam haben sie fünf Abende mit verschiedenen Schwerpunkten aufgegleist. Gestartet wird am 1. November unter dem Motto «Vom Ausländer zur Bürger*in» mit einer Ortsbegehung: Zeitzeug*innen verschiedener Generationen berichten von ihren Bemühungen um Rechte und Teilhabe von Menschen mit Migrationsgeschichte in der Ostschweiz. Anschliessend werden im Palace aktuelle Herausforderungen der Demokratie in St. Gallen und der Schweiz diskutiert. Surprise 561/23

«INES Tour de Nouvelle Suisse», Mi, 1. November bis Do, 14. Dezember, verschiedene Orte in St. Gallen. institutneueschweiz.ch/De/Project

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Bern «Erfolg. Eine Standortbestimmung», Installationen und Veranstaltungen, bis Sa, 27. April 2024, Mo bis Fr, 9 bis 18 Uhr, Sa 9 bis 17 Uhr, Eintritt teilweise gratis; mit Surprise Stadtrundgängen am Do, 9. Nov., 17 Uhr; Sa, 10. Feb, 13 bis 15 Uhr; Sa, 6. April 2024, 14 bis 16 Uhr; Berner Generationenhaus, Bahnhofplatz 2. begh.ch

Wer bestimmt, was Erfolg ist? Wie gehen wir mit Rückschlägen um und wer kann sich solche leisten? Wie spielen gesellschaftliche Erwartungen, persönliche Leistung, Zufall und Schicksal zusammen? Das Berner Generationenhaus lädt sein Publikum ein, sich mit unterschiedlichen Erfolgsmodellen auseinanderzusetzen und das Scheitern zu enttabuisieren. Es gibt Installationen, Veranstaltungen, Workshops und Stadtrundgänge zur Inspiration auch für die eigene Lebensführung. Dazu gehört eine Jukebox mit 100 Erfolgsmomenten und den dazugehörigen Soundtracks: ein Tor geschossen, Nein gesagt, etwas Neues gelernt, alte Zöpfe abgeschnitten, Fahrprüfung bestanden, Ja gesagt, den Schlüssel gefunden. Wir merken: Erfolg muss nicht immer gross und spektakulär sein. Man findet hier aber auch einen «Raum zum Scheitern», wo man einen versöhnlichen Umgang mit seinen Niederlagen finden kann. Hier deponiert man seine persönlichen Misserfolge – woraus langsam eine Sammlung von Geschichten des Scheiterns entsteht. Beziehung und Arbeit vermitteln in Kurzberatungen Inspiration fürs Leben, Strategien für den Umgang mit Erfolgsdruck und Unterstützung bei Entscheidungen. Mit Kindern wird über die Frage philosophiert: Muss immer alles gelingen? Und die Stadtführer*innen von Surprise, Ändu Hebeisen und Kathy Messerli, erzählen von Armut, Ausgrenzung, Obdachlosigkeit und Suchterkrankungen aus DIF eigener Erfahrung.

Zürich/Bern «Plantation #1 – Nativeness», Performance, Mo, 23. und Di, 24. Okt., jeweils 20 Uhr, Cabaret Voltaire, Spiegelgasse 1, Zürich; Do, 26., Fr, 27., Sa, 28. Okt., jeweils 20 Uhr, Reitschule Bern, Grosse Halle, Schützenmattstrasse 7. Dies ist eine sogenannte dekoloniale demonstrative Performance, die sich intersektionalen Sensibilitäten und Erfahrungen widmet. So weit, so theoretisch. Jedenfalls geht es ums Weisssein als Wurzel kolonialer Gewohnheiten, und das Experi Theater bringt die Erfahrung auf die Bühne, ein nicht-weisser Körper in einer weissen Welt zu

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sein. Das Weisssein als institutionelle Gewohnheit wird hier verhandelt, es geht um strukturelle Gewalt und politische wie wirtschaftliche Marginalisierung von nicht-weissen Körpern. Das Thema ist für die Bühne eignet, indem es sich dem Körper und dessen gesellschaftlicher Verortung widmet: Nicht-weisse Körper werden in bestimmte Richtungen gelenkt. Es wird gesellschaftlich beeinflusst, wie sie den Raum «besetzen». Es geht noch weiter: Die heutigen ökologischen Probleme werden als Erbe des Kolonialismus gezeigt, der eine Plantagenwirtschaft betrieb, die Pflanzen, Tiere und Menschen gleichermassen betraf. Und an dessen Praktiken auch die Schweiz beteiligt war. DIF

Warth SG «Hans Krüsi – Jeder kann nicht machen was er will», Ausstellung, bis Di, 30. Apr., Mo bis Fr, 14 bis 17 Uhr, Sa und So, 11 bis 17 Uhr, Kunstmuseum Thurgau / Ittinger Museum. kunstmuseum.tg.ch Hans Krüsi tauchte in den späten 1970er-Jahren scheinbar aus dem Nichts auf. Plötzlich war da ein Künstler, der in aller Selbstverständlichkeit auf Papierservietten zeichnete, Haushaltsfolie oder auseinandergefaltete Kartonschachteln zu Kunst machte und seine Motive mithilfe von Schablonen, Scherenschnitten oder dem Fotokopierer variierte und vervielfäl-

tigte. Er arbeitete mit Sprayfarbe, Collagen, Abklatschtechnik und Filzstiften. Dazu muss man wissen, dass Krüsi erst mit über 55 Jahren angefangen hat, als Autodidakt Kunst zu machen. Ansonsten war er das, was man landläufig «Stadtoriginal» nennt, ein Pflege- und Waisenkind mit wenig Schulbildung. Er verkaufte Blumen an der Zürcher Bahnhofstrasse. Bis er ir-

gendwann mit seinen Bildern, die er am gleichen Stand verkaufte, mehr verdiente als mit den Blumen. Und bis er die Aufmerksamkeit der Schweizer Kunstszene sowie der Presse auf sich zog, nachdem eine Galerie sein Werk 1981 ausstellte. Im März 2024 erscheint im Verlag Scheidegger & Spiess das Buch «Hans Krüsi – Jeder kann nicht machen was er will». DIF

Pratteln «Silberband Seniorennachmittag», Do, 26. Okt., 14 Uhr, Kirchgemeindehaus Pratteln.

Lilian Senn und Heiko Schmitz gehören zu den Basler Stadtführer*innen von Verein Surprise – und sind ein Paar. Sie mussten sich in ihrem Leben schon vielen Problemen stellen, psychischer wie physischer Erkrankung, dem Bruch mit der Familie, Insolvenz und Obdachlosigkeit. Von all diesen Schwierigkeiten und Hindernissen erzählen sie offen und plastisch – aber auch noch von ganz was anderem: der «Liebe auf der Gasse», die sie zusammen gefunden haben. Begleitet werden sie vom Surprise Strassenchor, in dem rund 25 Sänger*innen ihre Stimme gegen soziale Ausgrenzung erheben. Mit Herzblut und einem vielfältigen Repertoire. Mitsingen erlaubt. Nach dem Auftritt geht es informell weiter und man darf persönlich mit allen ins Gespräch kommen. DIF

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BILD(1): BERN WELCOME, BILD(2): ZVG, BILD(3): KLAUS PETRUS

Veranstaltungen


Das Dorf Toffen wird zweigeteilt von den Gleisen, auf der einen Seite liegt die Industrie, vor allem Autogaragen gängiger und beliebter Marken, aber auch ein Händler von britischen Automobilen und den entsprechenden Ersatzteilen. Auch eine Überbauung gibt es, in Beige und Ocker gehalten, bis auf ein hellblaues Haus mit bunten, allerdings ziemlich dreckigen Storen. Ennet der Gleise finden sich ein Geschäft für Modelleisenbahnen und das alte Gebäude der Landwirtschaftlichen Genossenschaft. Bald findet der Toffe-Märit statt, der neben Markthändlern, Spielwaren und Raclette-Stübli auch Hobby-Künstler verheisst, eine Bezeichnung, die bei kreativ tätigen Menschen nicht unbedingt beliebt ist. Einst gab es parallel dazu die Hobby-Rocker, den in ländlichen Gegenden wohnhaften und Mofa fahrenden Heavy Metal Fans, denen diese Bezeichnung auch nicht behagte. Mofa fahren muss hier aber niemand, die Gemeinde stellt nämlich zwei Tageskarten zur Verfügung, die man gegen Gebühr ausleihen und damit im Land herumfahren kann.

Tour de Suisse

Pörtner in Toffen Surprise-Standort: Bahnhof Einwohner*innen: 2653 Sozialhilfequote in Prozent: 2,9 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 11,9 Wählerstärkste Partei: SVP mit 35,9 Prozent

Der Vorort von Toffen trägt den schönen Namen Kaufdorf. Wahrscheinlich sagt man hier auf dem Land nicht Vorort, sondern Nachbardorf. Es könnte ebenso gut Holzdorf heissen, denn die Häuser sind schön, alt und aus Holz. Am ersten modernen, viereckigen Holzhaus beim Bahnhof prangen Porträts im letzten Jahrhundert verstorbener Persönlichkeiten, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben: ein Anarchist, ein Präsident der Republik Frankreich, ein ungarischer Ministerpräsident. Daneben gibt es eine Recyclingstelle für Holz, weiter vorne eine Holzbaufirma. Das Restaurant Bahnhof hat offen, die dazugehörige Hot Rod Bar noch nicht, dafür ist am Aushang zu erfahren, dass hier regelmässig etwas los ist, Konzerte etwa oder jeden letzten Samstag Surprise 561/23

im Monat Bierpong. Gegenüber werden Höchstpreise für Abbruchwagen geboten, um den Rank stehen die ersten modernen Häuser, eine Siedlung, die daran erinnert, dass diese Landidylle nur 15 Minuten von Bern entfernt ist. Ein zweites Restaurant und einen Metzger gibt es ebenfalls, sowie Transparente für das Klima und gegen den Krieg. Der SV Kaufdorf ist gut ausgeschildert, mit eigenem Parkplatz, aber ohne Stadion. Die Strasse nach Toffen führt vorbei an weiteren, prächtigen Bauernhäusern und einer im Schatten liegenden Kuh. Bald beginnt die Zone der Einfamilienhäuser, in deren Gärten sich all jene Dinge wiederfinden, die in Baumärkten verkauft werden: Aufstellpools, Trampoline, Pavillonzelte, Loungemöbel und sogar Federvieh, das woanders herkommt.

Bereits in die Ferien gefahren sind die Betreiber*innen des Dorfcafés, auch die beiden daneben liegenden Lokale, eines für Emmentaler CBD-Hanf, sehen eher verlassen aus, das Zentrum für Coaching und Moderation hingegen hält die Stellung. Mitten im Dorf gibt es zwei grosse Äcker, der Hang hingegen ist verbaut, alte neben in die Jahre gekommenen neben neuen Häusern, Solarpanels und Schweizerfahnen sind zu sehen, Menschen nur ganz kurz; als die Schule aus ist, strömt eine Kinderschar in gelben Sicherheitswesten durch das Dorf, dessen Name von Tofus (nicht Tofu) kommt, was Tuffstein heisst.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

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Lange bemühte sich Haimanot Mesfin um eine feste Arbeitsstelle in der Schweiz, doch mit einem F-Ausweis sind die Chancen klein. Sozialhilfe kam für sie nie in Frage – sie wollte stets selbstständig im Leben auskommen. Aus diesem Grund verkauft Haimanot Mesfin seit über zehn Jahren das Surprise Strassenmagazin am Bahnhof Bern. Dort steht sie bereits früh morgens und verkauft ihre Magazine. Das Begleitprogramm SurPlus unterstützt sie dabei mit einem ÖV-Abo sowie Ferienund Krankentaggelder. Dank der Begleitung auf dem Berner Surprise-Büro hat sie eine neue Wohnung gefunden. Nach langer Zeit in einer 1-Zimmer-Wohnung haben sie und ihr Sohn nun endlich etwas mehr Platz zu Hause.

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Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

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Kaiser Software GmbH, Bern

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InoSmart Consulting, Reinach BL

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

Weitere Informationen gibt es unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 27 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

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Wir alle sind Surprise

Korrigendum Das Foto von Tinu Jost in Surprise 559/23 stammt von Annette Boutellier und nicht von Ruben Hollinger. Wir entschuldigen uns für die Verwechslung.

#557: Die neuen Märtyrer

#558: Heftpreis

«Völlig einseitige Geschichte»

«Sowieso zehn Franken»

Alle zwei Wochen kaufe ich ein Surprisemagazin, was mir grundsätzlich viel Freude bereitet. Dennoch ist mir in letzter Zeit häufiger aufgefallen, dass das Design der Titelseite sehr dunkel ist und für Neukunden vielleicht nicht so ansprechend. Es würde mich auch freuen, wenn es wieder bunter wird.

Eine emotional hochgekochte, völlig einseitige, Israels Armee zum Bösewicht stempelnde Geschichte. Der Konflikt dauert seit 1920 und anders als beschrieben. Hinter dem Blutvergiessen stehen Abbas, Fatah und Hamas, die bereits Kinder zum Märtyrertum verführen. Mörder von Juden werden gefeiert. Ihre Familien erhalten von Abbas grosszügige Renten. Das Leid der Juden ist kein Thema. Wo die Charta der PLO, gemäss der Israel zu vernichten ist? Schon Kinder lernen das, in den Schulbüchern gibt es kein Israel. Nicht Friede ist das Ziel, sondern der Kampf gegen Israel, gegen die legale Besetzung.

L AUR A SIMONET, ohne Ort

HANSPETER BÜCHI, Stäfa

DIE REDAK TION

#Strassenmagazin

«Titelseite sehr dunkel»

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Beundenfeldstrasse 57, 3013 Bern T +41 31 332 53 93 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 43 321 28 78 M+41 79 797 94 10 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Klaus Petrus (kp) Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win) Reporterin: Lea Stuber (lea) T +41 61 564 90 70 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Carlo Knöpfel, Yvonne, Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Denise Brechbühl, Mauricio Bustamante, Nicolas Fux, Anna-Elisa Jakob, Eveliina Marty, Hans Rhyner, Corinne Riedener, Julia Rüegger, Annabel Trautwein, Florian Wüstholz Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage 27 020

Danke, dass ihr den Preisanstieg erklärt, obwohl ich auch der Meinung bin, dass ihr es nicht müsstet. Ich gebe sowieso meistens zehn Franken, nun ist es halt etwas weniger Trinkgeld für den oder die Verkäufer*in. REGUL A AMSLER, Facebook

«Gute Sache» Ihr braucht euch nicht zu rechtfertigen. Acht Franken sind für den Inhalt und die gute Sache an sich immer noch sehr günstig. CL AUDIO BUCHER, Facebook

Ich möchte Surprise abonnieren Das Abonnement ist für jene Personen gedacht, die keinen Zugang zum Heftverkauf auf der Strasse haben. Alle Preise inklusive Versandkosten.

25 Ausgaben zum Preis von CHF 250.– (Europa: CHF 305.–) Reduziert CHF 175.– (Europa: CHF 213.50)

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FOTO: BODARA

Verkäufer*innen-Porträt

«Heute gehe ich meinen Weg» In der letzten Ausgabe Surprise 560/23 wurde infolge eines redaktionellen Fehlers an dieser Stelle zum Bild von Gabi Disch ein falscher Text abgedruckt; nun ist es der richtige. Wir entschuldigen uns für dieses Versehen.

«Ich bin seit November letzten Jahres Surprise-Verkäuferin. Zu Surprise kam ich über Heini Hassler. Ich kenne ihn schon seit Ewigkeiten, fast vierzig Jahre. Eines Tages habe ich ihn am Bahnhof Chur getroffen, als er gerade das Surprise verkaufte. Wir kamen ins Gespräch, und ich durchlöcherte ihn mit Fragen zu seiner Arbeit. Das fand ich alles sehr interessant. Da ich im Rollstuhl sitze, war ich mir unsicher, ob ich so etwas machen kann – ein Strassenmagazin verkaufen. Da antwortete Heini schmunzelnd, ich werde das besser machen als er. So kam ich zu Surprise. Was mich sehr am Job gereizt hat, ist der Kontakt zu den Menschen. Ich liebe es, neue Menschen kennenzulernen. Am Anfang war alles sehr ungewohnt. Ich war schon immer gerne bei jedem Wetter draussen an der frischen Luft. Aber da ich in einem elektronischen Rollstuhl sitze, war der Verkauf für mich nochmal eine neue Herausforderung, denn ich war mir ganz und gar unsicher, wie die Menschen wohl darauf reagieren würden. Doch im Grossen und Ganzen sind die Reaktionen sehr positiv, und ich komme leicht mit den Leuten ins Gespräch. Was sehr schön ist. Wenn man als Verkäuferin offen ist und auch etwas von sich preisgibt, dann öffnet sich oft auch das Gegenüber und erzählt seine Lebensgeschichte. Das hat mich sehr überrascht, und es war für mich auch eine neue Erfahrung. Früher gingen viele Menschen auf Abstand zu mir, weil ich im Rollstuhl sitze. Eine gewisse Distanz ist heute immer noch da, weil die Leute zum Teil gehemmt sind und zum Teil auch nicht genau wissen, wie sie auf Menschen wie mich zugehen sollen. Obwohl das eigentlich gar nicht schwierig ist. Man kann aufeinander zugehen. Es gibt das Sprichwort: Wie man in den Wald ruft, so kommt es retour. Wenn die Leute höflich zu mir sind, dann bin ich ebenfalls höflich. Wir sind auch nur Menschen, nur haben wir statt zwei Beine vier Räder. Geboren und aufgewachsen bin ich in Chur. Seit meiner Geburt sitze ich im Rollstuhl. Meine Mutter hatte einen schweren Verkehrsunfall, als sie mit mir im fünften Monat schwanger war. Deshalb habe ich Hemiplegie, eine vollständige Lähmung der linken Körperhälfte und zerebral. Zudem bin ich leicht Spastikerin, das heisst, ich habe eine Verhärtung und Steifheit der Muskeln. 30

Gabi Disch, 55, verkauft Surprise in Zürich, Buchs und Chur und schätzt den Kontakt mit den Leuten, sei es auf der Strasse oder im Radiostudio.

Auch habe ich einen Grauen Star, mein Sehvermögen wurde mit der Zeit immer schlechter; inzwischen bin auf dem rechten Auge blind. Ich war lange wütend auf meine Mutter, doch sie trägt natürlich keine Schuld. Auch habe ich mir die Frage gestellt: Warum ich? Doch ich habe gekämpft und gehe heute meinen eigenen Weg. Anstatt in einer geschützten Werkstatt zu arbeiten oder in einem Wohnheim zu leben, wohne ich heute zusammen mit meinem WG-Mitbewohner in Romanshorn. Vieles kann ich selbst erledigen, hier und da brauche ich allerdings Hilfe. So lange es geht, möchte ich möglichst alles selbständig machen. Neben meinem Job als Surprise-Verkäuferin mache ich hobbymässig bei einem Webradio namens ‹Rogos Powerradio› mit: ein ‹interaktives Mitmach-Radio für gutgelaunte Menschen, die sich den Feierabend versüssen möchten› – so lautet unser Slogan. Dort moderiere und führe ich Gespräche mit Gästen. Unser Radio ist vor allem eine Plattform für Menschen, die behindert sind und zum Beispiel Schwierigkeiten mit Sprechen haben. Unser Ziel ist es, das Radio vielfältiger zu machen und so weiterzuentwickeln. Wie bei Surprise liebe ich beim Radiomachen den Kontakt zu den Menschen.»

Aufgezeichnet von DENISE BRECHBÜHL

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JEDEN FRANKEN WERT. Das Strassenmagazin Surprise für CHF 8.– Menschen in prekären Verhältnissen leiden gerade besonders unter steigenden Preisen. Surprise reagiert und erhöht am 8. September erstmals seit 14 Jahren den Heftpreis um zwei Franken. Die Verkäufer*innen erhalten so einen Franken mehr Lohn pro Heft, um ihre gestiegenen Lebenskosten zu decken. Auch Surprise erhält einen Franken mehr, um höhere Produktionspreise und nötige Investitionen zu finanzieren. Haben Sie Fragen?

Lesen Sie mehr auf surprise.ngo/heftpreis oder kontaktieren Sie uns unter info@surprise.ngo | 061 564 90 90 Surprise | Münzgasse 16 | 4051 Basel | www.surprise.ngo Surprise 561/23

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Bild: Ole Hopp

Beteiligte Cafés es Lo go

Café Surprise – eine Tasse Solidarität

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Café Surprise ist ein anonym spendierter Kaffee, damit sich auch Menschen mit kleinem Budget eine Auszeit im Alltag leisten können. Die spendierten Kaffees sind auf einer Kreidetafel ersichtlich.

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Zwei bezahlen, eine spendieren te a u f d

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