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«Ich bin, wie ich bin»

Junge Menschen erzählen von ihrem Lebensgefühl.

Seite 8

Jugend
Strassenmagazin Nr. 543 3. bis 16. Februar 2023 Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass davon gehen CHF 3.–an die Verkäufer*innen CHF 6.–

SURPRISE WIRKT

GEGEN ARMUT UND AUSGRENZUNG

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Bild: Marc Bachmann
www.surprise.ngo

Von den Menschen

Was bewegt die Jugend von heute? Diese Frage stellen sich viele erwachsene Menschen, die wenigsten beschäftigen sich jedoch wirklich mit der Antwort. Die Zürcher Fotografin Gabi Vogt wollte es wissen und hat über vierzig junge Menschen im Alter zwischen 13 und 20 Jahren befragt und fotografiert. Einen Vorabdruck ihres fotografisch und inhaltlich beeindruckenden Protokolls einer Generation finden Sie ab Seite 8

Surprise-Verkäufer Fabian Schläfli aus Basel begleiten wir seit Langem journalistisch. An seiner Person, seinen Lebenserfahrungen und seinen Kämpfen lässt sich vieles zeigen: Wie es ist, wenn man aufgrund einer kognitiven Einschränkung nicht dieselben Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat wie andere. Was in seiner Lage Selbstbestimmung bedeutet, und was Abhängigkeit. Schläfli kämpft für sein Recht, immer wieder, an immer neuen Fronten und mit einem unausräumbaren Gefühl von ständiger Benachteiligung – oft genug mit Grund. Dieses Mal geht es um einen Stellplatz für seinen Elektrorollstuhl. Lesen Sie mehr ab Seite 14.

«Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.» Dieser vielzitierte Satz von Max Frisch von 1965 bezog sich zunächst auf italienische sogenannte Gastarbeiter*innen. Er hatte auch in den 1980er-Jahren nicht an Aktualität eingebüsst, als der türkisch-deutsche Rockstar Cem Karaca daraus einen Song auf seiner Platte «Die Kanaken» machte – noch ist er heute überholt: Zwar gehört das unmenschliche Saisonnierstatut inzwischen der Vergangenheit an, die systematische Ungleichbehandlung und Diskriminierung ausländischer Arbeitskräfte wurde damit jedoch nicht abgeschafft. Eine aktuelle Ausstellung in Biel erinnert an das, was hinter uns liegt. Klaus Petrus verweist ab Seite 18 auf Parallelen im Hier und

Surprise 543/23 3 Editorial
Jetzt. 4 Aufgelesen 5 Na? Gut! Was mit Nothilfe möglich ist 5 Vor Gericht Beim Barte des Lenkers 6 Verkäufer*innenkolumne Der Maarchelauf 7 Moumouni … ... Kunst und Frieden 8 Jugend Porträt einer Generation 14 Rechtsstreit Einer, der sich wehrt 18 Migration Gedenken zum Saisonnierstatut 22 Kino Der Dämon aus der Flasche 24 Wahlverwandtschaft in der Not 25 Buch Sturmzerzauste Gestalten 26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse Pörtner in Lyss 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt «Ich gebe die Hoffnung nicht auf» TITELBILD: GABI VOGT SARA WINTER SAYILIR Redaktorin

Auf g elesen

News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Authentische Bilder

Lange Zeit wurden nur Menschen porträtiert, die das Geld dafür hatten. Arme Leute hatten weder einen Fotoapparat noch konnten sie sich eine*n professionelle*n Fotograf*in leisten. Mit der Zeit wurden Kameras erschwinglicher, und heutzutage haben fast alle ein Handy und können Selfies von sich machen. Der kanadische Fotojournalist Rick Collins hat schon vor Jahrzehnten damit begonnen, Menschen am sogenannten Rand der Gesellschaft zu porträtieren. Es sind dies keine Studiobilder, vielmehr geht es ihm ums Authentische. «Ich treffe die Menschen dort, wo sie sich am wohlsten fühlen. Ich bringe mein Studio zu ihnen. Wir verbringen etwa 20 Minuten damit, gemeinsam Bilder zu machen, über das Leben zu reden und Gemeinsamkeiten zu finden. Diese Porträts sollen widerspiegeln, wer eine Person in diesem Moment ist.»

4 Surprise 543/23 bhm.ch/ rausch 26.01.–13.08.2023
MEGAPHONE, VANCOUVER FOTOS: RICK COLLINS ANZEIGE

Was mit Nothilfe möglich ist

Das Nothilfesystem wird immer wieder kritisiert. Es gefährde die psychische und physische Gesundheit, monierten medizinische und psychologische Fachpersonen im Februar (Surprise Nr. 536).

Stellungnahmen der Kantone zeigen nun auf, dass sie die Spielräume in den Bereichen Grundbedarf, Kinder, Wohnen, Recht auf angemessene Teilhabe oder medizinische Versorgung unterschiedlich nutzen. Wo also leben abgewiesene Asylsuchende am wenigsten schlecht?

Kein anderer Kanton zahlt so hohe Nothilfesätze wie Basel-Stadt, nämlich 12 Franken am Tag. Hier dürfen betroffene Jugendliche eine Lehre machen, in Genf werden diese zusätzlich finanziell unterstützt. In Obwalden, Schaffhausen und Uri leben abgewiesene Asylsuchende statt in Kollektivunterkünften in Wohnungen und WGs; im Aargau, in Fribourg, Basel-Landschaft und Basel-Stadt gibt es Wohnungen und WGs immerhin für vulnerable Menschen: Kinder mit Familie, unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMAs), Schwangere oder Kranke. In den Kantonen BaselLandschaft, Basel-Stadt und Fribourg dürfen Abgewiesene in Beschäftigungsprogrammen gärtnern oder Sport treiben. Um psychisch belastete Menschen erkennen und behandeln zu können, arbeiten Fachleute in Fribourg eng zusammen. LEA

Beim Barte des Lenkers

Der Mann sagt, er arbeite 200 Prozent. Seine Gerüstbaufirma leitet der 40-Jährige als One-Man-Show: Offerten, Rechnungen, Termine, alles macht er selbst. Nach wie vor schuftet er zudem 100 Prozent draussen, auf dem Bau. Das muss er auch – allein die Krankenkassenprämien für seine Familie summieren sich auf 11 000 Franken.

Es ist also leicht vorstellbar, dass der Mann oft in Eile ist. Im Februar 2021 war er laut Staatsanwaltschaft ganze 25 km/h zu schnell unterwegs – in einer 30er-Zone. Dafür verurteilte ihn das Bezirksgericht Winterthur zu einer Geldstrafe. Der Beschuldigte aber sagt, er habe zum Tatzeitpunkt woanders einen Termin wahrgenommen. Dass er selbst gefahren sei, könne ihm tatsächlich nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, sagen auch die erstinstanzlichen Richter*innen. Aber weil er sich nicht bemüht habe, herauszufinden, wer sonst sein Firmenauto lenkte, sei er trotzdem schuldig.

zwei Wangengrübchen zu erkennen – wie er. Es gebe Tausende von Männern mit Kinnbart, erwidert der Beschuldigte. Er habe mehrere Angestellte und Subunternehmer, alle seien in seinen sechs Fahrzeugen unterwegs. Zwar führe er eine Liste, wer an jedem Tag mit welchem Auto losfahre, aber sehr oft fahre dann ein anderer weiter oder übernehme das Steuer auf dem Rückweg. Warum er denn diese Liste nie eingereicht habe, will ein Richter noch wissen – weil niemand danach gefragt habe, antwortet der Gerüstbauer.

Sein Strafverteidiger zerzaust nun die Rechtmässigkeit des vorinstanzlichen Urteils. Es gehe doch nicht, wenn das Gericht zwar sage, die Schuld des Beschuldigten sei nicht erwiesen – ihn dann aber trotzdem schuldig spricht, weil er zu wenig unternommen habe, um den wahren Lenker ausfindig zu machen. Eine Verletzung seiner Auskunftspflicht als Geschäftsführer sei nicht eingeklagt gewesen.

Quelle: Terre des Hommes Schweiz/ NCBI Schweiz: Nothilfe – Kantonalen Handlungsspielraum erkennen und positiv nutzen, um Menschenwürde und psychische Gesundheit zu schützen. Behördliche Rückmeldungen auf den offenen Brief vom 22. Februar 2022, Dez. 2022. solinetz-zh.ch

Am Obergericht Zürich stellt er einen Antrag auf Freispruch. Das interessiert sich zunächst weniger für die Schuldfrage, sondern für die Deutschkenntnisse des Beschuldigten. «Ich kann sehr gut Baustellendeutsch», sagt der Angeklagte charmant, «aber bei gerichtlichen Sachen braucht es viel Grammatik.» Heute ist deshalb eine Dolmetscherin zugegen.

Die Richterin zeigt ihm mehrere Radarfotos. «Schauen Sie genau hin!», fordert sie ihn auf. Der Mann bleibt dabei, er sei das nicht. Darauf die Richterin: Auf den Bildern sei aber klar ein Mann mit Kinnbart und

Da gibt ihm das Obergericht sogar recht. Das vorinstanzliche Urteil sei «speziell». Sprich: Es verstösst gegen Bundesrecht. Jedoch haben die drei Oberrichter*innen an der Indizienlage keine Restzweifel, dass der Beschuldigte der Lenker auf dem Bild ist. Auffällig sei auch, dass er nicht sofort gemeldet habe, er könne es gar nicht sein –das habe er erst ein halbes Jahr später hinterhergeschoben und einen Zeugen aus dem Hut gezaubert. Und eben: das markante Kinnbärtchen! Immerhin reduzieren sie die Strafe auf zehn Tagessätze à 60 Franken bedingt, verbunden mit einer Busse von 180 Franken.

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Vor Gericht
ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Na? Gut!
YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

Verkäufer*innenkolumne

Der Maarchelauf

Där Güggal isch halt d Schuld

Der fuul und gfrässig Chäib, dass hüt der Urnerbodä

ob Linthal denäweg heisst

Ja uni üsere Läufer

Der trü und bäumig Ma

Fieng ds Urnerbiet schu wärli im Fätschbachtobel a!!!

Das Gedicht ginge noch weiter. Dass ich es auswendig gelernt habe, ist nun 60 Jahre her.

Es ist mir in voller Länge im Gedächtnis geblieben, weil es mit mir zu tun hat. Wahrscheinlich hat der Lehrer in der Schule mich damit beauftragt, das Gedicht zu lernen, weil er wusste, dass ich den entsprechenden Sinn für Humor habe, zu dem auch ein bisschen Schadenfreude gehört.

Eine gängige Interpretation des Gedichts ist, dass die Urner den Glarnern Boden gestohlen haben. Wenn die Güggel krähten –derjenige der Urner und derjenige der Glarner –, sollte je ein Läufer losgeschickt werden und dort, wo sie sich treffen würden,

sollte die Kantonsgrenze gezogen werden. Also haben die Urner ihrem Güggel in weiser Voraussicht wenig zu fressen gegeben, damit er früher kräht. Ich fand das clever, sie haben weiter gedacht als die Glarner. Ich meine, dass der Lauf eine klare Abmachung war. Die Urner haben sich die Grenze ehrlich erkämpft. Das gefällt mir.

Ich habe ein gutes Gedächtnis. Ich bin recht schnell im Text lernen und unterhalte mich auch beim Verkauf mit den Kund*innen gerne über die Geschichten. Viele Leute kenne ich mit Namen. Für dieses Talent bin ich dankbar. Es kommt mir auch auf den Stadtführungen zugute, so kann ich den Blickkontakt zu den Zuhörer*innen halten, ohne aufs Blatt (oder auf den Boden) schauen zu müssen.

Mir ist das Gespür für die Menschen wichtig. Das gute Gedächtnis hilft mir sogar da.

HANS RHYNER, 68, verkauft Surprise in Schaffhausen und Zug. Er kommt aus Elm im Kanton Glarus. Beim Maarchelauf ist er trotzdem auf der Seite der Urner.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

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ILLUSTRATION: ANNALISA ROMPIETTI

Moumouni …

… Kunst und Frieden

Ich habe S. vor fünf Jahren das letzte Mal getroffen. Wir lernten uns in einem internationalen Projekt kennen, wo man in artsy Sprache über Kunst und Dekolonialisierung sprach. S. ist Kuratorin, arbeitet in einer grossen russischen Galerie. Dort legt sie den Fokus auf Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung, ausserdem kämpft sie für LGBTQ+-Rechte und gegen Diskriminierung. Letztens traf ich sie wieder, weil sie für einen Rechercheaufenthalt für einen Monat in der Schweiz war. Die Kunst hatte ihr ein Visum, ein wenig Ruhe sowie Geld in Form von «per diems» verschafft, von Tagegeldern. Sie sagte, dass sie den Glauben an die Kunst verloren habe, weil die Situation in Russland so frustrierend sei.

Irgendwann fragt sie mich ironisch, im Tonfall einer Journalistin: Wie es ist, «in diesen Zeiten» Kunst zu machen? Sie hatte

den ganzen Abend erzählt: Von der Einsamkeit, weil ihre Freund*innen und viele politisch Gleichgesinnte das Land verlassen hatten, sie aber blieb, weil sie sich ihrer Arbeit verpflichtet fühlte, obwohl sie spürte, dass Putin in kürzester Zeit alles kaputt gemacht hatte, wofür sie seit Jahren kämpfte. Von der Sprache, die sich verändert habe, seit man vieles nicht mehr sagen dürfe (wie zum Beispiel «Angriffskrieg»), und vom vielen Misstrauen, das herrsche, von der Unsicherheit und Angst vor politischer Verfolgung. Wir lachten beide über ihre Journi-Frage, aber als wir aufhörten, konnte ich nicht antworten.

Dann hatte ich Lust, ein Bild zu malen, um mich von der unangenehmen Stille abzulenken. Ich dachte an etwas Ruhiges, eine realitätsgetreue Bleistiftzeichnung der Alpen vielleicht, ein riesiges «mural» mit einem Pinsel aus

Schamhaaren oder ein Gedicht aus Würgelauten. Ich schwieg und verzichtete darauf, S. mit meiner Kunst zu behelligen. Klar, ich habe mich ohnehin eher dem politischen Schaffen verschrieben –trotzdem erscheint auch das aus meinem sicheren Kontext heraus oft wie eine Farce. Ich meine – wie steinhart muss man sein, in/aus der Krise Kunst zu machen und nicht etwas anderes?

Ich habe eine Art agnostischen Zugang zu meiner Kunst, was natürlich vollkommen absurd ist, da ich davon (ich würde mich nie trauen zu sagen «dafür») lebe – wie eine Made im Speck: Was ist so wichtig daran, dass sie auch in Anbetracht von weltweiten Kriegen, Klimakrise und Hunger bestehen und gezahlt werden muss? Ich erinnere mich an die Kampagne, die während der Covid-Massnahmen im Kampf um Daseinsberechtigung zum Thema «Systemrelevanz» von Kunstschaffenden lanciert wurde: Ohne (K)uns(t) wird’s still. Ich hatte mich ein bisschen dafür geschämt, weil ja Leute starben, vielleicht ist es manchmal auch gut, einfach mal die Fresse zu halten.

Aber ist im Umkehrschluss die einzig relevante Kunst der Welt die Kriegsund Krisenfotografie sowie vielleicht noch das Bogenschiessen und die Internationale? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, nicht wie ein weltfremder Unmensch zu klingen, wenn man den Wert von Ästhetik und Muse in schlechten Zeiten schätzt und darauf vertraut, dass dies seine Wirkung tut? Oder sollte man sich besser eingraben und darauf hoffen, die Welt zu überdauern und in einem neuen hoffnungslosen Jahrhundert den Menschen ein Lichtblick zu sein, als Beispiel für die Überlebenskraft der Kunst?

FATIMA MOUMOUNI

Ist mit Frederick von Leo Lionni aufgewachsen, der Maus, die Sonnenstrahlen, Farben und Wörter sammelt, während die anderen am Büezen sind.

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ILLUSTRATION: CHRISTINA BAERISWYL

«Das Spannendste finde ich die Erfahrungen mit den Jungs. In der Primarschule fanden alle Buben uns Mädchen uncool, jetzt sind fast alle nett. Es ist speziell, dass man Jungs auch gerne haben kann. Und ich finde es cool, dass die Jungs spannend werden.» FAY,

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Der Zauber des Ungebremsten

Jugend Was bewegt Menschen zwischen 13 und 20 in der Schweiz?

Die Zürcher Fotografin Gabi Vogt hat junge Leute zu ihrem Lebensgefühl befragt – ein Generationenporträt im Vorabdruck.

Wie behält man den Draht zur Jugend? Es ist eine seltsame Gesetzmässigkeit im Menschsein, dass ältere Menschen zwar allzu oft selbst gern wieder jung wären, aber nur wenig Einblick oder Verständnis für die tatsächlichen Bedürfnisse, Ansichten und Lebensweisen von Jugendlichen haben. Die Jugend gilt als unreif, ungestüm, laut, störend, rebellisch – und in letzter Zeit immer öfter auch: zurückgezogen, überfordert, psychisch belastet. Und (liebes)bedürftig.

Nun ist die Zürcher Fotografin Gabi Vogt noch nicht alt. Trotzdem musste sie in ihren Vierzigern erstaunt feststellen, dass selbst ihr, die sich seit mehr als einem Jahrzehnt beruflich-künstlerisch mit der Jugend als Lebensphase auseinandersetzt, «die Realitäten der heutigen Jugendlichen von Jahr zu Jahr fremder» wurden. Sie wollte aber den Draht nicht verlieren und doch verstehen, was die bis 20-Jährigen unter uns bewegt. Also suchte sie nach geeigneten Personen, um über deren Lebensgefühl zu sprechen. Mehr als vierzig Jugendliche erklärten sich bereit zu erzählen – und Vogt durfte sie fotografisch porträtieren. Aus Bild und Text ist ein ruhiges und dennoch aufrüttelndes Buch entstanden: «Ich. Jetzt.»

Denn die durchweg vor schwarzem Hintergrund aufgenommenen Bilder fesseln: Die teils sehr jungen Menschen wirken darauf fast wie ausgereifte Persönlichkeiten. Verletzliche, nahbare, komplexe Personen, die sich einen Platz in dieser Gesellschaft wünschen, die verstehen wollen, worum es geht im Leben. In ihrem Leben. Und so reden sie auch. Über ihre Träume und Wünsche, ihren Alltag, ihre Projekte, Ängste und Sorgen. Von manchen traf Vogt zusätzlich beste Freund*innen, Kolleg*innen, Schwestern, Cousins und Cousinen. «Durch die Beziehungen untereinander kreuzen sich Perspektiven: Aussenansichten und Innenansicht, Gehörtes und Erlebtes überlappen, ergänzen, widersprechen sich», schreibt die Fotografin. Vogts Werk zeigt, wie vielfältig jugendliches Leben und Denken in der Schweiz heute ist.

Es überrascht vielleicht, dass viele der Gedanken, die sich die jungen Menschen machen, wie eine ungefilterte, amplifizierte Version erwachsener Debatten wirken: Was ist nur der Sinn dieses Daseins? Wie geht man um mit Langeweile, mit den grossen Emotionen wie Liebe und Einsamkeit, welchen Weg möchte man gehen – und welcher bietet sich einem an? Und wie um alles in der Welt bekommt man die Übermacht des Digitalen und andere Suchtmittel sinnvoll in den Griff? Das Ungebremste, Direkte der Jugendlichen fesselt. Trotz des etwas egozentrisch anmutenden Titels «Ich. Jetzt.» geht es hier nicht nur um junge Einzelpersonen aus der Schweiz. Die Themen, die sie anschneiden, sind breit und weisen – teils in überfordernder Weise für diejenigen, die sie aussprechen – weit über die Jugendlichen hinaus.

Gabi Vogt hat mit ihrem Buch etwas Zauberhaftes geschaffen: eine Verbindung von ungefiltertem individuellem Erleben und gesellschaftlichen Themen, eine Brücke zwischen Jung und Alt. Vielleicht sollte man öfter individuell und geduldig zuhören, so wie wohl auch generell häufiger der Dialog zwischen den Generationen gepflegt werden müsste. Es ist aufschlussreich, aus erster Hand zu erfahren, was das Leben mit den Jungen macht – spannender als jede Expert*innen-Meinung.

Gabi Vogt: «Ich. Jetzt. Eine Momentaufnahme»

Ca. 224 Seiten, mit 50 Fotos, gebunden, ca. Fr. 49.–, erscheint im April im Verlag edition 8. Wer die Produktion des Buches unterstützen möchte, findet hier weitere Informationen und einen Link zum Crowdfunding: ichjetzt.ch

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TEXT SARA WINTER SAYILIR FOTOS GABI VOGT
FOTO: ZVG

«Sarina verstellt sich nie. Sie ist, wie sie ist. Immer. Das ist etwas, wofür ich sie extrem bewundere. Sie kommt manchmal ungekämmt zur Schule. ‹Ah, ich bin so müde.› Und weil ihr noch ganz kalt ist, hat sie ganz viele Kleider an. Am liebsten hätte sie auch ihre Kopfkissen mit dabei. Sie zieht ihr Ding durch.

KALLIOPI, 13 (R)

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Für diese Einstellung bewundern sie sehr viele.»
«Ich finde, ich habe etwas, das ich wirklich gut kann. Ich kann zu mir selbst stehen. Ich kann sagen: ‹Ich bin so, wie ich bin, und ich verändere mich für niemanden.› Ich muss das auch nicht. Ich bin eben ich. Und das ist gut so.»
SARINA, 13 (L)

«Wie bei den Paparazzi. Kill them with kindness! With confidence! Mit Selbst bewusst sein! Den Spiess umdrehen, das musste ich lernen. Jetzt haue ich meinen Judgern Positivität um die Ohren. ‹Hey lueg, das bin ich. Das bin ich, und ich liebe es! Ich liebe, wie ich aussehe!›»

HOVI, 20

«Pubertätsmässig?

Das hatte ich noch nicht. Aber ich bin selbstbewusster als früher. Früher,

ich neue

GABI VOGT, 46, ist Fotografin. «Ich. Jetzt.» ist ihr zweites Buch nach «Flachs Sugo Tandem –Geschichten aus dem Schrebergarten» (mit Stephanie Elmer). gabivogt.ch

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«Es macht unsere Friend-Group, unsere Familie aus, dass alle sie selbst sein können. Wir haben unseren eigenen Geschmack, unsere eigene Meinung, sind wirklich wir selbst.»
ANGIE, 18
wenn
Leute kennenlernte, habe ich fast gar nichts gesagt. ‹Hallo.› Und fertig. Heute ist das nicht mehr so.»
OSKAR,
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«Ist es normal, dass man drei Jahre lang warten muss wegen einem Vertrag?». Fabian Schläfli parkiert über lange Zeit im Wohnzimmer.

Das Elektromobil in der guten Stube

Rechtsstreit Warum Fabian Schläfli immer irgendwo in eine juristische Streitigkeit verwickelt ist. Und wie er damit fast zum Aktivisten für Behindertenrechte wird.

Irgendwas ist immer. Als Fabian Schläfli, seit 14 Jahren Surprise-Verkäufer in Basel, im Oktober letzten Jahres an einem Montag, wie so oft, in unserem Büro steht, ist er wieder einmal frustriert. Enttäuscht. Von seiner Verwaltung, von der IV, von einigen Mitmenschen und vom Arbeitsmarkt, der ihn nicht haben will. Kurz, vom Leben an sich. «Erst macht man dir Hoffnung, dann lässt man dich hängen. Das ist ein Muster, das es in meinem Leben immer wieder gibt», sagt er. «Man nimmt mich nicht ernst.» Schläfli kann nicht lesen und schreiben. An ihm nagt das Gefühl, er werde deswegen regelmässig übergangen.

Und nun will ihm die IV keinen Elektrorollstuhl bezahlen. Nachdem er 2017 unverschuldet von einem Auto angefahren worden war, hatte er bei der IV vor Jahren schon einmal eine Kostengutsprache für ein Elektromobil beantragt, sie wurde abgelehnt. Die Pro Infirmis hat ihm dann eines finanziert. Der Fuss wurde unterdessen etliche Male operiert und tut immer noch weh. Schläfli hinkt, die Belastung schmerzt. «Ich kann beim Surprise-Verkauf nur noch vier Stunden pro Tag stehen, und dann muss ich schauen wegen dem Bein. Ich arbeite unterdessen nur noch etwa drei Tage pro Woche», sagt er.

Deshalb das Elektrofahrzeug, es bringt Entlastung für den Fuss. Nur geht es ständig kaputt, 2000 Franken haben ihn die Reparaturen bisher schon gekostet. Die Schmerzen im Fuss hatten zugenommen, weshalb er einen neuen Anlauf bei der IV nahm. Wieder wurde die Kostenübernahme abgelehnt, aber die Beschwerde durch seinen Anwalt ist zurzeit noch hängig.

Auch etwas anderes ist hängig, wieso, weiss man nicht: Seit fast drei Jahren verspricht ihm die Verwaltung einen Parkplatz für sein aktuelles Elektromobil – den er doch nie bekommt. Schläfli kommt nicht recht voran. Zu Fuss nicht, juristisch nicht, im Leben nicht.

So stapfen wir also eine Woche später im strömenden Regen von seiner Wohnung hinunter zur Garage – hinab über einen schlammigen Weg und etwa 200 Meter über eine grossflächige Baustelle, wo, so ist es ausgeschildert, die «Albanteich-Promenade» entstehen soll. Es sind Leute von der Bauleitung da und schliessen auf, man scheint zu wissen, worum es geht. Und hier sind sie, die paar leeren Quadratmeter, eine Steckdose an der Wand und am Boden ein liegengebliebenes Kaubonbon mit Himbeergeschmack. Mündlich ist Schläfli dieser Platz zugesichert worden, schon längst. Was noch fehlt, ist ein Stromzähler, die Verwaltung will einen installieren. Aber es passiert nichts. «Die Allianz ist Eigentümer, und die wissen, was Sache ist. Nun schieben sie es aber auf Livit, die Verwaltung ab, und die sagt wiederum, der Eigentümer sei verantwortlich», sagt Schläfli. «Da fand ich dann, Leute, so nicht. Mit mir spielen kann man nicht. Es hiess, ich müsse 1700 Franken für die Steckdose und den Stromzähler zahlen und eine Miete für den Stellplatz. Ich habe gesagt, okay, ich nehme das, ich muss aber einen gültigen Vertrag haben. Und später hiess es wieder: Wir haben Ihnen nie versprochen, dass es diesen Parkplatz gibt.»

Das Schlichtungsgesuch wirkt Bisher hat das Elektromobil seinen Platz in Schläflis Zweizimmerwohnung, jeden Tag fährt er es in den 17. Stock des Hochhauses, dann haarscharf zur Wohnungstür hinein und noch einmal, genauso haarscharf, durch den nächsten Türrahmen hinein ins Wohnzimmer. Hier steht es dann inmitten der guten Stube neben einem goldenen Pokal von einem Fussballturnier aus der Zeit vor dem Unfall und einer Packung Waschmittel. In der Ecke lehnen Schläflis Gehstöcke und auf dem Fenstersims liegt eine Asthmapumpe, weil er im Stress seit Neustem manchmal auch Atemprobleme

hat. «Vor einem Monat hat es bei der Mietschlichtungsstelle geknallt. Ich habe gefragt, ob das normal sei, dass man drei Jahre lang warten muss wegen einem Vertrag. Auf der Schlichtungsstelle sagte man mir, nein, das sei nicht normal. Was ich machen könne sei, eine Schlichtungsverhandlung einzuberufen.» Also stellt er dafür ein Schlichtungsgesuch.

Jetzt geht es plötzlich schnell. Der Stromzähler ist innert weniger Wochen bereit, im Dezember 2022 bekommt Schläfli einen Mietvertrag für den Stellplatz. Peter Steiner vom Mieterinnen- und Mieterverband MV Basel kennt den Fall und sagt: «Dass alles erst auf Druck geht, ist ein bekanntes Problem, das viele Mieter*innen von grösseren Verwaltungen haben. Wenn eine Person mit einer kognitiven Behinderung nicht schnell mal schriftlich mit einer Mietzinshinterlegung drohen oder gezielt einen Brief schreiben kann, dann landet ihr Anliegen eben nicht oben, sondern unten auf dem Pendenzenberg.» Die Verwaltung, die Livit AG, und die Eigentümerin, die Allianz Suisse Lebensversicherungs-Gesellschaft AG, seien seines Wissens freundlich geblieben und hätten Schläfli nicht gezielt hingehalten. «Ich schätze den Fall so ein, dass hier nicht eine persönliche, sondern eine Form von struktureller Diskriminierung vorliegt.» Denn klar ist, dass es für jemanden, der nicht schreiben kann, aufwendiger ist, den nötigen Druck aufzusetzen.

Bestimmungen fehlen im Gesetz

Die Allianz Suisse LebensversicherungsGesellschaft AG gibt in einer schriftlichen Stellungnahme die «Wahrnehmung des Sachverhalts» seitens «Bewirtschaftungspartner» Livit AG und ihr selbst wieder und schreibt: «Wir bedauern die Kommunikationsprobleme, welche zu dem Missverständnis geführt haben.» Offenbar war verschiedenen Stellen unklar, dass Schläfli keinen E-Auto-Parkplatz, sondern einen

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Stellplatz für seinen Elektrorollstuhl brauchte. Direkten Kontakt hatte er mit der Bauleitung vor Ort, danach wurde eine Offerte für die Installation gemacht, die die Bauleitung an die Verwaltung weiterleitete. «Erst zu diesem Zeitpunkt wurde der Livit AG bewusst, dass es sich hier um unklare Kommunikation handelte, da Herr Fabian Schläfli nicht einen E-Mobility-Parkplatz für ein Automobil wünschte, sondern eine Steckdose für das Laden seines Akku-Rollstuhls benötigte. Und wichtig zu betonen ist, dass sich die neue Einstellhalle bis Juli 2022 im Bau befand, wir vorher also gar keine Alternative anbieten konnten.» Es folgten weitere Kommunikationsprobleme, «so dass Herr F. Schläfli aufgrund seiner Befürchtungen, keinen Platz zu erhalten, im Oktober 2022 die Schlichtungsbehörde kontaktierte».

Behindertengerechtes Bauen ist zwar im Kanton Basel-Stadt im Bau- und Planungsgesetz festgeschrieben und in allen Kantonen in irgendeiner Form Vorschrift, aber Parkplätze für Elektromobile schliesst es nicht ein. «Genaue Bestimmungen für Behindertenstellplätze gibt es tatsächlich

nicht. Das müsste klarer geregelt sein», sagt Peter Steiner vom MV Basel. «Zu wünschen wäre ein Recht darauf, dass die nötigen Massnahmen getroffen werden, um die Anliegen von Menschen mit Einschränkungen zu berücksichtigen.»

Schläfli macht auch das Fahrzeug an sich, wie erwähnt, nach wie vor Sorgen. Beziehungsweise eben die Finanzierung eines neuen, funktionstüchtigeren Modells. Immerhin lauten die Bestimmungen der IV zum Thema Hilfsmittel: «Versicherte der IV haben einerseits Anspruch auf Hilfsmittel, die sie benötigen, um weiter erwerbstätig oder in ihrem bisherigen Aufgabenbereich tätig bleiben zu können. (…) Anderseits haben Versicherte der IV Anspruch auf Hilfsmittel, die sie brauchen, um ihren privaten Alltag möglichst selbständig und unabhängig zu bewältigen. Dazu gehören Hilfsmittel für die Fortbewegung, für die Herstellung von Kontakten mit der Umwelt und für die Selbstsorge.»

Zu wenig behindert

Schläfli ist der Meinung, er sollte Anspruch auf die Finanzierung haben. Die IV hat sie

bereits zum zweiten Mal abgelehnt. Zusammen mit seinem Anwalt Marco Chevalier hat er nun Beschwerde dagegen eingereicht. Darin steht: «Die Beklagte erklärt den Beschwerdeführer ohne weitere Prüfung für mobil. Dabei verkennt sie jedoch, dass der Beschwerdeführer sich zwar trotz seiner Verletzung fortbewegen kann, die ständige Belastung des OSG (oberen Sprunggelenks, Anm. d. Red.) jedoch starke und anhaltende Schmerzen verursacht, welche dem Beschwerdeführer auf Dauer nicht zuzumuten sind.» Schon 2018 haben sowohl die Schmerzklinik Basel als auch Schläflis Hausarzt ein Elektromobil, konkret einen Batec-Rollstuhl mit Elektroantrieb, «als medizinisch indizierte Unterstützung empfohlen». Und: «Mit Bericht der SUVA im August 2020 wurde festgestellt, dass die Schmerzen einzig durch Schonung und Einnahme von Schmerzmitteln gelindert werden können.» Dabei sei «insbesondere auch die psychische Belastung zu beachten, welche eine ambulante psychiatrische Betreuung erforderte».

Die IV-Stelle Basel-Stadt schreibt dazu auf Anfrage: «Wir sind an die gesetzlichen

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Immer wieder ist Fabian Schläfli am Telefon –mit Anwälten, Behörden, Ärzt*innen oder der Beiständin.

Vorgaben gebunden und müssen auf dieser Basis die notwendigen Sachverhaltsabklärungen vornehmen (…). Unsere Abklärungen haben nun ergeben, dass in diesem Fall kein rechtlicher Anspruch auf dieses Hilfsmittel besteht. Das ist der einzige Grund für die Ablehnung des Gesuchs.» Schläflis Anwalt formuliert es so: «Die Problematik ist, dass Fabian Schläfli gemäss der Auffassung der IV-Stelle sozusagen zu wenig behindert ist für das Gefährt.»

Das Gewicht der Schriftlichkeit

Und wieso stapfen wir dann eine Woche später doch durch den Schlamm einer Baustelle, um einen leeren Parkplatz in der Garage zu besichtigen? – Vielleicht geht es genau um die strukturelle Diskriminierung, die Peter Steiner vom Mieterverband beschrieben hat. Also nicht um grobes Unrecht, sondern um die vielen kleinen Benachteiligungen, die sich im Alltag einschleichen. Vielleicht geht es auch darum, ein Lebensgefühl zu verstehen. Denn Fabian Schläfli übertreibt mit seinen Forderungen auch dann nicht, wenn er ab und zu übers Ziel hinausschiesst. Er hält damit

Schläfli ist zwar für einen Einstellhallenplatz vorgemerkt worden. Aber er landete dabei auf der Interessent*innenliste für Autoparkplätze.

immer wieder den Finger auf wunde Punkte im Leben eines benachteiligten Menschen und schafft eine Öffentlichkeit dafür. Damit ist er sozusagen ein Aktivist in eigener Sache.

Wir leben in einer Schriftkultur, das ist Fabian Schläfli, der nicht lesen und schreiben kann, klar. Die Schriftlichkeit ist die unsichtbare Grenze zur Normalität. Vielleicht rührt es daher, dass er immer wieder Aktenberge vorbeibringt und in ständigem Kontakt mit Behörden, Stiftungen, Gerichten, Schlichtungsstellen, Anwälten oder seiner Beiständin ist. Sie sind die Personen, welche die Dinge verschriftlichen können, damit sie Gewicht bekommen. Denn die Erfahrung zeigt: Auf mündlichem Weg wird man nicht ernst genommen, Gesagtes geht unter, Missverständnisse entstehen. Die Schriftlichkeit erhöht den Druck. Fabian Schläfli hat das Konzept der strukturellen Diskriminierung längst verstanden, auch wenn er es nicht so benennen würde.

Und er kämpft durchaus auch stellvertretend für viele andere, die stiller verzweifeln als er. Auch wenn er juristisch letzten Endes nicht immer Recht bekommt, wirft

er damit Fragen auf. Zum Beispiel: Finden wir die Bestimmungen, die Gesetze, die Regelungen denn gut so, wie sie sind? Oder könnte man Inklusion vielleicht auch so denken, dass sie nicht einfach den Mindestanforderungen genügt, sondern auch menschlich befriedigend wäre? Wäre eine Welt denkbar, in der nicht der Einzelne gegen seine Benachteiligung kämpfen muss?

Zurück zum Elektrofahrzeug. Schläfli geht es darum, dass ein Anspruch auf das Elektromobil juristisch anerkannt wird. Aber es kann gut sein, dass sich das Gericht nicht dafür zuständig sieht, die Ungerechtigkeiten des Lebens zu tilgen. Das betont sogar der Geschäftsleiter der IV-Stelle Basel-Stadt, wenn er schreibt: «Ich möchte darauf hinweisen, dass die IV nicht die bestmögliche, sondern die notwendige Hilfsmittelversorgung abdeckt. Dies geht immer wieder vergessen.»

Es geht hier eben nicht um grobes Unrecht. Sondern um Alltag.

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Wäre eine Welt denkbar, in der nicht der Einzelne gegen seine Benachteiligung kämpfen muss?
Arealverdichtung «Albanteich-Promenade»: Der Umbau der Einstellhallen gehört auch dazu.

Auch Arbeitsmigrant*innen sind Menschen

Migration Das Saisonnierstatut ist Geschichte, daran erinnert eine Ausstellung in Biel. Die diskriminierende Behandlung ausländischer Arbeitskräfte geht trotzdem weiter.

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TEXT KLAUS PETRUS

«Wissen Sie, warum Italiener so klein sind? Weil man ihnen als Kinder sagte: Wenn du gross bist, musst du in die Schweiz arbeiten gehen.» Diesen Witz kannte ich schon als Jugendlicher. Das war in den 1980er-Jahren, in Naters im Oberwallis, keine Stunde von Domodossola entfernt, ein wunderschönes Städtchen im Val Ossolane auf der Route vom Simplonpass zum Lago Maggiore, wo wir samstags oft auf den Markt gingen. Auch sonst waren uns die Italiener*innen nahe; ich besuchte mit ihnen die Primarschule, es gab eine Missione Cattolica, unser Coiffeur hiess Ricchi, ich hörte Lieder von Fabrizio di André und Vasco Rossi, fieberte (für den FC Sion und) für Juve, «la Vecchia Signora», wir fluchten auf Italienisch, waren noch einen Tick katholischer als sie, und so wir uns das leisten konnten, gingen wir nicht in die «Walliser Kanne» essen, sondern in eine der vielen Pizzerien. Diese Angewohnheit setzte sich übrigens durch: Als ich mit zwanzig nach Bern zog, war die Beiz, die fortan mein zweites Zuhause wurde, das Casa d’Italia, zwar unrühmlich mit Unterstützung der italienischen Faschisten gegründet, aber nach dem Krieg eminenter Treffpunkt für Migrant*innen und Saisonniers. Italiener*innen arbeiteten auf dem Bau, in der Industrie, in der Pflege, im Service – wie Schweizer*innen auch. Viele hatten sich aus taktischen Gründen assimiliert, offen rassistische Vorstösse im Parlament wie die Schwarzenbach-Initiative waren zu diesem Zeitpunkt, zumindest in meiner Erinnerung und Wahrnehmung, mehr oder weniger vom Tisch – sie bekamen erst ab Mitte der 1990er-Jahre wieder Aufwind, als die Schweizerische Volkspartei SVP begann, die Themen Asyl- und Migrationspolitik zu besetzen. Und doch, so sehr die Italiener*innen bei einigen von uns akzeptiert und respektiert wurden, kann ich mich auch entsinnen, dass andere «Einheimische» durchaus der Meinung waren, mehr müssten es dann doch nicht sein. Der Bedarf an Arbeitskräften auf der einen Seite, das Narrativ der «Überfremdung» auf der anderen: Diese beiden Eckpfeiler bilden bis heute den Rahmen der Schweizer Migrationspolitik, so die zentrale Aussage der Ausstellung «Wir, die Saisonniers ...», die im Bieler Kunst museum zu sehen ist (siehe Kasten). Ein Instrument, um die Immigration zu kontrollieren, war das sogenannte Saisonnierstatut; es trat in Form eines Bundesgesetzes bereits 1934 in Kraft und begrenzte den Aufenthalt in der Schweiz für ausländische Arbeiter*innen auf maximal neun Monate pro Jahr. Hinter dieser, wie sie auch genannt wurde, «Rotationspolitik» verbarg sich eine Zeile von Restriktionen, die sowohl auf die Arbeits- wie auch auf die Lebensbedingungen der Arbeitsmigrant*innen erheblichen Einfluss hatten.

Warten in der Unsicherheit

So durfte beispielsweise die jährliche Aufenthaltsbewilligung nur dann beantragt werden, wenn die Saisonniers bereits über einen Arbeitsvertrag verfügten; ein solcher wurde ihnen aber, wenn überhaupt, nur kurz vor der jeweiligen Saison angeboten. So wurden die drei Monate, welche die Leute in ihrer Heimat und bei ihrer Familie verbrachten, zu einem bangen Warten, geprägt von Unsicherheit und der Angst, im kommenden Jahr ohne Arbeit zu sein.

Eine weitere Auflage des Saisonnierstatuts bestand in administrativen sowie medizinischen Kontrollen an den Grenzen etwa in Chiasso oder Brig. Nicht selten wurden die Arbeitsuchenden aufgrund negativer Testergebnisse zurückgewiesen oder sie mussten tagelang ausharren und auf die Resultate warten. Diese beklemmende und entwürdigende Praxis wird von John Berger und Jean Mohr in «Der siebte Mensch» von 1975 eindringlich beschrieben, einem der ersten Bücher über die europäische Arbeitsmigration: «Die demütigende Forderung, sich vor Fremden zu entblössen. Die unverständliche Sprache, die die verantwortlichen Ärzte sprechen. Die Nummern, die ihnen mit Filzstift auf den Körper geschrieben werden. Die Geeigneten werden von den Ungeeigneten aussortiert. Einer von fünf fällt durch. Wer besteht, hat Arbeit und tritt in ein neues Leben. Manche haben schon acht Jahre auf diese Chance gewartet, die Grenze zu überschreiten.»

Einmal in der Schweiz angekommen, war es den Saisonniers untersagt, während der kommenden neun Monate den Arbeitgeber zu wechseln; auch durften sie keine Mietverträge unterschreiben, sie waren bis 1977 von der Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen und konnten ihre Familie nicht in die Schweiz holen. Letzteres führte bei den Saisonniers oft zu einer sozialen Entfremdung. In zahlreichen Fällen wurde die Familie in die Schweiz «geschmuggelt», was dazu führte, dass sich Frauen und Kinder der Saisonniers über Monate hinweg verstecken mussten. Der Schriftsteller Franz Hohler notierte dazu in seinem Text «Feindesland»:

«Was für ein Leben im Schatten für die Kinder des Südens. Vergeblich versuchten sie zu verstehen warum es sie nicht geben durfte.»

Solidarität versus Überfremdungserzählung

Die «versteckten Kinder» – man schätzte sie Anfang der 1970er auf 15 000 – lösten durch Berichte in den Medien erst Bestürzung aus und dann, zumindest punktuell, Solidarität mit den Saisonniers. Bereits 1974 wurde eine Initiative gegen die A-Aufenthaltsbewilligung lanciert, jedoch 1981 an der Urne klar abgelehnt – das Gespenst der «Überfremdung» zeigte einmal mehr Wirkung.

Ende der 1980er-Jahre setzen sich Gewerkschaften, linke Parteien, Kirchen sowie migrantische Organisationen erneut für eine Abschaffung des Saisonnierstatuts ein. Gerade letztere wurden für die Saisonniers zu einer wichtigen Anlaufstelle: Sie standen ihnen in administrativen oder behördlichen Belangen zur Seite, sie boten Sprachunterricht an und organisierten soziale Anlässe. Bei den Behörden wie auch in der Bevölkerung weckten diese migrantischen Netzwerke indes Misstrauen. Man befürchtete, dass sich die Migrant*innen zu sehr absondern würden; es war gar von «ethnischer Segregation» und einem Little Italy die Rede, das sich in Schweizer Grossstädten etabliere.

An die Grenzen der Solidarität kamen auch die Gewerkschaften. Auf der einen Seite stand für sie ausser Frage, sich für die verwundbarsten der Arbeitskräfte ein-

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(1) Ankunft von Saisonniers am Bahnhof Genf, 1971. (2) La stagionale /  die Saisonarbeiterin, Stausee Oberaar (BE), 1954. (3) Bergamaskische Arbeiterinnen bei der Gemüseernte für den Lebensmittelproduzenten Hero. Frauenfeld, 1950. (4) Putzpersonal vor Saisoneröffnung in einem Grosshotel, Arosa, 1959. (5) Erstmai-Feier im Biel der 1970er-Jahre.

2 3 4 5 BILD(1): DANIEL VITTET, FOTOSTIFTUNG SCHWEIZ, WINTERTHUR, BILD(2): ANITA NIESZ, FOTOSTIFTUNG SCHWEIZ, WINTERTHUR, BILD(3): ELSA LOCATELLI, ARCHIVIO FOTOGRAFICO, ISTITUTO BERGAMASCO PER LA STORIA DELLA RESISTENZA E DELL’ETÀ CONTEMPORANEA (ISREC), BERGAMO, BILD(4): ROB GNANT, FOTOSTIFTUNG SCHWEIZ, WINTERTHUR, BILD(5): ZVG, PRIVATSAMMLUNG

Ausstellung

An die harten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Saisonniers in der Schweiz erinnern – das ist das Ziel der Ausstellung «Wir, die Saisonniers ...», die gegen wärtig im Nouveau Musée Bienne NMB zu sehen ist. Sie entstand 2019 auf Initiative der Stadt Genf und wurde um einen Schwerpunkt über migrantische Arbeitskräfte in Biel und Umgebung erweitert. Die Ausstellung nähert sich dem Thema über historische Dokumente, aber auch über die persönlichen Erinnerungen ehemaliger Saisonniers etwa in Form von privaten Aufzeichnungen und Briefen, welche in einer «Halle der Erinnerungen» präsentiert und inszeniert werden. Ergänzt werden diese Zeugnisse durch dokumentarische und künstlerische Beiträge wie Fotografien und Filme über Sans-Papiers, Care-Arbeiterinnen oder Bauarbeiter. Auch Klaus Petrus, Co-Redaktionsleiter des Strassenmagazin Surprise, zeigt im Rahmen der Ausstellung Bilder über die Erntearbeit im Berner Seeland, quasi eine fotografische Umsetzung seines in Surprise 538/22 erschienenen Artikels «Kamils letzte Kartoffel». KP

«Wir, die Saisonniers ... (1931–2022)», bis 25. Juni, Di bis So, 11 bis 17 Uhr, NMB Nouveau Musée Bienne/ NMB Neues Museum Biel, Seevorstadt 52, Biel. nmbiel.ch

für (qualifizierte) Arbeitskräfte aus der EU und den EFTA-Staaten ist es dadurch einfacher geworden, in der Schweiz ihr Geld zu verdienen.

Noch heute im gesellschaftlichen Abseits

Zwar ist das Saisonnierstatut mit seinen teils menschenunwürdigen Facetten Geschichte. Doch nach wie vor ist die Situation für viele migrantische Arbeitskräfte problematisch. Zu ihnen zählen unter anderem 150 000 Frauen und Männer, die schweizweit in der Gastronomie und Hotellerie tätig sind, 60 000 in der Reinigungsbranche, 35 000 auf Äckern und Wiesen sowie zehntausende im Pflegebereich – die vielen Sans-Papiers ohne entsprechende Aufenthaltsbewilligung tauchen in derlei Statistiken nicht einmal auf. Ungeregelte Arbeitszeiten sowie unzureichende soziale Absicherung prägen bis heute Leben und Arbeit dieser Menschen.

Hinzu kommen bisher wenig beachtete Phänomene wie soziale Vereinsamung oder Unsichtbarkeit. Viele der Arbeiten, die von Migrant*innen verrichtet werden, befinden sich nämlich nicht bloss in einem rechtlichen Graubereich, sondern auch in einem gesellschaftlichen – sie finden typischerweise zu Randzeiten statt (z.B. die Gebäudereinigung), hinter quasi verschlossenen Türen (der Küchendienst in Kantinen, die Arbeit in Schlachthäusern), im Privathaushalt (Putzen und Care-Arbeit) oder fernab gesellschaftlicher Zentren (wie die Erntearbeit).

zusetzen, und dazu zählten insbesondere die Saisonniers. Auf der anderen Seite wollten sie lokale Arbeitskräfte vor dem zunehmenden Lohndumping schützen, was massgeblich darauf zurückzuführen war, dass sich schweizerische Unternehmen möglichst billige Arbeitskräfte aus dem Ausland holten. In manchen Branchen wie etwa dem Baugewerbe lag der Anteil migrantischer Arbeitskräfte in den 1960er- und 70er-Jahren bei fünfzig Prozent. Sie kamen zum Grossteil aus den umliegenden EWG-/ EFTA-Ländern. Entgegen dem eher männlich konnotierten Bild des «Gastarbeiters» machten Frauen rund die Hälfte der ausländischen Bevölkerung aus, die damals knapp zwanzig Prozent betrug. Die italienische Arbeitsmigration, welche in dieser Zeit dominierte, zählte beispielsweise zu einem Drittel Frauen; sie arbeiteten in der Textil- und Uhrenindustrie, in der Pflege, Gastronomie oder Reinigung.

Als 2002 das Saisonnierstatut und damit auch die A-Aufenthaltsbewilligung abgeschafft wurde, waren weniger die Proteste gegen die prekären Arbeitsbedingungen der Saisonniers ausschlaggebend, als vielmehr gesamtpolitische Entwicklungen; dazu gehörten namentlich die bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, welche auch die Personenfreizügigkeit zwischen den Vertragsstaaten regelten. Zumindest

Wir haben diesen Arbeitswelten in Surprise eine ganze Serie mit dem Titel «Die Unsichtbaren» gewidmet. Dabei zeigt sich nicht nur, dass prekäre Arbeitsbedingungen, Stigmatisierung und Diskriminierung nach wie vor zum Alltag von Migrant*innen gehören, sondern auch, dass die Marginalisierung migrantischer Lebens- und Arbeitswelten eine simple Tatsache negiert: Geschichte wie Gegenwart der Schweiz sind massgeblich von Migration geprägt. Oder wie Franz Hohler seine oben zitierten Zeilen über die «versteckten Kinder» ergänzt: Die nächsten verbotenen Kinder sind schon unterwegs oder sind bereits da mit falschen Papieren und richtigen Herzen.

Zum Weiterlesen

Umfassend zur schweizerischen (Arbeits-)Migration siehe André Holenstein u.a.: Schweizer Migrationsgeschichte, Baden 2018.

John Berger, Jean Mohr: Der siebte Mensch. Eine Geschichte über Migration und Arbeit in Europa, Frankfurt a.M. 2016.

Marina Frigerio: Verbotene Kinder. Die Kinder der italienischen Saisonniers erzählen von Trennung und Illegalität, Zürich 2014.

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Der Dämon aus der Flasche

Kino Satindar Singh Bedi wurde schon als Kind alkoholabhängig. Mit seiner Frau Maria Kaur Bedi hat er einen Film über die toxische Spirale von Sucht und Liebe gedreht. Gibt es einen Ausweg?

TEXT CÉLINE GRAF

Am liebsten beginnen Maria Kaur Bedi und Satindar Singh Bedi den Tag im Morgengrauen. Sie meditieren, gehen spazieren. «Es ist gut, wenn wir bis zehn Uhr die meisten Aufgaben erledigt haben», sagt Satindar. «Dann koche ich einen grossen Topf, der für zwei Tage reicht. Das dauert mehrere Stunden. Ich mache indisches Essen, eine Mischung aus nord- und südindischen Speisen, weil meine Eltern aus dem Punjab stammten und ich im Süden, in Madras, aufgewachsen bin. Maria mag am liebsten Idli.» Sie nickt begeistert: «Das sind fermentierte Reiskuchen.»

Als die beiden Filmschaffenden sich im Herbst 2019 am Zurich Film Festival kennenlernen, nimmt Satindar zum Frühstück ein Bier mit in die Masterklasse. «Das fand ich seltsam», erinnert sich Maria Kaur Bedi in «The Curse». Der Dokumentarfilm ist das erste gemeinsame Werk des Regie-Paars, das in Bern lebt. An den Solothurner Filmtagen 2023 war der persönliche, experimentelle Essayfilm für den Prix de Soleure nominiert.

Der Fluch, von dem der Film handelt, ist der Alkohol. Er hat Satindar Singh Bedi seit der Kindheit fest im Griff. «Liebe mich nicht», warnt er Maria, «ich liebe mich selbst nicht.» Nach dem Festival kehren sie in ihre damaligen Leben zurück – er hat Familie in den USA, sie Heiratspläne mit ihrem Freund. Sie bleiben aber in Kontakt, diskutieren Projektideen. Im Jahr darauf entscheiden sie sich füreinander. Trotz der Warnung. «Ich habe die Sucht unterschätzt», sagt sie heute. «Ich wusste nicht, wie wahnsinnig abhängig er war. Und wie wahnsinnig eine Sucht an sich ist. Du siehst zunächst nur die Person, in die du dich verliebst, nicht den Süchtigen.»

Satindar Singh Bedi wird 1980 in der Metropole Madras (heute Chennai) geboren. Sein Vater arbeitet meistens auswärts und lässt für die Familie Geld zuhause. Die Mutter gibt alles für Alkohol aus. Zum Schnapskaufen schickt sie Satindar, Sati gerufen, in den Laden. Er und seine Schwester haben Hunger. Er verkauft

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FOTOS: ZVG

seine Bibliothekskarte für etwas Geld. Aber statt Essen kauft auch er Alkohol, er trinkt mit seiner Mutter mit. Es ist ihr Geheimnis, sie verstecken die Flaschen vor dem Vater. Statt in der Schule sitzt Sati neben der Mutter in der Mittagsvorstellung im Kino, in der hintersten Reihe, mit einer Flasche Whisky. Als Sati elf ist, stirbt die Mutter. Was bleibt, ist die Abhängigkeit. Er hat sie «geerbt». Wie sie zuvor von ihrer Mutter.

Wenn der Körper nach dem Stoff dürstet Alkohol ist ein alltägliches Nervengift. Mit ihm berauschen wir uns seit Tausenden von Jahren. Für viele Konsument*innen bleibt es indes nicht beim Gläschen zum Abendessen oder dem Rausch am Wochenende. Jede fünfte Person in der Schweiz trinkt laut dem Bundesamt für Gesundheit «zu viel oder zu oft». Jährlich gibt es in der Schweiz rund 1600 Todesfälle aufgrund von alkoholbedingten Krankheiten, Unfällen und Verletzungen. Schätzungsweise 250 000 bis 300 000 Menschen sind abhängig, was etwa 3 Prozent der Bevölkerung entspricht. Von der Sucht wegzukommen ist schwierig, das Rückfallrisiko hoch. Auch Satindar hat immer wieder, mit und ohne medizinische Behandlung, trockene Phasen. Als Jugendlicher trinkt er nicht, weil der Vater wieder zuhause ist. «Das brachte mich in eine andere Welt, dass er zu uns schaute», sagt er. Als diese Sicherheit 2006 mit dem Tod des Vaters zerfällt, holt der Alkohol sich auch den erwachsenen Sati zurück.

In «The Curse» beschreibt er etwa das Stadium, in dem sein Körper nur noch nach dem Stoff dürstet, der ihn zugleich so schädigt, dass er kaum mehr Wasser oder Essen aufnehmen kann.

Die Selbstanalyse in Worten von fast brutaler Klarheit wird verschwommenen Landschaftsbildern gegenübergestellt. Optisch tritt das Paar nur als Schatten auf. Es war Maria, die mit dem Film begann. Sie schlug vor, Satindar zu interviewen und dabei auch nach seinen Erinnerungen zu suchen. «Ich hatte bis dahin eine Art Blackout und wusste nicht, was in meinem Leben passiert war», erklärt er. Zuerst ging das Projekt nur um ihn, doch beim Transkribieren der Aufnahmen schrieb der Assistent auch Marias Passagen auf. «Es wurde klar, dass meine Perspektive ebenfalls in den Film muss.»

So wird deutlich, dass die Krankheit auch für die Angehörigen zerstörerisch ist. Marias Verzweiflung symbolisiert in «The Curse» einen dunklen Tunnel, durch den sie rennt und Satis Namen ruft. «Ich verfluche den Tag unserer Begegnung. Soll ich ihn hassen? Soll ich ihn bemitleiden? Tatsache ist, ich liebe ihn.» Liebe und Abhängigkeit sind hier eine toxische Kombination. «Ungesunde Beziehungen leben von der Hoffnung, dass es besser wird», sagt die 37-Jährige heute.

Maria denkt während dieser Krisen manchmal an ihre Mutter, die mit Suchtkranken gearbeitet hat und meinte: «Diejenigen, die nach jedem Absturz von ihrer Mutter aufgefangen werden, schaffen den Ausstieg nie.» Bei einem Therapeuten kommt sie zum Schluss: «Es gibt nur einen Weg.» Sie stellt Satindar im Frühling 2021 ein Ultimatum, mit dem der Film endet. «Entweder du bist nüchtern oder du kannst nicht in meinem Leben sein. Das war sehr schwierig zu sagen, weil ich bereit sein musste, entsprechend zu handeln. Allein hätte ich das nicht geschafft.» Seine Reaktion überraschte sie: «Er wurde nicht wütend, sondern wirkte glücklich, so …» – «erleichtert», beendet er den Satz. Ihre Stimmen zittern, als sie von diesem Moment erzählen.

Seither lebt Satindar mit Therapien und dem Medikament Antabus alkoholfrei. Die Tablette reagiert heftig auf Alkohol. Dabei muss er aufpassen, nicht irrtümlich zu konsumieren. «Bei einer Erkältung kann ich nicht einfach irgendeinen Hustensaft nehmen», sagt er. «Die Droge ist überall, man entkommt ihr kaum», fügt Maria an. «In Europa gehört Alkohol zudem sehr selbstverständlich zur Küche.» Fondue, Risotto, Pralinen: alles gefährlich. Am Tag ihres Kennenlernens, der Eröffnungsparty des Filmfestivals in Zürich, war Satindar nach mehreren Monaten Abstinenz innerhalb einer Sekunde rückfällig geworden, weil ein Dessert Schnaps enthalten hatte.

«The Curse» verhandelt eindrücklich Gefühle von Schuld, Selbsthass und Scham, die den Alkohol mächtig machen. Satindar Singh Bedi verkörpert ihn im Film als eine innere Dämonenstimme, die ihn permanent kontrollieren will. Das Reden über die Krankheit sei der wichtigste Schritt, finden die beiden, die inzwischen geheiratet haben. Seinen Kindern hat er seine Geschichte noch nicht erzählt. «Sie haben so viele Fragen. Bisher bin ich immer ausgewichen. Aber langsam entwickle ich den Mut, mich ihnen zu stellen.»

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«The Curse», Regie: Maria Kaur Bedi und Satindar Singh Bedi, Dok, CH 2022, 82 Min. Läuft zurzeit im Kino.

Wahlverwandtschaft in der Not

Kino Auf der Flucht nach Europa haben sie sich angefreundet und wollen gern zusammenbleiben. Dafür bezahlen zwei afrikanische Jugendliche einen hohen Preis.

TEXT MONIKA BETTSCHEN

Tori und Lokita sind seit ihrer Flucht aus Subsahara-Afrika – er aus Benin, sie aus Kamerun – unzertrennlich und kümmern sich liebevoll umeinander. Jede Geste, jeder Blick und das Herumalbern der beiden Teenager in ihrem kleinen Zimmer der Asylunterkunft in Belgien sind durchdrungen von einer stillen Übereinkunft: Wir gehören zusammen, komme, was da wolle. Die Freundschaft ist ihr Zufluchtsort, der ihnen jene Geborgenheit schenkt, die ihnen ansonsten verwehrt wird. Denn während Tori

eine Aufenthaltsbewilligung bekommt, droht Lokita die Abschiebung. Um eine Trennung zu verhindern, wollen sie sich als Geschwister ausgeben. Sorgfältig sprechen sie sich ab, um sich bei der Befragung nicht in Widersprüchen zu verheddern; sie können die Behörden aber nicht überzeugen.

Der einzige Ausweg, um nicht getrennt zu werden, führt über gefälschte Papiere für Lokita. Beide beginnen, als Kuriere für einen Drogendealer zu arbeiten, um Geld für die Papiere, aber auch

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FOTO: ZVG

für ihre Familien zuhause zu verdienen. Auf Gedeih und Verderb sind sie den Launen des Dealers ausgeliefert. Mal gibt es in der Küche der Pizzeria, wo er arbeitet, eine kalte Focaccia umsonst, mal verlangt er, dass Lokita sich für ihn vor seiner Handykamera auszieht. Schliesslich lässt das Mädchen sich auf einen unheilvollen Pakt ein: Drei Monate Arbeit in einer unterirdischen Hanfplantage für einen gefälschten Pass. Ein Handlanger des Dealers verbindet ihr die Augen und fährt sie ins Ungewisse. In einer stillgelegten Fabrik führt er sie durch ein Labyrinth aus Gängen, zeigt ihr, wie die Arbeiten ausgeführt werden müssen und bringt sie in einen zur Zelle umfunktionierten Raum mit Bett, Kochecke und TV. Bevor er sie einschliesst, entfernt er die SIM-Karte aus ihrem Handy, und als sie Fragen stellt, schlägt er ihr hart ins Gesicht. Die Regeln sind klar: Kein Kontakt zur Aussenwelt und ja keine Fehler machen.

Umgeben vom konstanten Surren aus den Lüftungsrohren der Indoor-Plantage wässert sie Pflanzen, kontrolliert Wärmelampen und isst abends Mikrowellengerichte, während sie auf dem Display ihres Handys ein Bild von Tori anschaut, um sich nicht allein zu fühlen. Dem Jungen gelingt es zwar, seine Freundin Lokita wiederzufinden, doch die Flucht der beiden nimmt ein jähes, erschütterndes Ende.

Schutzlos dem Leben ausgeliefert

Mit ihrem Drama «Tori et Lokita» beleuchten die belgischen Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne einmal mehr soziale Missstände. Diesmal ist es das Schicksal unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender (UMAs), denen nicht nur auf der Flucht, sondern auch im vermeintlich sicheren Europa Ausbeutung und Gewalt drohen, etwa wenn der lange Arm des Drogenhandels oder der Schlepperbanden bis in die Asylunterkünfte hineinreicht. Notlagen werden ausgenutzt. Lokita wird massiv unter Druck gesetzt.

Durch den sehr zurückhaltenden Einsatz stilistischer Mittel, wie er den Filmen der Brüder Dardenne eigen ist, wiegt das emotionale Gewicht der Geschichte umso schwerer und stemmt sich mit aller Kraft gegen Abstumpfung und Gleichgültigkeit. Die Erzählweise bleibt nüchtern und gibt den drängenden gesellschaftspolitischen Themen damit umso mehr Raum.

Häufig wählen die Dardennes die Perspektive von sehr jungen Menschen, die den Ungerechtigkeiten besonders schutzlos ausgeliefert sind. So waren es in den mit je einer Goldenen Palme ausgezeichneten Filmen «Rosetta» (1999) und «L’Enfant» (2005) eine 18-Jährige, die mit ihrer alkoholkranken Mutter auf einem Campingplatz lebt, respektive ein 20-jähriger Vater, der sein Baby verkauft. Mit «Tori et Lokita» begeben sich die Regisseure – als aufmerksame Beobachter sozialer Ungerechtigkeiten – nun in eine besonders aktuelle Thematik hinein: die bedrückende Lebenswelt unbegleiteter minderjähriger Flüchtender.

Sturmzerzauste Gestalten

Buch Dörte Hansen erzählt in «Zur See» eine stürmische Familiengeschichte – und vom unaufhaltsamen Wandel ihrer Inselwelt.

«Zur See», der dritte Roman der nordfriesischen Autorin Dörte Hansen, spielt auf einer imaginären und zugleich exemplarischen Insel «irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland». Einem Eiland, auf dem die Nachkommen von Grönlandfahrern und Walfängern leben. «Waschechte» Insulaner*innen, die in Häusern wohnen, die von «Männern mit Erfrierungen» gebaut wurden. Häuser, die allzu oft an Fremde verkauft werden, die vom Inselleben träumen, denn «alle Inseln ziehen Menschen an, die Wunden haben».

Wie die ersten beiden Romane von Hansen, «Altes Land» und «Mittagsstunde», ist auch dieses Buch von einer wehmütigen Melancholie erfüllt. Über allem schwebt die Trauer über den schleichenden Verfall von Gemeinschaften, Landschaften, alten Häusern, kulturellen Traditionen. Dabei betreibt die Autorin keine nostalgische Schönfärberei, sondern erzählt auch von den Abgründen.

Wie in den beiden Vorgängerromanen steht in «Zur See» eine Familiengeschichte im Mittelpunkt, und im Zentrum dieser Geschichte erneut ein Haus. Diesmal ist es das alte, mit Walfischknochen umzäunte Kapitänshaus der Familie Sander, die seit fast 300 Jahren von der Seefahrt lebt. Mit diesem Haus verknüpfen sich die Schicksale der Familienmitglieder. Von Hanne, die sich weigert, nur wartende Seemannsfrau zu sein und doch nichts anderes sein kann, weil ihr Mann Jens, der nach den Jahren auf See die Enge der Familie nicht mehr erträgt, zum Eremiten wird. Und von ihren Kindern. Ryckmer, der nach einem traumatischen Erlebnis auf See Erlösung im Alkohol sucht. Henrik, der in seiner eigenen Welt lebt und Treibgutkreaturen erschafft, die von Enthusiast*innen zur Kunst hochstilisiert werden. Und Eske, die als Pflegerin im Altersheim das Sterben begleitet und Tattoos und eine Frau mit blauen Haaren liebt. Es sind starke, eindrückliche Charaktere, die neben etlichen anderen diesen Roman so fesselnd und lesenswert machen. Wortkarge, sturmzerzauste Gestalten, die für die Tourist*innen den Schein des Vergangenen aufrecht erhalten und in ihrer Lakonie wie Figuren aus einem Film von Kaurismäki erscheinen. Sie sind zu Archetypen verdichtet, die umso mehr die Sehnsucht und den Verlust verdeutlichen. Und den Zwiespalt zwischen dem Bleiben wollen oder müssen und dem Wunsch nach Befreiung aus alten Bindungen. Erst ein Wal, der strandet und an seinem eigenen Gewicht erstickt, wird zum Wendepunkt, der für einige der Protagonist*innen hoffen lässt.

CHRISTOPHER ZIMMER

Dörte Hansen: Zur See. Roman. Penguin Verlag 2022.

CHF 33.90

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FOTO: ZVG
«Tori
et Lokita», Regie Luc und Jean-Pierre Dardenne, Spielfilm, Belgien 2022, 88 Min., mit Joely Mbundu, Pablo Schils, Alban Ukaj u.a. Der Film läuft zurzeit im Kino.

Basel

«Dos vidas. Zwei Leben», Theater, Sa, 4. Feb., 20 Uhr, So, 5. Feb., 19 Uhr, Mo, 6. Feb., 20 Uhr, Kaserne Basel, Klybeckstr. 1b. kaserne-basel.ch

Zürich

«Take my blood and write on the soil, the people must know that we are being taken prisoners», Theater, Do, 16., Sa, 18., Mo bis Mi, 20. bis 22., Fr und Sa, 24. und 25. Feb., jeweils 20 Uhr, Deutsch/Englisch mit englischen Untertiteln, Theater Neumarkt, Neumarkt 5. theaterneumarkt.ch

Peru. Und so verbinden sich aufständische Textilarbeiter*innen, magische Baumwollpflanzen und haitianische Widerstandskämpfer zu einem Stück, das mit viel Poesie Europa in die Verantwortung nimmt und von der Möglichkeit des Widerstands erzählt. DIF

Langenthal

«Disnovation.org – Der lange Schatten des Aufwärtspfeils. Prototypen für das Postwachstum», Ausstellung, bis So, 25.

Juni, Mi bis Fr, 14 bis 17 Uhr, Sa und So, 10 bis 17 Uhr, Kunsthaus Langenthal, Marktgasse 13

kunsthauslangenthal.ch

Christoph Frick, Leiter und Mitbegründer der freien Gruppe Klara, führt seine bereits erprobte Zusammenarbeit mit den Schauspielern Jorge Antonio Arias Cortez und Nicola Fritzen fort. Und zwar indem er die Biografien der beiden befreundeten Schauspieler einem Vergleichs- und Stresstest unterzieht: Cortez wurde im Mai 1985 in Oruro im bolivianischen Hochland geboren, Fritzen im Oktober 1978 in Berlin. Wer gelangt mit welchem globalen Startkapital auf welche soziale Position? Wem gelingt das «gute Leben», wer trickst, wer stürzt ab? In «Dos vidas. Zwei Leben» stellen die beiden Schauspieler ihre eigene Biografie für eine soziologische Fallstudie zur Verfügung – mit allen Extremen, Höhepunkten und schmerzhaften Details. Lässt sich im Leben von Cortez und Fritzen eine «globale Ungleichheit» ablesen? Hat einer der beiden in der «Lotterie der Geburt» das schlechtere Los gezogen? Wie weit repräsentiert jeder der beiden das gesellschaftliche System, in dem er gross geworden ist? Nach dem Start in der Kaserne Basel wird das Stück im Februar in Berlin und im April in Bolivien zu sehen sein. DIF

Zürich

«Gestorben wird immer», inszenierte Führung, Fr, 3. Feb, Do, 9. und Fr, 10. Feb, jeweils 18.15 bis 20.45 Uhr, Krematorium Nordheim, Käferholzstrasse 101. ausbruch.ch

«Ausbruch» interessiert sich für Unorte. Für Orte, die oft negativ konnotiert sind oder für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Der Verein wurde als Gefängnistheater gegründet, um dem Publikum Einblick in Strafanstalten zu geben und den Strafgefangenen Gelegenheit, ihre Erfahrungen auf einer Bühne zu reflektieren. Unterdessen hat das Kollektiv seinen Wirkungsbereich auf weitere Schauplätze wie etwa Krematorien ausgeweitet und stellt dort inszenierte Führungen auf die Beine: Menschen, die mit dem Ort zu tun haben, agieren für ein Publikum. Im Zürcher Krematorium Nordheim kann man stimmungsvoll in die Welt der Särge und Kremationen eintauchen und Menschen kennenlernen, die täglich mit dem Tod in Berührung sind. DIF

Bern

«Greywax 140», Tanz, Do 16., Fr 17., Sa 18. Feb., jeweils 20.30 Uhr, Tojo Theater Reitschule Bern, Neubrückstr. 8. tojo.ch

In «greywax 140» transformieren sechs Tänzer*innen und ein Musiker zwischenmenschliche Beziehungen und Konfliktsituationen in Bewegungsabläufe und finden so ihren Umgang mit der Komplexität einer Gegenwart voller Widersprüche. Sieben Körper mit sieben Stimmen füllen und durchdringen den Raum wie eine Gewitterzelle. Die Atmosphäre ist geladen. Sie testen ihr Verständnis der Welt und füreinander. Sie suchen nach Wegen, mit Bullshit und Meinungsverschiedenheiten umzugehen und dabei gleichzeitig in der Realität des Geschehens verankert zu bleiben. Sie erkunden ihre Freiheit, die unerreichbar und doch zum Greifen nah scheint. Auf diese Weise vermischen sich Text und Tanz im Stück von Victor Rottier und Ensemble immer mehr zu einem wilden und physischen Theatersturm. DIF

Die peruanische Künstlerin Daniela Ortiz ist bekannt für ihre feministischen, antirassistischen und antikolonialen Arbeiten und ihre fantasie- und humorvolle Bildsprache – in Wandbildern, Keramiken, Kinderbüchern, Performances und Installationen. Zuletzt entwickelte sie postkoloniale Puppentheater, die etwa an der Art Basel oder am Kunsten Festival des Arts in Brüssel aufgeführt wurden. Mit dem Neumarkt-Ensemble erarbeitete sie nun ihr erstes Theaterstück. Es folgt den Spuren der Baumwolle als zentraler Akteurin kolonialer Expansion, Ausbeutung, Industrialisierung und Globalisierung, ausgehend von einem realen Aufstand in einer Textilfabrik in

Das Kollektiv Disnovation.org widmet sich in Langenthal dem Postwachstum. Hier werden die Narrative von Wachstum und Fortschritt vor dem Hintergrund der globalen Umweltkrise gründlich hinterfragt. Zum Beispiel, indem der Aufwärtskurve des Wirtschaftswachstums die versteckten sozialen Zukunftskosten als «Schattenwachstum» zur Seite gestellt werden. Der Glaube daran, dass technologische Lösungen es dann schon irgendwie richten werden, wird beiseite gelegt, dafür werden Grenzen der Technologie, der Politik und unserer Vorstellungskraft ausgetestet. Eine wachsende Bibliothek von Video-Interviews mit Expert*innen aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, geordnet nach Schlagworten, ergänzt die Installationen und ist auch online zugänglich. Die Ausstellung wurde bereits in Institutionen in Belgien, den Niederlanden, USA und Frankreich gezeigt. DIF

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BILD(1): SIMON HEGENBERG, BILD(2): ZVG
Veranstaltungen
Wir sind für Sie da. 365 Tage offen von 8-20 Uhr St. Peterstr. 16 | 8001 Zürich | 044 211 44 77 www.stpeter-apotheke.com grundsätzlich ganzheitlich
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Pörtner in Lyss

Surprise-Standort: Hirschenzentrum

Einwohner*innen: 16 105

Sozialhilfequote in Prozent: 4,5

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 20,3

Berühmtester Lysser: Ivo Adam, 46, Kochweltmeister

Lyss ist eine typische Kreisstadt. Typisch für Kreisstädte sind viereckige Gebäude, denn hier befinden sich die Verwaltung, die Banken, die Versicherungen, die Einkaufszentren und Schulen. Gleich am Ortseingang steht das Bildungszentrum Wald, in dem, wie zu vermuten, Forstpersonal ausgebildet wird. Etwas weiter vorne gibt es Brennholz zu kaufen, weiter hinten befindet sich das Waldhaus Lyss, in diesem Falle aber nicht wie andernorts ein Luxushotel, sondern ein Event­Ort, der von allen gemietet werden kann und der zur Forstverwaltung gehört. Dass das Ländliche hier nicht fern ist, bestätigt der Laden der GenossiLyss, an dem der Schriftzug Genossenschaft Lyss & Umg. prangt. Eine schöne Abkürzung, die einem nicht oft begegnet. Als diese Beschriftung entstand, wurde noch gespart.

Wozu fünf Buchstaben verschwenden, wenn nach dem dritten schon klar ist, was gemeint ist? Oder wurde eine Lehrkraft mit Anbringen der Beschriftung beauftragt, die nicht mehr wusste, ob man Umgebung mit e oder mit ä schreibt und darum abkürzte? Auf alle Fälle ist es eine Erinnerung daran, dass das Genossen­ und Gemeinschaftliche hierzulande eine lange Tradition hat, die gerne zugunsten einer sich traditionell gebenden Jede*r­für­sich­Ideologie verdrängt wird.

Dass man vom Land hierherkommt, um sich mit lebensnotwendigen Gütern einzudecken, zeigt sich daran, dass es gleich zwei Läden für Berufskleidung gibt, einer neben dem Fabrikladen und einer bekannten Guetslifabrik. Überhaupt ist

man dem Genuss nicht abgeneigt, es gibt eine Reihe von Bars und Cafés, die gut besucht sind, es gibt Fachgeschäfte für Wein, Kaffee und Kaffeemaschinen. Auch die Biertrinker*innen kommen auf ihre Kosten: Es gibt neben einem Pop­up­Pub eine Kleinbrauerei mit dem Namen Dear Beer, auf der Etikette ist ein Reh (Deer) abgebildet. Im Erdgeschoss der Grossbankfiliale gibt es das Café Münz, der Mann vom Strassendienst trägt eine Mütze des Konkurrenzinstituts, das damals noch anders hiess. Die Mützen wurden vor knapp einem halben Jahrhundert gratis verteilt und scheinen von guter Qualität gewesen zu sein. Von besserer als die Bank selber, wie man heute weiss.

Durch die Ortschaft fliesst der Lyssbach, an dem sich flanieren lässt, unterwegs trifft man auf Italienisch und Englisch beschriftete Informationstafeln: A stroll trough Lyss, einer der Posten: La bzw. The Salbzütti. Auch diese beherbergt ein Café mit Bar. Das kulinarische Angebot teilt sich in italienisch und asiatisch auf.

Asiatisch sind auch die Kampfsportarten, die erlernt werden können, schweizerisch hingegen das Modehaus Knecht, das den internationalen Fast­Fashion­Shops widersteht. Auch ein lokaler Supermarkt bietet der Konkurrenz die Stirn. Offenbar hat man hier harte Köpfe, darauf weist auch der Treffpunkt der Mountainbike­Club Boneheads vor dem Bikeshop Mr. Feelgood hin. Gleich nebenan gibt es den Schönheitssalon The World Famous Hair Extension and Beauty Lyss, der vielleicht weltberühmt ist, aber gewiss ein fester Wert in Lyss & Umg.

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

Surprise 543/23 27 Tour de Suisse
STEPHAN PÖRTNER

Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

Beat Hübscher, Schreiner, Zürich

Yogaloft GmbH, Rapperswil SG

unterwegs GmbH, Aarau

Fäh & Stalder GmbH, Muttenz

Büro Dudler, Raum- & Verkehrsplanung, Biel

Tochter auf Zeit. Winterthur

Barth Real AG, Zürich

flowscope. B. & D. Steiner-Staub

Lebensraum Interlaken. Coaching & Therapie

Infopower GmbH, Zürich

Gemeinnützige Frauen Aarau

Be Shaping the Future AG

Hofstetter Holding AG, Bern

Fontarocca Natursteine, Liestal

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

iris-schaad.ch Qigong in Goldau

Automation Partner AG, Rheinau

FairSilk social enterprise www.fairsilk.ch

Maya-Recordings, Oberstammheim

Femisanum - natürliche Intimpflege, Zuzwil

Scherrer & Partner GmbH, Basel

Breite-Apotheke, Basel

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

Kaiser Software GmbH, Bern

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?

Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.

Spendenkonto:

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Surprise, 4051 Basel

Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag

Sie erhalten von uns eine Bestätigung.

Kontakt: Caroline Walpen

Team Marketing, Fundraising & Kommunikation

GEMEINSAM SCHAFFEN WIR CHANCEN

Nicht alle haben die gleichen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund bietet Surprise individuell ausgestaltete Teilzeitstellen in Basel, Bern und Zürich an – sogenannte Chancenarbeitsplätze.

Aktuell beschäftigt Surprise acht Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in einem Chancenarbeitsplatz. Dabei entwickeln sie ihre persönlichen und sozialen Ressourcen weiter und erproben neue berufliche Fähigkeiten. Von unseren Sozialarbeiter*innen werden sie stets eng begleitet. So erarbeiteten sich die Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiter*innen neue Perspektiven und eine stabile Lebensgrundlage.

Einer von ihnen ist Negussie Weldai «In meinem Alter und mit meiner Fluchtgeschichte habe ich schlechte Chancen auf dem 1. Arbeitsmarkt. Darum bin ich froh, bei Surprise eine Festanstellung gefunden zu haben. Hier verantworte ich etwa die Heftausgabe oder übernehme diverse Übersetzungsarbeiten. Mit dieser Anstellung ging ein grosser Wunsch in Erfüllung: Meinen Lebensunterhalt wieder selbst und ohne fremde Hilfe verdienen zu können.»

Scha en Sie echte Chancen und unterstützen Sie das unabhängige Förderprogramm «Chancenarbeitsplatz» mit einer Spende.

Mit einer Spende von 5000 Franken stellen Sie die Sozial- und Fachbegleitung einer Person für ein Jahr lang sicher.

Unterstützungsmöglichkeiten:

1 Jahr CHF 5000.–

½ Jahr CHF 2500.–

¼ Jahr CHF 1250.–

1 Monat CHF 420.–Oder mit einem Betrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto:

Surprise, 4051 Basel

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Vermerk: Chance

Oder Einzahlungsschein bestellen:

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oder surprise.ngo/spenden

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Herzlichen Dank fürIhrenwichtigen Beitrag!

#539/ 540: Adventskalender «Wiederverwertet»

Der Adventskalender ist bei mir dank der wunderschönen Illustrationen von Myriam Kaelin bereits bereit für das kommende Jahr und die beiden Zeitungen so sinnvoll wiederverwertet. Danke allen für ihren wertvollen Einsatz und viel Erfolg weiterhin im 2023.

«Kompliment»

Was für eine rundum schöne 1.­Dezember­Ausgabe! Kompliment. So viel Emotionalität.

#539: 10 – Rechte für alle

«Mutig»

Respekt und Danke für den mutigen und aufstellenden

Beitrag zu Menschen- und Tierrechten im neuen Surprise-Heft.

T. STREHL, ohne Ort

Korri g endum

In der Tour de Suisse in Ausgabe 541 ist uns ein Fehler unterlaufen, den aufmerksame Winterthurer*innen sofort entdeckt haben: Die Angaben zur Sozialhilfequote (neu um ein Zehntelprozent gesunken: 5,5 Prozent) und zum Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung (24,8 Prozent) wurden vertauscht. Wir bitten um Entschuldigung für das Versehen.

Die Redaktion

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Redaktion

Verantwortlich für diese Ausgabe:

Sara Winter Sayilir (win)

Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp)

Reporterin: Lea Stuber (lea)

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F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

#Strassenma g azin: Schulden-Serie

«Erledigungsblockade»

In den Artikeln steht, niemand zahle freiwillig die Rechnungen nicht bzw. Schuldner seien Opfer des Systems. Ein wesentlicher Faktor für Verschuldung ist auch etwas, was wir Erledigungsblockade nennen. Viele Betroffene öffnen ihre Post nicht oder geben ihren Lohn aus für Nötiges und Unnötiges («Ich arbeite und habe es verdient!») – und Ende Monat bleibt nichts mehr für die Krankenkasse. Ein sehr ungenügendes Realitätsgefühl für Finanzielles sehen wir in unserer Arbeit regelmässig, ein fehlendes Gefühl für die Quantität von Geld und von Einteilung. Doch wer lernt das heute bewusst? Das Thema Armut und Schulden muss diese Problematiken einbeziehen, es braucht Hilfsangebote, Budgetkurse für Kinder und Erwachsene, Beratungen, wo die Schuldenberatungen nicht helfen. Doch diese sind sehr selten. Wissen dazu auch. Darum werden alle Betroffenen als faul, unzuverlässig, charakterschwach usw. bezeichnet.

Ständige Mitarbeit

Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Dina Hungerbühler, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe

Céline Graf, Ruben Hollinger, Hans Rhyner, Annalisa Rompietti, Roland Schmid, Gabi Vogt Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Gestaltung und Bildredaktion

Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Druck

AVD Goldach

Papier

Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

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Surprise 543/23 29 Wir alle sind Surprise
R. JOSS, Ergotherapeutin HF, Bern C. HÜRLIMANN, ohne Ort
BILD: ZVG
A. PUEBLA, Baden
543/23

«Ich gebe die Hoffnung nicht auf»

«Mit dem Verkaufen von Surprise habe ich vor gut zwei Jahren angefangen, weil ich keine Chance habe, eine andere Arbeit zu finden. Ich habe seit längerer Zeit verschiedene körperliche Beschwerden, verbunden mit Schmerzen, die es mir an manchen Tagen schwer machen, überhaupt aus dem Bett zu kommen. Aus diesem Grund kommt mir die Freiheit, die ich bei Surprise habe, sehr entgegen: Ich gehe nur arbeiten, wenn ich mich gut fühle.

Meistens bin ich erst gegen Abend an meinem Verkaufsplatz vor der Coop-Filiale an der Länggassstrasse, dann hat es viele Leute, die noch schnell etwas für das Abendessen einkaufen. Ich schätze den Kontakt zu meiner Kundschaft, aber auch zum Coop-Personal sehr. Es gibt so viele nette, freundliche und hilfsbereite Menschen im Länggass-Quartier. Viele von ihnen studieren oder arbeiten an der Universität Bern, wie ich gehört habe. Wenn ich kann, helfe ich ihnen auch gern. Zum Beispiel passiert es immer wieder, dass Leute ihren Schirm vergessen. Wenn es mir auffällt, rufe ich ihnen zu: ‹Der Schirm›!

Ginge es mir besser, würde ich gern als Pflegehelferin oder Verkäuferin arbeiten, so wie früher in meinem Heimatland Eritrea. Pflegehelferin wurde ich nicht ganz freiwillig. Mit achtzehn musste ich wie alle jungen Frauen und Männer in Eritrea in den Militärdienst. Dort wurde ich zur Pflegehelferin ausgebildet und arbeitete zunächst zwei Jahre in einem Militärspital. Danach folgte ein Einsatz im staatlichen Gesundheitszentrum in meiner Heimatstadt, nicht weit von Asmara entfernt.

Aus dem Dienst entlassen wurde ich schliesslich nur, weil ich schwanger wurde. Zu dieser Zeit führten Eritrea und Äthiopien Krieg. Mein Mann, der Vater des Kindes, musste weiter Militärdienst leisten. Mit unserem Sohn blieb ich bei meiner Familie und verdiente unseren Lebensunterhalt mit einem eigenen Laden. Ich verkaufte vor allem Lebensmittel wie Kaffee, Tee und Zucker, Zwiebeln, Bananen, Orangen und viele andere Gemüse und Früchte.

Schon damals liebte ich das Verkaufen, den Kontakt und Austausch mit der Kundschaft und dazu die Selbständigkeit, die man mit einem eigenen Geschäft hat. Deshalb war es für mich schlimm, als der ‹National Service› sich Jahre später bei mir meldete und mich zwingen wollte, wieder Militärdienst zu leisten. Ich war damals über dreissig, lebte glücklich mit meinem Sohn und meiner Familie, führte den eigenen Laden –und jetzt sollte ich wieder in den Militärdienst? Das kam für mich nicht infrage. Ich flüchtete aus Eritrea und machte mich auf den Weg nach Europa. Im Frühling 2011 stellte ich in der Schweiz einen Asylantrag. Ein Jahr später konnten mir mein Mann und mein Sohn, Gott sei Dank, im Familiennachzug in die Schweiz folgen.

Dass ich aus gesundheitlichen Gründen keiner geregelten Arbeit nachgehen kann, ist nicht einfach für mich, trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass es mir irgendwann besser gehen wird. Für diesen Fall, und natürlich auch, damit ich mich im Alltag allgemein besser verständigen kann, lerne ich Deutsch. Ich habe das Glück, dass ich im Länggass-Quartier jeden Montagabend einen Gratis-Deutschkurs der Kirche besuchen kann. Wir üben vor allem Sprechen, weniger Grammatik. Auch dort geniesse ich jedes Mal den Kontakt und den Austausch mit anderen Menschen.»

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Afomya Solomon, 46, liebt das Verkaufen, hier im Berner Länggass-Quartier genauso wie früher in Eritrea.
FOTO: RUBEN HOLLINGER
Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN

Solidaritätsgeste

Entlastung

Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

STRASSENCHOR

Lebensfreude Zugehörigkeitsgefühl

Entwicklungsmöglichkeiten Unterstützung

Erlebnis

STRASSENFUSSBALL

STRASSENMAGAZIN

Information

SURPRISE WIRKT

Expertenrolle Job

Perspektivenwechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

BETEILIGTE CAFÉS

Zwei bezahlen, eine spendieren.

IN AARAU Schützenhaus | Sevilla IN ALSTÄTTEN SG Zwischennutzung Gärtnerei IN ARLESHEIM Café Einzigartig IN BACHENBÜLACH Kafi Linde IN BAAR Elefant IN BASEL Bäckerei KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet | Bioladen Feigenbaum | Bohemia | Café-Bar Elisabethen | Flore | frühling Haltestelle | FAZ Gundeli | Oetlinger Buvette | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen Quartiertreffpunkt Lola | Les Gareçons to go | KLARA | L’Ultimo Bacio Gundeli Didi Offensiv | Café Spalentor | HausBAR Markthalle | Shöp | Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite | Wirth’s Huus IN BERN Äss-Bar Länggasse & Marktgasse | Burgunderbar Hallers brasserie | Café Kairo | Café MARTA | Café MondiaL | Café Tscharni | Lehrerzimmer | Lorraineladen | Luna Llena | Brasserie Lorraine Dreigänger | Generationenhaus Löscher | Sous le Pont | Rösterei | Treffpunkt Azzurro | DOCK8 | Café Paulus Becanto | Phil’s Coffee to go IN BIEL Äss-Bar Inizio | Treffpunkt Perron bleu IN BURGDORF Bohnenrad | Specht IN CHUR Café Arcas | Calanda | Café Caluori Gansplatz | Giacometti | Kaffee Klatsch | Loë | Merz | Punctum Apérobar | Rätushof Sushi Restaurant Nayan | Café Zschaler IN DIETIKON Mis Kaffi IN FRAUENFELD Be You Café IN LENZBURG Chlistadt Kafi | feines Kleines IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer IN LUZERN Jazzkantine zum Graben | Meyer Kulturbeiz & Mairübe Blend Teehaus | Bistro & Restaurant & Märkte Wärchbrogg | Pastarazzi | Netzwerk Neubad | Sommerbad Volière | Restaurant Brünig | Arlecchino IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz IN STEIN AM RHEIN Raum 18 IN ST. GALLEN S’Kafi IN UEKEN Marco’s Dorfladen IN WIL Caritas Markt IN WINTERTHUR Bistro Dimensione | Bistro Sein IN ZUG Bauhütte Podium 41 IN ZÜRICH Café Noir Zähringer | Cevi Zürich | das GLEIS | Kiosk Sihlhölzlipark Quartiertreff Enge | Quartierzentrum Schütze | Täglichbrot | Flussbad Unterer Letten | jenseits im Viadukt | Kafi Freud | Kumo6 | Sport Bar Cafeteria | Zum guten Heinrich Bistro

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur
CAFÉ SURPRISE SOZIALE STADTRUNDGÄNGE
Café Surprise – eine Tasse Solidarität

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

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