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«Es geht um den Erhalt unserer Kultur»

Ein halbes Jahrhundert nach der rassistischen Pro-Juventute-Kampagne würden die Jenischen weiter diskriminiert und daran gehindert, ihre Kultur zu leben, sagt Daniel Huber, Vorsitzender der «Radgenossenschaft der Landstrasse».

INTERVIEW KLAUS PETRUS

Daniel Huber, vor fünfzig Jahren musste die Pro Juventute ihr «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» infolge öffentlicher Kritik einstellen. Was hat sich seither verändert?

Daniel Huber: Viel und doch zu wenig. Tatsache ist, dass wir Jenischen, zusammen mit den Sinti, seit 2016 als nationale Minderheit anerkannt sind, und zwar nicht als «Fahrende», sondern unter der Selbstbezeichnung Sinti und Jenische. Für mich ist das ein Fortschritt.

Inwiefern?

Zwar ist das «Scharotl», der Wohnwagen, das Symbol der jenischen Kultur. Von den heute in der Schweiz lebenden 30 000 bis 40 000 Jenischen leben jedoch höchstens zehn Prozent als Fahrende. Es wäre also falsch, alle Jenischen als «Fahrende» zu bezeichnen oder nur diejenigen zu den Jenischen zu zählen, die in ihren Wohnwagen reisen.

Der Bund sicherte den Opfern der Pro­JuventuteKampagne eine Wiedergutmachung in der Höhe von bis zu 20 000 Franken pro Person zu. Reicht das?

Wer würde dieses Geld, nach all den schlimmen Erfahrungen, nicht annehmen? Wiedergutmachung muss aber, soll sie nachhaltig sein, mehr beinhalten. Letztlich geht es um nichts weniger als den Erhalt unserer Kultur.

Wie meinen Sie das?

Der Bund hat sich dazu verpflichtet, unsere Kultur zu schützen. Und zu dieser Kultur gehört, dass wir im Wohnwagen unterwegs sein können. Dafür aber brauchen wir Standplätze für den Winter und Durchgangsplätze für die Monate zwischen Frühling und Herbst, während denen wir reisen. Allein für uns Jenische und die Sinti, die während den Sommermonaten auf Reise sind, bräuchte es in der Schweiz an die siebzig Durchgangsplätze, momentan gibt es bloss zwei Dutzend davon. Nimmt man die reisenden Familien aus dem Ausland hinzu, so fehlen heute an die hundert Plätze. Ohne Plätze sind wir nicht in der Lage zu reisen. Was eben darauf hinausläuft, dass unsere

Kulturkämpfer

Daniel Huber, 56, ist Präsident der 1975 gegründeten «Radgenossenschaft der Landstrasse», der einzigen Dachorganisation der Jenischen und Sinti in der Schweiz.

Kultur in Gefahr ist. Wenn Sie danach fragen, was sich seit dem Ende der Pro-Juventute-Kampagne getan hat, muss ich sagen: Wir haben heute weniger Plätze als damals, was so gesehen ein kultureller Rückschritt ist.

Bleiben wir für einen Augenblick bei der jenischen Lebensweise. Wir alle kennen die Klischees, wenn es um «die Fahrenden» geht. Woher kommt das?

Diese Vorurteile sind tief verwurzelt. Fahrende werden als Leute gesehen, die «wild» leben, die sich nicht einschränken lassen, Freigeister, die tun und lassen können, was sie wollen. Das sind jetzt eher «positive» Projektionen und Vorurteile. Aber sie sind genauso falsch.

Inwiefern?

Man darf das Reisen und Hausieren der Jenischen nicht mit Campieren und Ferien verwechseln. Ich kann verstehen, dass es so etwas wie einen Neid von Sesshaften gibt, die von der grossen Freiheit träumen und dies mit dem Leben der Fahrenden in Verbindung bringen. Dabei wird ausgeblendet, dass wir Jenischen unterwegs sind, weil unsere Arbeit das verlangt. Auch ist das Leben im Wohnwagen oft anstrengend und geht nicht selten mit Armut und Diskriminierung einher. Zudem werden die Jenischen wie kaum ein anderer Teil der Schweizer Bevölkerung kontrolliert – sei es, was die Standplätze angeht oder die Gewerbepatente, die Miete für die Plätze, die Rechnungen für Wasser, Strom oder den Kehricht.

Würden mehr Jenische auf Reise gehen, wenn es mehr Plätze hätte?

Bestimmt. Ich sehe es daran, dass schon jetzt, also in Zeiten des Platzmangels, immer mehr Jenische wieder reisen, darunter viele junge. Das Reisen gehört zu unserer Kultur, daran besteht kein Zweifel.

Gibt es unter den Jenischen so etwas wie eine Kluft zwischen denen, die reisen, und den Sesshaften?

Es ist manchmal spürbar, dass die reisenden Jenischen sich gegenüber den sesshaften ein wenig abzuheben versuchen. Ich denke, vielleicht war am Ende genau dies das Ziel der Pro Juventute: einen Grossteil der Jenischen sesshaft zu machen und unser Volk so in Fahrende und Sesshafte zu spalten. Umso wichtiger ist, dass wir endlich mehr Plätze bekommen und das Reisen einfacher wird. Dann können sich die Jenischen frei entscheiden, ob sie weiter sesshaft bleiben wollen oder ein Leben im «Scharotl» vorziehen.