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Obdachlosigkeit

Als es ihr im Heim zu viel wurde, verbrachte Naomi ihre Nächte draussen – wie hier in einem Gebüsch am Vierwaldstättersee.

Nur das Beste für Naomi

Obdachlosigkeit Wie viele Jugendliche in der Schweiz auf der Strasse übernachten, kann niemand beziffern. Eine von ihnen ist Naomi.

TEXT LEA STUBER FOTOS KLAUS PETRUS

Tusche auf den Wimpern, eine Packung Marlboro Golf in der Ledertasche, Trainerhose. Vor ihr die Ufschötti, dieser Fleck Paradies am Vierwaldstättersee, hügelige Liegewiese, Strand aus Sand, glitzerndes Seewasser. Wie Naomi diese federnden, leichten Schritte macht, sieht sie aus, als sei sie auf dem Weg, um wenn nicht die ganze Welt, dann immerhin Luzern zu erobern. Luzern, ihre Stadt, ihre Menschen.

Naomi, bald 18 Jahre alt, wohnt seit April bei ihrem Freund, kennengelernt haben sie sich auf Instagram, und macht in einer Handyreparaturwerkstatt ein Praktikum, wo sie geduldig alle Fragen der Kund*innen beantwortet, auch die dummen, sagt Naomi und schmunzelt. Vor wenigen Tagen war sie an der Chilbi, der Luzerner Herbstmesse beim KKL, und ass mit einer Freundin Churros. Sie trinkt jetzt nicht mehr so viel Alkohol, kifft nur einmal alle paar Monate. Seit sie 12 Jahre alt ist, raucht sie, mit 13, als sie in der geschlossenen Abteilung war, kiffte sie zum ersten Mal. Naomi setzt sich auf eine Bank und sagt: «Ich bin froh: Ich bin 17 und habe das alles schon hinter mir.» Die Depressionen und sechs Jahre Heim, die Wutausbrüche und Anzeigen, die geschlossene Abteilung und das Abhauen. Am Anfang für ein paar Stunden, am Ende für drei Monate. Sie war «auf der Kurve», sagt Naomi, so haben das die Sozialarbeiter*innen genannt. 18 Prozent der obdachlosen Menschen in der Schweiz sind zwischen 18 und 25 Jahre alt. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz über Obdachlosigkeit (siehe Surprise 525 und 526). Das ist deutlich höher als in der gesamten Bevölkerung und könnte bedeuten, dass unter Obdachlosen sehr viele junge Erwachsene sind, sagt Jörg Dittmann, einer der Autor*innen der Studie. Menschen unter 18 Jahren wurden für die Studie nicht befragt. Wie viele Minderjährige obdachlos sind, warum sie von zuhause oder dem Heim weggehen und weshalb sie auf der Strasse schlafen, das ist ungeklärt.

Ehrlich, selbständig und sehr selbstbewusst sei sie, sagt Naomi und zündet sich eine Zigarette an, wie sie das oft macht, wenn sie einen Moment für sich braucht, Eminem oder Linkin Park hört und zur Ufschötti kommt. Dann erzählt sie ihre Geschichte.

Brot und Aufschnitt

Die Eltern streiten viel, da ist Naomi noch klein. Der Vater kommt oft erst am Morgen nach Hause, ist betrunken. Die Eltern trennen sich, mit sechs Jahren bekommt Naomi einen Beistand. Die Mutter, bei der Naomi lebt, hat nicht viel Geld, manchmal ist der Kühlschrank leer. Dann muss Naomi, die Rosenkohl und Fenchel nicht leiden kann, dafür Brokkoli liebt, Nachbar*innen um Brot und Aufschnitt fragen. Einmal sperrt die Mutter sie in ihr Zimmer ein. Die Tür öffnet sie nur, um Naomi das Frühstück, Mittag- und Abendessen zu geben. Naomi, Lieblingsfarben babypink und babyblau, spielt mit Baby, so heisst ihre Puppe, die ihr die Grossmutter geschenkt hat und die sie überallhin mitnimmt. Sie füttert sie, duscht sie, legt sie in den Puppenwagen und geht mir ihr spazieren. In der Schule meldet die Mutter Naomi krank. Erst nach einer Woche darf Naomi wieder aus dem Zimmer.

In der Schule ist Naomi aggressiv, sie geht auf andere Kinder los. Zuhause wirft ihre Mutter Gegenstände nach ihr, schlägt ihr mit einem Gürtel auf den Rücken. In der 5. Klasse fällt auf, dass Naomis Augen häufig geschwollen sind. Es sind schliesslich Nachbar*innen, die bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) eine Gefährdungsmeldung machen. «Meine Mutter», sagt Naomi, «wurde als Kind auch geschlagen, meine Eltern meinten es nicht böse.»

Das Kinderheim, heisst es, ist das Beste für dich, Naomi.

Sie, 11 Jahre alt, will nicht weg von ihrer Mutter. Sie vermisst sie, weiss aber: Wenn sie nach Hause ginge, bekäme ihre Mutter Probleme. Jedes zweite Wochenende fährt Naomi, das Stadtkind, aufs Land auf den Bauernhof ihrer Pflegefamilie. Nach drei Monaten darf Naomi zum ersten Mal wieder zu ihrer Mutter, sie gehen ins Hallenbad und essen. Am nächsten Tag kommt sie ein paar Minuten zu spät vom Training. Ihre Mutter will ihr eine Ohrfeige geben, Naomi bekommt Angst und sperrt sich in ihr Zimmer ein. Sie öffnet das Fenster und steigt hinaus. Ihr Vater will sie nicht bei sich haben, zu ihm kann sie nicht. Sie nimmt ein Taxi und fährt zu ihrer Pflegefamilie. Zum ersten Mal ist Naomi von zuhause abgehauen.

Einen Tag vor ihrem 13. Geburtstag zieht ihr Vater mit seiner Partnerin ins Ausland. «Er hat mir nicht einmal mehr zum Geburtstag gratuliert», sagt Naomi. Später, 2021, wird auch die Mutter die Schweiz verlassen.

Naomi fällt in ein Loch. In der Oberstufe macht sie bei Schlägereien mit. Zwei Wochen darf sie dann nicht in die Schule gehen. Sie bekommt eine schwere Depression, ritzt sich, versucht sich das Leben zu nehmen. Sie schauspielere, finden die Eltern. Trotzdem kann sie eine Tagesklinik besuchen. Im Kinderheim, wo sie weiterhin lebt, hat sie «gar keinen Bock» mehr, sagt

Naomi. Einmal sagt ein Kind etwas gegen ihren Vater, sie sticht ihm ihre Gabel in den Oberschenkel. Ein anderes Mal rennt ihr ein Mädchen nach, Naomi knallt die Tür hinter sich zu und klemmt seinen Daumen ein. Das Mädchen schreit.

Immer wenn sich Naomi schlecht fühlt oder sie wütend ist, haut sie ab. Wenn sie nach ein paar Stunden zurückkommt, muss sie das Handy, ihren wertvollsten Besitz, abgeben. Statt die Mutter zu sehen, muss sie am Wochenende zur Pflegefamilie.

Bald heisst es: Naomi, die geschlossene Abteilung ist das Beste für dich.

Sie versteht nicht, warum. In die geschlossene, denkt Naomi, müssen doch nur die wirklich Schlimmen, die schon Anzeigen bekommen haben und Drogen nehmen. Sie aber rauche nur und haue ab und zu mal ab. Einen Monat verbringt Naomi, mit 13 Jahren die Jüngste, ohne Kontakt nach draussen in der geschlossenen Abteilung einer Institution für weibliche Jugendliche in Basel. Kaum darf sie in die offene Abteilung wechseln, haut sie mit einer Freundin ab. Zum ersten Mal kommt sie erst am nächsten Morgen zurück. Wenn Naomi jetzt abhaut, macht sie die Nächte durch, dreht sich einen Joint, hört den Rapper Luciano und sein «Geh meinen Weg». Eine Woche lebt sie in Basel auf der Strasse. Wenn sie duschen will, geht sie zu Freund*innen und bekommt von ihnen frische Kleider. In die Schule, die 8. Klasse, geht sie nicht.

«Mein Zeugnis ist eine Katastrophe», sagt Naomi. Das zweite Semester der 7. Klasse verpasste sie, weil sie in der geschlossenen Abteilung war, das zweite der 8. und das erste der 9. Klasse auch. Schulabschluss hat sie keinen. Wenn sie sich für Lehrstellen bewirbt, heisst es: Ihre Schulnoten reichten nicht aus. Einmal auch: Man habe Angst, sie könnte stehlen. Am liebsten würde sie eine Ausbildung in der Pflege machen. Sie hat Bewerbung um Bewerbung verschickt, irgendwann auch für ein KV, als Coiffeuse, für den Detailhandel, die Logistik, Informatik oder für die Betreuung. Sie hat bisher aber nur Absagen bekommen. «Wenn ich keine Lehre

Am liebsten würde Naomi eine Ausbildung in der Pflege machen. Sie hat Bewerbung um Bewerbung verschickt, bisher aber nur Absagen bekommen.

abschliessen kann, wird es schwer. ‹Nimm die Schule ernst›, würde ich der elfjährigen Naomi heute sagen.»

Ende 2018 darf Naomi, jetzt 14, wieder zu ihrer Mutter nach Luzern. Mit ihren Freund*innen verbringt sie Abende und Nächte bei der Ufschötti. Sie kommt, wie sie sagt, in die Drogenszene, probiert Koks aus. Ohne Joint kann Naomi nicht aufstehen, bis zum Abend werden es fünfzehn Stück.

Nach einem Monat geht ihre Mutter mit dem Messer auf sie los. Naomi hat Angst, bleibt eine Woche weg. Die Freundin, mit der sie an der Chilbi Churros ass, schickt ihr per Whatsapp eine Vermisstenmeldung der Polizei.

Ein paar Tage später geht Naomi zurück, niemand ist zuhause. Am frühen Morgen kommt ihre Mutter, schleift sie aus dem Bett, schlägt mit den Fäusten auf sie ein, Naomi blutet im Gesicht. «Ich wollte meine Mutter nicht schlagen, aber irgendwann musste ich mich wehren.» Die Mutter ruft die Polizei – sie sei von ihrer Tochter geschlagen worden. «Nach allem, was sie mir angetan hat, komme ich doch immer zurück – und dann macht sie das.» Naomi beleidigt sie als «psychisch krank», als «Schlampe». In Hand- und Fussschellen kommt sie auf die Polizeistation.

Immer wieder wird sie angezeigt. Zwei Mal wegen Drohung, einige Male wegen Körperverletzung, Beamtenbeleidigung, Besitz und Konsum von Betäubungsmitteln.

Sie muss zurück in die geschlossene Abteilung nach Basel. Nach einem Monat heisst es: Eine offene Wohngruppe in einer Institution nahe Bern ist das Beste für dich, Naomi.

Chance und Endstation

Die Institution, spezialisiert auf Massnahmenvollzug im Jugendbereich, ist Chance und Endstation zugleich, die nächste Institution wäre das Jugendgefängnis. Es gibt viele Regeln, und alle sind streng. Naomi sagt: «Hier haben mir die Erwachsenen endlich zugehört und mich ernst genommen.» In diesen zwei Jahren hier hat Naomi Wutausbrüche, demoliert ihr Zimmer, haut

«Ich wollte meine Mutter nicht schlagen, aber irgendwann musste ich mich wehren.»

NAOMI

oft ab und muss von der offenen Wohngruppe auf die geschlossene Abteilung wechseln. Einer Psychologin sagt sie beim Mittagessen, sie sei eine «schwanzgesteuerte Hure». Sie muss für mehrere Tage in den strengen Einschluss: ein Zimmer mit Bett und Tisch, WC und Dusche. Die Türe wird nur für den Hofgang geöffnet und eine Stunde später wieder geschlossen.

Einmal am Tag rastet sie aus, sagt Naomi. «Irgendwann gehen dir deine Gedanken auf die Nerven.» Sie nimmt das Bett auseinander, schlägt mit der Faust ein Loch in die Türe zum Badezimmer. «Meine Mutter warf mir alles, was ihr in die Hände kam, nach. Ich mache alles, was mir in die Hände kommt, kaputt.» Manchmal fragt sie sich, wieso gerade sie das durchmachen muss, sagt Naomi.

Drei Mal greift sie Sozialarbeiter*innen an. Einem schlägt sie die Nase blutig, als sie festgehalten wird und mit den Armen um sich schlägt. Eine fällt zu Boden, nachdem Naomi sie geschubst hat. Einer anderen wirft sie einen Stuhl entgegen.

Im Winter 2021 meint Naomi, inzwischen 17 Jahre alt, dass sie nach drei Monaten nach Hause dürfe. Nein, heisst es, es gebe noch keine Entscheidung der Kesb, sie müsse erst zurück in die offene Abteilung. Immer wieder, erzählt Naomi, habe sie gesagt, dass sie gerne in ein betreutes Wohnen wechseln würde. Sie sei zu jung, hiess es. Hier verarschen mich alle, denkt Naomi, und nach dem freien Wochenende im Januar kommt sie nicht mehr zurück.

Mit einer Freundin, die sie von der Institution in Bern kennt, fährt sie zu einer anderen Freundin ins Berner Oberland. Dann zurück nach Luzern, sie ist mal in Bern, mal in Basel, St. Gallen, Aarau, Frankfurt. Als sie merkt, dass die Polizei ihr Telefon ortet, lässt sie das Telefon in Luzern und fährt nach Genf. Sie kifft viel und isst wenig. Wenn sie, die sehr gerne Sushi isst, doch Hunger hat, lässt sie im Supermarkt etwas mitgehen oder bestellt bei einem Take-away einen Döner und rennt, bevor sie zahlen muss, davon.

Im Gebüsch oder im Solarium

Sie schläft oft bei Freund*innen. Manchmal hat aber niemand Zeit – viele machen eine Lehre, Naomi fühlt sich abgehängt. Sie macht dann die Nacht durch oder schläft auf der Strasse, oft im Gebüsch bei der Ufschötti. Sie zieht sich eine Kappe an, zwei Pullover, Leggins, darüber Jeans und fünf Paar Socken. «Am nächsten Tag», sagt Naomi, «fühlst du dich dreckig.» Manchmal wecken Junkies sie auf. Warum gehst du nicht nach Hause, fragen sie. Wenn es sehr kalt ist, geht Naomi in ein Solarium, das rund um die Uhr geöffnet ist, und schläft in der Jacke am Boden.

Einmal fragt sie auf Snapchat und Instagram nach einem Schlafplatz. Ein Mann, den sie nicht kennt, schreibt ihr. Als sie vor seiner Türe steht, sagt er, du weisst, wenn du hier schläfst, musst du mit mir ficken. Dann schlafe ich lieber auf der Strasse, sagt Naomi und geht wieder.

Susanne Meier, Rechtsanwältin und Kindsvertreterin in Bern, versucht im Austausch mit Beiständ*innen und der Kesb herauszufinden, was das Beste für die Jugendlichen ist, die oft wegen einer Vernachlässigung der Eltern oder wegen ihrer psychischen Gesundheit in einer Institution sind. Jugendliche, die abhauen, fühlten

sich zu fest eingeschränkt, das erzählen sie Meier oft. «Ein enger Rahmen mit klaren Regeln», sagt sie, «ist nicht für alle Jugendlichen falsch. Wenn sich aber jemand über Wochen nicht auf darauf einlassen kann, müssen wir uns fragen: Ist das wirklich der richtige Rahmen?» Gerade in dieser Situation findet Meier eine Notschlafstelle, wo junge Menschen unterkommen können, wertvoll.

Anfang 2021, als Naomi «auf der Kurve» ist, gibt es in der Schweiz eine einzige Notschlafstelle für Minderjährige: Nemo in Zürich. Ende Mai hat in Bern mit Pluto nun eine zweite eröffnet (siehe Seite 13). Naomi kannte Nemo nicht. Wenn sie sich das aber jetzt überlegt, wäre sie in Nächten, in denen sie keinen Schlafplatz hatte, zu Nemo oder Pluto gegangen. «Wahrscheinlich hätte ich aber Angst gehabt, verpfiffen zu werden.» Von so vielen wurde sie verpfiffen, sagt sie.

Einmal erzählte sie ihrem Bruder, dass sie abgehauen ist. Kurz darauf war die Polizei bei ihr. «Er habe es nur gut gemeint, sagte er. Es sei das Beste für mich – diesen Satz kann ich nicht mehr hören», sagt Naomi. Kaum jemand, sagt sie, höre wirklich zu, kaum jemand sehe, dass sie versuche, ihr Bestes zu geben. Was sie nicht gut mache, sehe man viel schneller.

Es wird Februar, dann März. Sie ist bei einer Freundin zuhause, da kommt die Polizei. «Sind Sie Naomi?» Sie schüttelt den Kopf und fragt die Freundin, ob sie sie verpfiffen habe. «Haben Sie einen Identitätsnachweis?» Naomi werden Handschellen umgelegt, sie muss in den Kastenwagen steigen. Sie ist wütend, sie weint. Sie will nicht zurück ins Heim.

Oktober 2022. An diesem Nachmittag wird Naomi eine Wohnung besichtigen, eineinhalb Zimmer in Emmen. Wenn alles klappt, lebt sie bald in ihrer ersten eigenen Wohnung – die Miete würde das Sozialamt zahlen. Und wenn sie 18 ist, bekommt sie bei der Handyreparaturwerkstatt eine Festanstellung. «Es könnte mir besser gehen», sagt Naomi, «aber ich bin stabil. Und ich kann duschen, habe Geld, Essen und Kleider.»