9 minute read

Die Macht der Vorurteile

Stereot yp en Vorurteile haben ihr Gutes, sie helfen uns beim Einordnen komplexer Sachverhalte. Gefährlich werden sie, wenn sie in Feindbilder umschlagen.

Mein Schlüsselerlebnis in Sachen Vorurteile und festgefahrene Bilder im Kopf hatte ich im Winter 2017, in Horgoš, einem kleinen Grenzort an der serbisch-ungarischen Grenze. Ich war mit einer Gruppe von Geflüchteten unterwegs, sie hatten in verfallenen Häusern Unterschlupf gefunden und warteten nun auf Schmuggler, die sie, für viel Geld, in die EU bringen sollten. Die Tage zogen sich hin, es war bitterkalt, die jungen Männer kraftlos und in Gedanken versunken. Viele von ihnen hatten schon so oft versucht, die Grenze zu überqueren, doch wurden sie von der ungarischen Polizei aufgegriffen und zurück nach Serbien gebracht. Immer häufiger kam es bei diesen «Pushbacks» zu Gewalt gegen die Geflüchteten, und das sollte meine Story sein.

«Welches Bild haben andere von Ihnen?» schlagartig klar, was er meinte. Zu jener Zeit gab es geradezu typische Bilder von «Flüchtlingen», die aus dem Nahen und Mittleren Osten über die sogenannte Balkanroute in die EU-Ländern wollten, und auch meine unterschieden sich kaum davon: Menschen, meist junge Männer, in Decken gehüllt, ihre Blicke irgendwo zwischen hoffnungslos und bedrohlich, im Hintergrund ein eingestürztes Gebäude, eine Tonne mit Feuer, es regnet oder, noch besser fürs Foto, es schneit.

Diese Frage hat der Fotograf und Surprise-Redaktor Klaus Petrus auf seinen Reisen und Reportagen immer wieder an Menschen herangetragen. Auf den folgenden Seiten sind einige von ihnen abgebildet. Die Antwort der Porträtierten lesen Sie auf Seite 13. Inzwischen können Sie sich beim Betrachten der Fotografien gerne selbst ein Bild machen.

Einer von ihnen war der Pakistani Jawad Z., damals 24 Jahre alt; er schilderte mir seine Fluchtgeschichte, erzählte von seiner Familie, zeigte mir seine Verletzungen. Als ich ihn zu fotografieren begann, meinte er, nun würde er sich erinnern: Er hätte mich schon einmal gesehen, im Frühjahr 2016, in Belgrad, am alten Busbahnhof, wo Tausende von Geflüchteten feststeckten und unzählige Medienschaffende aus aller Welt hinströmten, um «Europas Migrationskrise» zu dokumentieren. Es stimmte, ich war ebenfalls dort gewesen. Und dann sagte Jawad Z. diesen Satz, der für mich zum Schlüsselerlebnis werden sollte: «Damals haben wir gelernt, für euch zu posieren.» Mir war

Dieses Bild hat sich in uns eingenistet, es wird bis heute tausendfach reproduziert – und kaum hinterfragt. «Das sind nicht wir», sagte Jawad Z. damals. «Das ist bloss ein Bild in euren Köpfen, von uns als Flüchtlingen.»

Bilder in unserem Kopf – sie sind mächtiger als unsere Gedanken, mächtiger als unsere Gefühle. Walter Lippmann, der sich in den 1920er-Jahren als einer der ersten systematisch mit dem Thema befasste, war sogar der Ansicht, alles, was wir tun oder lassen, werde beherrscht von solchen Bildern im Kopf, von Stereotypen, wie er sie nannte. Der Grund bestehe schlicht darin, dass wir ohne sie gar nicht all die Eindrücke strukturieren könnten, so Lippmann. «Unsere Umgebung ist insgesamt zu gross und zu vielschichtig, um erfasst zu werden. Wir Menschen sind nicht dafür ausgerüstet, um es mit so viel Subtilität und so grosser Vielfalt aufzunehmen. Um die komplexe Welt zu durchwandern, brauchen wir einfache

Karten.» ¹ Stereotypen oder Klischees haben also durchaus ihr Gutes; sie helfen uns, Komplexes auf Einfaches zu reduzieren und Fremdes vertraut(er) zu machen, indem sich z. B. unbekannte Personen anhand gewisser Schemata wie Alter, Geschlecht, Ethnie, soziale Zugehörigkeit etc. innerlich «schubladisieren» lassen.

Diese Stereotypen sind, als blosse Etikettierungen, zunächst einmal neutral. Doch sie werden meistens benutzt, um etwas oder jemanden zu bewerten, ob unbewusst oder willentlich. Auch das sei geradezu menschlich, sagt Lippmann. «Ohne zu bewerten, wären wir in dieser Welt vollkommen orientierungslos.»

Wie wir Menschen schubladisieren, bestimmt, welche Gefühle wir ihnen gegenüber entwickeln – sei es Wohlwollen, Bewunderung, Argwohn, Verachtung oder Respekt. Diese Gefühle werden in den Sozialwissenschaften «Vorurteile» genannt und können, je nach Stereotyp, der ihnen zugrunde liegt, positiv oder negativ sein. Ein Beispiel sind Menschen aus Osteuropa, denen hierzulande bekanntlich mit vielen Vorurteilen begegnet wird – allerdings sehr unterschiedlich. Roma und Sinti etwa lösen überwiegend negative Vorurteile aus; es wird beispielsweise und grossenteils ohne Belege unterstellt, sie seien faul, hinterlistig, schmutzig, asozial, sie würden betteln und stehlen. Dagegen werden osteuropäische Care-Arbeiterinnen häufig ganz anders wahrgenommen; sie gelten als fürsorglich und aufopfernd und lösen dementsprechend eher positive Gefühle aus und werden auch mal wie ein Familienmitglied behandelt.

Haben sich Stereotype einmal verfestigt – durch Historie, Kultur, Politik, Ideologie, Medien, Fotografie, Kunst, Witze und anderes mehr –, entziehen sie sich der Kontrolle des Einzelnen.

Der Historiker Frank Reuter, der sich eingehend mit dem Konstrukt des «Zigeuners» auseinandergesetzt hat, sagt es sinngemäss so: Sieht eine Person eine Gruppe von Roma oder Sinti, werden in ihrer Vorstellung wie automatisch die Eigenschaften aktiviert, die im betreffenden Stereotyp enthalten sind, und die Menschen werden nur noch durch den Filter des «Zigeuners» gesehen sowie beurteilt.

Klar könnte, so Reuter, diese Person die Bilder in ihrem Kopf kritisch hinterfragen. «Da Menschen aber eine starke Präferenz haben, ihre bereits bestehenden Vorstellungen zu bestätigen, bedeutet es wesentlich weniger Aufwand, ein Stereotyp zu bekräftigen, als es zu wiederlegen.» ²

Wir gegen sie

Stereotype und Vorurteile haben mit der Realität fast nie etwas zu tun und sind gegenüber Korrekturen und Einwänden äusserst resistent, wenn nicht sogar immun. Ihr Wirksamkeit wird dadurch nicht geschmälert, im Gegenteil.

Im Falle von negativen Vorurteilen hat dies erhebliche und mitunter gefährliche Konsequenzen. Denn diese dienen fast immer dazu, die schubladisierte Person oder Personengruppe nicht bloss zu bewerten, sondern auch abzuwerten – und zwar gegenüber der eigenen Person oder Personengruppe. Solche Vorurteile markieren einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Anderen und dem Eigenen, und dazwischen liegt ein Gefälle. ³ Besonders augenfällig ist das, wenn negative Vorurteile in Feindbilder umschlagen: Die Anderen sind in jedem Fall weniger wert als die Eigenen und dürfen deshalb nicht bloss ausgegrenzt, stig- matisiert und verhöhnt werden, sondern auch missachtet, verletzt oder gar getötet. So oder so: Negative Vorurteile dienen immer auch dazu, die eigene Gruppe zu stärken oder sich der eigenen Überlegenheit zu vergewissern. Am obigen Beispiel gesagt: Eine Gruppe von Roma und Sinti aktiviert in unserer Vorstellung nicht bloss die negativen, rassistischen Eigenschaften des «Zigeuner»Stereotyps, sondern gleichzeitig auch positive Eigenschaften von uns und unseresgleichen.

Dass es dabei eigentlich nie um Individuen geht – um Persönlichkeiten mit einem Namen, einer Biografie, mit Freunden und Freuden –, ist ebenfalls ein Charakteristikum von Stereotypen und Vorurteilen. Zwar wird, sprachlich gesehen, oft der Singular benutzt, wenn von den Anderen die Rede ist: «der Flüchtling» etwa, «der Jude» oder «die Obdachlose». Aber genau genommen ist damit immer eine Gruppe gemeint; «der Flüchtling» ist bloss ein Stellvertreter für ein ganzes Kollektiv, das mit negativen Eigenschaften versehen wird.

Die amerikanische Wissenschaftlerin Elaine Scarry hat in diesem Zusammenhang auf ein interessantes Phänomen hingewiesen: Da Vorurteile bewirken, dass Individuen gewissermassen in einer Gruppe verschwinden, werden diese als einzelne Personen unsichtbar. Zugleich aber werden sie dadurch in hohem Masse erst sichtbar – nämlich als die Anderen, als ein fremdes, minderwertiges, abstossendes, womöglich bedrohliches Kollektiv.

4 Dabei hat diese Rolle als Stellvertreter, als Typus ohne persönliche Kontur, quasi endgültigen Charakter: «der Flüchtling» kann im Grunde tun, was er will, er wird immer dem vorgefassten Klischee entsprechen. Ist er abweisend oder wütend, bestätigt er das Vorurteil; ist er dagegen offen und freundlich, tut er bloss so als ob, denn in Wahrheit ist «der Flüchtling» ja anders – nämlich so, wie man sich eingeredet hat, er müsse sein.

Anders erzählen

«Das sind nicht wir. Das ist bloss ein Bild in euren Köpfen, von uns als Flüchtlingen», sagte Jawad Z. damals an der serbisch-ungarischen Grenze. Hatte er recht?

Ich denke schon. In den Medien wie auch in unserer Wahrnehmung werden Menschen wie Jawad Z. häufig auf eine bestimmte Rolle reduziert – nämlich die eines Geflüchteten, der sich in Europa ein besseres Leben erhofft. Wir haben dieses Bild von ihnen mit erschaffen, und nun betrachten wir sie durch diese Brille mitsamt den damit verknüpften, weitgehend negativen Vorurteilen, die wir laufend reproduziere.

Natürlich ist es nicht derart platt. Viele Berichterstattungen und Reportagen versuchen uns die Menschen näherzubringen, sie berichten im Detail über deren Fluchtgeschichte, über deren Ängste und Hoffnungen. Und doch: Was wir über sie erfahren –was wir Medienschaffende bei ihnen erfragen –, bleibt meist auf ihre Rolle als Geflüchtete bezogen. Womöglich heisst dieser Mensch dann Jawad Z. – doch er könnte, solange er auf diese Rolle reduziert wird, auch Hassan W. heissen oder Ahmad S. oder wie auch immer.

Wie es anders machen? Diese Frage stelle ich mir oft. Sultan H., ein afghanischer Journalist aus Kabul, ebenfalls auf der Flucht und ein Freund von Jawad Z., hatte sie damals in einem Gespräch in Horgoš so beantwortet: «Natürlich würde ich ebenfalls von meinem Kummer und den Sorgen schreiben, von der ganzen Flucht und so. Aber ich würde auch davon erzählen, dass ich Spaghetti über alles mag. Dass ich als Junge eine Plastikkamera fand und den Reporter mimte. Dass ich nur Journalist wurde, weil ich zu faul war, an die Uni zu gehen. Dass mein Vater der beste Schachspieler in unserer Strasse war. Und Jazzliebhaber. Dass ich schon als Junge meiner jetzigen Frau hinterherschaute und sie das gar nicht mochte. Dass ich diese Flucht manchmal als Abenteuer erlebe und ich mich zugleich schäme, wenn ich an meine Familie denke, an meine Kinder, die so weit weg sind, immer noch.» Und noch vieles mehr zählte Sultan H. auf, manches davon war berührend, einiges unfassbar, anderes lustig und schräg, das meiste aber – ziemlich normal.

Das für mich Faszinierende an dieser Erzählweise ist, dass sie auf subtile Art die Mechanismen von Vorurteilen untergräbt. Zum Beispiel sind Stereotype und Vorurteile darauf aus, dass sie unsere Sicht auf die Wirklichkeit massiv verengen. Sie reduzieren, um es ein wenig pathetisch zu sagen, das Mannigfaltige des Menschseins auf eine einzige Form – auf die des bettelnden «Zigeuners», der asozialen Obdachlosen, des bedrohlichen Flüchtlings. Diese Verengung verstümmelt buchstäblich unsere Phantasie. Je wirksamer Vorurteile nämlich sind, desto weniger können wir uns vorstellen, dass ein Mensch wie Horváth mehr ist als «der Roma», Corinna mehr als «die Obdachlose» oder Jawad Z. mehr als nur «der Flüchtling» auf dem Weg nach Europa. Sultans Erzählweise tut genau das: Sie öffnet Räume der Vorstellungskraft, indem sie noch von vielem anderem handelt als von der Flucht.

Zwangsläufig ist eine solche Geschichte, wie Sultan sie in der vollen Länge erzählen würde, vielfältiger, sinnlicher, aber auch kantiger und womöglich widersprüchlicher als eine, die auf Vorurteilen gründet und diese unkritisch weitergibt. Denn auch das ist ein Wesenszug von Stereotypen: Sie sind in aller Regel in Schwarz-Weiss gehalten und funktionieren nach dem Prinzip «wir-sie». Graustufen, Differenzierungen oder gar Selbstzweifel sind darin nicht vorgesehen. Die Welt der Vorurteile und Feindbilder ist, wie die Publizistin Carolin Emcke einmal sagte, eine «bereinigte» Welt – bereinigt von jeder sozialen, historisch gewachsenen politischen und sozialen Vielfalt. 5 Ebenso hat das Normale, das in Sultans Erzählweise vorkommt, darin keinen Platz. In den mit Vorurteilen besetzten Schilderungen über «den Flüchtling» kommt nichts Belangloses oder Heiteres oder Skurriles vor, sondern nur permanent Problematisches, das wir abermals vorgefassten Mustern zuordnen, wie «Flüchtlingsströme», «Schmarotzertum», «religiöser Fanatismus» und so fort.

Schliesslich: Je stärker die Vorurteile sind und je mehr sich dadurch unsere Sicht auf die Wirklichkeit verengt, umso mehr schwindet die Empathie, unser Mitgefühl für das Gegenüber. Wenn wir uns nicht mehr vorstellen können (oder wollen), dass dieser konkrete Mensch mehr ist als die eine negativ besetzte Rolle, in der wir ihn gerade wahrnehmen, werden wir auch nicht erkennen (wollen), dass er uns in grundsätzlichen Dingen ähnelt – wie etwa darin, dass diese Person, wie wir anderen auch, verletzlich ist. Die schon erwähnte Denkerin Elaine Scarry bringt es auf den Punkt: «Die Fähigkeit des Menschen, anderen Ver- letzungen zuzufügen, ist deshalb so gross, weil unsere Fähigkeit, uns ein angemessenes Bild von ihnen zu machen, so klein ist.» Besonders krass ist dies bei ausgeprägten Feindbildern: Indem das Gegenüber entmenschlicht wird, wird es zu einem Etwas, mit dem man kein Mitgefühl haben muss. Anders die Erzählweise Sultans. Je vielfältiger eine Person geschildert wird, umso menschlicher erscheint sie uns, umso mehr erkennen wir, dass wir uns ungemein ähneln. Empathie ist nicht möglich ohne die Erfahrung des Gemeinsamen.

Am Ende wird auch Sultans Erzählweise unsere Vorurteile nicht aus der Welt schaffen. Und das muss sie auch nicht. Walter Lippmann, der Pionier der Stereotypenforschung, war überzeugt, dass ein differenziertes, vielschichtiges Urteil nicht möglich ist ohne ein Urteil davor – ein Vor-Urteil. Nach Lippmann verdankt sich der Wandel vom Vorurteil zum Urteil letztlich einem Perspektivenwechsel; er verlangt von uns, bisher Wahrgenommenes mit anderen Augen zu sehen. So ist es auch bei Sultan H.; er erzählt nicht von «dem Flüchtling», sondern von einem Menschen, der vieles erlebt hat und der auch flüchten musste.

1 Walter Lippmann, Die öffentliche Meinung, Frankfurt a. M. 2018, S. 65. 2 Frank Reuter, Im Bann des Fremden, Göttingen 2014, S. 38.

3 Der Mechanismus, der dieser Abwertung zugrunde liegt, wurde u.a. treffend analysiert von Albert Memmi, Rassismus, Frankfurt 1987. 4 Elaine Scarry, Das schwierige Bild der Anderen, in: Schwierige Fremdheit, hrsg. Friedrich Balke u. a., Frankfurt a. M. 1993.

5 Carolin Emcke, Gegen den Hass, Frankfurt a. M. 2018, 63.

«Welches Bild haben andere von Ihnen?» Hier sind die Antworten der Porträtierten: (1) Wiktor, 48, Ukraine: mutig und unerschrocken. (2) Emmamos, 26, Uganda: mit allen Wassern gewaschen, ein guter Fussballer, gläubig. (3) Bewar, 38, Nordirak: müde und in sich gekehrt. (4) Martina, 60, Schweiz: ernst, nett, älter, manchmal schlecht gelüftet. (5) Dalal, 42, Syrien: offen, hilfsbereit, eine gute Mutter und manchmal ein Schlitzohr. (6) Guuleed, 39, Somaliland: draufgängerisch, charmant, ein Grossmaul mit Visionen. (7) Besim, 58, Bosnien: gutherzig, aufbrausend, auf keinen Fall käuflich. (8) Araba, 90, Südsudan: wenig gereist, viel gesehen, demütig und alt. (9) Silver, 52, Frankreich: eine verlorene Seele, ein guter Freund. (10) Danica, 47, Schweiz: zufrieden, zurückhaltend, ruhig – und junggeblieben. (11) Aydan, 22, Afghanistan: voller Tatendrang, hilfsbereit und witzig. (12) Shania, 17, Demokratische Republik Kongo: verletzlich, eine Mutter ohne Kind. (Cover) Jürg, 70, Schweiz: gelebt, erlebt, alt und gepflegt.