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Vor Gericht

Keine Entlastung für Geringverdienende

Einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vom Mai zufolge sinkt infolge der Inflation vor allem das Realeinkommen von Geringverdienenden rapide; Besserverdienende dagegen würden insgesamt deutlich weniger belastet. Daran änderten auch die Entlastungen wenig. «Der grösste Teil der 23,6 Milliarden Euro an Hilfen für Privathaushalte geht nicht an die Menschen mit dem grössten Bedarf, sondern an Menschen mit hohen Einkommen», so das vernichtende Fazit. Das DIW fordert weitere Entlastungen. Unter anderem solle das von der Koalition geplante Klimageld zur Kompensation der CO2Bepreisung für Einkommen bis maximal 4000 Euro brutto im Monat schnell auf den Weg gebracht werden. Vorgesehen ist das ab Januar 2023 – über die konkrete Ausgestaltung streitet die Ampel noch. Im Gespräch sind derzeit 200 Euro pro Kopf und Jahr–viel zu wenig, kritisiert DIWChef Marcel Fratzscher und regt stattdessen 100 bis 150 Euro pro Monat und Familie an.

DROBS, DRESDEN

Zu wenig Lohn

9,50 Pfund pro Stunde verdienten rund 400 000 CareArbeiter*innen im Juni in England, weniger als Angestellte in vielen Supermarktketten, fand eine Studie der auf Gesundheit und Pflege spezialisierten Denkfabrik King’s Fund heraus. 165 000 freie Stellen gebe es derzeit in der britischen Pflegebranche; wie Inspektor*innen bemängeln, sei dies eine der Hauptursachen für ungenügende Pflegeleistungen. Neun von zehn Supermarktriesen zahlten besser: Aldi, Tesco, Lidl und Asda entlöhnen mit 10,10 Pfund. Vor Gericht

Raue Mengen

Der Beschuldigte steht am Empfang des Obergerichts Zürich. Er ist gross gewachsen, schlank, ein Gesicht wie von Künstlerhand gemeisselt, sein Blick sanft. Er ist ein richtig schöner Mann. Oder war: Seine Zähne sind schlecht, sein Haar schütter. Obwohl er erst 31jährig ist, wirkt er Jahrzehnte älter.

Ein paar Meter weg spricht sein Anwalt mit der Rezeptionistin. Sie telefoniert, es herrscht allgemeine Konfusion. Denn der Beschuldigte ist mit einer knappen Stunde Verspätung aufgetaucht – und sein Fall ist vor einigen Minuten zu Ende verhandelt worden. Das Gericht hat sich bereits zur Urteilsberatung zurückgezogen. Was nun?

Die Rezeptionistin legt das Telefon auf und sagt: «Es ist gelaufen.» Die Befragung des Beschuldigten zu seiner Person und zur Sache werden nicht nachgeholt. Schade. Gern hätte man mehr darüber erfahren, wie der studierte Physiker mit guten Zukunftschancen in seiner Heimat Brasilien nun ein karges Dasein in der Schweiz führt – als SecurityMann mit einem Einkommen unter dem Existenzminimum. So begnügt man sich mit der einfachen Antwort: Methamphetaminchloryd, kurz Crystal Meth.

Es zählt zu den gefährlichsten Drogen überhaupt, zu den Substanzen mit einem der höchsten Suchtpotenziale. Betroffene berichten, bereits nach den ersten Einnahmen süchtig geworden zu sein. War es beim Beschuldigten auch so? Hat er das weisse Pulver einfach mal probiert, ohne gross über die Gefahren nachzudenken? Damals, als er seinen Schweizer Lover kennenlernte, für den er später nach Bern zog, wo beide immer tiefer im Drogensumpf versanken? Fest steht nur: Beide wurden süchtig. Sie haben die Droge geraucht, gesnifft, gespritzt. Jeden Tag, zwei bis drei Gramm pro Kopf. Es war der Beschuldigte, der das Crystal Meth besorgte, in rauen Mengen. Weil es so billiger war und sie ja jede Menge des Stoffs brauchten. Teils verkaufte sein Freund das Crystal weiter, um den Konsum mitzufinanzieren.

Als der Beschuldigte verhaftet wird, hat er fast 300 Gramm bei sich. Das gehört in die Kategorie Verbrechen. Der Polizei sagt der Beschuldigte nichts von seinem Freund. Der arbeitete damals noch bei einer Grossbank, und der Brasilianer nimmt die Schuld ganz auf sich, will ihm nicht schaden. Vor erster Instanz gab es dafür zwei Jahre Freiheitsstrafe teilbedingt, wegen Drogenhandel und konsum.

Sein Anwalt versucht in zweiter Instanz, die Strafe zu halbieren. Wenigstens zu erwirken, dass der Beschuldigte nicht ins Gefängnis muss. Er habe nicht wissen können, dass das Crystal Meth über den Weiterverkauf an viele Konsument*innen gelangen würde, und er so deren Gesundheit mitgefährdet hat – ein Kriterium für einen schweren Fall. Zudem sei sein Mandant sehr kooperativ gewesen, er habe sofort ein Geständnis abgelegt und es seit der Verhaftung geschafft, drogenfrei zu bleiben.

Die Oberrichter*innen lassen Gnade walten und reduzieren die Strafe auf 20 Monate bedingt. Ins Gefängnis muss er nicht, aber die Schweiz für fünf Jahre verlassen. Sein Freund erholt sich derzeit in einer Rehaklinik.

YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.