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(Un)guter Hoffnung

Asyl Wer in der Schweiz ein Kind erwartet, hat das Privileg einer adäquaten Versorgung. Es sei denn, die Schwangere ist eine Asylsuchende.

TEXT NAOMI GREGORIS ILLUSTRATIONEN DINAH WERNLI

Die Mutter

«Komm rein!» Zaynab hält die Tür zu ihrer geräumigen Wohnung in einem Basler Vorort auf. Ein langes dunkelblaues Sofa steht an der Wand, davor ein Tisch und ein ausgeschalteter Fernseher. Aus den anderen Zimmern ist lauter Jubel zu hören. Ihre Tochter, sagt Zaynab und deutet auf das Sofa. «Setz dich doch.» Sie ruft ihren Mann Hussein, der mit einem Glas Wasser aus der Küche kommt und sich dazusetzt. Dann fangen sie an zu erzählen.

Zaynab und Hussein lernten sich in Somalia kennen und hatten zwei Kinder, bevor Zaynab 2008 mit dem zweiten in die Schweiz flüchtete. Das erste Kind liess sie bei der Mutter zurück. Hussein kam nach, schaffte es aber nur bis Italien. Für Zaynab folgten Stationen in Allschwil und Frenkendorf, in engen, kalten Zimmern in Asylunterkünften, die sie mit anderen teilen musste. Hussein führte in Italien informell kleine Jobs aus und stieg an den Wochenenden in den Zug, um bei seiner Frau zu sein. Er versuchte, sich unauffällig zu verhalten, lernte, welche Uhrzeiten günstig waren, um nicht vom Grenzschutz abgefangen zu werden. Bald wurde Zaynab schwanger mit dem dritten Kind. Sie fürchtete sich vor der ersten Schwangerschaftskontrolle, wünschte sich, eine Frau würde sie untersuchen. «Aber ich durfte nicht wählen.» Der Gynäkologe wurde ihr zugewiesen, die Möglichkeit, sich jemand anderes zu suchen, stand nicht im Raum.

Eine schwangere asylsuchende Frau untersteht in der Schweiz (wie alle Asylsuchenden ab dem Punkt der vorläufigen Annahme) dem Krankenversicherungsobligatorium. Das heisst: Sie hat während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett dieselben Rechte auf gesundheitliche Versorgung wie eine Schweizer Frau. Theoretisch. Denn «Gesundheitliche Versorgung» ist ein breit auslegbarer Begriff. Für asylsuchende Frauen bedeutet er das Minimum an nötiger medizinischer Begleitung. Ein Minimum, das hier, bei dieser ersten Kontrolle durch den Gynäkologen, für Zaynab deutlich fühlbar wird.

Denn wäre Zaynab Schweizerin, könnte sie sich eine Gynäkologin suchen; in der Schweiz haben alle das Recht auf freie Ärzt*innenwahl. Für eine Asylsuchende gilt dieses Recht offenbar nicht. Stattdessen hat Zaynab: das Recht auf einen Wunsch. «Frauen und Mädchen aus dem Asylbereich haben ein Anrecht darauf, den Wunsch zu äussern, von weiblichem Gesundheitspersonal untersucht (...) zu werden», schreibt das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte 2019 in einem Bericht.

Zaynab wünschte sich eine Gynäkologin, unter anderem, weil sie, wie 98 Prozent der Frauen in Somalia, beschnitten ist. Die Scham darüber holt sie heute noch manchmal ein, auch wenn sie mittlerweile häufig in Wut umgeschlagen ist. Über ihre Mutter, ihre Tanten und Schwestern in Somalia, die es weiterhin zulassen, dass die Mädchen in der Familie beschnitten werden. Was dort auf taube Ohren stösst, ist für Zaynab und Hussein in der Schweiz zu einem wichtigen Ehrenamt geworden: Sie klären Familien aus afrikanischen Ländern über die Folgen der Mädchenbeschneidung auf, richten Infoanlässe aus und organisieren Treffen. Zaynab und Hussein gehören nicht zu denen, die stumm Dinge über sich ergehen lassen. Zumindest nicht mehr.

Die ersten beiden Geburten in Somalia waren nicht gut, sagt Zaynab. Aber diese dritte Schwangerschaft sei besser gewesen, trotz der tiefen Eisenwerte und der Schwangerschaftsdiabetes, die Zaynab entwickelte. Sie war froh um die Dolmetscherin vom Roten Kreuz. Als die Wehen losgingen, war Hussein glücklicherweise gerade im Land. Sie fuhren ins Bruderholzspital, die Geburt dauerte lange und endete mit einem Dammschnitt. Im Rückblick war es ok, sagt Zaynab. Aber Hussein hätte sich mehr Informationen gewünscht, mehr Möglichkeiten zur Mitsprache. Gerade als es um diesen Dammschnitt ging, den man plötzlich sehr schnell machen wollte. «Ich konnte nur danebenstehen und zustimmen. Ich wusste, dass wir oder Zaynab das Recht hätten, zu widersprechen. Aber was bringt uns dieses Recht, wenn wir kaum verstehen, was sie uns sagen?»

Eine Geburt ist unvorhersehbar, das Machtgefälle zwischen Ärzt*innen und Gebärenden im Spital immer vorhanden. Auch Schweizerinnen berichten von Eingriffen, die sie überrumpelten oder wo zu wenig Konsens herrschte. Andere wiederum erleben bestärkende, schöne Geburten. In Zaynabs Fall geht es aber um etwas anderes. Eine Frau, die die Kultur und Sprache des Landes versteht, gebärt aus einer anderen Ausgangslage heraus als eine, die diese Privilegien nicht hat.

Nach ein paar Tagen durfte Zaynab nach Hause, zurück in die Asylunterkunft in Frenkendorf, wo sie sich mit einer eritreischen Frau mit zwei Kindern ein Zimmer teilte. Ein Vorhang trennte die beiden, aber es kam trotzdem zu Streit. Einmal habe die Mitbewohnerin in ihrer Wut eine Gabel über den Vorhang geworfen, weil ihr Zaynabs Baby zu laut schrie. Das Wochenbett war entsprechend anstrengend, besonders auch, weil Hussein nach fünf Wochen wieder nach Italien musste, um in einem Minijob Geld zu verdienen. Zaynab blieb alleine mit den zwei Kindern zurück. Als sie nach ein paar Monaten von einer Einzimmerwohnung in der Nähe hörte, meldete sie sich beim Vermieter und zog um. Nach mehr als zwei Jahren auf der Flucht und in Provisorien hatte sie endlich einen eigenen Raum für sich und ihre Familie gefunden.

Zaynab würde noch dreimal schwanger werden, und mit jedem Mal wurden die Geburten besser. Sie suchte sich eine familienbegleitende Hebamme über das Rote Kreuz und gebar mit ihrem Gynäkologen, zu dem sie ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte. Mittlerweile wohnen sie in einer grossen Wohnung, Hussein durfte von Italien in die Schweiz ziehen, er arbeitet als Koch, und seit 2015 beziehen sie keine Sozialgelder mehr. Ihr fünftes, jüngstes Kind ist jetzt ein paar Monate alt. Die Tochter bringt es im Laufe des Gesprächs ins Wohnzimmer, wo Zaynab es stillt. Es seien jetzt aber genug Kinder, sagt sie, ihre Stimme klingt bestimmt.

Die Politik

Am 9. Juni 2016 reichte die SP­Nationalrätin Yvonne Feri ein Postulat zur «Analyse der Situation von Flüchtlingsfrauen» ein. Es geht darin um die Frage, ob geflüchteten Frauen in der Schweiz genug Unterstützung und Schutz –etwa durch sensible Unterbringung in den Asylzentren –geboten wird. Das Postulat wurde 2017 vom Nationalrat angenommen, worauf das Staatssekretariat für Migration (SEM) sowie das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SODK) eine Analyse der Situation auf Bundesebene durchführten.

Für die kantonale Ebene beauftragten sie das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) mit einer Studie. Darin wurden Leitungs­ und Betreuungspersonen in den kantonalen Unterkünften, medizinisches Erstversorgungspersonal und spezialisierte Fachpersonen in fünf ausgewählten Kantonen befragt. Asylsuchende sowie junge Frauen gehörten nicht zu den Befragten – Gründe dafür wurden keine genannt. Die Lage in den kantonal betriebenen Notunterkünften und Ausschaffungsgefängnissen wurde nicht untersucht.

2019 erschienen die Berichte zur Erfüllung des Postulates. Nur derjenige des SKMR bezog sich auch auf geflüchtete Frauen vor und nach der Geburt. Die erhobenen Missstände sind vielfältig, grob lassen sie sich in fünf Kategorien unterteilen:

1. Unterbringung: Es gibt keine Unterbringungskonzepte oder Räumlichkeiten für vulnerable Gruppen, zu denen auch Schwangere oder Frauen mit kleinen Kindern gehören. Oft fehlen geschlechtergetrennte Sanitäranlagen oder separate Zimmer für Mütter mit Neugeborenen. Frauen, die eben erst geboren haben, verfügen somit oft über keinen Ort, wo sie sich erholen oder in Ruhe stillen können. «Viele Frauen und Mädchen fühlen sich in den Unterkünften subjektiv nicht sicher, und es kommt dort immer wieder zu Übergriffen und Gewalttaten», schreibt das SKMR im Bericht. Für die Kantone bestehen keinerlei rechtlich bindende Bestimmungen zur gendersensiblen Unterbringung von Asylsuchenden.

2. Fachpersonal: Frauen haben in den Unterkünften keinen systematischen Zugang zu weiblichen An sprechpartnerinnen, weder wenn es um die Betreuung noch um die medizinische Versorgung oder Sicherheit geht. Die obligaten Schwangerschaftsuntersuchungen finden im Spital statt. Für Triage und medizinische Betreuung in den Bundesasylzentren und Kollektivunterkünften ist medizinisches Personal zuständig, das nicht ausreichend zum Thema sexuelle und reproduktive Gesundheit sensibilisiert ist. Hebammen und Gynäkolog*innen gehören in der Regel nicht zum Personal.

3. Informationen: Vor allem in kleinen Kantonen haben Frauen keine Wahlfreiheit, was die perinatale Versorgung angeht (Schwangerschaftsbegleitung, Geburtsvorbereitung, Geburt, Wochenbett, Nachsorge). Es fehlen spezialisierte Kurse, die Angebote sind überlastet oder schwer zugänglich. Die Wege sind oft lang, Fahrtkosten werden keine übernommen, es gibt keine geregelte Kinderbetreuung. Frauen und Mädchen aus dem Asylbereich werden kaum systematisch über sexuelle und reproduktive Gesundheit, ihre sexuellen Rechte und diesbezügliche spezialisierte Angebote informiert. Dasselbe gilt für medizinische Behandlungssettings, wodurch es immer wieder zu Behandlungen ohne Einwilligungserklärung kommt, auch während der Geburt.

4. Sprache: In den Unterkünften und in der medizinischen Erstversorgung gibt es keine oder kaum Dolmetschdienste. Im stationären Bereich dürfen seit 2019 Kosten für Übersetzungs­ und Dolmetschdienste, die für die Durchführung einer Behandlung erforderlich sind, über die Krankenversicherung abgerechnet werden. Für Geburten gilt das nicht.

5. Mentale Gesundheit. Im Wochenbett fehlen Screenings auf psychische Erkrankungen, obwohl bekannt ist, dass solche gerade bei gewaltbetroffenen Frauen aus dem Asylbereich gehäuft auftreten. Nach dem Wochenbett fehlen oftmals nachfolgende Angebote, weshalb viele Mütter auf ihr persönliches Netzwerk zurückgeworfen werden und bei dessen Fehlen unter Isolation leiden. Wegen mangelhafter Triage oder Übergängen zwischen Bundeszentren, kantonalen Unterkünften und der Unterbringung in Gemeinden gehen die Daten von Frauen mit Unterstützungsbedarf oft verloren, was dazu führt, dass Betroffene keine nachfolgende medizinische Unterstützung bekommen.

Ein 6. Punkt, der in Studien immer wieder zur Sprache kommt, steht nicht in den Berichten: Gesundheitsdossiers. In den Asylzentren hat zwar jede Person ein medizinisches Dossier, geführt vom Pflegefachpersonal vor Ort. Aber ein extern behandelnder Arzt, zum Beispiel ein Gynäkologe in einem Spital, teilt aus Vertraulichkeitsgründen sein Patient*innendossier nicht mit dem Pflegefachpersonal in den Asylzentren. Dossiers aus dem Aufnahmeland, etwa Italien, sind oft unauffindbar, weil die Frauen sie aus Angst vor Konsequenzen entsorgt haben. Medizinische Informationen zu einer bestehenden Schwangerschaft sind also oftmals nicht vorhanden, und wenn doch, dann meist nur in der Frage «Schwanger: Ja – Nein».

Das SKMR empfiehlt in seinem Bericht die Bereitstellung von finanziellen Ressourcen für von weiblichen Personen durchgeführte transkulturelle Dolmetschdienste, ein Konzept für gendersensible Unterbringung, eine Gewährleistung weiblicher Ansprechpersonen, Schulung von Personal und Ausbau von geburts ­ und wochenbettspezifischen Angeboten. Bisher passiert ist: nichts. Im 32­seitigen Konzept des Bundesrates kommt das Wort «Schwangerschaft» viermal vor, immer in Kombination mit den Eintrittsfragen wie «Sind Sie schwanger?». Massnahmen, die spezifisch für Frauen vor und nach der Geburt gelten, sind nicht vorgesehen.

Dasselbe gilt für den Bericht, den das Staatssekretariat für Migration 2021 zur Umsetzung der Massnahmen publizierte. 2019 erklärte die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) in einer Medienmitteilung, dass man zusammen mit Fachpersonen der Kantone und Gemeinden ein Merkblatt mit praktischen Leitlinien zur gendersensiblen Unterbringung und zur Identifikation von traumatisierten Personen erarbeite. Der Leitfaden ist bis heute nicht erschienen. Auf Anfrage heisst es bei der SODK, man verfüge momentan nicht über die Ressourcen, um in der Umsetzung des Postulats voranzukommen. Es sei nicht vorgesehen, die Bedürfnisse von schwangeren Frauen speziell zu berücksichtigen, aber im Allgemeinen würden Schwangere wie andere vulnerable Personen zur Anspruchsgruppe dieses Leitfadens gehören. Kurz: Das Thema bleibt auf der Strecke, die Leidtragenden sind die Frauen.

Die Wissenschaft

Während die Mühlen von Behörden und Politik langsam mahlen, gibt es in der Wissenschaft klare Worte für die Situation: «Trotz der günstigen rechtlichen Voraussetzungen haben asylsuchende Frauen in der Schweiz keine adäquate Versorgung», heisst es 2021 in einem Artikel der Fachzeitschrift Public Health Forum.

Schwangere geflüchtete Frauen, schreiben die Autor*innen, stehen unter einem hohen Risiko für psychische Belastungen. Der unsichere Aufenthaltsstatus und die schwierigen Wohnbedingungen bilden einen direkten Zusammenhang mit der Gesundheit und Geburtserfahrung der Frau. Asylsuchende Frauen haben höhere Raten von Frühgeburten, Totgeburten, Kaiserschnitten, Schwangerschaftsabbrüchen und postpartalen Depressionen. Frauen, die die Sprache und Kultur des Aufnahmelandes nicht kennen, trauen sich weniger, eines der spärlichen Angebote in Anspruch zu nehmen, die ihnen eine Stütze sein könnten. Ein niedriger sozioökonomischer Status, Sprachbarrieren, ein relativ kurzer Aufenthalt im Aufnahmeland und ein später Beginn der Schwangerschaftsvorsorge erhöhen die mütterliche Morbidität im Vergleich zu anderen Migrantinnen und der einheimischen Bevölkerung.

Um bedarfsgerechte Ansätze zu entwickeln, so die Autor*innen, brauche es eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Sichtweise der Betroffenen. Derzeit läuft an der Berner Fachhochschule die partizipative Studie REFPER; sie untersucht, welche Bedeutung geflüchtete Frauen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit zuschreiben, welche Bedürfnisse sie diesbezüglich haben und welche Erfahrungen sie im schweizerischen Gesundheitssystem machen.

Die Forschung zeigt: Versorgung geht Hand in Hand mit Gesundheit. Stimmt die Versorgung nicht, sind auch die gesundheitlichen Rechte nicht gewährleistet. Aber wenn Politik und Behörden diesen Frauen nicht helfen, wer dann? Die Antwort lautet: Andere, vorwiegend gratis arbeitende Frauen.

DIE HEBAMMEN Vor einem Asylzentrum einer Schweizer

Grossstadt steht Sandra M. Sie ist Teil einer Gruppe von freischaffenden Hebammen, die asylsuchende Frauen während Schwangerschaft und Wochenbett im Asylzentrum begleitet. Sie bringen den Frauen Essen, das sie aus Hygienegründen selbst nicht auf ihre Zimmer nehmen dürfen, nährende Dinge wie Trockenfrüchte und Nüsse, geben Geburtsvorbereitungskurse, klären auf. Die Wochenbettbesuche können sie abrechnen lassen, bei komplikationsreichen Schwangerschaften manchmal auch Besuche während der Schwangerschaft. Aber ein grosser Teil ihrer Arbeit geschieht ehrenamtlich. «Es ist übel», sagt Sandra M., während sie den kleinen Innenhof entlangläuft. Platzmangel, schlechtes Essen, fehlende Ressourcen – die Liste ist lang. «Die Pflegefachpersonen hier geben alles», sagt sie, das Engagement sei riesig. «Aber es reicht einfach nicht.» Die Wöchnerin, die Sandra M. heute besucht, ist 21 Jahre alt und kommt aus dem Iran. Nennen wir sie Mina. Seit sechs Jahren ist Mina auf der Flucht, ohne Familie oder Bekannte. In Griechenland hat sie ihren Freund kennengelernt und wurde von ihm schwanger. Vor zwei Monaten hat Mina Zwillinge geboren, ein Kaiserschnitt. Ihr gehe es nicht besonders gut, sagt Sandra M., sie vermutet eine postpartale Depression.

Minas Freund steht vor der Treppe zum Einzelzimmer, das sie als ausserordentliche Massnahme zugewiesen erhielten. Ihre Zwillinge wurden in der 28. Woche geboren, die kleine Familie gilt somit als vulnerabel, mit Anrecht auf einen eigenen Raum. Die meisten Wöchnerinnen teilen das Zimmer mit einer anderen Familie. Schwangere mit bis zu fünf weiteren Frauen.

«Es geht ihr gar nicht gut», sagt Minas Freund leise. Er wisse nicht, wie weiter, sie habe die ganze Nacht geweint. Sandra M. nickt. Wünscht sie sich einen stationären Aufenthalt im Spital? «Ja, das wäre gut», sagt der Freund. Er verabschiedet sich, weil er einen Termin bei einem An­ walt hat. Er will herausfinden, wie viel Zeit sie noch haben, bevor seine kleine Familie möglicherweise ausgeschafft wird. Nach der Geburt gibt es in der Schweiz keine rechtlich geregelte Schutzfrist. Die Angst ist gross, im Zentrum trifft es gerade viele Menschen. Sie müssen zurück ins Aufnahmeland, er hat die Geschichten mitbekommen.

Im Zimmer liegt Mina neben ihren schlafenden Zwillingen. Das Zimmer ist eng und stickig, ein grosses Kajütenbett steht an der Wand, überall sind Tücher und Babykleidung zum Trocknen aufgehängt. Aus einem kleinen Fenster dringt Licht herein, draussen ist eine Backsteinmauer zu sehen. Mina wirkt müde, abgekämpft. Leise berichtet sie von der Impfung, die ihre Babys bekommen haben. «Und wie geht es dir?», fragt Sandra M. Weine Mina viel, habe sie schlimme Gedanken? Mina nickt. «Nicht gut.» Sie erzählt, wie sie einmal mehr als zwei Stunden schlafen konnte. «Bis sie gekommen sind.» Die vom Asylzentrum, um das Zimmer zu durchsuchen. Das machen sie ein mehrmals die Woche. Um nachzuprüfen, ob man nichts hereingeschmuggelt habe. Sie schaut auf ihre Hände, sagt, sie wolle raus. «Soll ich im Spital anrufen?», fragt Sandra, die Stimme ruhig, mitfühlend. Mina nickt.

Sandra M. hat auf der stationären Abteilung des Spitals der Stadt angerufen. «In einer Woche darfst du einchecken.» Sie lächelt. Mina knetet ihre Hände. «Ok», sagt sie. Sie hat Angst, ausgeschafft zu werden, 21 Jahre, Mutter von acht Wochen alten Zwillingen, pausenlos traurig.

Es sei nicht einfach, sagt Sandra M. später vor dem Ausgang des Zentrums, dieses Zurechtkommen in beiden Welten. Sie hat selbst ein Kind, wohnt in der Stadt mit ihrem Freund, knapp 15 Minuten entfernt. Dazwischen eine Kluft.

Der Kurs

Es ist Dienstagabend. In einem Kursraum des Universitätsspitals

Basel (USB) stehen ein paar Frauen und plaudern. Neben ihnen sind acht Stühle in einem Kreis angeordnet, dahinter ein Flipboard mit Fragen auf laminierten Blättern: Wann muss ich ins Spital? Was wünsche ich mir für die Geburt? Wer kommt mit? Danielle B. spricht mit der ruhigen Resolutheit, wie sie nur Hebammen haben. «Ich glaube, wir sind für heute vollzählig.» Sie bittet alle, auf den Stühlen Platz zu nehmen. Eigentlich sind es sechs Teilnehmerinnen, aber eine kommt heute nicht, sie muss arbeiten, eine andere kann wegen Schwangerschaftskomplikationen nicht dabei sein. Danielle B. schaut in die Runde. Eine Somalierin, eine Ukrainerin, eine Marokkanerin und eine Syrerin sind anwesend. Dazu zwei interkulturelle Dolmetscherinnen vom HEKS – Hilfswerk der evangelischen Kirchen der Schweiz. «Wie geht es euch?», fragt Danielle B. und die Frauen nicken. Ganz gut. Sie sind unterschiedlich weit in der Schwangerschaft und haben alle denselben Wunsch: vaginal zu gebären, möglichst komplikationsfrei.

Die Kurse werden seit 2018 von der Frauenklinik des USB organisiert und angeboten. Sie sind nach dem lizenzierten Konzept des Vereins Mamamundo aufgebaut, der fremdsprachigen Frauen Zugang zu Geburtsvorbereitungskursen ermöglicht und in Studien immer wieder als Best­Practice­Projekt genannt wird.

Die Frauen werden in einem intimen Rahmen über Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett informiert und haben die Gelegenheit, sich mit anderen Schwangeren auszutauschen. Zudem lernen sie das Schweizer Gesundheitssystem, lokale Versorgungsstrukturen und ihre Rechte kennen. Ein wichtiger Teil des Kurses ist auch, sich mit gezielten Körperübungen zu entspannen und auf die Geburt vorzubereiten und das Vertrauen in den eigenen Körper zu stärken. Die Krankenkasse bezahlt 150 Franken, die restlichen 30 Franken müssen die Teilnehmerinnen selbst zahlen oder die Sozialhilfe übernimmt den Betrag. Da dieser Beitrag die Gesamtkosten nicht deckt, werden die Kurse finanziell vom USB gemeinsam mit kantonalen Stellen getragen: Fachstelle Integration und Antirassismus im Rahmen des kantonalen Integrationsprogramms Basel­Stadt, Gesundheitsförderung Baselland sowie Prävention Basel­Stadt im Rahmen der kantonalen Aktionsprogramme (KAP) von Gesundheitsförderung Schweiz. Heute geht es um praktische Fragen rund um die Geburt. Nach einer kurzen Aufwärmsequenz fragt Danielle

B. die Teilnehmerinnen, auf welche Weise in ihrem Land geboren wird. «Es gibt zwei Möglichkeiten», sagt die Frau aus der Ukraine. «Entweder du bist reich. Dann gebärst du wie in der Schweiz. Kein Problem. Für die restlichen 90 Prozent sieht die Realität aber anders aus.» Sie berich­ tet von Schmier­ und Lohngeld für Ärzte, Geld für Medikamente und Zusatzkosten bei Komplikationen oder Kaiserschnitt. Eine Geburt koste zwei Gehälter, mindestens. Hinzu kommt der Zustand der Strassen. «Eine Katastrophe», sagt die Ukrainerin. Bis zu 100 Kilometer müsse man auf kaputtem Asphalt zurücklegen, um ins nächste Spital zu kommen.

Die anderen nicken. In ihren Ländern laufe es ähnlich ab. Bei den Frauen aus den arabischen Ländern dürfen die Männer nicht bei der Geburt dabei sein – und wollen es oft auch nicht. Die Arbeit einer Hebamme ist nicht allen geläufig, bei den meisten nehmen Ärzte die Geburten vor. Hausgeburten gibt es kaum, nur die Somalierin berichtet davon. Sie hat eine diagnostizierte Präklampsie, eine Erkrankung, die mit Bluthochdruck einhergeht und zu Krampfanfällen und verfrühten, schweren Geburtsverläufen führen kann. «In meiner Heimat würde ich bei der Geburt wahrscheinlich sterben», sagt sie.

Die Frauen hätten meist wenig Fragen zur Geburt, sagt Danielle. Aber die Angst, nicht verstanden zu werden, bekomme sie mit. Sie sei ein Stück weit nachvollziehbar, schliesslich gebe es beim Gebären keine Dolmetscherinnen, die einem über längere Zeit beistehen können. Aus diesem Grund werden an der Frauenklinik bereits bei den Schwangerschaftskontrollen professionelle Dolmetscherinnen beigezogen, falls keine ausreichende Kommunikation möglich ist. Während der Geburt kann im Unispital Basel für kurze Gespräche ein Telefon­Dolmetschdienst in Anspruch genommen werden. Die Kosten übernimmt das Spital.

Nach einer Entspannungsmassage und einer Pause geht Danielle mit den Teilnehmerinnen die Fragen auf dem Flipchart durch. Als es darum geht, wer zur Geburt kommen wird, sagt die Frau aus Somalia, dass sie alleine gebären will. «Sicher? Und niemand kommt mit?», fragt Danielle nach. Die Somalierin verneint. «Das ist total ok», erwidert Danielle aufmunternd. Sie geht affirmativ und pragmatisch mit den Wünschen der Frauen um. «Es ist wichtig, dass ihr für euch einsteht. Das könnt ihr selbst, oder auch eure Begleitung.»

Nach den zwei Stunden bleiben die Frauen noch kurz beisammen und plaudern. Oksana will noch etwas loswerden, es sei wichtig. «Schreib bitte», übersetzt die Dolmetscherin, «dass ich den Menschen hier sehr dankbar bin. Euer Land hat mein Leben gerettet und mir ein Kind geschenkt. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Als dieser Kurs anfing, hatte ich Angst und wollte einen Kaiserschnitt. Aber jetzt», sie zeigt auf Danielle, «versuche ich es auf dem anderen Weg.»

Recherchefonds: Dieser Beitrag wurde über den Surprise Recherchefonds finanziert. surprise.ngo/recherchefonds

Hintergründe im Podcast: Simon Berginz spricht mit Naomi Gregoris über die Hintergründe ihrer Recherche. surprise.ngo/talk

Serie: Digitalisierung In einer fünfteiligen Serie machen wir uns auf die Spur der Gräben, welche die Dig italisierung schafft.