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Strassenmagazin Nr. 559 22. Sept. bis 5. Okt. 2023

CHF 8.–

davon gehen CHF 4.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Inklusion

Entfesselt

Früher stand seine Behinderung im Fokus, heute geht es Performancekünstler Roland Walter um mehr. Seite 8

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JEDEN FRANKEN WERT. Das Strassenmagazin Surprise für CHF 8.– Menschen in prekären Verhältnissen leiden gerade besonders unter steigenden Preisen. Surprise reagiert und erhöht am 8. September erstmals seit 14 Jahren den Heftpreis um zwei Franken. Die Verkäufer*innen erhalten so einen Franken mehr Lohn pro Heft, um ihre gestiegenen Lebenskosten zu decken. Auch Surprise erhält einen Franken mehr, um höhere Produktionspreise und nötige Investitionen zu finanzieren. Haben Sie Fragen?

Lesen Sie mehr auf surprise.ngo/heftpreis oder kontaktieren Sie uns unter info@surprise.ngo | 061 564 90 90 Surprise | Münzgasse 16 | 4051 Basel | www.surprise.ngo


TITELBILD: KATHRIN HARMS

Editorial

Formen von Anerkennung Wir alle brauchen Wert­schätzung, sei das in Form von Liebe oder Freundschaft, als Ausdruck der Anerkennung unserer Würde oder schlicht als Respekt vor dem, was wir leisten. Denn wer gelobt wird, findet sich selbst (wenigstens manchmal ein bisschen) besser. Umgekehrt, sagen psycho­logische Studien, macht fehlende Wertschätzung über kurz oder lang krank. Um Wertschätzung geht es in diesem Heft gleich zweimal. Der eine Fall ist ein Klassiker: Viele von uns definieren uns über Arbeit, und oft ist es die Wertschätzung, welche für uns die Arbeit überhaupt erst sinnvoll macht. Nun hat der inzwischen verstorbene Anthropologe David Graeber vor Jahren die durchaus provokative Behaup­tung aufgestellt, es gebe eine ganze Zeile gut bezahlter Jobs, die man gemeinhin als sinnvoll erachte, aber eigentlich völlig überflüssig seien. Aber stimmt das wirklich – und von was genau hängt es

eigentlich ab, ob man seine Arbeit als sinnvoll empfindet? Wir haben nachgefragt, ab Seite 18. Um eine andere Form der Anerkennung geht es Roland Walter, der mit Lähmungen zur Welt kam und heute als Performer im Rollstuhl auf der Bühne zu sehen ist. Am Anfang seiner Laufbahn stand die Behinderung im Mittelpunkt der Inszenierungen. Dementsprechend waren die Reaktionen: Manche belächelten Roland Walter, andere applaudierten ihm aus Mitleid. Inzwischen tritt sein Rollstuhl immer mehr in den Hintergrund, es geht in den Stücken um Momente des Glücks, um Trauer, Geborgenheit und Einsamkeit – und damit auch um die Anerkennung dessen, was Roland Walter – und uns alle – als Menschen ausmacht, ab Seite 8.

KL AUS PETRUS

Redaktor

4 Aufgelesen 5 Na? Gut!

Die Jobgarantie 5 Vor Gericht

Mut zur Lücke, oder: Es ist kompliziert 6 Verkäufer*innenkolumne

Brutto 4 Franken 7 Moumouni antwortet

Was sollten wir uns unbedingt aneignen?

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8 Inklusion

Kunst ohne Einschränkung

22 Filmschaffen

Schweizer Chronik der Migration

14 «Inklusion muss

26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse

Pörtner in Kehrsatz

strukturell verankert werden»

28 SurPlus Positive Firmen

16 Weltsicht

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Ist unsere Welt besser geworden? 18 Arbeitswelt

Bullshit-Jobs: Gut bezahlt, aber sinnlos

24 Kino

«Die Antworten könnten unser Weltbild auf den Kopf stellen»

30 Surprise-Porträt

«Ab und zu ein Ausflug wäre schön»

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Aufgelesen

Warten auf Arbeit «Make it in Germany», so der Slogan, mit dem die deutsche Bundes­ regierung seit Jahren um Fachkräfte aus dem Ausland buhlt. Auf der betreffenden Website sind freude­ strahlende G ­ esichter von Menschen zu sehen, die es angeblich geschafft haben, im deutschen Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. Die Realität sieht aber anders aus. NGOs und Gewerk­ schaften kritisieren die bürokrati­ schen Hürden wie die Anerkennung von Abschlüssen oder fehlende Beratung, die den Eintritt ins Arbeitsleben ­blockieren. Und so müssen viele, die dringend auf Arbeit ange­ wiesen sind, oft über Monate warten oder werden aus n ­ ichtigen Gründen abgewiesen.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

Happy Birthday! Der Nürnberger Verein Strassenkreuzer feiert 30-jähriges Jubiläum. Das Magazin gehört zur Gründungsriege der inter­ nationalen Strassenzeitungsbewegung und ist nicht mehr wegzudenken. Längst sind neben dem qualitativ hochste­ henden Printprodukt weitere Projekte entstanden. Um zu erfahren, was die Strassenkreuzer*innen so bewegen, lohnt sich ein Blick in den Jubiläumskalender «Raum-Teiler». Er zeigt die Arbeit des Vereins in zwölf lebenden Skulpturen. Die meisten sind im öffentlichen Raum entstanden – also dort, wo sie wirken. Wie das zuletzt hinzugekommene Projekt «Housing First Nürnberg».

STRASSENKREUZER, NÜRNBERG

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Millionen von Obdachlosen Das Land mit den aktuell meisten Obdachlosen sind nicht etwa die Vereinigten Staaten, wie man mut­ massen könnte, sondern es handelt sich dabei um Nigeria: 24 Millionen Menschen leben dort schätzungs­ weise auf der Strasse, 8,6 Millionen davon sind Kinder. Besonders gra­ vierend ist die Situation in Nigerias grösster Stadt Lagos, wo 70 Prozent der Einwohner*innen entweder auf der Strasse oder in slumartigen Sied­ lungen leben, die allerdings immer wieder zwangsgeräumt und darauf­ hin wieder aufgebaut werden. Die Regierung negiert das Problem und erschwert zudem die Arbeit von lokalen Hilfsorganisationen.

ASPHALT, HANNOVER

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FOTO (1): ANIKA MAASS, FOTOS (2–4): MARIA BAYER

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.


ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Na? Gut!

Die Jobgarantie In einem Dorf in Österreich bekom­ men alle langzeitarbeitslosen Men­ schen einen Job. Und zwar bedin­ gungslos. Der Arbeitsmarktservice Niederösterreich startete das Pilotpro­ jekt in der Gemeinde Gramatneusiedl im Oktober 2020, laufen soll es bis 2024. Allen Einwohner*innen, die seit mindestens neun Monaten keinen Job haben, soll damit ein Arbeitsplatz, etwa in einem sozialen Unternehmen, garantiert werden. Nun haben zwei Ökonomen der englischen Universität Oxford das Pi­ lotprojekt evaluiert. Sie halten die Ar­ beitsplatzgarantie für ein vielverspre­ chendes Instrument, um einerseits die Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen und andererseits das Wohlbefinden von arbeitslosen Menschen zu stärken. Obwohl die Teilnahme am Pro­ gramm freiwillig ist, hat keine einzige Person, die nach der achtwöchigen Einführung einen Arbeitsplatz ange­ boten bekam, das Angebot abgelehnt. Es gibt zwar einen finanziellen Anreiz – wer das Angebot ablehnt, hätte ein um 30 Prozent tieferes Einkommen –, trotzdem halten die Autoren diesen hohen Wert für «bemerkenswert». Die Arbeitsplatzgarantie, kommen sie zum Schluss, wirkt sich nicht nur positiv auf das ökonomische Wohlbe­ finden der Teilnehmenden aus, son­ dern auch auf das nicht-ökonomische. Also auf die Tagesstruktur, auf soziale Kontakte oder den sozialen Status. Und insgesamt ging die Arbeitslosig­ keit stark zurück, Langzeitarbeitslo­ sigkeit gibt es in Gramatneusiedl kaum mehr. LEA

An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen. Quellen: lukaslehner.github.io/assets/­ Jobguarantee_marienthal.pdf und goodimpact.eu/gute-ideen/soziale-­ innovationen/ein-job-fur-alle-gegen-­ arbeitslosigkeit Surprise 559/23

Vor Gericht

Mut zur Lücke, oder: Es ist kompliziert Eine heisse Kartoffel: Die Beziehungen der Schweiz zur EU. «Es ist kompliziert», wird geulkt, in Anspielung auf den Facebook-Be­ ziehungsstatus. Und weil’s kein Thema ist, geht auch vergessen, was Stand der Dinge ist: Im Mai 2021 platzten die Verhandlungen für ein Rahmenabkommen, das den Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt gesichert hätte. Es wäre der Ersatz der Bilateralen gewesen, die in der Praxis umständlich sind: Bei jeder Gesetzesänderung müssen sie angepasst werden. Doch weil die Positionen bei Personen­ freizügigkeit, Lohnschutz und Sozialversi­ cherungsfragen weit auseinandergehen, brach die Schweiz die Übung ab. Stattdes­ sen, so schrieb der damalige Bundespräsi­ dent Guy Parmelin an Unionspräsidentin Ursula von der Leyen, wolle man «einen Dialog über die weitere Zusammenarbeit aufnehmen». Daran hat die EU kein Interesse. Sie werde keine neuen Verträge mit der Schweiz abschliessen und die alten auch nicht mehr aufdatieren. Apropos vergessen: Die Gefahr einer Stromlücke letzten Winter ist auch nicht mehr präsent. Kein Gedanke mehr daran, dass in einer Mangellage eine gute Nach­ barschaft nützlich wäre – Stichwort: Strom­ abkommen mit der EU. Aber eben, da ist ohne Rahmenabkom­ men nix zu machen. Im Gegenteil zeigt sich, dass sich die Schweiz nicht weiter durchwursteln kann. So verfolgt die EU-Kommis­

sion den Rauswurf der Schweiz aus der Ter­ re-Plattform, über die europäische Netzge­ sellschaften kurzfristig Stromlieferungen vereinbaren, um ihre Netze stabil zu halten. Schon liegen sich die EU und die Schweizer Netzbetreiberin Swissgrid juris­ tisch in den Haaren. Swissgrid hat gegen den drohenden Ausschluss beim Europa­ gericht in Luxemburg geklagt. Die Teilnahme der Schweiz sei für die Systemsicherheit des europäischen Netzes essenziell – das bestätigten auch die zu­ ständigen Übertragungsnetz-Gremien, so Swissgrid. Dass die EU-Kommission die Argumente der Schweiz nicht angehört und ihren Entscheid nicht angemessen begrün­ det hat, verstosse gegen die EU-Charta. Das Europagericht gestand Swissgrid nicht einmal eine öffentliche Verhandlung zu. Die Schweiz habe überhaupt keine Rechtsgrundlage, sich gegen den Entscheid der EU-Kommission zu wehren. Und das Urteil könnte knapper kaum sein. Nö, nein, nee, sagt sie zu den Anträgen der Schweizer*innen. Mal sehen, ob es die nächste Instanz, der Europäische Gerichtshof, auch so sieht.

Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


Verkäufer*innenkolumne

Brutto 4 Franken Die Gretchenfrage, die mir oft gestellt wird, ist: Wie viel ver­ dienen Sie so am Tag? Um diese Frage hier endgültig zu beant­ worten: Wir Surprise-Verkäufer*innen haben keinen Festlohn. Wir partizipieren ausschliesslich am Verkaufspreis von unseren verkauften Heften. Ja, aber wie viel denn? Pro Heft, das wir verkaufen, bekommen wir brutto vier Franken, also fünfzig Prozent. Das ist nicht viel, wird mir mit Bedauern gesagt. Na ja, wie man’s nimmt. Sieht man nur diese vier Franken, dann mag das nicht viel sein, reicht aber immerhin für einen Kaffee, wenn man weiss wo. Natürlich, mit einem Kaffee hat man noch nicht gelebt und auch noch keine Rechnungen be­ zahlt. Man hat noch nicht gewohnt und gegessen und man war noch nicht in der Badi oder auf ein Bier. Und man hat noch kein Bahnbillett für die Fahrt zur Arbeit in der Tasche. Ich habe aber nie behauptet, dass ich bloss ein Heft pro Tag verkaufe und mein Tagesverdienst also bei vier Franken stehenbleibt.

Aber dem ist natürlich nicht so. Zum Glück ist dem nicht so! Denn wenn dem so wäre, würden alle Surprise verkaufen wollen. Und wenn alle Surprise verkaufen: Wer soll dann noch Kunde sein? Ich lebe und wohne bescheiden. Aber ich habe alles, was ein Mensch zum Leben braucht. Sogar noch mehr. Ich habe ein Zimmer, im Winter geheizt, mit Bett, Schreibtisch, Bürostuhl, zwei Stühle, volles Bücherregal, Fernseher, gemütlicher Sessel, sogar Laptop, Gitarre, eigener Balkon, Bilder an der Wand und allerlei Klimbim. Wie gesagt, ich habe alles, was ein Mensch zum Leben braucht. Sogar noch mehr. Und alles, was ich nicht habe, vermisse ich nicht. Ich vermisse nichts. Könnte ich haben, was ich nicht habe, das Eine oder Andere würde ich wohl nehmen. Aber ich bin ein Glückspilz. Materieller Besitz war mir noch nie von Bedeutung. Und viele Wohlhabende sind mit ihrem Leben kein bisschen zufriedener als ich. Genügsamkeit ist das grösste Glück.

URS HABEGGER, 67, verkauft Surprise seit 15 Jahren in der Bahnhofunterführung in Rapperswil. Auf Nachfrage meint er, er habe keine Ahnung, was dieses Eine oder Andere sein könnte, das er nehmen würde, wenn er es haben könnte.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die ­­Illustra­tion zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der ­Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

ILLUSTRATION: EVELIINA MARTY

Ich stelle mir vor: Mal angenommen, ich verkaufe tausend Hefte an einem Tag. Dann habe ich am Abend also viertausend Franken in meinem Kässeli. Wie ich finde, ein hübsches Sümmchen für einen Tag Arbeit. Das ist aber nicht alles. Ver­ kaufe ich eine Woche lang an fünf Tagen tausend Hefte pro Tag, dann habe ich Ende der Woche zwanzigtausend Franken in meinem Kässeli. Verkaufe ich vier Wochen lang an fünf Tagen die Woche je tausend Hefte pro Tag, dann habe ich Ende Monat achtzigtausend Franken in meinem Kässeli. Verkaufe

ich zwölf Monate lang an fünf Tagen die Woche je tausend Hefte pro Tag, dann habe ich einen Jahreslohn von sage und schreibe neunhundertsechzigtausend Franken.

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ILLUSTRATION: CHRISTINA BAERISWYL

einziger Blick, ein Nasenrümpfen – aber immer eher harmlos und ruhig. Ich finde auch allgemein, Schweizer*innen sind gute Zugfahrer*innen. Verspätungen in Deutschland sind ja anscheinend nicht nur dem desolaten Zustand der deutschen Bahn zuzuschreiben, sondern auch der Zugfahrkultur der Deutschen: Sie steigen nicht schnell genug ein und aus, hat mir mal ein SBB-Lokführer erzählt. Immerhin blieb ich ruhig, als mir letztens Unverschämtes passierte: Ich war im Zug und er war voll. Es war heiss und schwitzig. Alle Menschen waren auf­ geräumt, jeder Platz war besetzt, sodass einige stehen mussten, und sie taten es ordentlich und bereitwillig. Ich sah, dass noch ein einziger Platz frei war, auf dem eine junge Frau ihre Tasche platziert hatte. Die stehenden Passagiere vermuteten wohl einen guten Grund für die Tasche oder trauten sich nicht zu fragen, ob sie sitzen dürften, wo die Tasche sass. Ich traute mich und fragte freundlich.

Moumouni antwortet

Was sollten wir uns unbedingt aneignen? Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es eine «Stay-friendly»-Attitüde sein soll. Ich habe es letztens ausprobiert, aber seitdem koche ich immer wieder, sobald ich an meinen «Triumph» denke. Dazu muss man sagen, ich bin Zugfahrerin, wie andere Menschen Auto fahren: Immer auf dem Gaspedal und leicht reizbar. Es geht mir dabei um Effizienz und ein wenig um Anstand, vor allem aber um Recht und Respekt. Ich gehöre zum Beispiel zu den Menschen, die darauf bestehen, dass man Leute erst aussteigen lässt, bevor man einsteigt. Das heisst, sollte es mir passieren, dass ich doch zu früh einsteige, weil ich wen übersehen habe, bin ich unglaublich beschämt; wenn mir dagegen das Unrecht Surprise 559/23

angetan wird, dass mir der Vortritt verwehrt wird, tue ich meinen Unmut genervt kund. Ausserdem möchte ich, dass Leute sich an das ungeschriebene Gesetz halten, das besagt, dass man auf der Rolltreppe links geht und rechts steht. Damit die Menschen, die relaxen wollen, sich von den Stufen tragen lassen können, und die anderen an ihnen vorbeiziehen können. Warum tun sich viele Schweizer*innen denn so schwer damit? Da wo ich herkomme, gibt es Schilder mit Hinweisen auf diese Regel und man wird laut beschimpft, wenn man sich nicht daran hält – dafür funktioniert es aber auch. Ich bewundere, wie ruhig Schweizer*innen bleiben, wenn sie etwas stört. Ein

Die Antwort aber war unhöflich: «Ungern!» Ich stutzte kurz und wollte fast explodieren. Stattdessen bot ich aber nett an, ob ich ihr mit ihrer Tasche auf dem Sitz helfen könne. Sie nahm mein Angebot fordernd an, und ich hievte die Tasche auf die Ablage über den Sitzen. Meine Hände zitterten vor Wut, doch ich tat so, als wäre es wegen des Gewichts der Tasche. Sie bedankte sich nicht. Also setzte ich mich und lächelte meine neue Sitznachbarin an. Dann frage ich gespielt naiv und neugierig, ob sie zwei Tickets gekauft habe für diese Fahrt. Das ist nun drei Monate her. Ich werde immer noch wütend, wenn ich daran denke, und weiss nicht, ob ich lieber üben sollte, höflich gleichgültig über Unrecht im Zug zu bleiben – oder ob ich das nächste Mal einfach wieder sage, was ich denke: BLÖDE ZWETSCHGE!

FATIMA MOUMOUNI

glaubt, man sollte sich darin üben, im öffentlichen Verkehr gegen Unrecht jeglicher Art einzustehen, damit man bereit für Zivilcourage ist, wenn es wirklich einmal darauf ankommt. 7


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Die Bühne der anderen Inklusion Als Roland Walter zur Welt kam, gaben die Ärzte ihm nur wenige Wochen zu leben.

Mit fast 60 Jahren ist er heute ein weltweit reisender Performance-Künstler. TEXT KRISTIN KASTEN

Ein Mann, graue Haare, spindeldürr, liegt auf dem kalten Linoleumboden eines Künstlerlofts. Er trägt eine beige Unterhose, seine dünnen Arme und Beine sind mit einer klirrenden Metallkette gefesselt, der Körper ist angespannt, seltsam verdreht, sein Rücken gebeugt. «Abgelehnt», ruft er, doch er ist schwer zu verstehen. Seine Aussprache ist undeutlich, er verschluckt Silben. Roland Walter, 59, ist mit spastischen Lähmungen zur Welt gekommen. Im Kindesalter kam eine schwere Sprachstörung hinzu. Heute reist er als Performance-Künstler um die Welt, spielte schon auf zahlreichen nationalen und internationalen Bühnen. 460 Auftritte. Von Hamburg bis Buenos Aires, von Salzburg bis Sevilla. In den ersten Jahren stand die Behinderung oft im Fokus der Inszenierungen. Die Barrieren, die ihn einschränken, sein Wille, frei und unabhängig zu leben. Doch inzwischen rückt sein Rollstuhl auf der Bühne immer mehr in den Schatten, das Zwischenmenschliche dagegen ins Scheinwerferlicht: Angst, Trauer, Liebe, Einsamkeit. Aber was sieht das Publikum, fragt sich der Performer. Einen Mann mit Behinderung? Einen Freund auf Augenhöhe? Einen potenziellen Lebenspartner? Einfach einen Mann?

FOTOS KATHRIN HARMS

Roland Walters Start ins Leben war nicht leicht. «Ich lag im Bauch meiner Mutter verkehrt herum.» Die Ärzte drehten ihn in der Gebärmutter, bis der Kopf ins Becken zeigte. Dabei kam es zu Sauerstoffmangel. Die Diagnose: spastische Tetraplegie mit Athetosen, einer bestimmten Form unwillkürlicher Bewegungen. Seine Eltern, die mit ihm in einer Wohnung in Magdeburg lebten, bekamen häufig Einladungen mit dem Zusatz «ohne Roland». Doch sie weigerten sich, ihren Sohn zurückzulassen, förderten ihn, schickten ihn auf zwei Internate. «Nach der 10. Klasse musste ich die Schule verlassen. Für viele Behinderte war der Weg zur erweiterten Oberschule in der DDR verbaut.» Als junger Mann bekam er seine erste Schreibmaschine, später einen Computer. Er erledigte Schreibarbeiten gegen Honorare, bevor er sich schliesslich zum Kaufmann ausbilden liess. Doch mit der Wende kam die Arbeitslosigkeit. Also schulte er sich um und schaffte fortan in der

«Muss das sein?» Die Gesellschaft weist Künstler*innen mit Behinderung eine kleine Nische zu. In Tanzgruppen für Menschen mit Behinderung oder auf den Bühnen inklusiver Theaterfestivals sind sie willkommen. Doch Roland Walter sieht das nicht ein. Er will sich nicht einengen lassen und testet auf der Bühne Grenzen aus: seine eigenen körperlichen, aber auch die «Toleranzgrenzen der Zuschauer», wie er es nennt. Für manche Menschen ist der Anblick seines behinderten Körpers nur schwer zu ertragen. «Muss das sein?», fragten Bekannte. «Im Kopf scheint er ja ganz fit zu sein», sagte eine ältere Dame im Publikum. Sein scharfer Verstand überrascht viele, weil sein Körper so offen zeigt, was er nicht kann: deutlich sprechen, rennen, hüpfen, klettern.

Auf den Bühnen dieser Welt zuhause – und doch fühlt sich Roland Walter immer wieder fremd, wenn die Zuschauer*innen ihn so anstarren, während er seinen Körper offen zeigt, seine Hände und Füsse, mit denen er auch Musik macht.

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Jugendarbeit. Erst mit 37 Jahren zog er bei seinen Eltern aus. Fast zwei Jahrzehnte dauerte die Suche nach einem Ort, an dem er selbstbestimmt leben kann. Roland Walters Weg ins Scheinwerferlicht beginnt mit dem Flyer einer Tanzgruppe für Rollstuhlfahrer*innen, den ihm jemand in die Hand drückte. Dreizehn Jahre ist das her. «Das Werbeblatt lag bei mir lange Zeit unbeachtet herum, fiel mir aber immer wieder in die Hände.» Nach Monaten ringt er sich durch, besucht die Proben. «Hier durfte ich sein, wie ich bin, konnte mich ausprobieren.» Erste Auftritte folgen. Doch mit der Zeit fühlt er sich unterfordert, will weitergehen, ROL AND WALTER professioneller arbeiten. Über das Internet nimmt er Kontakt mit Bühnenkünstler*innen, Choreografen und Tänzer*innen auf, besucht Workshops und Improvisationstheater. Und hat Erfolg. «Hätte mir vor zwanzig Jahren jemand gesagt, dass ich als Performance-Künstler weltweit unterwegs sein werde, hätte ich gesagt: ‹Du hast einen Vogel!›» In den vergangenen Jahren performte er in Städten wie Hamburg oder Buenos Aires, von Seoul bis nach Sevilla.

«In Zeitungen steht dann gerne, dass jemand trotz seiner Behinderung etwas erreicht hat», sagt Jutta Schubert vom Eucrea Verband Kunst und Behinderung e.V., dem Dachverband zum Thema Kunst und Inklusion im deutschsprachigen Raum. Dabei hätten Menschen nicht «trotz» ihrer Behinderung Erfolg, sondern «mit» ihr. Immerhin werde mittlerweile über Menschen mit Behinderung auf Bühnen berichtet, vor zehn Jahren sei das noch anders gewesen. Die meisten Theatergruppen für Menschen mit geistiger Behinderung seien in Werkstätten verortet, «die sich auch einen Kunstbereich leisten», sagt Schubert. Zahlen, wie viele Menschen mit Handicap auf den Bühnen aktiv seien, gebe es nicht. Es seien aber zu wenige, so viel stehe fest. Der Verein versucht das zu ändern. In fünf Bundesländern konnte er ein Pilotprogramm initiieren, das Kreativen und Kunstschaffenden mit Behinderung an Ausbildungsprogrammen in renommierten Institutionen teilhaben lässt. Von Ausbildungen speziell für Menschen mit Behinderung hält die Hamburgerin wenig. «So was gehört einfach nicht mehr in die heutige Zeit.»

«Hier durfte ich sein, wer ich bin, konnte mich ausprobieren.»

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Nicht der Normalfall: Roland Walter hat für diesmal einen barrierefreien Zugang zur Bühne, wo er mit zusammen mit der Künstlerin Luana Yágazi (Bild links) das Stück «Entfesselt» einstudiert.

war. Seinen Beruf als Berater für Menschen mit Assistenzbedarf nimmt er nur noch als Nebenjob wahr. Sein Terminkalender ist voll, Proben und Auftritte reihen sich aneinander. «Zwei Projekte müssen so viele Einnahmen generieren, dass noch ein drittes davon finanziert werden kann», sagt Roland Walter. Er bekomme ein branchenübliches Honorar, Auslandsprojekte finanziere er durch Stipendien oder Fördergelder. Sein Tagesablauf hat feste Strukturen. Ein Assistent*innenteam unterstützt ihn abwechselnd im Alltag. Vier Stunden am Tag ist er allein. «Meine Nachbarn sind immer froh, wenn ich wieder da bin», sagt er, «ohne mich ist es ihnen zu ruhig.» Der Performer lebt in einer Zweizimmerwohnung im Südwesten Berlins. Wenn man ihn fragt, wo die Stadt barrierefreier werden könnte, antwortet er: «In den Köpfen.»

«Jeder Mensch hat Dinge im Leben, die ihn fesseln und hindern», sagt Roland Walter. Barrieren und Grenzen haben ihn oft ausgebremst, Ablehnung hat er am eigenen Leib erfahren. Menschen, die ihn belächelten, als Künstler nicht ernst nahmen oder ihm grossmütig Applaus schenkten, als wäre er ein kleines Kind. Bühnen, die keine Rampen hatten. Unterkünfte mit zu schmalen Türen für seinen Rollstuhl. Assistent*innen, die ihn in schwierigen Situationen alleinliessen. Eine Performerin, die schon mit ihm gearbeitet hatte, gibt zu: «Ich wollte diesen Körper nicht anROL AND WALTER fassen und dann machte ich mir selbst Vorwürfe. Irgendwann gab ich mir einen Ruck. Es sind Knochen, Haut und Haare, die wir da berühren, und es ist nichts Ekliges daran.» Roland Walter spürt die Vorbehalte der Menschen – auch heute noch. «Manchmal tut es weh. Manchmal ist mir das Bockwurst.» «Sei realistisch. Versuche das Unmögliche» steht an seiner Wohnzimmerwand. Werbeplakate zeugen von seinen Erfolgen und Reisen. Roland Walter in den Uferstudios Berlin; im hautengen goldenen Anzug in Korea; nur in Unterwäsche bekleidet in Argentinien. Auf einer Weltkarte markieren bunte Fahnen die Orte, an denen er schon

Mit Corona kam die Musik dazu Heute sitzt Roland Walter auf seiner kleinen Terrasse. Die Tür zum Wohnzimmer steht offen. Sein Assistent schiebt ihm löffelweise Rührei in den Mund. Den Kopf hält er hoch, damit das Essen nicht herausfällt. Seine Zunge ist gelähmt. Zum Kauen benutzt er die Schneidezähne oder er zermahlt das Essen unter dem Gaumen. Als die Sonne den letzten Schattenplatz auf der Terrasse verdrängt hat, zieht er sich ins Wohnzimmer zurück. Auf dem Tisch vor dem Fenster stehen ein Laptop, Mischpult, Boxen, ein Mikrofon. Erst mit Corona hat er den Musiker in sich entdeckt. «Musik? Ich nie, dachte ich immer!» Doch als alle Bühnen geschlossen waren, brannte die kreative Energie in ihm. Also fing er an. Auf dem iPad spielt er mit durchgestrecktem Zeigefinger auf Keyboardtasten oder streicht über Gitarrensaiten. Die Unterlippe schiebt er dabei vor. Filigrane Bewegungen kosten ihn viel Konzentration und Kraft. Die Töne lässt er in Dauerschleife laufen, legt einen Beat darunter. Sein Kopf wippt im Takt, er lacht. In einem Video sieht man ihn mit pinkem Irokesenhaarschnitt auf der Bühne sitzen. Elektronische Klänge wabern durch den Raum und vermischen sich mit dem Geigenspiel eines Violinisten, der neben ihm steht. Aus einem Hobby ist längst die nächste Kunstform erwachsen. Menschen, die den Performer respektlos behandeln oder abfällige Bemerkungen machen, lassen ihn zweifeln.

«Jeder Mensch hat Dinge im Leben, die ihn fesseln und hindern.»

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Früher stand der Rollstuhl von Roland Walter im Zentrum der Inszenierungen, heute ist er immer mehr im Hintergrund, verschwindet im Dunkeln. Im Mittelpunkt steht nun das Menschliche.

Darin unterscheidet er sich kaum von vielen Künstler*innen ohne Behinderung. Doch die Art der Kritik ist anders: In seinem Umfeld gibt es nach wie vor Leute, die den freien Umgang mit seinem Körper nicht gut finden. Die nicht verstehen, warum er sich eng umschlungen mit einer Frau oder in hautfarbener Unterhose und in Ketten gefesselt auf der Bühne zeigt. Auf Facebook schrieb eine Frau: Bist Du ´ne gefährliche Dogge?! Ìch find`s langsam bisschen putzig, wie du dich zur Schau stellst. «Aber ich stehe zu dem, was ich mache. Die Menschen müssen das akzeptieren», sagt Roland Walter. Verstecken will er sich nicht. Im Gegenteil, in den Sozialen Medien teilt er Videos, Bilder und Gedanken und zieht Kraft aus positivem Feedback. So auch an dem Tag im Juli vergangenen Jahres, an dem er sich wertlos und überflüssig fühlte. Am Ende eines Eintrags in den Sozialen Medien schrieb er damals: Und an diesem Tag kommt eine Mail von einer unbekannten Dame: «Deine Videos haben mich total berührt». «Das Internet ist ein wichtiges Medium für mich als Künstler und Mensch», sagt Roland Walter. Für Menschen, die ihm nahestehen, hat er eine Chatgruppe eingerichtet. Bilder und Videos zeigen ihn lachend im Amazonas Regenwald mit Affen auf Kopf und Armen, wie er an der Küste Brasiliens mit weit ausgestreckten Armen surft und 12

in Kolumbien das Schnorcheln für sich entdeckt. Auf Reisen begleiten ihn immer zwei Assistent*innen, sie unterstützen ihn bei seinen Träumen. Ohne sie geht es auch nicht. Worauf er sich in diesem Jahr am meisten freut? «Auf meinen 60. Geburtstag. Die Ärzte gaben mir damals drei Wochen zu leben. Denkste!» Roland Walter ist niemand, der seinen Körper schont. Wenn er sich auf dem kalten Boden herumrollt, seine knochigen Hände hart aufknallen, ist kein Zögern zu erkennen. «Klar kommen erste Wehwehchen mit fast 60», sagt er, die seien aber längst kein Grund, kürzer zu treten. «Nicht jammern, weitermachen», lautet sein Motto. Heute lässt er sich mithilfe eines Klettergurts in Seile spannen, die unter dem Hallendach befestigt werden. Langsam wird sein Körper in die Höhe gezogen. Seine Tanzpartnerin greift seinen Fuss, lässt ihn hin und herschaukeln, dreht ihn. Mehr als zwanzig Minuten vergehen, bis er wieder unten ist. «Das hat mir wehgetan», sagt er. Die Produktionsassistentin schaut entsetzt auf. «Das musst du doch sagen!» Sie versucht den Gurt an seinen schmalen Hüften besser zu positionieren. Und Roland Walter? Der hat den Zwischenfall schon weggesteckt und scherzt längst wieder mit seiner Tanzpartnerin. Surprise 559/23


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«Inklusion muss strukturell verankert werden» Die Fachstelle Kultur inklusiv berät Schweizer Kulturinstitutionen dabei, sich für Inklusion zu öffnen. Die Kommunikationsbeauftragte Paola Pitton erklärt, wo die Kulturbranche diesbezüglich steht. INTERVIEW SARA WINTER SAYILIR

Paola Pitton, weshalb ist die Inklusion in der Kulturbranche wichtig? Paola Pitton: Rund 22 Prozent der Bevölkerung leben mit einer Behinderung. Dazu gehören auch die unsichtbaren Behinderungen, die häufig vergessen gehen. Da liegt ein Potenzial an Publikum, Mitarbeitenden und Kulturschaffenden, das man sich erschliessen kann. Ein Publikum, das immer älter wird, hört nicht mehr so gut. Also braucht es Induktionsschleifen für akustische Verstärkung in meinem Theater. Und ich brauche eine Rampe, weil manche mit Rollator kommen, das nützt aber auch der Familie mit Kinderwagen. Die Zusammenfassung in einfacher Sprache im Programmheft wird nicht nur von Besucher*innen mit kognitiven Beeinträchtigungen verstanden, sondern auch von Nicht-Muttersprachler*innen. Das erfordert ein Umdenken. Was möchten Sie mit der Fachstelle Kultur inklusiv bewirken? Die Fachstelle setzt sich für Inklusion von Menschen mit Behinderungen als Kulturschaffende, Publikum und Mitarbeitende in Kulturbetrieben ein. Wir sensibilisieren und beraten interessierte Institutionen dabei, inklusiv zu werden, und begleiten diese bei der Umsetzung. Das umfasst sowohl kleine, agil handelnde Festivals als auch grosse Drei-Sparten-Häuser. Der Öffnungsprozess wird entsprechend individuell gestaltet: Es wird evaluiert, wo eine Institution steht und welches Vorgehen sich anbietet. Inklusion ist ein Prozess, sie stellt sich nicht von einem Tag auf den anderen ein. 14

Kommen die Institutionen freiwillig auf Sie zu und bitten um Beratung? In den letzten Jahren hat sich das so entwickelt, ja. Anfangs waren wir ein kleines kantonales Projekt in Bern, wir mussten erst einmal bekannt werden, unser Angebot vorstellen. Mittlerweile ist die gesellschaftliche Entwicklung etwas weiter. Heute haben Diversität und Inklusion einen anderen Stellenwert als vor zehn Jahren. Erfreulicherweise! Damals haben wir uns bemüht, heute kommen Kulturhäuser zu uns. Derzeit können wir mit unseren Ressourcen nicht alles berücksichtigen, wofür wir angefragt werden. Wichtig ist sicherzustellen, dass Inklusion nicht nur ein Trend ist, bei dem man dabei sein will, um das Anliegen dann abzuhaken. Sie bieten sogenannte Labelpartnerschaften an. Was passiert da? Anfangs führen wir mit den interessierten Institutionen einen Dialog darüber, wo sie punkto Inklusion stehen. Dann erarbeiten sie ein umfassendes Vorgehen, es reicht vom Kulturangebot über inhaltliche und bauliche Zugangsmassnahmen bis hin zur Mitarbeit von Menschen mit Behinderungen und zur Kommunikation. Und die Wirkung der Massnahmen muss überprüfbar sein. Wir begleiten sie während der vier Jahre. Inklusion muss strukturell verankert werden, sollte Teil von Leitbild und Budgetplanung sein. Inklusion kostet. Ja, man muss bewusst Ressourcen dafür einplanen. Auch die öffentlichen Kulturförderstellen müssen sich darüber klarwer-

den, dass Inklusionsmassnahmen Budgetposten sind. Versuchen Sie auch Inklusionsmassnahmen durchzusetzen, machen Sie Druck auf die Branche? Es braucht Überzeugungsarbeit. Viele Kulturinstitutionen wollen jedoch gesellschaftliche Vorreiter sein, das entspricht dem Selbstverständnis. Unsere Aufgabe ist auch, den Institutionen ein Stück weit die Angst zu nehmen, Inklusion sei zu teuer, zu aufwendig. In der Kultur arbeiten viele mit wenigen Mitteln, viele beuten sich selbst aus. Wir müssen also aufzeigen, dass Inklusion ein Menschenrecht ist, ein Mehrwert, und dass es der Institution etwas bringt. Gleichzeitig ist es wichtig, dass wir auch die öffentlichen Kulturförderstellen für das Thema sensibilisieren, damit sie sich bewusst werden, dass Inklusionsmassnahmen ein Budgetposten sein müssen. Derzeit ist die Kulturbotschaft 2025– 2028 des Bundes in der Vernehmlassung – Inklusion kommt zwar darin vor, sie sollte aber zusammen mit Diversität als Handlungsfeld zusätzlich zu den vorgeschlagenen sechs Handlungsfeldern darin aufgenommen und als Querschnittaufgabe verankert werden. Wie sieht es mit der Inklusion auf der Bühne aus? Tatsächlich geht die Barrierefreiheit der Räume für die Künstler*innen oft vergessen, der Zugang zur Bühne ist nicht gewährleistet, barrierefreie Toiletten wurden oft nicht mitgedacht. Da braucht es Veranstaltungen wie ein Festival IntegrArt, wo Surprise 559/23


Womit hängt das zusammen? Unter anderem mit den Ausbildungs­ möglichkeiten. Die sind in der Schweiz nur sehr beschränkt vorhanden. Wie professionalisieren sich also Künstler*innen mit Behinderung? Welche Rolle spielen Vorbilder? Eine grosse! Das ist ja immer so. Wenn eine Person aus einem armutsbetroffenen Haushalt nicht sieht, dass jemand aus derselben sozialen Schicht auch Stadtrat werden kann, kommt sie auch nicht darauf, dass sie das auch anstreben kann. Es geht um die Perspektiven – auch im Bereich Inklusion. Es braucht Pionier*innen, die die Anfangsschwierigkeiten aushalten und die auch das grosse Selbstbewusstsein mitbringen, das es braucht, um etwas zu verändern. In Bern hat eine Choreografin jüngst eine semiprofessionelle Tänzerin mit Mobilitätsbehinderung erst davon überzeugen müssen, dass sie mit anderen Tänzer*innen Teil einer professionellen Inszenierung sein kann. Gemeinsam haben sie die Trainings und Proben so gestaltet, dass sie teilhaben konnte. Es ist wichtig, dass man auf Augenhöhe zusammenarbeitet. Für die Künstler*innen mit Behinderungen sind dies ja auch seltene Gelegenheiten, sich professionell weiterzuentwickeln – und umgekehrt! Surprise 559/23

Wie stellt man sicher, dass die Institutionen es auch ernst meinen? Es gibt natürlich Häuser, die einmal eine Veranstaltung mit Gebärdensprache planen und nächstes Jahr machen sie dann Audiodeskription. Diese Haltung versuchen wir zu ändern. Es muss auf Nachhaltigkeit und Langfristigkeit ausgelegt sein. Es ist ja auch so, dass einmalige Aktionen das Publikum oft gar nicht erreichen, weil nicht bekannt ist, dass die betreffende Insti­tution so etwas anbietet. So etwas muss sich etablieren.

ausgleichende Massnahmen eingerichtet werden? Hier ist wieder die Umkehr der Perspektive nötig: Inklusion ist ein Recht, kein «nice to have». Es muss von Anfang an partizipativ gearbeitet werden, die Teilhabe ermöglicht werden. Wenn ich ein Haus neu baue, beziehe ich die entsprechenden Fachpersonen in Planung und Evaluation mit ein. Bei öffentlichen Gebäuden ist es sogar normiert (Norm SIA 500). Genauso bei Webseiten: Barrierefreiheit muss mitgedacht und darin investiert werden. Und die beratenden Fachpersonen mit Behinderungen müssen auch ganz normal entschädigt werden.

Brauchen Künstler*innen mit Behinderung Räume, in denen sie speziell geschützt sind? Wenn es eine Selbstverständlichkeit gibt in der Zusammenarbeit – und ich denke dabei beispielsweise an BewegGrund in Bern, die seit 25 Jahren Inklusion leben und wo auf jeder Ebene Menschen mit Behinderung mitmachen –, dann ist das per se ein Safe Space. Es geht auch darum, dass die Menschen ohne Behinderungen ihren eigenen Ableismus hinterfragen. Auch als Institution. Warum haben wir keine Mitarbeitenden mit Behinderungen? Wie schreiben wir unsere Stellen aus, sind Menschen mit Behinderungen explizit eingeladen, und was machen wir dafür, dass diese Personen zu uns kommen? Was sind wir bereit zu ändern, damit sie dabei sein können? In dem Moment, wo man eine Leitungsperson mit Behinderung hat, wird vieles anders, weil diese Person anders schaut. IntegrArt hat seit Anfang 2023 eine Frau mit einer Hörbehinderung an der Spitze. Das wird weiter ausstrahlen. Wie sieht das bei Ihnen in der Fachstelle aus? Eine der fünf Mitarbeiterinnen hat eine Mobilitätsbehinderung, und eine lebt mit einer Form von Neurodiversität. Gibt es Fragen der «critical mass» bei Inklusion in einem kleinen Land wie der Schweiz – also sind bei bestimmten Behinderungen zu wenige Menschen betroffen, um durchzusetzen, dass

Besteht nicht eine Gefahr, dass bei Inszenierungen, an denen Künstler*innen mit Behinderung beteiligt sind, die Behinderungen automatisch im Zentrum stehen? Je häufiger ein Tänzer im Rollstuhl auf der Bühne zu sehen ist, desto «normaler» wird es. Das Publikum gewöhnt sich daran. Am Anfang ist man ausgestellter. Und es ist auch eine Frage der Berichterstattung: Die Medien sind ebenfalls in der Pflicht, sich zu fragen, ob die Behinderung eines Künstlers oder einer Künstlerin tatsächlich eine Rolle für das Stück gespielt hat. Gibt es einen Grund, dass man die Behinderung des Tänzers benennt oder ist das nur Ausdruck des Ableismus – also der Diskriminie rung von Menschen mit Behinderung – des Medienschaffenden?

FOTO: OLAF KÜHNE

nur inklusive Ensembles oder Künstler*innen mit Behinderungen arbeiten, die durch die Schweiz touren und sensibilisieren. Das Bewusstsein, dass es ein Gewinn ist, wenn eine Tänzerin mit einer Mobilitätsbehinderung auf der Bühne ist – sie wird sich anders bewegen, sie wird meine Sehgewohnheiten erweitern –, ist längst nicht überall vorhanden. Es geht um die künstlerische Auseinandersetzung mit diversen Körpern und ihrer ästhetischen Vielfalt, die dabei möglich wird. Da ist die Schweiz langsam, Grossbritannien oder die nordischen Länder sind da teilweise schon weiter. Die Programmierung von inklusiven Produktionen ist noch nicht so gegeben.

PAOL A PIT TON, 59, ist seit 2017 verantwortlich für die Kommunikation der Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis und für die Bereiche Tanz, Performing Arts Tessin sowie Literatur und Biblio­theken Deutschschweiz. Sie ist ausgebildete Balletttänzerin und -pädagogin.

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Apocalypse Now? Weltsicht Unser Blick oft die Welt sei, trotz Klima und Kriegen, viel zu düster.

Mit Schönfärben statt Schwarzmalen ist es allerdings nicht getan. TEXT KLAUS PETRUS

Und wieder eine neue Studie zur Armut, und wieder möchte man die Zahlen am liebsten weit von sich schieben: Allein in der Schweiz sind 375 000 Menschen betroffen. Fast zeitgleich, Anfang Juni, lese ich einen Bericht über den Klimawandel, darin geht es um Menschen, die infolge der rasanten Klimaveränderung Haus, Vieh und Ernte verlieren und ihre Heimat verlassen müssen; 140 Millionen werden es bis 2050 weltweit sein. Dazu Millionen Hun­ gernde am Horn von Afrika, Zehntausende, die auf ihrer Flucht übers Mittelmeer bereits ertrunken sind, die Pandemie, Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, der schleichende Niedergang der Demokratie in vielen Ländern Europas, und so fort: Krisen, Kriege und Katastrophen jeden Tag aufs Neue, so fühlt es sich für mich an – vielleicht auch, weil ich als Reporter manchmal Zeuge davon werde: an den Rändern der Schweizer Gesellschaft, in der Ost­ ukraine, auf dem Balkan und in Somalia oder, wie zuletzt, an der tunesisch-libyschen Grenze, wo die Leichen der Geflüchteten zusammen mit PET-Flaschen an die Strände zurückgespült wer­ den. Eine schöne Schweisswelt ist das. Stimmt nicht, sagen gewisse Fachleute, alles bloss Verzerrung, geschuldet unserer einseitigen Fokussierung aufs Negative. Und bringen sattsam Beispiele, verpackt in Zahlen, Diagramme und Prozente: Die extreme Armut ist in den letzten hundert Jahren weltweit um mehr als die Hälfte zurückgegangen, die Zahl der Hungernden um 30 Prozent; 80 Prozent aller einjährigen Kinder sind inzwischen gegen Krankheiten geimpft; der Anteil des

Krisen, Kriege und Katastrophen jeden Tag aufs Neue. Eine schöne Scheisswelt ist das. Stimmt nicht, sagen Fachleute. 16

Plastik­mülls, der in den Weltmeeren landet, ist auf sechs Prozent gesunken, die Zahl der Toten infolge von Naturkatastrophen in­ nert fünfzig Jahren auf weniger als die Hälfte, und so fort. Eine schöne, bessere Welt ist das. Was nun? Die Antwort lautet, wenig überraschend: Es ist kompliziert. Beispiel Armut: Dass extreme Armut in den vergangenen Jahr­ zehnten massiv zurückgegangen ist, trifft zu. Nur, es handelt sich dabei um sogenannte absolute Armut, die sich global anhand einer Zahl definieren lässt: Wer pro Tag mit weniger als 1,90 US-Dollar auskommen muss, gilt als extrem arm. Derart arm ist in der Schweiz niemand. Von der absoluten Armut zu unterschei­ den ist nun aber die relative Armut; sie wiederum wird gemessen an den ökonomischen Gegebenheiten einer Region oder eines Landes und kommt in der jeweiligen Armutsgrenze zum Aus­ druck. In der Schweiz liegt sie bei durchschnittlich 2289 Franken monatlich für eine Einzelperson und 3989 Franken für eine Fa­ milie mit zwei Kindern. Was sich daraus folgern lässt: Es kann auch arm sein, wer nicht extrem arm ist. Und das sind immer noch viele – viel zu viele. Vernunft statt Emotion Ein zweites Beispiel, es bezieht sich wieder auf extreme Armut, jetzt aber im Unterschied zur sozialen Ungleichheit. Während das Problem der extremen Armut darin besteht, dass immer noch zu viele Menschen zu wenig Geld haben, liegt es im Fall sozialer Ungleichheit darin, dass wenige Menschen viel mehr Geld haben als alle anderen und also eine Kluft zwischen Arm und Reich be­ steht. Dabei wird Geld bekanntlich nicht allein in Nahrung, Wohn­ raum und Gesundheit umgesetzt, sondern es wird auch für Bil­ dung, politische und gesellschaftliche Teilhabe benötigt. Und dafür fehlt es vielen an Geld. Auch hier liegt die Konsequenz auf der Hand: Extreme Armut mag global zurückgehen, soziale Un­ gleichheit kann trotzdem zunehmen. Und tut es tatsächlich – die Kluft zwischen Arm und Reich nimmt statistisch zu. Also was nun? Ist es am Ende dieser aufgesetzte, pinkfarbene Optimismus, der zur Verzerrung der realen Verhältnisse führt? Der inzwischen verstorbene schwedische Arzt und Statistiker Hans Rosling hatte mit seinem 2018 erschienenen Buch «Fact­ fulness» genau das im Sinn: mit Fakten gegen all diese Miesepe­ ter antreten. Dass er zum «Optimisten vom Dienst» gestempelt wurde, einer, der uns die Welt schöndichtet, das habe ihn schon immer genervt, sagte Rosling in Interviews. Er sei vielmehr Re­ alist, bringe endlich die «bloody facts» auf den Tisch, setze auf Vernunft statt auf Emotion. Der Alarmismus unserer Zeit war ihm nicht geheuer. Dabei wusste auch Rosling: Wir Menschen sind, evolutionsbiologisch gesehen, darauf aus, an allen Ecken und Enden Gefahren zu sehen, sind von Natur aus auf negativ gepolt; unser Gehirn tut sich schwer, langfristige Entwicklungen Surprise 559/23


gegen momentane, angstmachende Ereignisse abzuwägen. Wes­ wegen wir uns, obschon wir schon lange nicht mehr von Säbel­ zahntigern aufgefressen werden, eher von Tragödien aufwühlen lassen statt von Fakten besänftigen. Die Medien wissen das nur zu gut. Und bringen auf der Front­ seite die Katastrophe und in einer Spalte weiter hinten, so über­ haupt, ein paar Good News. Zumindest ist das Verhältnis zwischen guten und schlechten Nachrichten oft und eindeutig zugunsten der letzteren verteilt. Laut einer Studie über Medienkonsum er­ höhen negative Nachrichten die Klickzahlen um 62 Prozent. Ich kenne das aus eigener Erfahrung, viele meiner Reporta­ gen fokussieren auf das Problematische eines Themas – aufs Leben und Sterben in Zeiten von Krisen, um es dementsprechend pathetisch zu sagen. Auch in Surprise dominieren häufig die «schweren» Geschichten: Obdachlosigkeit, Altersarmut, Gewalt gegen Frauen, die Liste ist lang. Auf Klickzahlen schielen wir bei der Auswahl nicht, ebenso wenig sind wir in die Apokalypse ver­ liebt. Eher bilden wir uns ein, dass Geschichten, gerade auch in ihrer Tragik, sensibilisieren können, aufrütteln, ja vielleicht sogar zum Handeln anstacheln. Allerdings gibt es auch dazu Studien und Fakten, die in eine andere Richtung weisen. Eine stammt von der Universität Sou­ thampton und läuft auf dieses hinaus: Es ist mitnichten so, dass uns eine problemorientierte oder gar überdramatisierte Sicht auf die Dinge zwangsläufig zu grossen Taten gegen Armut und so­ ziale Ungerechtigkeit anspornt. Eher im Gegenteil: Angesichts der vielen negativen Nachrichten fühlen sich nicht wenige von uns ohnmächtig und zucken mit den Schultern. Alles so schlimm, da kann ich sowieso nichts dagegen tun! Umgekehrt, so die Stu­ die, führen «Nachrichten mit einem positiven Ansatz zu einer deutlich höheren Motivation, positive Massnahmen zu ergreifen (für wohltätige Zwecke zu spenden, umweltfreundlich zu han­ deln, Meinungen zu äussern usw.), als negative Nachrichten.» Das ganz Normale nicht vergessen Es gibt noch eine andere Gefahr der Fokussierung aufs Negative, und die hat mit Stereotypen zu tun: Wer vor allem News auf­ nimmt, dass am Horn von Afrika Menschen vor Hunger dahin­ siechen, in Südostasien die Kindersterblichkeit rasant zunimmt, zentralamerikanische Staaten in Korruption versinken, im Mitt­ leren Osten Frauen und Mädchen geknechtet werden, Flüchtlinge auf ihren Routen durch den Balkan ihre letzte Hoffnung verlieren oder die Menschen in der Ukraine auf verbrannter Erde zurück­ gelassen werden, bekommt notgedrungen eine verengte Sicht auf die Wirklichkeit – eine, die diese Menschen überdies auf «Op­ fer» reduziert, auf «Stellvertreter» von Krisen oder Katastrophen, die angeblich weit weg sind von «uns». Das daraus entstehende, verkrustete Bild von einer «westlichen» und einer «Dritten Welt» oder von Menschen, die an ihrem Schicksal verzweifeln, die alle­ samt traumatisiert sind oder auf immer diskriminiert, verhärten sich nicht selten zu Stereotypen oder gar zu Vorurteilen, die sich in unserem Kopf festsetzten. Die Frage wiederholt sich: Was nun – verzerrt die Sicht aufs Negative unser Weltbild oder färbt der Blick fürs Positive sie allzu rosa? Vielleicht ist es einfach: Die Welt ist nicht durchgängig schlechter als früher. Was kein Grund ist, aufgesetzt beschwingt durchs Leben zu wandeln. Denn ist es ja nicht so, dass die Probleme damit aus der Welt sind; auch werden sie nicht kleiner Surprise 559/23

Die Welt ist nicht durchgängig schlechter als früher. Was aber kein Grund ist, aufgesetzt beschwingt durchs Leben zu wandeln.

oder unbedeutender, wenn man sie lange genug durch positive Nachrichten relativiert. Allerdings geht es am Ende gar nicht so sehr um positiv und negativ, sondern ums ganz Normale. Das klingt ziemlich un­ spektakulär, aber genau das ist der Witz daran. An einem Beispiel gesagt: Wenn ich in meinen Reportagen über Fluchtrouten quer durch den Balkan ausschliesslich die ausweglose Lage der Geflüchteten ins Zentrum rücke (und sie ist grösstenteils aus­weglos, daran ist kein Zweifel), so trage ich zu einem Bild eines nahezu permanenten Ausnahmezustands bei, in dem sich diese Menschen befinden. In diesem Bild gibt es kaum Platz für all die schrägen, blassen, berührenden, nervigen, also ganz normalen Facetten eines All­ tags. Genau die aber gibt es immer auch – und zuhauf –, selbst auf der Flucht, auf der Gasse oder an einer Frontlinie: Menschen schliessen manchmal Freundschaften, ein andermal mobben sie sich, sie kochen, gamen, dösen, schreiben Nachrichten, haben Sex, lesen, liegen wach, halten sich im Schuss, verfluchen die Mücken, sie nehmen Jobs an, einige betrachten die Flucht als grosses Abenteuer, andere ihre schier aussichtslose Lage als Bestimmung, oder anderes mehr. Man könnte sich bei beidem, der Sicht aufs Ganze sowie der Berichterstattung, auf dieses einigen: zwei Drittel Problemati­ sches, Dramatisches, Katastrophales gar, in jedem Fall ausrei­ chend differenziert und kontextualisiert; der Rest Normales. Dass sich in diesem Normalen auch Augenblicke des Glücks finden werden, viel Skurriles und Abgefahrenes, Geschichten über die Liebe und die Hoffnung, über Mitgefühl und Solidarität, das liegt zum Glück in der Natur des Menschen. Übrigens: Was denken Sie, nach der Lektüre dieses Artikels, wie viele Kinder sind unter den 375 000 armutsbetroffenen Men­ schen in der Schweiz? Sind es A: 144 000, B: 118 000 oder C: 73 000? Die Lösung finden Sie auf Seite 29. 17


Erwerbstätigkeit nach Wirtschaftsabschnitt Verteilung der Arbeitsplätze nach Sektoren zu Beginn der statistischen Erfassung 1860 und heute 2022. Landwirtschaft (primärer Sektor)

46,7 %

Industriesektor (sekundärer Sektor)

42,6 % 20,2 %

2,3 % 1860

2022

1860

2022

Dienstleistungssektor (tertiärer Sektor)

77,4 %

Vom Sinn und Unsinn unserer Arbeit Arbeitswelt Der Anthropologe David Graeber

war überzeugt: Es gibt zu viele unsinnige Jobs. Aber stimmt das? Der Schweizer Soziologe Simon Walo hat eine Antwort.

10,7 % 1860

TEXT UND INTERVIEW SARA WINTER SAYILIR

2022


INFOGRAFIK: BODARA; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2023)

Warum eigentlich gehen so viele Menschen Tätigkeiten nach, in denen sie persönlich keinen Sinn sehen und die obendrein noch überflüssig sind? Mit dieser Frage befasst sich der inzwischen verstorbene Kulturwissenschaftler David Graeber in seinem 2018 erschienenen Buch «Bullshit Jobs – Vom wahren Sinn der Arbeit». Graeber nennt diese Tätigkeiten Bullshit-Jobs, was nett übersetzt in etwa Unsinns-Arbeiten heisst: «Ein Bullshit-Job ist eine Form der bezahlten Anstellung, die so vollkommen sinnlos, unnötig oder gefährlich ist, dass selbst derjenige, der sie ausführt, ihre Existenz nicht rechtfertigen kann, obwohl er sich im Rahmen der Beschäftigungsbedingungen verpflichtet, so zu tun, als sei dies nicht der Fall.» Typische Bullshit-Jobs finden sich laut Graeber etwa in der Verwaltung, in der Finanzberatung oder im IT-Bereich. Besonders im Finanzsektor sei der Anteil an Bullshit-Jobs überdurchschnittlich hoch, wie die Bankenkrise 2008 deutlich gezeigt habe. Viele dieser Tätigkeiten folgten keinem konkreten Sinn – wie zum Beispiel Investitionen in gewinnbringende Anlagen von Handel und Industrie zu tätigen –, sondern würden einzig dazu dienen, ein komplexes Geflecht verschiedener Formen von Schulden aufrechtzuerhalten, das über Tricks und Betrügereien einige wenige noch reicher macht, als sie es schon sind. Den Anfang der «Bullshittisierung» unserer Arbeitswelt verortet Graeber in den 1970er-Jahren. Damals führte eine durch die Automatisierung ermöglichte Steigerung der Produktivität zu einem immensen Anwachsen der Profite. Anstatt diese jedoch den Arbeitenden zurückzugeben, flossen die Gewinne einerseits in Privatvermögen und andererseits in «die Schaffung ganz neuer, grundsätzlich sinnloser professioneller Managerposten, die in der Regel von kleinen Armeen ebenso nutzloser Verwaltungskräfte begleitet waren». Diese Managerklasse, die Human-Resources-Abteilungen eröffnete und Business-Development-Assistent*innen einstellte, identifizierte sich immer weniger mit den Unternehmen, in denen sie angestellt war, und immer mehr mit ihresgleichen. Ein System des Selbsterhalts entwickelte sich und hebelte sogar alte neoliberale Glaubensgrundsätze aus, die bisher die feste Überzeugung verkündet hatten, dass es in der Privatwirtschaft keine überflüssigen Jobs gebe. Dabei konnten Unternehmen früher problemlos Angestellte einstellen, ohne dafür eine ganze Human-Resources-Abteilung zu unterhalten. Erklären lässt sich diese Entwicklung laut Graeber, sobald man die neu entstandene Klasse von Angestellten in Hemd und Anzug – die «white collar workers» – als Feudalsystem betrachtet. Denn sie zeige «dieselbe Neigung, endlose Hierarchien von Herren, Vasallen und Gefolgsleuten hervorzubringen». Die fehlende wirtschaftliche Logik ist einer politischen Logik gewichen. Im Ergebnis arbeiten wir heute im Schnitt noch mehr als früher. Und immer noch macht Arbeit krank. Nun sind es nicht mehr nur die körperlich ungesunden Arbeiten, wie die Arbeit auf dem Bau, an Maschinen oder in lauter Umgebung, die den Menschen zu schaffen machen. Wo der Sinn der Arbeit unklar ist, der Druck zu hoch oder das Umfeld feindlich, macht sich dies ebenfalls gesundheitlich bemerkbar. Ein Burn-out wird immer häufiger diagnostiziert. Graeber nennt dies das «Paradoxon der modernen Arbeitswelt»: Würde und Selbstwert sind für die meisten Menschen eng mit dem Verdienen ihres Lebensunterhaltes durch Arbeit verknüpft. Gleichzeitig hassen viele Menschen ihren Job. Und das halten wir für normal. Surprise 559/23

Nachdem einige Forscher*innen aufgrund fehlender statistischer Belege Zweifel an Graebers Theorie äusserten, hat der Sozialwissenschaftler Simon Walo von der Universität Zürich nun einen quantitativen Beleg vorgelegt. Seine jüngst erschienene Studie «‹Bullshit› After All? Why People Consider Their Jobs Socially Useless» benennt allerdings auch weitere Faktoren, wie schlechte Arbeitsbedingungen, als mitentscheidend für den empfundenen Wert der eigenen Arbeitstätigkeit. Ob dies auch für die Schweizer Arbeitswelt gilt, muss allerdings noch untersucht werden. Simon Walo, was hat Sie motiviert, sich mit David Graebers Theorie der Bullshit-Jobs auseinanderzusetzen? Simon Walo: Ich habe das Buch gegen Ende meines Masterstudiums gelesen und war da gerade in einer Selbstfindungsphase: Ich habe mich gefragt, wo möchte ich eigentlich hin? Mit einem Studium der Soziologie ist ja nicht wirklich klar, wo man nachher landet. Und irgendwie wusste ich nicht, was ich machen will. Das Einzige, was mir wirklich bewusst war, ist, dass ich irgendetwas arbeiten möchte, was mir sinnvoll erscheint. In diesem Kontext hat mich Graeber stark beeinflusst. Es war für mich erschreckend zu lesen, dass so viele Leute Jobs haben, die sie selbst gar nicht als sinnvolle Arbeit betrachten. Beginnen wir also ganz grundsätzlich: Was ist sinnvolle Arbeit? Ich glaube, die Antwort ist zunächst ganz einfach: Wenn eine Arbeit der Person, die sie ausführt, Freude bereitet, so ist sie sinnvoll. Nun muss man allerdings unterscheiden, ob ein Job einfach bloss sinnhaft für eine Einzelperson ist oder ob er als gesellschaftlich sinnvoll betrachtet wird. So steht beispielsweise ausser Frage, dass es sinnhaft sein kann, Kunst zu betreiben. Geschieht dies aber ganz alleine im Kämmerlein, mag man darüber diskutieren, ob das auch gesellschaftlich sinnvoll ist. Am Schluss steht wohl die Frage: Wer hat daran Freude oder wem nützt das in irgendeiner Form? Könnte man nicht einfach sagen: Sinnvoll ist, was Geld bringt. Doch, das kann man schon. Im Kontext der Forschung zu den Bullshit-Jobs geht es allerdings vor allem um den gesellschaftlichen Nutzen von Arbeit. Und in diesem Sinne ist es beispielsweise eher weniger sinnvoll, Kunst für sich allein zu machen oder einfach nur Geld verdienen zu wollen. Sie haben eine sozialwissenschaftliche Studie zu Graebers Theorie vorgelegt. Worum genau geht es da? Meine Studie basiert auf einem Artikel einer Gruppe von Forschenden, der bereits vor zwei Jahren publiziert wurde. Sie wollten herausfinden, ob Graebers These quantitativ, also statistisch, belegbar ist. Dazu haben sie Umfragedaten aus der gesamten Euro­päischen Union untersucht. Graebers These besteht ja darin, dass Bull­shit-Jobs besonders häufig in bestimmten Berufsgruppen auftreten. So argumentiert er zum Beispiel, dass Firmenanwälte oder Jobs im Finanzsektor der Gesellschaft mehr schaden als nützen, weil sie hauptsächlich dazu da sind, Geld zu vermehren, und dass dies häufig auf Kosten der Gesellschaft geschieht. Eine andere Kategorie sind Jobs, die bloss existieren, damit sich bestimmte Leute wichtig fühlen. Zum Beispiel Büroangestellte, die bloss angestellt werden, damit Manager*innen ein grösseres Team leiten und sich dabei wichtig fühlen. Die betreffenden Forscher*innen fanden aber heraus, dass die von 19


Graeber aufgelisteten Berufe gar nicht den höchsten Anteil von Leuten aufweisen, die denken, sie hätten einen Bullshit-Job. Dies seien typischerweise eher Berufe im industriellen Sektor. Aufgrund dieser Ergebnisse wurde argumentiert, dass Graebers Theorie gar nicht zutreffe. Nun haben Sie aber nachgewiesen, dass Graeber doch recht hatte – wie haben Sie das gemacht? Graebers Theorie kann tatsächlich nicht allein erklären, weshalb Leute ihren Job als sozial nutzlos empfinden. Meine Untersuchungen zeigen, dass Graebers Theorie belegt werden kann, wenn man berücksichtigt, dass nicht nur die tatsächliche Tätigkeit in einem Job, sondern auch schlechte Arbeitsbedingungen dazu führen können, dass man einen Job als nutzlos empfindet. Gerade Jobs im industriellen Sektor sind davon häufig betroffen, weil sie weniger Freiheiten und weniger soziale Kontakte bei der Arbeit als andere haben. Wenn man diesen Effekt aus den Daten herausrechnet, bleiben am Ende tatsächlich die von Graeber herausgearbeiteten Berufe übrig, die als gesellschaftlich irrelevant empfunden werden. Während der Pandemie war von sogenannten systemrelevanten Jobs die Rede, wie Pflegeberufe, der Bildungssektor oder die Müllabfuhr. Ist «systemrelevant» dasselbe wie «gesellschaftlich sinnvoll» im Sinne Graebers? Sicher gibt es Überschneidungen zwischen systemrelevanten Jobs und der empfundenen Sinnhaftigkeit derselben. All diese Jobs, die Sie eben genannt haben, sind gewiss gesellschaftlich relevant. Und doch muss man sich die Frage stellen: Was bedeutet eigentlich «systemrelevant»? Von welchem System reden wir? Solange wir unser derzeitiges Wirtschaftssystem aufrechterhalten, sind beispielsweise auch Berufe systemrelevant, die keinen direkten gesellschaftlichen Nutzen haben. Zum Beispiel? Nehmen wir das mittlere Management bei einer Bank oder bei einer Versicherung. Unter Umständen schaden diese Jobs der Gesellschaft sogar, indem sie ihr Geld entziehen und dafür den Banken ein Vermögen bescheren, wofür sie auch finanziell belohnt werden. Wenn man die Arbeitenden nach ihrem Empfinden fragt, für wie sinnvoll sie ihren Job halten, so sind die Antworten sehr sub­ jektiv. Spielt da nicht auch Wertschätzung eine grosse Rolle, wie das soziale Prestige oder das Feedback von Vorgesetzten? Tatsächlich habe ich in meiner Studie auch soziale Interaktionen am Arbeitsplatz mit Mitarbeitenden oder mit anderen Leuten, zum Beispiel Kund*innen, berücksichtigt. Beides hatte einen signifikanten Effekt. Man kann also davon ausgehen, dass Feedback von anderen Leuten sehr wichtig ist, um die Arbeit als sinnvoll zu empfinden. Man ist Teil einer Gruppe, man arbeitet für jemand anderen oder auf ein gemeinsames Ziel hin. All diese Dinge sind sehr zentral. Welche Arbeitnehmenden empfinden ihre Arbeit am ehesten als sinnvoll? Das sind tatsächlich Gesundheitsberufe, aber beispielsweise auch Sozialwissenschaftler*innen sowie allgemein Menschen in sozialen Berufen. Auch Arbeiter*innen auf dem Bau. 20

Graeber geht als Anthropologe von anekdotisch gesammeltem Material aus. Sie dagegen untersuchen grosse Datenmengen. Sehen Sie Fallstricke in der anekdotischen Evidenz? Ich denke, es gibt da nicht per se eine Gefahr. Was man auf der Basis qualitativer Forschung sagen kann, ist: Ich habe etwas beobachtet, und das gibt es so. Was man jedoch nicht sagen kann, ist: Wie häufig treten diese Phänomene auf, die man beobachtet hat. Dafür braucht es Umfragen, bei denen eine Zufallsstichprobe aus der Bevölkerung genommen wird. Wenn man darüber hinaus kausale Effekte untersuchen möchte, wird es noch komplizierter. Grundsätzlich denke ich, qualitative Forschung steht am Anfang jeder Forschung, im Sinne von: Man hat etwas beobachtet und denkt, das ist spannend und sollte entsprechend erforscht werden. Und dann stellt sich die Frage: Funktioniert das so auch im grösseren Umfang? Hier setzt die quantitative Forschung ein. Wie sieht es mit der Arbeitszufriedenheit aus: Wie wichtig sind kulturelle Faktoren wie beispielsweise die vielbemühte protestantische Arbeitsethik? Wer Arbeit als zentrale Quelle für den eigenen Selbstwert wahrnimmt, wird anders darüber denken als jemand, für den Arbeit lediglich Mittel zum Zweck ist, oder? Ich kann mir vorstellen, dass es da einen Zusammenhang gibt. Aber ich würde sagen, dass die Arbeitsethik mittlerweile von den protestantischen Wurzeln losgelöst ist. Es hat sich ja so etwas wie eine globale kapitalistische Kultur ausgebreitet. Ein Symptom davon ist die Verehrung von Elon Musk oder solchen Personen als Hyperkapitalisten, die angeblich hart gearbeitet und so Milliarden verdient haben. Das geschieht weltweit. Und der Anspruch an Arbeit als Lebensinhalt, der Sinn ergeben soll: Ist das nicht etwas sehr Westliches? Das ist eine spannende Frage. Das müsste man sich genauer anschauen. Ich kann mir vorstellen, dass der Anspruch damit zusammenhängt, ob es überhaupt realistisch ist, dass man sich durch Arbeit verwirklichen kann. Oder ob es bei Arbeit einfach nur ums Überleben geht. Darf man Graebers Frage nach dem subjektiven Empfinden der Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit der eigenen Arbeit Menschen am Existenzminimum überhaupt stellen? Ich denke, man kann jeden Job auf seine gesellschaftliche Relevanz hin betrachten. Ob die Arbeitnehmenden das selbst tun, ist aber möglicherweise schon auch eine Wohlstandsfrage. Die Zeit, sich diese Gedanken zu machen, ist ein Luxus, und den muss man sich leisten können. Für viele Leute stehen bestimmt andere Aspekte von Arbeit im Vordergrund, wie zum Beispiel, dass man ein Einkommen erzielt, mit dem man sich die wichtigsten Dinge leisten kann. Ich denke etwa an Essen, Wohnen oder Gesundheit. Nun geht es Graeber immer auch um Herrschaftskritik. Tatsächlich möchte er nachweisen, dass es uns allen viel besser ginge ohne all diese Bullshit-Jobs. Und dass eine solche Welt durchaus denkbar wäre, würden das nicht diejenigen verhindern, deren Wohlstand daran hängt. Ist diese Gesellschaftskritik von Graeber auch für Ihre Forschung relevant? Unbedingt. Häufig kommen die Leute mit einem psychologischen Hintergrund an meine Studie heran und lesen sie als Beitrag zur Arbeitspsychologie. Ihre Frage ist dann, wie kann man diesen Leuten helfen, damit sie ihre Tätigkeit als relevant empfinden? Surprise 559/23


Hohe Löhne, tiefe Löhne Durchschnittslöhne in Wirtschaftszeigen mit hoher Wertschöpfung und Wirtschaftszweigen am unteren Ende der Lohnskala im Verhältnis zum Medianlohn (Daten von 2020).

9921 CHF

Finanzdienstleistungen

9747 CHF

Pharmaindustrie

9000 CHF

Informationstechnologie und Informationsdienstleistungen

6665 CHF

Medianlohn

Herstellung von Textilien und Kleidung

Detailhandel

Gastgewerbe/Beherbergung und Gastronomie

4875 CHF 4412 CHF 4144 CHF

Mein Ansatz ist ein anderer. Ich denke, wir haben ein gesellschaftliches Problem, das man entsprechend auf dieser Ebene angehen muss und nicht auf der psychologischen Ebene bei den Arbeitnehmer*innen. Denn tatsächlich gibt es viele Positionen, die man als gesellschaftlich sinnlos betrachten kann, deren Inhaber*innen aber sehr, sehr gut verdienen. Wie schaffen wir es nun, dass diese Leute etwas Sinnvolles zur Gesellschaft beitragen? Ein Ansatz wäre zum Beispiel, dass man gesellschaftlich sinnlose Tätigkeiten einfach verbietet. Ein anderer Ansatz könnte darin bestehen, dass man dafür sorgt, dass niemand aus finanziellen Zwängen in einem sinnlosen Job arbeiten muss. Grosszügigere Sozialwerke oder die Schaffung von ausreichend sinnvollen Jobs könnten in diese Richtung wirken.

kritisch eingestellt sind gegenüber ihrer Arbeit. Es könnte sein, dass sie finden: Es wird schon seine Richtigkeit haben, wenn ich meine 100 000 Franken pro Jahr verdiene, natürlich ist meine Arbeit sinnvoll. Aber das ist zunächst nur eine Vermutung. In jedem Fall fände ich es spannend herauszufinden, was es in Schweiz mit den Bullshit-Jobs auf sich hat.

Trifft Graebers Theorie eigentlich auch auf die Schweiz zu? Im Grossen und Ganzen vermutlich schon. Es könnte aber auch sein, dass teilweise andere Resultate herauskommen. Nicht unbedingt, weil die Berufe oder die Jobs hier anders sind, sondern weil sich die Kultur unterscheidet. Möglicherweise sind in der Schweiz viele Leute derart wohlhabend, dass sie generell weniger

SIMON WALO, 31, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Zürich. In seiner Dissertation befasst er sich mit widersprüch­ lichen Erkenntnissen über die Auswirkungen der Technologie auf die Arbeitsmärkte und die sich damit verändernde Bedeutung der Arbeit.

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FOTO: ZVG

INFOGRAFIK: BODARA; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2023)

Persönliche Dienstleistungen

5095 CHF

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Schweizer Chronik der Migration Filmschaffen Der Schweizer Regisseur Samir stellt gerade seinen Dok-Film «Die wundersame

Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» fertig. Vollständig zu sehen gibt es ihn noch nicht. Zeit, trotzdem schon darüber zu reden. Denn es stehen Wahlen an. Und eine Initiative. TEXT DIANA FREI

Samir muss lachen, als er es erzählt: Seine Tochter hätte ihn im Motion-Capture-Anzug kürzlich als Jungen verkörpern sollen für eine animierte Szene, eine Kindheitserinnerung. Aber das habe nicht recht funktioniert, man sah dem kindlichen Avatar sofort an, dass da kein kleiner Junge daherkommt, sondern eine junge Frau. Diesmal spielt ein Schauspieler Samirs junges Ich nach. Die Animationsszene ist auf dem Monitor zu sehen: Schüchtern nähert sich der Junge einem Mann an einem Holztisch bei den Arbeiterbaracken hinter dem Zaun, neugierig auf diese Welt, so unschweizerisch wie seine eigene. Der Mann spielt Karten, uno, duo, tre, quattro, cinque, sieht den Jungen und winkt ihn herbei: Vieni qui! Der Junge erschrickt und läuft davon. Es ist eine der letzten Szenen, die Samir und sein Team im Motion-Capture-­ Studio in Winterthur aufnehmen. Das Verfahren wird in der Schweiz hauptsächlich im Game-Bereich angewandt, ansonsten kennt man es aus Blockbustern, von Kalibern wie Peter Jacksons «Hobbit» etwa. Die animierten Szenen in «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» stehen sinnbildlich fürs Ankommen und Aufwachsen eines irakischen Jungen in der Schweiz. Es ist eine fiktionalisierte Welt und doch ist sie dokumentarisch, wenn gezeigt wird, wie die Familie aus Baghdad am Zürcher Hauptbahnhof ankommt und der erste Schnee fällt, den der sechsjährige Junge in seinem Leben sieht. Motion Capture bedeutet hier eigentlich Emotion Capture: Die Gefühlswelt einer migrantischen Schweiz steckt in diesen Szenen. Anhand von Oral History, Interviews mit Expert*innen, Archivmaterialien und Auszügen aus Spiel- und Dokumentarfilmen werden die politischen Dynamiken im schweizerischen Umgang mit der Migration greifbar. «Der Film ist eine Hommage an alle, die schon in den 1960er- und 70er-Jahren für die Verbesserung der Be22

dingungen der Migrant*innen gekämpft haben», sagt Samir, «und eine Hommage an meine Berufskolleg*innen, weil ich anhand ihrer Filme zeige, dass das Thema Migration seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg immer virulent war. Es gab unterschiedliche Phasen, und ich wundere mich einfach, dass wir heute noch immer nicht weiter sind.» Es geht darum, die historischen Linien zu verfolgen, die dazu führten, dass die Schweiz bis heute Menschen auf institutioneller, behördlicher und juristischer Ebene ausschliesst. Die sogenannten Gastarbeiter*innen von damals kommen vor, Saisonniers und Schrankkinder, gewerkschaftlich und politisch Engagierte: etliche Protagonist*innen, die ihren Teil zur migrantischen Perspektive beitragen. Samirs eigene Erfahrungen, sein Wissen und sein biografisches Netzwerk stecken in dieser Schweizer Chronik der Migration. Offene Ablehnung Monatelang war Samir unterwegs, um Italiener*innen zu interviewen, die in den 1950er- und 60er-Jahren den grössten Teil der Zuwanderung ausmachten. Uno, duo, tre, quattro, cinque, und die Italiener*innen wurden hierzulande zu Tschinggen, zu Arbeiter*innen, von denen sich die Schweizer Bürger*innen gerne abgrenzten, weil sie, wie man etwa in Alexander J. Seilers «Siamo Italiani» von 1964 erfährt, in Basel die Rheinbrücke verstopfen würden. «Überfremdung» hiess das damals (und heute steckt im Wort Dichtestress etwas subtiler verpackt der gleiche Rassismus, jedenfalls scheint es in der öffentlichen Wahrnehmung einfach nie Platz für all diese Migrant*innen zu haben). Die «Überfremdungs-Initiative» von James Schwarzenbach war radikal. Sie forderte, dass der Ausländeranteil in der Schweiz höchstens zehn Prozent betragen darf. Wäre sie angenommen worden, hätten 350 000

Arbeiter*innen das Land verlassen müssen. In den Kommentaren im Blog des Schweizerischen Nationalmuseums zum Thema schreibt ein Leser rückblickend: «Die Schwarzenbach-Initiative liegt mir noch heute auf dem Magen. Ich war damals ein Kind und einer meiner Spielgefährten auf dem Spielplatz meldete plötzlich, dass er nicht mehr mit mir spielen durfte und seine Eltern hätten gesagt, dass ich bald ‹nach Hause› geschickt werde. (…) Die Lehrerin meines Bruders schüttelte nicht die Hand meiner Mutter beim Elternabend, ich durfte nicht wie meine Nachbarkinder in die nahe gelegene Schule und musste stattdessen in eine Schule ca. 40 Minuten entfernt gehen.» Das war 1970, Samir war 15. Mit der Mitenand-Initiative, die 1974 lanciert wurde, folgte eine Reaktion von links, die eine offenere Migrationspolitik anstrebte. Gleichzeitig kam die Jugendbewegung auf, und bei beiden waren nun auch Secondos dabei. Samir gehörte der Zürcher Jugend­ bewegung an. Video war das Medium einer rebellischen Generation, mit dem aktivistische Aktionen dokumentiert wurden, mit dem man sich Gehör verschaffte und expe­ rimentierte. Der Videoladen, in dem Samir später zu einer zen­tralen Figur wurde, produzierte 1981 den legendären Bewegungsfilm «Züri brännt». Es ging um Freiräume, um Mitbestimmung. Samir kennt sich mit gesellschaftlichen Visionen aus. Und geht es um Migration, geht es eben auch um Demokratie. «Jetzt vor den Nationalratswahlen wird die Ausländerhetze wieder anfangen. Wir wollten mit dem Film jetzt eigentlich fertig werden, weil wir ihn gerne Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen zur Verfügung gestellt hätten», sagt Samir. Ganz hat es nicht gereicht, aber die Produktion ist bereits mit Filmausschnitten Surprise 559/23


FOTOS: DSCHOINT VENTSCHR

und Diskussionspodien unterwegs. Soeben war Samir an der Koordinationssitzung der 4/4-Initiative, für die er sich engagiert. 4/4, weil ein Viertel der Bevölkerung keine Schweizer Staatsangehörigkeit hat, obwohl sie in der Schweiz zum gemeinschaftlichen Leben beiträgt, Steuern und Abgaben zahlt. Die Forderung besteht darin, dass alle, die hier geboren sind, automatisch das Bürgerrecht erhalten, und jene, die seit vier Jahren hier leben, ein Grundrecht auf Einbürgerung haben. Samir bekam den Schweizer Pass erst mit 22 Jahren, obwohl seine Mutter Schweizerin war. Danach wurde ihm gesagt, er sei ja nur ein Papierlischwiizer. «Es existiert eine riesige Diskrepanz zwischen dem realen Leben – einer gelebten multikultu­rellen Gesellschaft in der Schweiz – und den restriktiven regulatorischen und juristischen Bestimmungen zur Migration. Die Realität ist das Gegenteil der Gesetze.» Auch wenn sich nun Samirs Tochter auf dem Monitor im MoCap-Studio nicht exakt gleich bewegt wie sein eigenes kindliches Ich, teilt sie eine Generation später immer noch einen Teil seiner Erfahrungen: Mit seinem Nachnamen ist sie es nun, die in Ausweiskontrollen regelmässig gestoppt wird. In einer der Animationsszenen wird Samir als junger Mann und Papierlischwiizer von Polizisten zusammengeschlagen. Worauf er in einem magischen Moment davonfliegt auf seinem Schweizer Pass, als ob der ein fliegender Teppich wäre. «Solche Momente sollen erzählen, dass ich hier auch glücklich bin. Ich kann mich als Papierlischwiiizer mit dem schönen Land identifizieren. Ich wollte damit auch eine Offenheit und ein Augenzwinkern im Film haben. Das Thema ist so heavy und so traurig und ich bin so wütend, dass ich den Leuten sagen möchte: Ich habe aber auch Humor. Und ich kann auch damit umgehen. Und manchmal lache ich darüber.» Surprise 559/23

Podiumsdiskussionen und Filmausschnitte in Zusammenarbeit mit Aktion Vierviertel: So, 3. Dez., Cooperativa, Winterthur; Di, 5. Dez., Kinok St. Gallen (mit INES – Institut Neue Schweiz) u. v. m. Laufend weitere Termine, Informationen unter aktionvierviertel.ch (Events) und working-class.ch 23


«Die Antworten könnten unser Weltbild auf den Kopf stellen» Kino In ihrem Spielfilmdebüt «20 000 especies de abejas» ergründet die spanische

Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren, welche Einflüsse auf unser Selbstbild einwirken. Und uns manchmal daran hindern, die Person zu sein, als die man sich versteht. INTERVIEW MONIKA BETTSCHEN

Estibaliz Urresola Solaguren, in Ihrem Film geht es um ein Kind, für das sich das ihm zugewiesene Geschlecht falsch anfühlt. Dennoch ist es Ihnen wichtig zu betonen, dass es keine Geschichte über ein Kind ist, das seine Identität erforscht. Weshalb? Estibaliz Urresola Solaguren: Weil dieses Kind bereits die Gewissheit in sich trägt, dass das ihm zugewiesene männliche Geschlecht nicht zu ihm passt. Nicht das Kind durchläuft eine Transition, 24

sondern sein Umfeld, das sich mit seinem Selbstbild auseinandersetzen muss. In meinem Film wollte ich den Fragen nachgehen: Wie entsteht unser Selbstbild, unsere Vorstellung davon, wer wir sind? Ist sie das Ergebnis eines inneren Prozesses, von äusseren Einflüssen wie Familie und Traditionen, oder beides? Ich denke nicht, dass wir uns komplett isolieren und losgelöst einfach sein können, wer wir sind. Während unseres Lebens übernehmen wir Grenzen und Regeln, passen uns an und betrachten sie als gegeben. Wir akzeptieren sie als Teile eines sozialen Vertrags, den wir unterschreiben, ohne uns dessen bewusst zu sein, und bewegen uns fortan innerhalb dieses Rahmens. Kinder besitzen oft die Fähigkeit, Schwachpunkte eines Systems zu erkennen und zu fragen, warum die Dinge sind, wie sie sind. So wie Cocó. Sie stellt viele Fragen: «Was ist Glaube?» oder «Werde ich wie Papa?». Wohl auch, weil ihr die Begriffe fehlen, um ihre Gewissheit, ein Mädchen zu sein, benennen zu können. Handelt der Film auch davon, sich besser zu verstehen? Ja, im Laufe des Films sammelt Cocó Informationen aus verschiedenen Quellen. So erfährt sie zum Beispiel von Niko, einem Surprise 559/23

FOTOS: CINEWORX

Ein achtjähriges Kind (Sofía Otero) wird von seinem Umfeld als Junge gelesen. Doch es trägt die Gewissheit in sich, dass es anders ist. Deshalb hadert es mit seinem Geburtsnamen und lässt sich etwas widerwillig Cocó nennen – bis es während der Sommerferien, ermutigt von seiner Grosstante (Ane Gabarain), jenen Namen findet, der sich richtig anfühlt. Als das Kind aber seine Geschlechtsidentität selber definiert, kratzt es damit an den festgefahrenen Vorstellungen in seiner Familie. Ein Gespräch mit der Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren über die Last althergebrachter Denkmuster und darüber, wie eine Eidechse zeigt, dass konstanter Wandel etwas ganz Normales ist.


Mädchen, mit dem sie sich während der Sommerferien anfreundet, dass in deren Klasse auch ein Kind ist, das «so» ist wie sie. Das ist für Cocó wichtig zu wissen. Es zeigt ihr, dass sie nicht das einzige Kind ist, das so empfindet, und dass sie kein Monster ist.

Das Mädchen Niko teilt mit Cocó ihre naturverbundene Weltsicht. Es gibt eine Szene, in der sie ihr eine Eidechse zeigt. Dieser Anblick scheint einiges auszulösen. Vor dieser Szene sehen wir, wie Cocó, die aus der Stadt kommt, Mühe hat, sich mit den anderen Kindern anzufreunden. Aber draussen in der Natur, losgelöst vom sozialen Umfeld, fällt es ihr leicht, auf Niko zuzugehen. Hier gibt es keine Hürden. Und Niko akzeptiert sie, so wie sie ist. Die Eidechse steht für Leben, Tod und Veränderung.

Auf Cocós Frage «Warum bin ich so?» antwortet ihre religiöse Grossmutter, dass Gott die Menschen perfekt erschaffen habe. Dennoch gelingt es ihr nicht, die Geschlechtsidentität ihres Enkelkindes zu akzeptieren. Cocó enthüllt Widersprüche in der Welt der Erwachsenen. Auch Cocós Mutter verhält sich widersprüchlich: Auf der einen Seite sagt sie, ihr Kind könne sein, was immer es sein wolle. Aber sie lebt das nicht vor, denn sie selbst glaubt nicht, dass sie noch sein und tun kann, was sie sich wünscht. Sie hat die durch ihre Mutter oder ihren verstorbenen Vater geprägte Vorstellung, wer sie ist, tief verinnerlicht. Als Erwachsene sind wir oft nicht in der Lage, Fragen, wie sie Cocó stellt, zu beantworten, weil wir wissen, dass die Antworten unser Weltbild auf den Kopf stellen könnten. Und damit auch alle Antworten, die wir uns bisher gegeben haben, um unsere Lebensweise zu rechtfertigen.

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«20 000 especies de abejas», Regie: Estibaliz Urresola Solaguren, mit Sofía Otero, Ane Gabarain, Patricia López Arnaiz u.a., Spanien 2023, 129 Min. Läuft zurzeit im Kino.

FOTO: LAIA LLUCH

Lourdes, die Grosstante des Kindes, lebt abgeschieden als Imkerin und kümmert sich nicht darum, was andere von ihr denken. Warum kann sich Cocó gerade ihr gegenüber öffnen? Lourdes ist eine kohärente Persönlichkeit und komplett ehrlich zu sich selbst, zahlt dafür aber einen hohen Preis, indem sie isoliert von der Familie lebt. Ihren Hintergrund lasse ich offen, aber es drückt durch, dass sie in ihrem Leben vielleicht mit ähnlichen Fragen konfrontiert war wie heute ihre Grossnichte. Daher kann Lourdes dem Kind einen sicheren Raum bieten, in dem es sich ausdrücken und, im Gegensatz zu ihr selbst damals, gestärkt durch ihre Lebensweisheit in die Familie zurückkehren kann.

Das Tier stösst angesichts möglicher Gefahr seinen Schwanz ab, ändert seine Gestalt. Erlebt Cocó hier, dass Vielfalt und Wandel etwas ganz Alltägliches sind? Ja, genau. Nichts in der Natur ist statisch, alles ist in Bewegung und konstanter Wandel bedeutet Leben. Auch unsere Zellen, unsere Körper erneuern sich ständig. Niemand bleibt ein Leben lang die gleiche Person.

ESTIBALIZ URRESOL A SOL AGUREN , 34, hat sich in ihrer Arbeit immer wieder mit Identität, Körper und Gender auseinandergesetzt. Der erste Spielfilm der spanischen Regisseurin lief 2023 an der Berlinale im Wettbewerb. Die junge Haupt­ darstellerin Sofía Otero erhielt für ihre Leistung den Silbernen Bären.

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BILD(1): WERNER BISCHOF ESTATE / MAGNUM PHOTOS, BILD(2): MICHEL GILGEN, BILD(3): STIFTUNG RIGHINI-FRIES / RETO PEDRINI

Veranstaltungen Winterthur «Rosellina – Leben für die Fotografie», Ausstellung, bis 28. Jan. 2024, Di bis So, 11 bis 18 Uhr, Mi bis 20 Uhr (Mi ab 17 Uhr freier Eintritt), Fotostiftung Schweiz, ­Grüzenstrasse 45. fotostiftung.ch

Als Gründungsmitglied der Fotostiftung Schweiz und als Leiterin von Magnum Schweiz spielte Rosellina Burri-Bischof (1925–1986) eine zentrale Rolle für die Geschichte der Fotografie in der Schweiz. Mit zahlreichen Fotoausstellungen leistete sie Pionierarbeit in deren Vermittlung und Förderung. Aufgewachsen als Rosa Helene Mandel, Tochter eines politisch aktiven ungarisch-tschechischen Emigrantenpaars in Zürich, fuhr sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Rimini, um im zerstörten Europa Hilfe zu leisten. 1946 lernen sich Rosellina und Werner Bischof auf der Durchreise in Mailand kennen. Beide haben den Wunsch, sich für humanitäre Anliegen zu engagieren, und sie teilen ihre Begeisterung für Kunst und Fotografie. Werner verunfallte 1954 während einer Reportage in Peru tödlich. Rosellina verwaltete seinen Nachlass und setzte sich weiter für sein Werk ein. (In Winterthur ist zeitgleich zu «Rosellina» auch die Ausstellung «Werner Bischof – Unseen Colour« zu sehen.) Später heiratete Rosellina den Magnum-Fotografen René Burri, auch er ein bekannter Name. Das zu erwähnen, macht Rosellina Burri-Bischof nun scheinbar zur «Frau von» – was wir aber eigentlich sagen wollen: Sie war eine bestens vernetzte, bedeutende Figur in der Geschichte der Schweizer Fotografie. DIF

Chur / Zürich «Martina Caluori – Ich weine am liebsten in Klos», Lesungen, Fr, 29. Sept., 19 Uhr, Buchvernissage mit Bit-­ Turner, OKRO Kultu­rgarage Chur; Fr, 27. Okt., 19.30 Uhr, Zürich liest mit Bit-Tuner, Hunzikerareal Zürich; Do, 2. Nov., Buchfestival Olten; Sa, 11. Nov., Lesung zur Ausstellung «:innen» in der Sala Capauliana, Chur; Do, 30. Nov., Bücher Lüthy, Chur.

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Die Bündner Autorin und Lyrikerin Martina Caluori hat schon einige Male Texte in unseren Literaturausgaben publiziert. In ihrem neusten Lyrikband geht es nun ums Planschen in Privilegien, um den Abschied von der Courage, um himbeerroten Leichenduft und Filterkaffee bei der Totenwache: Mit «Ich weine am liebsten in Klos» schafft Caluori Gedichte und Fragmente, die auf der Bühne zusammen mit der Musik von Marcel Gschwend aka Bit-Tuner ganz eigene Klangwelten eröffnen – einen Sprach- und Soundkosmos mit euphorischen

und doch düsteren, basslastigen Tracks, die zwischen Downbeat, Ambient, Electronica und Techno angesiedelt sind. «Ich weine am liebsten in Klos» erscheint am 29. September bei lectorbooks. DIF

Aargau «Stranger in the Village – Rassismus im Spiegel von James Baldwin», bis So, 7. Jan. 2024, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz. aargauerkunsthaus.ch Naiver Rassismus war es, der dem afroamerikanischen Schriftsteller James Baldwin 1951 im Walliser Bergdorf Leukerbad entgegenschlug. Noch nie hatte man hier einen Schwarzen gesehen, und die Kinder warfen aufgekratzt mit dem N-Wort um sich. Baldwin, psychisch angeschlagen, war von seinem französischen Liebhaber quasi zur Kur hierhergeholt worden. Und wurde in der Schweiz sofort zum Fremden im Dorf – eine

Erfahrung, die dem Essay «Stranger in the Village» zugrundeliegt. Der Text ist ein Nachdenken über das Wesen des Rassismus in Europa, wo sich Baldwin als New Yorker niedergelassen hatte. Aber auch eine Analyse seiner Rolle als Afroamerikaner in den USA, in einem historischen und sozialen Geflecht, das sich von demjenigen im Walliser Bergdorf unterschied. James Baldwins Werk und Leben zeigt sich in den letzten Jahren wieder hochaktuell. Raoul Pecks Dokumentarfilm «I Am Not Your Negro» (2017) beschäftigt sich ebenso mit seinem Werk wie Barry Jenkins’ Literaturadaption «If Beale Street Could Talk» – und auch der Schweizer Filmemacher Samir (siehe auch S. 22) arbeitet an einer semi-fiktionalen Geschichte über und inspiriert durch James Baldwin. Der Schriftsteller stellte ganz offensichtlich Fragen in den Raum, die auch heute noch zu denken geben. Entsprechend vereint das Aargauer Kunsthaus nun lokale und internationale Positionen, die sich mit Baldwin und Themen von Zugehörigkeit und Ausschluss befassen. DIF

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fahrt verbietet. Auf der Tafel darunter krümmt sich ein grosser Mann auf einem zu kleinen Velo, die Anstrengung ist spürbar. Gern würde er sich in dem kleinen Teich gegenüber abkühlen. Weiter vorne zeigt ein Wegweiser Richtung Pflanzenhotel, das entweder ein Hotel für oder aus Pflanzen ist.

Tour de Suisse

Pörtner in Kehrsatz Surprise-Standort: Coop Einwohner*innen: 4518 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 28,1 Sozialhilfequote in Prozent: 3,9 Straftat: Der «Mord in Kehrsatz» an einer 24-jährigen Frau 1985 gilt bis heute als medial aufsehenerregendster Fall der Schweizer Strafjustiz.

Der Bahnhof Kehrsatz besteht aus nur zwei Gleisen, doch wenn sich die Schranke senkt, bleibt sie lange geschlossen, was an einem sengenden Tag wie diesem schweisstreibend ist. Auf dieser Seite befindet sich die Brücke über die Schnellstrasse und das schöne herrschaftliche Haus, in dem die Gemeindeverwaltung untergebracht ist. Das Gebäude besteht schon seit 1590, auf der Infotafel findet sich die Bezeichnung «Chäsitz», die heimische Aussprache des Ortsnamens. Hinter dem Gebäude gibt es einen Spielund einen Bocciaplatz, letzterer wird von zwei älteren Herren genutzt, denen die Hitze nichts auszumachen scheint. Vier ihrer Altersgenossen haben sich ins nahe Restaurant zum Jass verzogen. Möglich, dass die unterschiedlichen Vorlieben etwas mit der Herkunft zu tun haben. Ein Biertaxi steht ebenso bereit Surprise 559/23

wie eine Tennis- und Squash-Anlage. Ein Schuppen wird von einem grossen roten Stöckelschuh geziert.

Auf einer Anhöhe befindet sich die Stiftung Terra Vecchia, die in einem schönen Herrschaftshaus untergebracht ist und Jugendlichen in besonderen Lebenssituationen Wohnraum bietet. Weiter unten ein grosser, etwas bedrohlicher Betonklotz, das Schulhaus für die Jugendlichen in mehr oder weniger normalen Lebenssituationen, wobei die Jugend an und für sich eine besondere und oft mühsame Lebenssituation darstellt. Das Schulhaus liegt verlassen da, doch auf dem Landsträsschen nähert sich eine vielfältige, um nicht zu sagen diverse Kinderschar dem Gebäude. Die Bevölkerung ist offenbar durchmischt, davon zeugen auch die verschiedenen Siedlungsstile, von klassischen Blöcken über ein gelbes Hochhaus bis hin zu Siedlungen, bei denen die Vermutung naheliegt, sie seien von Personen entworfen worden, die ursprünglich das Konditorei-Handwerk erlernt und erst auf dem zweiten Bildungsweg zur Architektur gefunden haben. Vor einem Bauernhaus, bei dem Fleisch bestellt werden kann von Kühen, die nur hofeigenes Futter gegessen haben, gibt es einen Stand mit Beton-Art: Gartenzwerge mit verschiedenfarbigen Mützen. Wem das nicht gefällt, kann auf Zucchetti ausweichen, die gibt es gleich daneben. Sie sind nicht aus Beton.

Auf der anderen Seite der Schranke wartet ein kleiner Turm sowie die Gewürzmühle, an deren überwucherter Fassade zu lesen ist, dass sie 1906–1982 bestand. Auf dem Trottoir steht ein ausziehbarer Esstisch mit einer Fleischschneide­ maschine darauf, beides wird gratis abgegeben. Gesegnet ist Kehrsatz mit alten Verkehrsschildern, möglich, dass Fans derselben von weither anreisen. Da ist der Weg­weiser aus Beton, der nach Bern weist, weiter unten findet sich eine Verbots­tafel, ebenfalls aus Beton, das Auto im Stil der Gangsterfilme aus den Dreissigerjahren und Töffs derselben Bauart, die Durch-

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist. 27


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Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

AnyWeb AG, Zürich

02

Fachschule LIKA, Stilli b. Brugg

03

Beat Vogel – Fundraising-Datenbanken, Zürich

04

Buchhaltungsbüro Balz Christen, Dübendorf

05

Gemeinnützige Frauen Aarau

06

Ref. Kirche, Ittigen

07

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

08

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

09

Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

10

Benita Cantieni CANTIENICA®

11

Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

12

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

13

Breite-Apotheke, Basel

14

Spezialitätenrösterei derkaffee, derkaffee.ch

15

Boitel Weine, Fällanden

16

Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim

17

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

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Kaiser Software GmbH, Bern

19

InoSmart Consulting, Reinach BL

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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BODYALARM – time for a massage

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EVA näht: www.naehgut.ch

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TopPharm Apotheke Paradeplatz

25

Cobra Software AG www.cobrasw.ch

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

GEMEINSAM SCHAFFEN WIR CHANCEN Nicht alle haben die gleichen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund bietet Surprise individuell ausgestaltete Teilzeitstellen in Basel, Bern und Zürich an – sogenannte Chancenarbeitsplätze. Aktuell beschäftigt Surprise acht Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in einem Chancenarbeitsplatz. Dabei entwickeln sie ihre persönlichen und sozialen Ressourcen weiter und erproben neue berufliche Fähigkeiten. Von unseren Sozialarbeiter*innen werden sie stets eng begleitet. So erarbeiteten sich die Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiter*innen neue Perspektiven und eine stabile Lebensgrundlage. Eine von ihnen ist Marzeyeh Jafari «Vor wenigen Jahren bin ich als Flüchtling in der Schweiz angekommen – und wusste zunächst nicht wohin. Ich hatte nichts und kannte niemanden. Im Asylzentrum in Basel hörte ich zum ersten Mal von Surprise. Als ich erfuhr, dass Surprise eine neue Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiterin sucht, bewarb ich mich sofort. Heute arbeite ich Teilzeit in der Heftausgabe – jetzt kann ich mir in der Schweiz eine neue berufliche Zukunft aufbauen.»

Schaffen Sie echte Chancen und unterstützen Sie das unabhängige Förderprogramm «Chancenarbeitsplatz» mit einer Spende. Mit einer Spende von 5000 Franken stellen Sie die Sozial- und Fachbegleitung einer Person für ein Jahr lang sicher. Unterstützungsmöglichkeiten: 1 Jahr CHF 5000.– ½ Jahr CHF 2500.– ¼ Jahr CHF 1250.– 1 Monat CHF 420.– Oder mit einem Betrag Ihrer Wahl.

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Wir alle sind Surprise #555 und #556: Literatur

#555: Literatur

«Grösstenteils enttäuscht»

«Grossartig»

Ich bin seit vielen Jahren regelmässige Leserin von Surprise. Die Artikel sind immer interessant und aufschlussreich. Die Sommerausgaben der letzten Jahre mit den Kurzgeschichten jedoch enttäuschen mich grösstenteils. Die Geschichten werden immer abwegiger und skurriler — mit wenigen Ausnahmen — es findet bei mir kein Lesegenuss mehr statt, es sind Geschichten ohne Hand und Fuss, man muss in die meist schrägen Texte irgendwas hineininterpre­tieren. Ich schätze, dass diese Art von Kurzgeschichten in der Leserschaft von Surprise allgemein keinen Anklang findet, jedenfalls bei mir nicht. Wollen wir Leser das als Ferien- und Freizeit-Lektüre? Ich jedenfalls nicht, denn wir werden in der modernen Literatur schon genug mit viel Unverständlichem konfrontiert.

Diese Ausgabe ist einfach grossartig. Die Texte. Die Illustrationen. Gratuliere. Vielen Dank. BRIGIT TA HANSELMANN, Embrach

«Ohne Unterbruch» Mit viel Freude und ohne Unterbruch habe ich Ihre neueste Ausgabe des Surprise gelesen und schluss­endlich auch wieder einmal ein Kreuzworträtsel gelöst. Die Geschichten haben mich sehr beeindruckt. SYLVIE WEBER, ohne Ort

Lösung von Seite 17

In der Schweiz wachsen 144 000 Kinder in armutsbetroffenen Familien auf. Wir haben diesem zu wenig beachteten Aspekt der Armut eine Ausgabe gewidmet (Surprise 484/20).

EDITH BRODBECK, Arlesheim

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Beundenfeldstrasse 57, 3013 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 43 321 28 78 M+41 79 797 94 10 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Klaus Petrus (kp) Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win) Reporterin: Lea Stuber (lea) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99

Surprise 559/23

redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Carlo Knöpfel, Yvonne, Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Urs Habegger, Kathrin Harms, Ruben Hollinger, Kristin Kasten, Eveliina Marty Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage 28 100

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FOTO: RUBEN HOLLINGER

Surprise-Porträt

«Ab und zu ein Ausflug wäre schön» «Mit dem Verkauf von Surprise habe ich im Frühling 2019 angefangen, als ich in einer Krise steckte. Wegen meiner Hüftprobleme hatte ich schon länger keine feste Arbeit mehr. Und dann verliess mich auch noch meine Freundin, sie zog von einem Tag auf den andern aus. Bevor mir die Decke in der Wohnung, in der wir kurz zuvor noch zu zweit gewohnt hatten, vollends auf den Kopf fiel, meldete ich mich beim Surprise-Büro Bern. Ich kannte Surprise schon von früher und suchte eine Beschäftigung, um auf andere Gedanken zu kommen. Seither ist die Coop-Filiale im Berner Brunnmatt-­ Quartier mein Verkaufsplatz. Es gibt Orte, an denen man mehr Hefte verkauft, das weiss ich von früher, als ich schon mal für kurze Zeit am Hauptbahnhof Surprise verkauft hatte. Aber ich will nicht weg vom Brunnmatt-­ Coop. Denn dort habe ich mittlerweile meine Stammkundschaft, kenne ganz viele gute Leute, darunter auch das Personal vom Coop. In den beiden Lockdowns habe ich diese Kontakte so vermisst, dass ich sogar manchmal von meinem Wohnort Münsingen mit dem Zug nach Bern fuhr und meine Einkäufe im Brunnmatt-­Coop erledigte. Für mich war diese Corona-Zeit sehr schwierig. Sie hat mir ziemlich aufs Gemüt geschlagen, aber sie hatte auch einen positiven Effekt: Seither kann man bei mir mit Twint bezahlen. Der Zivi von Surprise hat mir beim Installieren geholfen, das Klappschild mit dem QR-Code zum Aufstellen habe ich angefertigt. Ich muss sagen, Twinten ist wirklich eine super Sache, jetzt wo die Leute immer weniger Bargeld bei sich haben. Surprise ist mir enorm wichtig. Neben dem Budget-­ Zustupf und den Begegnungen beim Heftverkauf schätze ich den Kontakt zum Team im Büro. Sehr oft gehe ich am Vormittag kurz auf einen Kaffee und einen Schwatz dorthin, beziehe neue Hefte und mache mich erst dann auf den Weg in Richtung Brunnmatt. Im Moment muss der Verkauf manchmal ein bisschen warten, weil Surprise Bern in ein neues Büro zieht, und ich so stundenweise beim Kistenpacken helfe und am neuen Standort Möbel zusammenschraube. Ich helfe gerne, und zudem habe ich ja auch schon oft Unterstützung bei irgendwelchem Papierkram oder früher bei der Wohnungs- oder Stellen­suche erhalten. Eine Stelle suche ich heute keine mehr. Nach sechs Hüftoperationen darf ich nur noch ‹leichte Arbeiten› verrichten, und das auch nur zu 50 Prozent. So finde ich natürlich keine Anstellung mehr. Hinzu kommt, dass ich 30

Tinu Jost, 61, fährt fast täglich zu seinem Verkaufsort, macht davor aber noch gern einen Abstecher zum Team im Berner Surprise-Büro.

keine Ausbildung habe. Ich bin in einer Pflegefamilie auf dem Bauernhof aufgewachsen, und damals hat keiner dafür geschaut, dass ich eine Lehre machen kann. Auf dem Hof war ich mehr Verding- als Pflegekind, meinen Vater habe ich nur einmal in meinem Leben gesehen und meine Mutter das letzte Mal bei der Konfirmation. Vom RAV wurde ich vor zwei Jahren ausgesteuert, danach musste ich mich beim Sozialdienst anmelden. Mittlerweile bekomme ich zwar die sogenannte Überbrückungsrente, aber das ist so wenig, das reicht wirklich kaum zum Leben. Alles, was kostet, zum Beispiel den Coiffeur-Besuch, schiebe ich so lange hinaus wie nur möglich. Neue Hosen, um meine abgetragenen zu ersetzen, kaufe ich sehr wahrscheinlich wieder im Brockenhaus. Von Extras wie Ferien nicht zu reden. Gut, ehrlich gesagt, alleine verreisen möchte ich auch gar nicht. Aber ab und zu einen Tagesausflug, das wäre schön. Ich wüsste auch schon wohin: Als grosser Zugund Modelleisenbahn-Fan würde ich als Erstes das Verkehrshaus in Luzern besuchen.»

Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN Surprise 559/23


Kultur

Solidaritätsgeste

Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR STRASSEN-

CAFÉ SURPRISE CAFÉ SURPRISE

CHOR

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Sozialwerke Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BEGLEITUNG BERATUNG UND

Zugehörigkeitsgefühl Zugehörigkeitsgefühl

Entwicklungsmöglichkeiten Entwicklungs-

Unterstützung Unterstützung

möglichkeiten

BERATUNG

Job

Expertenrolle

Job

Expertenrolle

STRASSENMAGAZIN STRASSENMAGAZIN

Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

STRASSENFUSSBALL STRASSEN-

Erlebnis Erlebnis

FUSSBALL

SOZIALE STADTRUNDSOZIALE GÄNGE STADTRUNDGÄNGE

Perspektivenwechsel Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT GEGEN ARMUT UND AUSGRENZUNG

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