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Integration «Ich lernte, demütig zu sein» Murat Yakın über Armut, Rassismus und die Freude am Spiel Seite 8 Strassenmagazin Nr. 535 7. bis 20. Oktober 2022 Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass davon gehen CHF 3.–an die Verkäufer*innenCHF 6.–Fortsetzung Serie: Die Unsichtbaren

Entlastung Sozialwerke

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

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Kultur

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STRASSENCHOR

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CAFÉ SURPRISE

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Lebensfreude Zugehörigkeitsgefühl

Lebensfreude Zugehörigkeitsgefühl

EntwicklungsmöglichkeitenUnterstützung

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ExpertenrolleJob

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STRASSENMAGAZIN

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Information

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SURPRISE WIRKT

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Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen

der

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

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STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

STRASSENFUSSBALL

Surprise unterstützt

1998 sozial benachteiligte

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Perspektivenwechsel

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Druck im Sport und auf der Arbeit

Murat Yakın, einst erfolgreicher Fussballer, heute Trainer der Schweizer Nationalmann ist ein gefragter Mann in diesen Wochen vor der WM in Qatar. Wir haben ihn zum Gespräch getroffen, ab Seite 8. Doch nicht Mannschaftsaufstellungen oder Transfers waren das Thema, sondern seine Kindheit in Armut, Rassismuserfahrungen, der Druck im Sport und ob der Fuss ball für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen kann. Dabei sagt Yakın viel Nachdenkens wertes und verpackt es in so schöne Sätze wie: «Ich bin in zwei Kulturen aufgewach sen, durch den Sport durfte ich weitere

Mit diesem Heft führen wir unsere Serie «Die Unsichtbaren» fort; darin geht es um Arbeiten, die unsere Gesellschaft immer mehr auslagert und die oftmals von Men schen verrichtet werden, welche ohnehin schon prekär leben. Dazu gehört die soge nannte Gig Economy, das sind Minijobs wie Lieferdienste, die von anonymen Plattformen vermittelt werden, kaum soziale Sicherheit bieten und die Arbeitenden oft in Abhängigkeiten zwingen, ab Seite 12

Das Interview mit Yakın hat Andres Eberhard geführt – es ist zugleich sein letztes Surprise in seiner Funktion als Reporter. Andres hat mit seinen fundierten politischen Themen unser Heft nicht bloss bereichert, sondern massgeblich mitgestaltet. Dafür danken wir ihm sehr und wünschen ihm das Beste auf seinem weiteren Weg.

Ob 1 Bild mehr aussagt als 1000 Worte, ist bekanntlich umstritten. Mit dem Format «Fotoessay» jedenfalls möchten wir neu in unregelmässigen Abständen Fotograf*in nen die Gelegenheit geben, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Den Auftakt macht der Basler Fotograf Roland Schmid mit Bildern über die Folgen des Vietnamkrieges, ab Seite 18.

Ein bemerkenswerter

Verkäufer*innenkolumne Schwierige Ausbildung

Serie: Die Unsichtbaren Minijobs – Zukunft der Arbeit?

Fotoessay Folgen des Vietnamkrieges

Theater

im Kreuzverhör

Ausstellung

der Erinnerung

Veranstaltungen

Tour de Suisse Pörtner in Bern Schönburg

SurPlus Positive Firmen

Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

30 Internationales

Verkäufer*innen-Porträt «Ich will für meine Gesundheit kämpfen»

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16 Flexible Arbeit als Versprechen 18
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SVP
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Alben
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Editorial
TITELBILD: DÉSIRÉE GOOD

Auf g elesen News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Strassenzeitungen als soziale Bewegung

Mitte September war die Welt der Strassenzei tungen und -magazine zu Gast in Mailand bei unseren Gastgeber*innen von Scarp de’ tenis. Es war der erste internationale Kongress seit der Coronapandemie. So verschieden die Magazine und Organisationen sind, so viel haben sie auch gemeinsam: Vor rund 30 Jahren trat die Bewe gung an, um die Obdachlosigkeit zu bekämpfen. Heute bearbeiten wir und unsere Kolleg*innen aus 35 Ländern darüber hinaus zahlreiche weitere Anliegen rund um die Lebensrealität von Armuts betroffenen. Diese sind so unterschiedlich wie die regionalen Kontexte, in denen die über 90 Pub likationen erscheinen. Das kann der fehlende Zugang zu staatlicher Unterstützung für EU-Mig rant*innen sein oder die überproportionale Betroffenheit von Indigenen durch Klimakata strophen, aber auch der Umgang mit psychischen Erkrankungen oder steigende Altersarmut.

Wir wollen die Lage derer verbessern, die unsere Gesellschaften am Rand verorten: Sei es durch die Möglichkeit, sich ein Einkommen zu erwirt schaften, durch Empowerment und Angebote zur sozialen Teilhabe, durch Beratung und soziale Arbeit, und nicht zuletzt durch anwaltschaftlichen Journalismus und Lobbyarbeit.

Am Kongress ging es unter anderem um die Frage, welche Art von Journalismus wir machen wollen und wie wir kleineren Projekten unter die Arme greifen können, wie wir den Sprung ins digitale Zeit alter schaffen oder uns selbstkritisch mit Fragen rund um Diversität auseinandersetzen.

Auch der massive Effekt von Migration auf unsere Organisationen sowie neue innovative Projekte aus unserer Mitte standen auf dem Pro gramm. Spürbar war eine grosse Bereitschaft, einander zuzuhören und zu lernen. All das wurde organisiert und möglich gemacht durch unseren Dachverband INSP mit Sitz in Glasgow. Wer neugierig ist, wo es überall Strassenzeitungen gibt, möge hier nachschauen: insp.ngo. WIN

«Wie geht ihr denn damit um?»: Die über 100 Delegierten auf der Suche nach Inspiration und übertragbaren Lösungsstrategien bei den Kolleg*innen.

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Fokus Surp rise

Ein bemerkenswerter Sommer

Nun ist er da, der Herbst. Und noch selten habe ich ihn mir so herbeigesehnt. Hohe Temperaturen, lange Hitzeperioden, viel Sonne und wenig Regen. Der Sommer 2022 schlug in meteorologischer Hinsicht einige Rekorde und wird uns noch lange in Erin nerung bleiben. Gelitten hat nicht nur die Natur, auch für unsere Strassenverkäu fer*innen war die Hitze ein Stresstest. Dazu kam die Ohnmacht angesichts des Angriffs kriegs in der Ukraine, der Europa seit Februar erschüttert. Ich habe mich mit drei Surprise Verkäufer*innen unterhalten und sie gefragt: Wie war dein Sommer?

«Superschön», sagte mir Aschi Aeber sold, Verkäufer in Burgdorf. Klar, er habe viel geschwitzt an der prallen Sonne und sei halt auch nicht mehr der Jüngste. Doch schöne Rückmeldungen seiner Stamm kundschaft hätten ihn die Hitze vergessen lassen. Sein Sommer Highlight: endlich wieder einmal Ferien in Italien. Nur beim Stichwort Ukraine verdüsterte sich sein Blick: «Dieser Krieg ist richtig schlimm!» Und ja, er habe Angst vor einem strengen Winter und den steigenden Preisen.

«Ja, dieser Krieg ist sehr traurig», sagte mir auch Seynab Ali Isse, Verkäuferin in Winterthur. «Aber in Somalia herrscht seit 33 Jahren Krieg und niemanden küm mert’s.» Als Somalierin – sie ist seit Mona ten erfolglos auf der Suche nach einer günstigeren Wohnung für sich und ihre vier Kinder – könne sie nicht auf ein derart grosses Entgegenkommen von Behörden und Bevölkerung zählen. Der Krieg in der Ukraine habe Auswirkungen auf ihren Ver dienst. So berichteten ihr viele Stamm kund*innen, dass sie ihr das Heft nicht mehr regelmässig abkaufen könnten, da sie nun für die Ukraine spendeten oder selbst sparen müssten.

Im Gegensatz zu Seynab meinte ihre Landsfrau Habiba Osman, Verkäuferin in Dornach, dass der Heftverkauf diesen Sommer besser lief als letztes Jahr: «Die Menschen haben den Corona Abstand wieder etwas verringert und lassen sich wieder mehr auf Gespräche ein.»

Positiv, und das sagten mir alle Verkäu fer*innen, kamen auch die Surprise An lässe an. Besonders gefiel Habiba unsere Veranstaltung «Frauenräume – Zeit für dich» mit den diversen Workshops und

Aktivitäten, welche auf die Bedürfnisse der Frauen bei Surprise zugeschnitten waren. Aber auch das Basler Verkäufer*innenfest sei, trotz Platzregen, ein Höhepunkt des Jahres gewesen. Besonders gefreut habe sie, dass die Kinder immer miteingeladen waren. «Wenn meine Kinder glücklich sind, bin ich ebenfalls glücklich», sagte sie mir lachend.

Ein Surprise Höhepunkt für mich per sönlich war das Verkäufer*innenfest in Bern. Dort durfte ich rund ein Dutzend Verkäufer*innen zum 10 Jahre Jubiläum bei Surprise beglückwünschen; einem Ver käufer gratulierte ich gar zum 15 Jahre Ju biläum. Er brachte seine 14 jährige Tochter mit. So lernte ich wohl eines der ältesten «Surprise Babys» unserer grossen Surpri se Familie kennen.

Ich wünsche Ihnen allen einen ent spannten Herbst.

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FOTO: RUBEN HOLLINGER Immer im Austausch mit den Surprise-Ver käufer*innen: Jannice Vierkötter.
Ihre JANNICE VIERKÖTTER, Co-Geschäftsleiterin

Schwierige Ausbildung

Meine Tochter hat die Sek A besucht, danach wollte sie eine Lehre als Fachfrau Gesundheit beginnen. Sie fand keine Lehr stelle, bekam aber das Angebot, ein Jahr lang ein Praktikum in einem Privatspital zu machen, um danach mit der Lehre zu beginnen. Während dieses Jahres hat der Leiter der Klinik gewechselt und der neue Leiter hat meiner Tochter gesagt, sie könne die Lehre nicht antreten, weil sie ein Kopftuch trägt.

Also musste sie von Neuem anfangen, eine Lehre zu suchen, und fand schliesslich eine Lehrstelle als Kleinkinderbetreuerin in einer Kinderkrippe. Dort hatte sie eine gute Chefin, die aber in den Schwangerschaftsurlaub ging und von diesem nicht zur Arbeit zurückkehrte. Die neue Chefin, eine Deutsche, fragte meine Tochter am ersten Tag, ob sie Deutsch spreche. Sie hat ihre gesamte Schulzeit hier absolviert und spricht auch Dia lekt. Eine Praktikantin, die nur Englisch sprach, bekam keine Probleme. Später hat die Chefin die Kleidung meiner Tochter beanstandet, die eher traditionell und weit geschnitten ist. Mein Sohn hat die Chefin angerufen und darauf hingewiesen, dass es keine Kleidervorschriften gibt im Lehrvertrag, zu mindest keine, die diese Art von Kleidung verbieten.

Meine Tochter besucht die Berufsmittelschule, sie macht gleich zeitig die Berufsmatur und hat gute Noten. Die ständige Kritik am Arbeitsplatz, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun hatte,

setzte ihr zu. Sie wollte zuhause nichts sagen, um mich nicht mit ihren Problemen zu belasten. Ich habe gemerkt, dass es ihr nicht gut ging und gefragt, was los ist. Sie wollte nicht mehr an diesem Ort arbeiten, aber die Lehre nicht abbrechen, weil sie sonst noch ein Jahr verloren hätte. Sie hat dann selber einen anderen Betrieb gefunden und konnte schliesslich wechseln, die Lehrzeit wurde ihr angerechnet.

Diesen August konnte sie ihr zweites Lehrjahr beginnen, die neue Stelle gefällt ihr sehr gut, die letzten vier Monate am alten Ort waren schlimm. Sie ist zuversichtlich, die Lehre am dritten Ort abschliessen und die Matur machen zu können.

Wenn ich sehe, wie meine Tochter behandelt wird, weil sie eine andere Hautfarbe und eine andere Religion hat, mache ich mir Sorgen, was aus meiner anderen Tochter werden soll, die behindert ist.

Wie wird man sie behandeln, wird sie dieselben Chancen haben wie andere Kinder? Ich fürchte, eher nicht.

SEYNAB ALI ISSE, 51, verkauft Surprise am Bahnhof Winterthur. An dieser Stelle macht sich die ausgebildete Journalistin aus Somalia Sorgen über die Auswirkungen von Rassismus und Ableismus auf ihre Kinder.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

6 Surprise 535/22 ILLUSTRATION:
Verkäufer*innenkolumne

… und der Schuh

A. weiss von einem Schuhladen, der gerade heute einen besonders schönen, neuen Nikeschuh herausgebracht hat, eine Special Edition, sie wird schnell ver griffen sein, was für ein Glück, dass wir gerade in den USA sind. Vielleicht ist es an der Zeit, mein Nike-Embargo auf zuheben? J. will auch mit, aus Interesse. A. ist sich nicht sicher, ob er uns beide mitnehmen kann – er habe einen Termin buchen müssen, um den Laden zu be treten. Als wir ankommen, klopfen wir an der Ladentür, eine Verkäuferin öffnet und streckt klandestin ihren Kopf heraus. Unsere Vorgänger*innen seien gerade mitten in ihrer Shoppingexperience und wir müssten erstmal warten. Wir fühlen uns wie die Besucher*innen einer Kunst performance.

Ich hatte bis dato ein seit sieben Jahren anhaltendes persönliches Embargo gegen die Marke Nike. Kompliziert daran

ist, dass ich bis heute nicht so genau weiss, was es bringt – noch dazu habe ich ständig einen pessimistisch-marxisti schen Freund im Ohr, der mich mal laut auslachte: Individueller Boykott sei lä cherlich, nur eine Veränderung der Pro duktionsverhältnisse bringe etwas, und bis dahin könnten wir wie Schafe eben kaufen, was der Markt uns anbietet, weil die Alternativen keine Wirkung hätten. Oder so.

2015, im Jahr «nach Ferguson», den an haltenden Protesten gegen rassistische Polizeigewalt in den USA, schenkte Nike im Rahmen eines «Law Enforcement Appreciation Day» allen Polizist*innen einen Rabatt von 30 Prozent, um «Unter stützung und Anerkennung zu zeigen». Das fand ich damals, in Anbetracht von Nikes breiter Schwarzer Kundschaft und der Werbestrategie, die auf «the Black cool» basiert, so daneben, dass ich

mich daran erinnerte, dass Nikes Her stellungsverhältnisse in den asiatischen Fabriken ohnehin ziemlich schlecht sind und ich das eigentlich nicht reprä sentieren möchte.

Als wir endlich den Laden betreten dürfen, empfängt uns ein Verkäufer mit Desinfektionsmittel und erklärt uns, dass wir die Schuhe nicht anprobieren dürfen, da sie sonst an Wert verlieren. Ich bin skeptisch, aber er erzählt mir, dass er seit 15 Jahren im «Game» sei und sich sowohl mit Schuhen als auch mit Füssen auskenne, ich solle ihm vertrauen. Ich finde einen Schuh, der mir gefällt, und entdecke, dass er schlecht verklebt ist. Vielleicht ist es nicht der richtige. Dann finde ich einen anderen, jedoch scheint die Farbe schlampig aufgetragen. Es gibt wohl keinen perfekten Versöhnungs schuh für mich. Ich frage den Verkäufer, wie es kommt, dass fehlerhafte Plastik schuhe als Luxusprodukte verkauft wer den. Er antwortet, heutzutage sei die Nachfrage so gross, dass Nike Massen produktion herstelle. Er sagt das, als sei es ein gutes Kaufargument.

J. überzeugt den Verkäufer irgendwie, dass ich die beiden Paar Schuhe trotzdem anprobieren darf: Heimlich, hinter einem Regal, schlüpfe ich in einen Schuh, der Verkäufer ganz zittrig. Nach wenigen Sekunden hält er es nicht mehr aus und schubst mich fast aus dem Sneaker, der mir trotz seiner Schuhund Fusskenntnis um einiges zu gross ist. «Astaghfirullah», raune ich J. zu, «möge Allah uns vergeben», denn plötz lich habe ich ein schlechtes Gewissen wegen unserer Dekadenz. Der Sneaker hätte über 200 Dollar gekostet. J. ist Vater von vier Kindern und schüttelt den Kopf. Er habe andere Probleme, aber sie sei trotzdem sehr interessant, diese Welt, in der Schuhe irgendwie etwas anderes als Schuhe sind. Er bedankt sich beim Verkäufer für die «Erfahrung» und wir gehen aus dem Laden.

FATIMA MOUMOUNI kauft einfach weiter keine Hochpreissneaker. Wer hilft die Produktionsverhält nisse zu ändern?

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ILLUSTRATION: CHRISTINA BAERISWYL

Klein? Gross? Und wo ist bloss der Zucker? Es ist ein ungewöhnliches Bild: Fuss ball-Nationalcoach Murat Yakın steht hin ter der Bar und offeriert seinen Gästen Kaf fee. Er empfängt in der Yakın-Arena an seinem Wohnort Oberengstringen an der Stadtgrenze von Zürich. Die Fussballhalle mit drei kleinen Kunstrasenplätzen zum Mieten gehört ihm und seinem Bruder Ha kan Yakın, der ebenfalls um die Ecke wohnt.

An diesem sonnigen Sommervormittag im Juli fährt Yakın mit seinem Wagen vor, schliesst die Halle auf, fürs Foto betätigt er den Lichtknopf in der Arena, fürs Interview hebt er ein paar Stühle von den Tischen. Es ist ein ganz und gar unkomplizierter Empfang, ohne Kommunikationsbera ter*innen oder weitere Medien. Im Dezem ber findet die Fussball-Weltmeisterschaft in Qatar statt, bald startet die Vorbereitung, in der Yakın und sein Team unter steter öffentlicher Beobachtung sein werden.

Zum Zeitpunkt des Gesprächs sind die Scheinwerfer noch aus, es ist Saisonpause. Zeit, um über einige Dinge abseits des Sports zu sprechen.

Murat Yakın, Sie wuchsen in ärmlichen Verhältnissen auf – zeitweise lebten Sie zu zehnt in einer Dreieinhalbzimmerwoh nung in Münchenstein, die Familie bezog Sozialhilfe. Wie hat Sie das geprägt?

Murat Yakın: Es ist von Vorteil, wenn du weisst, wie das Gras wächst. Wir wuchsen bescheiden auf, hatten nicht viel Geld. Aber wir waren eine grosse, starke Familie.

Meine Mutter und meine Geschwister be hüteten und beschützten mich, das gab mir enorm viel Kraft, sodass ich einfach nur Freude am Fussballspielen haben konnte.

War es also der Zusammenhalt, der den sozialen Aufstieg der Yakıns ermöglichte?

Ja, es braucht ein Fundament, um dran zu bleiben, nicht vom Weg abzukommen, das

Ziel vor Augen zu haben. Ansonsten wäre der Fussballclub vielleicht eine einmalige Aktion geblieben. Aber als Junge wusste ich das natürlich nicht. Ich ging einfach immer nur gern tschutten. Es fing damit an, dass wir mit einem Ball unterm Arm in die Schule gingen, im Pausenhof kickten, die Linien zeichneten wir mit Kreide, unsere Rucksäcke legten wir an den Boden, die markierten das Goal. Später war der Wo chenplan durch drei Trainings pro Woche sowie Spiele am Wochenende stets vorge geben. Samstags kamen wir von der Schule nach Hause, wir packten unser Zeugs und fuhren direkt zum Joggeli. Wir chillten nie irgendwo auf einer Matte, so etwas kannte ich nicht. Über den Fussball hat dann auch die Integration stattgefunden.

Als Sie mit 17 Jahren Ihren ersten Profivertrag unterschrieben, verdienten Sie rund 3000 Franken pro Monat. Davon mussten Sie erst einmal Ihre Familie

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unterstützen sowie Sozialhilfe zurück zahlen. Sie übernahmen schon sehr früh viel Verantwortung. Wie gingen Sie mit diesem Druck um?

Ich hatte keine Wahl. Ich musste damit zu rechtkommen. Wir als Familie mussten einfach funktionieren. Ich habe damals aber gar nicht alles verstanden. Im Sport solltest du mit Freude dabei sein, nicht mit Druck. Das Ergebnis kommt dann von al leine. Die Situation damals hat mir aber sicher bis heute viel gebracht. Zum Beispiel lernte ich, demütig zu sein.

Hatten Sie einen Plan B?

Im Sport musst du immer mehrere Optio nen haben. Ohne Plan B und C bist du ver loren. So wie in einem Schachspiel. Du weisst nie, welchen Zug dein Gegner als nächsten macht, musst mit allem rechnen. Aber im Leben? Was hätte ich gemacht, wenn es mit dem Fussball nicht geklappt hätte? Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung.

«Es gibt immer Leute, die gegen dich sind»

Inte gration Der Schweizer Fussballnationaltrainer Murat Yakın über seine Kindheit in Armut, den Umgang mit Rassismus und warum Leistung auch eine Chance sein kann.

Ich hatte eine Lehre als Metallbauzeichner angefangen, aber nicht abgeschlossen.

Nun sind Sie Trainer. Bald ist WM, der öffentliche Druck wird wieder enorm sein. Wie sollen jüngere Spieler damit umgehen?

Am Schluss muss jeder für sich diese Er fahrungen machen und damit zurecht kommen. So etwas lässt sich nicht steuern. Da muss ich mich als Trainer zurückneh men. Natürlich kann ich unterstützend wirken, Tipps geben, aber letztlich steht jeder selber auf dem Platz und trifft seine Entscheidungen. Da hilft kein Mentalcoach und auch kein mütterlicher oder väterli cher Rat.

Das ist die harte Realität eines Fussbal lers: Nur die Leistung zählt. Genau. Das ist aber auch das Gerechte da ran. In der Nationalmannschaft haben wir in den letzten acht Monaten gute junge,

talentierte Spieler integriert, welche die Konkurrenz fördern. Und nur mit Konkur renz kannst du besser werden und grössere Erfolge anstreben.

Der Fussballer Per Mertesacker schrieb in seiner Biografie, er habe sich vor Spielen regelmässig übergeben müssen – so gross war der Druck, den er auf seinen Schul tern spürte. Er hat noch viel mehr geschrieben, nicht nur über seine eigenen Probleme. Wenn jemand den Fussball so schlecht macht, dann habe ich absolut kein Verständnis da für. Warum schreibt er all das erst nach seinem Rücktritt? Schliesslich hat er jah relang gut gelebt und viel Geld verdient. Darüber hat er sich auch nicht beklagt. Ich finde es unfair gegenüber all den Jungen, die nie eine Chance bekommen haben, wenn jemand den Fussball nur als Mittel sieht, um Geld zu verdienen – und ihn nicht aus Freude betreibt.

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Sie gelten als Paradebeispiel nicht nur für sozialen Aufstieg, sondern auch für gelungene Integration. Ehrt Sie das? Natürlich bin ich stolz und zufrieden, wie es verlaufen ist. Ich bin in zwei Kulturen aufgewachsen, durch den Sport durfte ich weitere kennenlernen. Ich bin ein glückli cher Mensch, dass ich das alles erleben durfte, ohne dass ich dafür Geld für Reisen oder Ausbildungen hätte ausgeben müs sen. Aber du kannst es dir nicht aussuchen. Am Ende ist es auch Glück, dass wir hier in der Schweiz aufwachsen durften. Unsere Mutter hat uns sehr liberal erzogen, hat uns nie in eine bestimmte Kultur gedrängt, zuhause sprachen wir Türkisch, die Inte gration erfolgte über den Fussball.

Als Sie 1994 eingebürgert werden sollten, formierte sich im Landrat von Baselland Widerstand. Können Sie sich noch erinnern?

Ja. Der Fussballverband hatte uns zwar un terstützt, der damalige Nationaltrainer Roy Hodgson schrieb einen Brief. Das Verfahren wurde damit aber nicht wirklich beschleu nigt. Wir warteten fast drei Jahre auf den

Pass. Ich sass dann bei der entscheidenden Versammlung auf der Tribüne. Als in einer ersten Runde gefragt wurde, wer dagegen war, gingen zwei, drei Hände nach oben. Die haben dann auch eine Rede gehalten.

Wortführer war Rudolf Keller, damals Nationalrat der ausländerfeindlichen Rechtsaussenpartei Schweizer Demokraten.

Wer das war, weiss ich nicht mehr. Politik interessierte mich nicht. Schon in der Pause der Verhandlung, als ich die Treppe runterkam, zwinkerten mir einige Politi ker*innen zu. Sie sagten, das komme schon gut. So war es dann auch.

Sie sind in der Schweiz geboren und aufgewachsen, wollten für die Schweizer Fussballnationalmannschaft spielen. Dann kommt einer und sagt, Sie gehören nicht zu uns. Das ist Rassismus.

Ich habe das damals gar nicht so empfun den. Wie willst du das als 17-Jähriger ver stehen, du spielst Fussball und am Ende entscheidet das Resultat, ob du gut oder schlecht warst. Es gibt immer Leute, die

gegen dich sind. Gegner kannst du nur be siegen, indem du besser bist.

Sie betrachten das Leben als Spiel?

Ja, das kann man so sagen. Ich blicke auch nicht oft zurück, denn das ist im Sport nicht nützlich. Man muss es nehmen, wie es kommt. Ich lebe nur in der Gegenwart.

Bei Ihrer Einbürgerung lautete das Resultat 60:6. Ein deutlicher Sieg.

So habe ich das noch gar nie betrachtet: Aber es stimmt, am Schluss hat die Gerech tigkeit gewonnen.

Erleben Sie auch heute noch Alltagsrassismus?

Klar. Das gehört zu unserem Leben als Se condos.

Wie äussert sich so etwas?

Da möchte ich nicht ins Detail gehen. Aber ich weiss, wie ich damit umgehen muss.

Als Ausländer, die hier aufgewachsen sind, sahen wir das als Chance. Vielleicht war es die einzige Chance, und möglicherweise haben wir es gerade deswegen an die Spitze geschafft.

Kürzlich sorgte ein rassistischer Kom mentar auf Blick Online für Schlagzeilen. Jemand beklagte sich, er könne sich nicht mehr mit der Nationalmannschaft «identifizieren», und zwar wegen der Namen der Spieler. Nationalmannschafts-Captain Granit Xhaka beschwerte sich öffentlich. Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?

Selbstverständlich. Granit Xhaka trifft so etwas sehr, das Thema lässt ihn nicht in Ruhe, das muss man respektieren. Ich weiss, wie das ist, wenn man wegen seiner familiären Herkunft beleidigt oder be schimpft wird. Das tut weh und ist nicht akzeptabel. Deshalb haben wir ihn auch unterstützt und uns als gesamter Verband gegen diesen Kommentar gewehrt. Als Trainer kann ich da nur unterstützend wir ken. Manche trifft’s persönlicher, andere gar nicht.

Sie haben eine eindrückliche Karriere hingelegt, erst als Spieler, jetzt als Trainer. Wie geht es Ihnen damit?

Ich bin happy, habe eine gesunde Familie. Das gibt mir Kraft und Gelassenheit. Was ich im Sport erreiche, ist Zugabe. Ich ge niesse diese Momente und weiss auch, dass es im Sport auch die andere Seite der Me

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UNSERE ZUKUNFT MIT AMEISE, SCHMETTERLING UND CO SONDERAUSSTELLUNG BIS 26. MÄRZ 2023 NATURAMA.CH/RESPEKT Naturama Aargau, Feerstrasse 17, 5000 Aarau, naturama.ch Inserat_Respekt_90x118mm_22.indd 1 16.03.2022 16:18:03 ANZEIGE

MURAT YAKIN, 48, wuchs in Münchenstein bei Basel mit seiner Mutter Emine, sechs älteren Halbgeschwistern sowie seinem jüngeren Bruder Hakan auf. Mit siebzehn Jahren unterschrieb er seinen ersten Profivertrag, später spielte er im Ausland und beim FC Basel. Seit 2021 trainiert er die Schweizer Nationalmannschaft.

daille gibt, wenn es gerade nicht läuft. Grundsätzlich bin ich ein positiver Mensch und sehe das Gute auf dem Weg.

Sind Sie reich?

Was heisst schon reich. Für mich heisst reich sein glücklich sein und nicht, was am Ende auf dem Bankkonto liegt. Solange ich mit einer Beschäftigung im Sport mein Geld verdienen kann, erfüllt mich das im Herzen.

Welche Ideale und Werte verbinden Sie mit Fussball?

Der Fussball gab mir viel fürs Leben. Du lernst diszipliniert zu sein, Erfolge und Misserfolge zu teilen, Kameradschaft, So lidarität, auch Respekt gegenüber dem Gegner. Auch Demut und Fleiss haben ih ren Stellenwert.

Kann man es mit Fleiss alleine schaffen?

Am Anfang hatte ich viel meinem Talent

zu verdanken, habe vieles auf dem Platz spielerisch und mit Kreativität gelöst. Dis ziplin gehörte auch dazu, ich verpasste kaum ein Training. Der Fleiss wurde dann später wichtiger.

Sie haben zwei Töchter, neun und sieben Jahre alt. Werden sie es leichter haben als Sie?

Bei uns spielte sich die ganze Karriere in unglaublicher Geschwindigkeit ab. Im Sport gibt es eine sehr schnelle Durchlauf zeit. Die Karriere von Sportler*innen ist auf vielleicht fünfzehn Jahre begrenzt.

Also ist das schon einmal etwas ganz an deres als normale Arbeit. Aber auch wir schauten am Wochenende einmal eine Stunde lang einen Film, das war’s dann aber auch. Heute ist das Tempo und auch der Druck zu reagieren viel höher, mit Smartphone, Tiktok, Videoclips, das ist der Wahnsinn. Was da alles reinkommt, das musst du erst einmal verarbeiten. Der In

formationsfluss ist heute viel schneller, die Jugend ist diesem ausgesetzt, ich finde das verrückt.

Sie stammen aus einfachen Verhältnissen, erwähnten die Wichtigkeit von Demut.

Wie geben Sie diese Ihren Kindern weiter? Bescheidenheit kannst du nicht lernen. Ich bin damit aufgewachsen. Geld wurde uns nicht in die Wiege gelegt, wir mussten uns das erarbeiten. Die Situation ist für meine Kinder natürlich eine andere, es geht uns finanziell gut und meine Töchter werden in der Schule auf ihren Vater angesprochen. Demut müssen wir fast künstlich erzeugen.

Wie tun Sie das?

Es ist schwierig. Ich versuche es vernünftig und so einfach wie möglich begreiflich zu machen. Aber es ist wohl die grösste Her ausforderung für meine Frau und mich. Doch wir leben in der Schweiz und sind nicht die Einzigen in dieser Situation.

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«Ich weiss, wie das ist, wenn man wegen seiner Herkunft beleidigt oder beschimpft wird. »

Serie: Die Unsichtbaren  Unsere Gesellschaft lagert immer mehr unangenehme Arbeiten aus. Die sie verrichten, bleiben oft unsichtbar. Eine Artikelreihe über neue Arbeitswelten und ihre Hintergründe.

Überall und nirgendwo

Der Gig-Worker Basil macht für digitale Vermittlungsplattformen

Temporäreinsätze – und weiss nicht recht, ob das eine gute Wahl ist oder ein Fehler.

Er baut Festzelte auf- und die Bühne von Elton John ab. Wäscht in der Gastroküche Backform um Backform ab. Fährt mit dem Gabelstapler Paletten voller Kartonkisten vom Zug in den Last wagen. Platziert im Grossmarkt Blumentöpfe um.

Das alles ist Basil*, der Gig-Worker.

Seit acht Jahren macht er mal mehr, mal weniger Temporä reinsätze für zwei digitale Vermittlungsplattformen. Es ist eine Arbeit, in denen manche die grosse Flexibilität und Freiheit für Arbeitnehmende sehen und andere ebenso grosse Abhängigkei ten und Unsicherheiten fürchten.

Für Basil, Anfang 30, ist es einfach ein easy Job. Einer, bei dem er selbst bestimmen kann, wie viel er arbeitet. «Ich bin nicht mein eigener Chef, die Betriebe sagen, was zu tun ist. Aber ich bin der Chef meines Einsatzplans.» Häufig arbeitet er an fünf Tagen in der Woche vier, fünf Stunden. Es bräuchte viel Organisation, um auf ein Vollzeitpensum zu kommen, sagt Basil. Das will er im Moment aber gar nicht. Es ist diese Freiheit, die er – ausgebildet in einer Branche, in der Teilzeitarbeit wenig verbreitet ist – sucht.

Basil hat eine Lehre zum Metallbauer gemacht, später eine zweite zum Automatikmonteur. Die Arbeit gefiel ihm nicht schlecht, der Job nach der Lehre sah vielversprechend aus. Doch dann verlor er, der schon immer seine Mühe hatte auf dem Ar beitsmarkt, die Stelle. Psychisch ging es ihm nicht gut, er machte eine Therapie. Er wollte wieder arbeiten, irgendwo, wo der Stress und die Anforderungen kleiner sind.

Heute ist die magentarote App mit dem weissen «C» sein Ar beitgeber: die Vermittlungsplattform Coople. Nicht die Betriebe, sondern Coople zahlt Basil seinen Lohn, inklusive Beiträge für AHV, Pensionskasse, Krankentaggeld- und Arbeitslosenversiche rung. «Steigern Sie Ihren Gewinn», umgarnt Coople die Unter nehmen auf der Webseite, «indem Sie die Grösse Ihres Teams schwankenden Nachfragekurven anpassen.»

Die Gig-Economy (gig: englisch für Auftritt) wirft neue arbeits rechtliche Fragen auf. Denn nicht alle digitalen Arbeitsvermitt lungsplattformen sind wie Coople Arbeitgeber der Gig-Worker und zahlen Sozialabgaben oder die Unfallversicherungsprämie. Manche vermitteln nur die Arbeit, die Arbeitnehmenden müssen sich den Bedingungen jedes Mal neu anpassen. Das Feld wandelt sich schnell, neue Plattformen kommen hinzu, andere wechseln ihre Namen oder fusionieren, wieder andere ändern ihre AGBs. Das sagt Marisol Keller, die Geografin forscht an der Uni Zürich zu Plattformarbeit. «Die Plattformen sind so angelegt, dass die Arbeitnehmenden nicht immer nachvollziehen können, was wa rum wie läuft.»

In zehn Minuten ein Job Wie verbreitet Plattformarbeit in der Schweiz ist, dazu gibt es wenig Zahlen. 2019 leisteten gemäss dem Bundesamt für Statis tik 0,4 Prozent der Bevölkerung internetbasierte Plattformarbeit, die meisten verdienten jährlich weniger als 1000 Franken. GigWork wird also häufig zusätzlich zu anderen Jobs ausgeübt.

Die App auf Basils Telefon macht ihn auf jede Neuigkeit auf merksam. Eine Meldung, wenn er angestellt wurde. Eine Erin nerung, wenn sein nächster Einsatz ansteht. Die Nachricht, wenn ein Betrieb ihn als «Favorit» markiert hat. Dann, sagt Basil, habe er den Job manchmal nach zehn Minuten. Er scrollt durch die abgeschlossenen Einsätze, kann nachlesen, wann er seit 2014 wo gearbeitet hat, für wie viele Stunden, wie viel er verdiente. «Da war es chillig», sagt er zu einem Einsatz, wo er Koffer und Ruck säcke aus einem Car laden musste. «Hier stressig», das Putzen einer Ferienwohnung, wo zwischen Abreise der einen Mieterin nen und Anreise der nächsten Mieter nur wenige Stunden lagen. «Hier anstrengend», das Stapeln von pflotschnassen Holzplatten, die mal das «Ice Magic» waren.

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Mit erst wenigen Bewertungen sei es am Anfang schwerer gewe sen, einen Job zu bekommen, sagt Basil. Warum er einen Job nicht bekommt, erfährt er nicht. Mit jeder Vier-Sterne-Bewertung aber sei es einfacher geworden. Er ist pünktlich und zuverlässig. Und er hat einen Schweizer Namen. Das helfe wohl, sagt Basil. «Wenn du einmal drin bist, hast du deine Betriebe und kommst schnell zu Einsätzen.»

Ganz am Anfang – «damals habe ich jeden Scheissjob ge macht» – fuhr Basil von Thun, wo er wohnt, für einen Einsatz von drei Stunden nach Bern. Die Chefs sagten: Sollten sie früher fertig werden, würden trotzdem die drei Stun den bezahlt. Nach zwei Stunden hatten Basil und die anderen die Bühne abgebaut. Er be kam nur zwei Sterne. Als er anrief und nach fragte, hiess es: Es sei nicht sehr motiviert ge arbeitet worden, alle hätten nur zwei Sterne erhalten. Eine andere Gig-Workerin, die ano nym bleiben will, sagt: «Wenn du für zwölf Stunden angestellt wirst und nach sechs nach Hause geschickt wirst, weil der Betrieb sich verschätzt hat, wehrst du dich nicht. Du bist am kürzeren Hebel, du willst eine gute Bewer tung bekommen.»

derjenigen, die ihr Haupteinkommen über die Plattformen ver dienen, war vorher arbeitslos. Eine mögliche Erklärung dafür sind die relativ tiefen Einstiegshürden.

Strikes als Strafe

Basil geht die offenen Einsätze in der App durch, ihm fällt ein Job in Ittigen, nahe Bern, auf. 3.45 Stunden, 25 Franken in der Stunde. «Das würde ich nur annehmen, wenn ich nichts anderes fände», sagt Basil. Zu wenige Stunden für zu viel unbe zahlten Weg. Ein Job auf dem Gurten, von 16.30 bis 2 Uhr nachts. So spät kommt er mit dem Zug nicht mehr von Bern nach Thun. Kommt also nicht infrage.

Heute macht er kaum mehr Einsätze für weniger als 24 Fran ken in der Stunde. Höchstens, wenn der Einsatz in Thun ist. Ba sil sucht in der Liste seiner Einsätze den letzten in der Stock horn-Arena, wo er an Spielen des FC Thun Bratwürste auf dem Grill dreht und Hotdogs verkauft: dreieinhalb Stunden à 23.36 Franken, minus 78 Rappen Essensspesen pro Stunde. Macht in der Stunde 22.58 Franken. «Und das Umziehen», sagt Basil, «ge hört nicht zur Arbeitszeit.» Damit er drei Monate lang Samstag für Samstag um 4.45 Uhr in Burgdorf mit dem Ausladen der Gü terzüge beginnen kann, nimmt er in Thun um 2.55 Uhr den Nacht bus, steigt 45 Minuten später in Bern um und fährt nochmals 30 Minuten. Warum tut er sich das an? Weil er, der im Militär in der Logistiktruppe war, sich für Logistik interessiert. Vielleicht auch darum: Dieser Einsatz ist verglichen mit dem stressigen Hot dog-Verkauf im Stadion oder dem körperlich anstrengenden Zeltaufbau weniger mühsam. Viele, die festangestellt sind, wür den ihr Leben der Arbeit unterordnen, findet Basil. Sie hätten ein Auto, um auf dem Arbeitsweg Zeit zu sparen. Sie rauchten, um Mikropausen zu haben. Abends ässen sie Brot und Käse, weil zum Kochen die Energie fehle.

«Mittlerweile», sagt Basil, «kann ich mit so vielen verschie denen Menschen arbeiten. Es gibt solche, die immer unmotiviert sind, andere, die alles besser wissen. Die, die in ihrem Job aufge hen, die, die über die anderen Mitarbeiter*innen jammern.» Viele, die temporär arbeiten, so sein Eindruck, seien im Arbeitsmarkt durchgefallen – wegen mangelnder Zuverlässigkeit, gesundheit lichen oder familiären Schwierigkeiten. Auch ein Bericht, der 2017 im Auftrag des Seco verfasst wurde, hält fest: Ein grosser Teil

Als Basil einen Einsatz einmal nicht machen kann, weil er krank ist, bekommt er als Verwarnung zwei Strikes. Nach drei Strikes wird das Profil gesperrt. Basil organisiert ein Arztzeugnis, die Strikes werden gelöscht. Sonst müsste er pro Strike acht Schich ten arbeiten, ohne zu spät zu kommen, bis der Strike entfernt wird. Und bei einem mehrtätigen Einsatz hatte er einmal «verdammt Schwein», sagt Basil. Beim ersten und zweiten Einsatz arbeitete er gut, alle waren zufrieden. Ein paar Tage später rief ihn die Chefin des Betriebs an. Warum er beim dritten und vierten Einsatz nicht aufge taucht sei? Die Schichten des Einsatzes waren auf drei Wochen verteilt, die App erinnerte ihn nicht an jede einzeln. Er entschuldigte sich, und dann nochmals. Und nochmals. «Das ist mir bis heute nicht recht.» Die Chefin hatte Ver ständnis, sie schrieb als Grund nicht rein, dass er nicht erschienen war, sondern «ein anderer Grund». Sonst hätte Basil drei Strikes bekom men und sein Profil wäre gesperrt worden. «Wenn du sagst, du arbeitest tageweise tem porär, klingst du nach Tagelöhner, nach unters ter Schicht», sagt Basil. Der Unterschied zwischen Gig-Workern und Tagelöhner*innen ist bestenfalls ein historischer: Im 18. und 19. Jahrhundert fanden sie in den Büros der spezialisierten Ar beitsagenturen Arbeit, heute tun sie das auf den Plattformen. Er werde oft gefragt, ob er nicht etwas Fixes machen wolle oder wie seine Altersvorsorge aussehe. «Hier drückt bei den Menschen der Bünzli durch», sagt Basil, der im Arbeitsmarkt schnell unter Druck steht und soziale Absicherung abtut als etwas für die Überorga nisierten und Überängstlichen.

Mit dem Velo fährt Basil nun durch Deutschland. Vielleicht will er danach mal wieder als Automatikmonteur oder Metall bauer arbeiten. Montag bis Freitag, 7 bis 17 Uhr, acht, neun Stun den konzentriertes Arbeiten und Mithalten mit den Kolleg*innen. Auch dafür gibt es Temporärbüros; da würde Basil in der Stunde 36 Franken verdienen.

* Name geändert

Die Unsichtbaren — eine Serie in mehreren Teilen

— Teil 1/Heft 522: Reinigungspersonal

— Teil 2/Heft 524: Care-Arbeiterinnen

— Teil 3/Heft 526: Klärwerkfachleute

— Teil 4/Heft 528: Nannys

— Teil 5/Heft 531: Lagerlogistiker*innen

— Teil 6/Heft 535: Gig-Worker

Wir lagern immer häufiger unliebsame oder wenig angesehene Arbeiten an andere aus: Putzen, Ernte, Care-Arbeit, Müllabfuhr. Wir möchten wissen, wer diese Arbeiten verrichtet und unter welchen Bedingungen. Und was dies für Folgen hat.

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«Wenn du sagst, du arbeitest nur tageweise, klingst du nach unterster Schicht.»

Schweizer Gig-Worker*innen fanden im Jahr 2019 auf Internet-Plattformen Arbeit. Sie erbrachten Dienstleistungen wie Reinigung, Programmierung, Lieferungen und vieles mehr.1

Auf dem

präsentiert sich

ist noch wenig verbreitet und birgt

Der Graubereich

Plattformen können von einem unklaren Status der Arbeitnehmenden profitieren. Ob angestellt oder selbständig gearbeitet wird, bleibt oftmals ungeklärt und hat wettbewerbsverzerrenden Einfluss. Lücken haft erfasst sind zudem Plattformen im Reinigungsoder Betreuungssektor, wo vermehrt Frauen arbeiten.

30–49-Jährige

sind als Plattform-Dienstleistende am häufigsten vertreten. Gefolgt von den 15–29-Jährigen. Doppelt so viele Männer wie Frauen sind als PlattformErwerbende bisher erfasst.

Mehr Männer

7 ,4 2 % S porad i sch e b i s geringfügigeEinsätze 2 ,58 % R e gel mässigb i s umfangreich2 U mf an g d er Täti gkeit , 2019 2Monatlichwiederkehrende Einsätze a b mind. e ine r Stu n d e
29 000
Sprung Von einem Gig zum nächsten Job: Die Vermittlung über Internet-Plattformen
gerne als Alternative zum klassischen Arbeitsalltag. Das Modell
Risiken. INFOGRAFIK MARINA BRÄM QUELLEN: BFS; UZH; NZZ; DIE VOLKSWIRTSCHAFT/OECD verdienten Schweizer Plattform-Erwerbende 2019 durchschnittlich brutto im Jahr. CHF 5849 2 3 4 8,7 % 51,2 3,4 7,7 10,3 aller Schweizer Erwerbstätigen arbeiteten 2019 für zwei oder mehr Arbeitgeber. Gründe für Plattformarbeit Angaben in Prozent, 2019 Zusätzliche Verdienstmöglichkeit Zeitliche Flexibilität Örtliche Flexibilität Vereinbarkeit mit Familie Wer verdient wieviel? Jährliches Bruttoerwerbseinkommen aus Internet-Plattformen, 2019 1 37,7 % bis zu CHF 1000 2 19 % zwischen 1001–3000 3 19 % zwischen 3001–12000 4 6 % über CHF 12 000 Restliche Prozent: weiss nicht / keine Anworten. Knapp zwei von fünf Plattform-Dienstleistenden in der Schweiz verdienen jährlich weniger als 1000 Franken. 1 1 Gig-Worker*innen können nur an dieser Stelle explizit ausgewiesen werden. Restl. Daten beziehen sich auf alle Plattform-Dienstleistenden (inkl. Unterkunftvermietung; Warenverkauf). Surprise 535/22 15

Schöne neue Freiheit

«Sind feste Arbeitszeiten nicht dein Fall?», fragt der Pseudo-Taxidienst Uber in locke rem Tonfall auf seiner Webseite. Wer die Frage bejaht, ist bei Uber goldrichtig: «Als selbstständiger Partner-Fahrer hast du die Freiheit und Flexibilität, deinen Tagesab lauf selbst zu bestimmen», verspricht das US-Unternehmen mit Sitz in San Fran cisco. «Sei dein eigener Chef», appelliert Uber weiter. Der eigene Chef sein, Freiheit und Flexibilität geniessen – wer da nicht zugreift, ist selber schuld.

Und wie ist er so, der Alltag als «selbst ständiger Partner-Fahrer» bei Uber? Alles andere als selbständig. Wie viel eine Fahrt kostet, bestimmt Uber, nicht die Lenker*in nen. Und Uber zahlt grundsätzlich keinerlei Sozialleistungen oder Versicherungen. Wer beim Fahren für Uber mit dem privaten Auto einen Unfall hat, muss sich selber zu rechtfinden. Und die Krönung dieser Nicht-Selbständigkeit: Fahrer*innen sind zwar eindeutig abhängig von Uber, aber es gibt keine Garantie, dass man auch nur ei nen einzigen Franken verdient. Das Ge schäftsmodell ist nämlich geradezu darauf ausgelegt, dass die Menschen am Steuer möglichst wenig verdienen. Je mehr Fah rer*innen, desto bequemer ist die Dienst leistung für Gäste und desto höher die Ein nahmen für Uber – aber pro Fahrer*in sinkt die Anzahl Fahrten und damit das Einkom men. In einer Untersuchung von 2018 wurde nachgewiesen, dass das monatliche Ein kommen von Uber-Fahrer*innen zwischen 2013 und 2018 um gut 50 Prozent eingebro chen ist. Das bedeutet: Auch wenn man Voll zeit für Uber fährt, kann man davon kaum leben. Die versprochene Freiheit und Flexi bilität offenbaren sich als leere Versprechen. Der Schritt in die vermeintliche Selbstän digkeit entpuppt sich als Schritt in das wirt schaftliche Prekariat.

Uber ist nur ein Beispiel für den Mega trend der «Flexibilisierung», der in west lichen Ländern seit der neoliberalen Re volution der 1980er-Jahre und der damit verbundenen Deregulierung Fuss gefasst hat. Immer mehr Unternehmen, von hip pen «Gig Economy»-Plattformen bis zu alteingesessenen Industriebetrieben, set

zen auf vermeintliche Flexibilität und Selbstbestimmung. Diese schönen neuen Freiheiten gibt es tatsächlich – aber sie sind von Vorteil für die Unternehmen, nicht für die Arbeiterschaft.

Flexibilisierung, aber für wen?

Die Ökonomin Heejung Chung bemerkt in ihrem Buch «The Flexibility Paradox», dass der Trend hin zu mehr «flexibler Arbeit» ein Widerspruch in sich ist. Flexible, örtlich und zeitlich frei gestaltbare Arbeit müsste auf den ersten Blick zu mehr Lebensqua

lität und frei gestaltbarer Lebenszeit füh ren. Doch faktisch passiert genau das Ge genteil: Mit flexibler Arbeit wird nicht weniger, sondern mehr gearbeitet, und die Grenze zwischen Arbeitszeit und freier Le benszeit verschwimmt. Es gibt keinen rich tigen Feierabend mehr, kein Ende der Ar beitszeit. Man ist immer erreichbar, steht immer für informellen Pikettdienst bereit.

Dieser Widerspruch betrifft einerseits verhältnismässig privilegierte Menschen, deren berufliche Situation beispielsweise das Arbeiten im Homeoffice, also von zu hause aus, erlaubt. Homeoffice hat aus Sicht der Arbeitenden Vorteile (z.B. fällt der Arbeitsweg weg), aber mit dem Arbei ten von zuhause aus werden die Kosten für die räumliche und technische Infrastruk tur den Angestellten aufgebürdet. Auch bedeutet Homeoffice, dass eine neue Ära der digitalen Überwachung Einzug hält. Das Management beobachtet die Men schen über digitale Aktivitäten, schlimms tenfalls direkt über Kameras auch dann, wenn man sich unbeobachtet fühlt. Und dies, während sich die Arbeiter*innen in den eigenen vier Wänden befinden. Die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben lösen sich auf, das Ökonomische koloni siert das Intime.

MARKO KOVI Ć , 36, aus Zürich ist Sozialwissenschaflter, Dozent und Autor.

Der Trend zur Flexibilisierung trifft an derseits aber jene Menschen am härtesten, die am wenigsten haben: Es gibt immer mehr prekäre Arbeit. Prekäre Arbeit ist Ar beit, die sich durch tiefe Löhne, unsichere Anstellungsverhältnisse und wenig Ein flussmöglichkeiten seitens der Beschäftig ten auszeichnet. Mit anderen Worten: Pre käre Arbeit ist Arbeit, die ein würdiges, lebenswertes Leben verunmöglicht. Arbei ten in der Gig Economy, also über On line-Vermittlung wie bei Uber oder bei Lie ferdiensten wie «Just Eat» (in Deutschland «Lieferando»), sind besonders stossende Beispiele für Prekarität, aber das Problem an sich ist viel älter.

Prekäre Arbeit ist seit rund vierzig Jah ren auf dem Vormarsch. In den 1980er-Jah ren begannen westliche Länder mit der Umsetzung neoliberaler Wirtschaftsrefor men, die eine Deregulierung zugunsten

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Flexibilität, Freiheit, Selbstbestimmung: Unternehmen versprechen Angestellten heute das Blaue vom Himmel. Was steckt dahinter?
TEXT MARKO KOVIĆ
BILD:
ZVG
«Phrasen wie ‹flexible› Arbeit mögen schön klingen, am Ende zählt aber noch etwas anderes: würdige Arbeit.»

von Grossunternehmen und zulasten von Arbeiter*innen zum Ziel haben. Jenseits der Gesetze haben sich aber auch unsere Vorstellungen von akzeptabler Arbeit ver ändert. Generationen von Menschen wuch sen und wachsen mit der Ideologie der Leistungsgesellschaft auf: Wir leben, so die Vorstellung, in einer Meritokratie, und jede und jeder kann es mit genügend Fleiss bis ganz nach oben schaffen. Wer in ausbeu terischen, prekären Jobs darbt, ist ganz ein fach selber schuld.

Im Zuge der neoliberalen Revolution nehmen prekäre Arbeitsformen wie Tem porärarbeit, befristete Arbeitsverträge, un gewollte Teilzeitarbeit oder auch «Zero Hour»-Verträge zu – Arbeit wie bei Uber, bei der überhaupt kein Einkommen garan tiert ist. Allen Formen prekärer Arbeit ist gemein, dass die Menschen pro geleisteter Arbeitsstunde weniger als normal ange stellte Arbeiter*innen verdienen. Die Folge: Es gibt mehr und mehr Working Poor, und zwar auch in der reichen Schweiz.

Die Folge prekärer Arbeit ist nicht nur materielle Deprivation, sondern ein Zu stand anhaltender finanzieller Sorgen und existenzieller Ängste – begleitet von kata strophalen gesundheitlichen Folgen. Men schen, die prekärer Arbeit ausgesetzt sind, leiden stärker an Stress, erleiden öfter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, erkranken öfter an Depression und bleiben bei Krank heit öfter am Arbeiten anstatt sich zu er holen, weil sie den Verlust von Einkommen oder der Arbeitsstelle fürchten.

«Flexible» Arbeit ist nicht, wie verspro chen, befreiende Selbstverwirklichung, sondern im Gegenteil ein Gefängnis aus Deprivation, Unsicherheit, Angst und Krankheit. Eine Negativspirale der mate riellen und körperlichen Zermürbung.

Genf zeigt, dass es auch anders geht Angesichts der Zunahme von «Flexarbeit» in all ihren Formen könnte man resignie ren: Ist es überhaupt noch möglich, diesem Megatrend entgegenzuwirken? Ja, wie das Beispiel des Kantons Genf zeigt.

Genf begann 2019 einen Rechtsstreit gegen Uber, um die Praxis der Pseudo-Selb ständigkeit der Fahrer*innen zu beenden. Im Juni 2022 gab das Bundesgericht in Lau sanne dem Kanton Genf Recht. Uber muss seither im Kanton Genf alle Fahrer*innen als Angestellte im Stundenlohn behandeln. Die Regelung gilt allerdings vorerst nur im Kanton Genf; im Rest der Schweiz darf Uber vorläufig nach wie vor falsche Versprechen von Selbständigkeit und Freiheit machen.

Das Urteil gegen Uber ist insgesamt zwar nur ein Einzelfall, aber es ist auch ein Silberstreifen am Horizont, der zeigt: Der Trend hin zu mehr Ausbeutung über «fle xible» Arbeit ist kein Naturgesetz, sondern eine menschengemachte politische und wirtschaftliche Realität. Und bekanntlich kann alles, was Menschen erschaffen ha ben, auch von Menschen verändert werden.

Die Regulierung zugunsten von Arbei ter*innen, egal ob durch Gesetze, Gerichts urteile oder direktdemokratische Interven

tionen, funktioniert wie ein Hebel, den wir als Gesellschaft betätigen können, um un würdige Arbeit zu bekämpfen.

Damit das gesellschaftliche Pendel wie der in Richtung der Interessen der Arbei ter*innenschaft schwingt, ist aber auch ein breiter Sinnes- und Wertewandel nötig. Wir müssen uns vom Märchen der meritokra tischen Leistungsgesellschaft verabschie den und damit verbunden von der Vorstel lung, dass materielle Nöte und prekäre Arbeit einfach die Folge individueller Ver fehlungen sind. Das Problem ist nicht, dass Menschen ihre Eigenverantwortung zu we nig wahrnehmen oder zu faul sind und da rum in prekären Arbeitsverhältnissen lan den. Das Problem ist, dass es in den letzten Jahrzehnten einen sozio-ökonomischen Strukturwandel zugunsten (grosser) Un ternehmen und zulasten von Arbeitenden gegeben hat, der immer mehr Menschen in existenzielle Nöte treibt. Dieser Struktur wandel ist zu korrigieren. Damit das gelingt, müssen wir uns von hyper-individualisier ten meritokratischen Versprechen lösen –arbeite genug hart und du schaffst es! – und wieder stärker zu gemeinschaftlichen Wer ten wie Solidarität und Kooperation finden.

Wir müssen uns darauf zurückbesin nen, dass Phrasen wie «flexible» Arbeit schön klingen mögen, am Ende aber etwas anderes zählt: würdige Arbeit. Arbeit, die eine Teilhabe am gesellschaftlichen Ge schehen, die ein lebenswertes Leben er möglicht. Das ist wahre Freiheit, die uns Flexarbeit nur vorgaukelt.

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Sie neuen Lesestoff für den Herbst. orellfüssli.ch

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Ihr drittes Kind kam gesund zur Welt, davor gebar Phan Thi Cuc (1) zwei Kinder mit schweren Missbildungen. Viele von ihnen leben im Heim (2). Auch Nguyen Ngoc Phuonh (3), 40 Jahre alt und 95 cm gross, ist ein Opfer des Herbizids Agent Orange, das im Vietnamkrieg zum Einsatz kam.

Tödlicher Nebel

Fotoessay Während des Vietnamkrieges versprühten die USA das Herbizid Agent Orange und vergifteten damit Natur, Tiere und Menschen. Die Folgen sind bis heute spürbar.

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Die Luft, eine Wand. Es ist heiss in dieser engen Hütte. Auf einer Prit sche sitzen zwei Kinder, ihre Köpfe sind übergross, die Augen quellen aus den Schädeln hervor. Dahinter sitzt in einer Ecke die Mutter, ihr Jüngstes auf dem Arm. Nach der Geburt der behinderten Kinder sei ihr Mann in eine tiefe Traurigkeit gefallen, sagte Phan Thi Cuc. Kurz danach nahm er sich das Leben.

Das war 1999 im vietnamesischen Huong Xuan, auf meiner ersten grossen Auslandreportage, zu der mich der Schweizer Journalist Peter Jaeggi als Fotograf eingeladen hatte. Nie zuvor sah ich eine derartige Armut. Der Anblick der traurigen Familie war kaum zu ertragen.

Wir wollten die Auswirkungen von Agent Orange dokumentie ren von jenem hochgiftigen Herbizid, das zwischen 1962 und 1971 vom amerikanischen Militär in rauen Mengen über Vietnam, Laos und Kambodscha aus Flugzeugen versprüht wurde; genehmigt wurde die Operation «Ranch Hand» vom damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy. Man wollte damit versteckte Transportwege offenlegen, die Deckung der Gegner vernichten und deren Nahrungsgrundlage zer stören. Der Einsatz des Herbizids Agent Orange hatte verheerende Folgen: Ein tödlicher Nebel legte sich über das Land, Bäume erkahlten, Pflanzen verwelkten, aus Wäldern wurde Wüste. Viele, die mit dem Gift in Berührung kamen, erkrankten, sie erbrachen Blut und wurden ohnmächtig.

Erst mit der Zeit stellte sich heraus, dass auch Gewässer und Bö den vergiftet wurden und sich das Gift auf die Nachkommen überträgt: Tausende Kinder kamen in der Folge tot oder mit Missbildungen auf die Welt die Kinder von Phan Thi Cuc gehören zu ihnen.

Seitdem sind wir immer wieder nach Vietnam gereist, um die Aus wirkungen des elenden Krieges zu dokumentieren ein Krieg, den die USA «Vietnamkrieg» nennen und den Vietnam als «Amerikanischer Krieg» bezeichnet. Zuletzt waren wir diesen Sommer dort. Leider hat sich wenig verändert im Leben der von Agent Orange Betroffenen. Vom vietnamesischen Staat kommt nach wie vor fast nur symbolische Hilfe, die USA leugnen weiterhin jeden Zusammenhang zwischen Agent Orange und dem Elend. Prozesse um Entschädigungen werden bis heute abgeschmettert. Immerhin versuchen die USA in den letzten Jahren kontaminierte Gegenden zu reinigen, als Geste des guten Wil lens sozusagen.

Der Familie von Phan Thi Cuc sind wir auf unseren Reisen leider nicht mehr begegnet.

ROLAND SCHMID, 56, arbeitet als Fotojournalist zu sozialen Themen. 2021 gewann er mit der Serie «Cross Border Love» den World Press Photo Award. Das Buch «Krieg ohne Ende» über die Folgen von Agent Orange von Peter Jaeggi mit Fotografien von Roland Schmid ist erhältlich unter: agentorange-vietnam.org.

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Hintergründe im Podcast: Radiojournalist Simon Berginz befragt den Fotografen Roland Schmid zu den Hintergründen seiner Arbeit. surprise.ngo/talk
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Bilder des Grauens als Mahnmal: Ein Präparat von Kindern mit Missbildun gen wird im Museum für Kriegsverbrechen in Ho Chi Minh Stadt aufbe wahrt (4). Ansonsten hält sich die Auseinandersetzung mit der Geschichte und die Unterstützung der Betroffenen bis heute in Grenzen. So gibt es nur wenige Heime wie etwa das Friendship Village in Hanoi, die sich um Kinder und Jugendliche mit Agent Orange Vergiftungen kümmern (1 und 5); auch Kriegsveteranen wie Nguyen Con Tuan, 71, bekommen kaum Unterstützung vom Staat (2). Schliesslich kommt auch die Räumung von Minen und Blindgängern nur langsam voran, wie etwa in der Provinz Quang Tri durch die Organisation Renew (3)

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«Die SVP hat ihre politische Würde verloren»

Theater Lukas Holliger geht in seinem neuen Theaterstück «Ja oder Nein eine Partei im Kreuzverhör» Kernaussagen der SVP auf den Grund. Ein Gespräch über Debattenkultur und Demokratie in Zeiten von Populismus und Algorithmen.

INTERVIEW MONIKA BETTSCHEN

Der fiktive SVP-Nationalrat Hans-Ueli Schaub ist nicht zu beneiden: Nachdem er in ein Radiointerview einwilligt, bei dem er die Fragen – wie bei Abstimmungen üb lich – nur mit Ja oder Nein beantworten soll, zwingt ihn die Moderatorin, Forde rungen seiner Partei zu Ende zu denken, über die in den letzten Jahren abgestimmt wurde. Ob und wie der Politiker aus dieser brenzligen Situation herausfindet, verraten wir nicht. Dafür haben wir mit dem Autor, Dramatiker und Kulturredaktor Lukas Hol

liger über die Rhetorik der SVP sowie deren Einfluss auf die Debattenkultur in der Schweiz gesprochen.

Lukas Holliger, warum haben Sie sich dafür entschieden, den Fokus auf die Forderungen der SVP zu richten? Auch andere Parteien sollten ihre Aussagen zu Ende denken.

Lukas Holliger: Das ist richtig, das müssten eigentlich alle tun. Deshalb habe ich den ersten Entwurf noch ohne Nennung einer

Partei geschrieben. Aber ich wollte in die sem Stück selber Stellung beziehen. Und fragte mich: Könnte die Geschichte auch mit einer anderen Partei funktionieren?

Die Antwort lautete ganz klar: Nein.

Warum?

Weil sich diese Partei einer Rhetorik und einer Bildsprache bedient, bei der man sich fragen muss, was für ein Menschenbild da hintersteckt. Erinnern wir uns zum Bei spiel an die Minarett-Initiative 2009 mit

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Im Kreuzverhör: SVP-Politiker Hans-Ueli Schaub muss für einmal seine Parolen zu Ende denken – und kommt dabei an seine Grenzen.

der verhüllten, finster dreinblickenden Frau auf dem Plakat. Diese Partei ritzt im mer wieder an Grenzen, und wir erleben heute eine Erweiterung des Sagbaren, die bis in die Mitte der Bevölkerung hinein ak zeptiert wird. Die Mechanismen des Popu lismus beschäftigen mich, seit ich politisch denken kann. Um zu verstehen, wie und warum diese funktionieren, habe ich mich während meiner Recherche intensiv mit dem deutschen Autor und Politiker Victor Klemperer und dessen Buch «LTI – Notiz buch eines Philologen» aus dem Jahr 1947 auseinandergesetzt. Klemperer befasste sich darin mit der Sprache des National sozialismus.

Ein gewagter Vergleich, den Sie zwischen der SVP und der Nazi-Rhetorik ziehen … Wir müssen aber solche Vergleiche anstel len, gerade weil und solange sie falsch sind. Denn wenn wir dies erst tun, wenn diese stimmen, wäre es bereits zu spät. Wir müs sen darauf achten, welche Wörter diese Partei verwendet, um bestimmte Perso nengruppen oder Sachverhalte zu bezeich nen, und mit welcher Bildsprache sie diese darstellt. Bezeichnend ist etwa, wie die SVP dem Staat Diktaturvorwürfe macht, zum Beispiel jüngst anlässlich der CoronaMassnahmen. Die Partei kultiviert ein merkwürdiges Rebellentum und kombi niert dieses mit innerparteilicher Autori tätshörigkeit: eine unglückliche Mischung. Sie beschwört einen mythischen Volkswil len in Opposition zum Staat. Rote Linien wie etwa das Völkerrecht werden zu Schimpfwörtern degradiert und bekämpft. Der Justiz wird ihre Glaubwürdigkeit ab gesprochen. Parteiintern scheint es bei der SVP keine kritische Debattenkultur mehr zu geben. Sie hat ihre politische Würde ver loren und verbreitet einen toxischen Pat riotismus. Ihre Plakate sind bösartige Re alitätsüberspitzungen, aber eine Partei sollte keine Satire machen oder zynisch das Böse im Volk wachrütteln. Und wir sollten nicht darüber lachen, sondern ihre Aussa gen ernst nehmen.

So, wie es im Theaterstück geschieht, wenn Hans-Ueli Schaub von der Modera torin in die Enge getrieben wird?

Genau. Ihre Fragen haben bekannte For derungen der SVP zum Inhalt. Hans-Ueli Schaub sieht sich gezwungen, die Gedan kengänge seiner Partei zu Ende zu denken und hat verbal gegen die Journalistin keine Chance.

LUKAS HOLLIGER, 51, ist Dramatiker, Autor und Kulturredaktor aus Basel. Seine Bühnentexte wurden mehrfach ausgezeichnet und für sein Romandebüt «Das kürzere Leben des Klaus Halm» war er 2017 für den Schweizer Buchpreis nominiert. 2021 veröffentlichte Holliger mit «Unruhen» eine Sammlung mit 16 Erzählungen.

Also mehr Schlagabtausch anstatt Meinungsaustauch?

2015 hat die Gratiszeitung 20 Minuten un ter dem Titel «Fight Night» eine Politdis kussion zwischen dem SVP-Nationalrat Roger Köppel und dem ehemaligen SP-Na tionalrat Tim Guldimann über die Schwei zer Asyl- und Europapolitik wie ein Box-Duell inszeniert. Eine solche Effekt hascherei ist problematisch, denn so wird suggeriert, dass wie beim Sport am Ende ein Gewinner feststeht. Aber selbst wenn nach einer Debatte eine Seite vorteilhafter abschneidet: Das besprochene Problem ist damit noch lange nicht gelöst. Wenn es in der Politik nur noch ums kurzfristige Ge winnen geht, ist das nicht nachhaltig.

Neben dem Populismus geht es in «Ja oder Nein» auch um die Digitalisierung und welche Gefahren Algorithmen für Demokratien mit sich bringen. Können Sie das etwas vertiefen?

Was beim Publikum ja durchaus auch Sympathien für den Politiker wecken dürfte. Ist das gewollt?

Ja, denn ich will kein SVP-Bashing betrei ben, sondern tiefer gehen. Wenn die Mo deratorin penetrant ihre Fragen stellt, fühlt man sich mit Hans-Ueli Schaub verbunden. Man überlegt, welche Fragen man selbst mit Ja oder Nein beantworten würde. Und realisiert, an welchen Punkten man emp fänglich ist für populistische Inhalte.

Neben Bühnenstücken und Büchern schreiben Sie auch Hörspiele und sind beim SRF Redaktor der Abteilung Hör spiele und Satire. Hören und Zuhören nehmen in Ihrer Arbeit viel Raum ein. Wie nehmen Sie die Debattenkultur in der Schweiz wahr? Hören wir uns noch zu?

Hier schliesst sich für mich der Kreis zu Victor Klemperer. Er stellte fest, dass viele Metaphern aus der Welt des Sports Ein gang gefunden haben in die Politik. Und tatsächlich: Wenn man sich umschaut, fin den wir in unserem Alltag viele Beispiele dafür im Sprachgebrauch. So heisst etwa die grösste Politsendung des Landes «Arena», in welcher sich Politiker*innen verbal duellieren.

Die Moderatorin im Theaterstück stellt Suggestivfragen. Eine rhetorische Technik, um die Antwort des Gegenübers in eine be stimmte Richtung zu lenken. Ganz ähnlich funktionieren auch Algorithmen. Auf der Basis unserer Suchanfragen im Internet werden uns immer mehr Inhalte angezeigt, die unserer eigenen Meinung entsprechen. So verstärkt sich die Polarisierung, und die Toleranz gegenüber anderen Meinungen sinkt. Algorithmen ziehen Schlussfolge rungen, die weder demokratisch noch hu man sind. In vielen westlichen Demokra tien herrscht wohl unter anderem auch deshalb eine Überreiztheit, man fällt emo tionale Urteile übereinander und entzieht sich das Vertrauen. Eine Demokratie ist aber darauf angewiesen, dass alle ihren In stitutionen vertrauen, sie befürworten und dass unterschiedliche Meinungen Raum haben.

«Ja oder Nein – eine Partei im Kreuzverhör», Do, 3. Nov., 19 Uhr (anschliessend Lukas Holliger im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Widmer), So, 27. Nov., 17 Uhr, Do, 1. Dez., 19 Uhr, sogar theater, Josefstrasse 106, Zürich; Fr, 2. Dez., Do, 15. Dez., Sa, 17. Dez, jeweils 19:30 Uhr, Neues Theater Dornach, Bahnhofstrasse 32, Dornach. sogar.ch; neuestheater.ch

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«Eine Demokratie ist darauf angewiesen, dass unterschiedliche Meinungen Raum haben.»
FOTO(1): AY Ş E YAVA Ş , FOTO(2): CHRISTIAN FINK

Alben der Erinnerung

Ausstellun g Was erwartet Menschen beim Be g inn eines neuen Lebens? In ihrer Ausstellung «Und dann fing das Leben an» zei gen die Kuratorinnen Gaby Fierz und Ays ¸ e Yavas ¸ Geschichten, Erinnerun gen, Foto g rafien und Erfahrun gen.

«Am Ende der Geduld wartet der Segen», sagt ein altes türkisches Sprichwort. Den Segen könnte auch Hüseyin Yavas ¸ gefunden haben, das dachte der Einwanderer je denfalls in dem Moment, in dem er sich in der Schweiz zum ersten Mal in Sicherheit wog. Er beschreibt es mit Worten, die vom Neuanfang, von einem grossen Lebens moment und vom Ankommen erzählen: «Und dann fing das Leben an.» Der Satz ist zum Titel einer Ausstellung geworden, die als biografisch-fotografische Recherche über die türkische Einwanderungsgeschichte in die Schweiz angelegt ist. Die beiden Kuratorinnen der Aus stellung, Fotografin Ays ¸ e Yavas ¸ und Ethnologin Gaby Fierz, sammelten während mehrerer Jahre Fotografien, Ge schichten, Unterhaltungen und Erinnerungen von drei Generationen Einwanderer*innen aus der Türkei, das Ma terial reicht bis in die 1960er-Jahre zurück.

Ausgangspunkt ist die Familiengeschichte von Ays ¸ e Yavas ¸ selbst, deren Vater als einer der ersten Arbeiter in den 1960er-Jahren in die Schweiz kam und siebzig Män nern aus der Türkei Stellen in Schweizer Industriebetrie ben vermittelte. Das Leben der Einwanderer*innen, ihre Schicksale und ihre Eindrücke des Lebens in einer neuen Heimat spiegeln sich in ihren Fotoalben wider. Dazu er zählen Interviews von einem Teil der Schweizer Ge schichte, welche die Mehrheitsbevölkerung so nicht kannte. «Die Zeit war reif für dieses Thema, und es fällt auf fruchtbaren Boden», erklärt Ays ¸ e Yavas ¸ und berichtet von den Recherchearbeiten zwischen Windisch, Brugg, Baden, Zürich und Anadolu Hisarı, Istanbul am Bosporus oder Dog ˘ ancılı am Schwarzen Meer.

Die Begegnungen, die während der Ausstellungsvor bereitung zustandekamen, zeigten, wie nahe sich die Schicksale der Menschen in den Schweizer Ortschaften waren, und dennoch wie schwer fassbar. «Ein etwa 50-jähriger Mann aus Brugg begutachtete die Fotografien und suchte nach bekannten Gesichtern, nach bekannten Geschichten. Auch für ihn war die Recherche wie eine

Reise zu seinen Erfahrungen und Erinnerungen», erzählt Gaby Fierz, die sich seit vielen Jahren mit den vielfältigen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Türkei be fasst. «Noch immer findet Migration als Teil der Schwei zer Geschichte zu wenig Beachtung in offiziellen Erinne rungsinstitutionen wie Museen», sagt sie.

Reisen und Tabuthemen

Die Fotografien zeigen Szenen aus dem Alltag. Da ist etwa der Kaffee mit «Frau Gärtner und dem Hund Jimmy» an einem sonnenbedeckten Nachmittag, 1969 in Brugg. Man che Bilder, wie »1970er-Jahre. Rast auf der Fahrt in die Türkei», geben Einblick in die viele Tage dauernde Reise zurück in die Heimat: Das Fahrzeug ist am Strassenrand parkiert, die Hitze entflieht aus den geöffneten Fenstern, die Familienmitglieder tanken Schlaf, bevor der lange Weg wieder in Angriff genommen werden kann.

Die Mitglieder von Gastarbeiter*innenfamilien in der Schweiz lebten oft getrennt, die Eltern schickten ihre Kin der zu Verwandten in die Türkei. Denn sie arbeiteten, um etwas zu schaffen, was in der Türkei so dringend benötigt wurde: finanzielle Mittel. «Über diese Umstände der Ein wanderung und die schmerzhaften Trennungen wird in den Familien kaum gesprochen. Es ist ein privates und gesellschaftliches Tabuthema», sagt Fierz. Die Ausstellung wurde zur Symbiose zweier Welten. Ähnlich wie die bei den Kuratorinnen selbst. «Die Arbeit spiegelt unsere Ein flüsse sehr prägnant: die sorgfältige Recherche von Fierz und mein Wunsch nach authentischen, lebendigen Foto grafien, bei denen die Menschen im Vordergrund stehen», sagt Yavas ¸ .

Die Recherchearbeit mündet nun nicht ausschliesslich in der Ausstellung: «Und dann fing das Leben an» oder türkisch «Ve sonra hayat bas ¸ ladı» fand auch Eingang in andere Kunstformen. Fotografin Yavas ¸ hat mit «Album & Albüm» ein assoziativ-künstlerisches Tagebuch mit Fo tografien, Zeichnungen und Texten gestaltet. Es ist eine

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FOTOS: FAMILIENALBUM YAVA
Ş ;
FAMILIENALBUM SAXER; FAMILIENALBUM KOLCU

eigene Geschichtenerzählung anhand von Fotografien aus den Alben: individuell und intim, kollektiv und uni versell zugleich. Auch eine Bühnenform ist entstanden: Im Zürcher sogar theater treffen sich Mutter, Tochter und Enkeltochter zum Nachmittagstee. Sie blättern durch ein Familienalbum und geraten ins Erzählen. Es sind Ge ständnisse über ein Leben zwischen zwei Ländern. Ängste, Wut und Hoffnung prägen die Dialoge.

«Diese Geschichte ist heute, sie ist nicht Vergangen heit, sondern auch Zukunft», sagt Yavas ¸ . «Für die einen war es die Reise in eine neue Perspektive, andere sehnten sich zurück nach der Familie, nach der alten Heimat. Viele von ihnen leben heute nicht mehr, dafür existieren sie in den Erinnerungen und in diesen Bildern weiter.» Es sei ihr ein Bedürfnis gewesen, diese Geschichten zu erzählen, um auch den nächsten Generationen ein Verständnis für ihre Herkunft bieten zu können.

«Mein Wunsch wäre, dass jede in der Schweiz lebende Gemeinschaft aus Ländern dieser Welt in Schweizer Mu seen ihre Kultur offenbaren könnte», sagt Yavas ¸ . Und Fierz

ergänzt: «Museen und Archive sollten sich für alle kultu rellen und sozialen Herkünfte der Menschen, die in un serem Land leben, öffnen, und zwar in Zusammenarbeit mit ihnen. So kann eine Geschichte, in der sich alle wie derfinden, geschaffen werden.» Es ist der Kerngedanke von «Und dann fing das Leben an».

«Und dann fing das Leben an», Ausstellung, bis So, 6. Nov., Mi und So, 12 bis 18 Uhr, Do, Fr und Sa, 12 bis 21 Uhr, Photobastei Zürich, Sihlquai 125; Sa, 14. Jan. bis So, 12. März, kHaus Basel, Kasernenhof 8.

«Und dann fing das Leben an», Theater (Regie: Ursina Greuel), Mi, 9., Do, 17. und Mi, 30. Nov., jeweils 19 Uhr, Sa, 12., 17 Uhr, sogar theater, Josefstrasse 106, Zürich.

unddannfingdaslebenan.ch

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Brugg, AG. 1969. Meryem und Hüseyin Yavaş mit Frau Gärtner und dem Hund. Brugg, AG. Mitte 1960er-Jahre. Vor der Graugiesserei Georg Fischer AG. 1970er-Jahre. Rast auf der Fahrt in dieTürkei.

Veranstaltungen

Basel

«Die Zukunft hat 6 Beine – Ausstellung für eine insektenreiche Stadtnatur», bis So, 30. Okt., Do und Fr, 16 bis 20 Uhr, Sa und So, 14 bis 20 Uhr, Roter Korsar, Uferstrasse 40. umweltausstellungen.ch

Smartphone, Chatbots. Unser Schreiben verändert sich. Ab den 1980er-Jahren interessiert sich die Schreibforschung für diese Trans formation. Heute analysiert sie den Prozess der Textentstehung als Zusammenspiel zwischen psycho logischen, sozialen, kulturellen, technischen und ökonomischen Faktoren. Dabei hängen das Schrei ben und seine Techniken – also was man schreibt und wie man es tut – eng zusammen. In welcher Weise, zeigt die Ausstellung an hand von historischen Schreibge räten und ihrer literarischen Ver arbeitung. Eine eigens entwickelte künstliche Intelligenz schreibt am Werk von Emmy Hennings und Robert Walser weiter. DIF

Die experimentelle Ausstellung vom Verein «Zentrale für Umweltausstel lungen» verbindet Gestaltung, Kunst und naturkundliches Wissen. Im Zentrum stehen das Dasein und Schwinden von Insekten und ihre Rele vanz für lokale Ökosysteme und die gesamte Biosphäre. Entstanden ist die Schau unter Beteiligung der lokalen Bevölkerung: ein Grossteil der Exponate stammt aus Workshops, die in den vergangenen zwölf Monaten stattgefunden haben. Unser Umgang mit Insekten wird hier auf sinnliche Weise mit künstlerisch-gestalterischen Mitteln untersucht. Im «Kiosk» erhalten Besucher*innen zudem konkrete lokalspezifische Handlungs anleitungen, wie sie sich individuell für Insekten und urbane Biodiversität engagieren können. Und an Freitagen und Samstagen kann man im Rah men des partizipativen Exponats «Scarbeos pingere» unter Anleitung des Instituts für Textiles Forschen mithelfen, Käferpostkarten herzustellen, die für deren Bedeutung sensibilisieren. Kuratiert von Julia Sommerfeld und Carola Scherzinger, mitwirkende Künstler*innen sind Dino Georgeton, Benedikt Wöppel, Maria Marggraf, Sina Gerke und Julian Vogel. DIF

Zürich

«EWS – Der einzige Politthriller der Schweiz»,Thea ter, Sa, 8. Okt, Di bis Fr, 11. bis 14. Okt., Mi bis Fr, 19. bis 21. Okt., Mo und Di, 24. und 25. Okt., Di und Mi, 20. und 21. Dez., jeweils 20 Uhr, Theater Neumarkt, Neumarkt 5. theaterneumarkt.ch

Eveline braucht eine Nacht Be denkzeit. Es gibt für alles den rich tigen, aber auch den falschen Mo ment im Leben. Menschenmengen vor dem Bundeshaus fiebern mit. Auf Plakaten steht «Mut, Eveline» und «Eveline, sag Ja!». Eveline sagt Ja. Das hat die Schweiz noch nicht gesehen. Damit ist Blocher raus, und sie als sechste Frau im Bundes rat. Die Wahl spaltet ihre Partei und die Schweiz. Frauen jubeln, Rechte fluchen, Linke feiern die Bürgerli che. Der Blick schreibt von «Hoch verrat» und wird dafür vom Pres serat gerügt, die Weltwoche nennt sie in einem Atemzug mit Judas und Brutus. Sie wird Schweizerin des Jahres, schafft das Bankgeheimnis

ab, verhaftet Polanski und rettet die UBS. Eveline Widmer-Schlumpfs Wahl in den Bundesrat schrieb vor 15 Jahren Politgeschichte. Sie, die sich als lösungsorientierte Sachpo litikerin betrachtete, stand über Nacht im Zentrum eines veritablen Politthrillers. Regisseur Piet Baum gartner widmet sich den Frauen an der Macht und der Schweizer Polit kultur. DIF Bern

«Aufgeschrieben. Stift, Taste, Spracherkennung», Ausstellung, bis Fr, 13. Jan., Mo bis Fr, 9 bis 18 Uhr, Eintritt frei, Schweizerische Nationalbibliothek, Hallwyl strasse 15. nb.admin.ch

Wie schreiben wir in Zukunft? Und was macht das mit unseren Texten?

Die Ausstellung in der Schweizeri schen Nationalbibliothek geht den neuen Techniken des Aufschrei bens nach, die unseren Alltag be stimmen: Autokorrektur, Copy/ Paste, elektronische Stifte fürs Tablet, Diktierfunktion auf dem

Zürich «vertrauen», Ausstellung, bis So, 13. Nov., freier Eintritt, auch zu öffentlichen Führungen und Veranstaltungen, Helmhaus, Limmatquai 31. helmhaus.org

St. Gallen

«Lene Marie Fossen –Human» und «KörperBilder», Ausstellung, bis So, 26. Feb. 2023, Museum im Lagerhaus, Davidstrasse 44. museumimlagerhaus.ch

Vom Privaten bis ins Öffentliche, Institutionelle, von der Liebe bis zum Geschäft, zur Politik, zur Re ligion, vom Gesundheitswesen bis zur Justiz und zur Ernährung –ohne Vertrauen geht wenig. Gerade in Zeiten, in denen Echtheit und Authentizität permanent auf dem Prüfstand stehen. Künstliche Intel ligenz und virtuelle Realität, Deep fake und Schönheitschirurgie ma chen Vertrauen zu einer kritischen Grösse. Das Designstudio Huber/ Sterzinger hat Porträts mithilfe künstlicher Intelligenz angefertigt: Die Algorithmen des Projekts «This Person Does Not Exist» generieren Gesichter von Menschen – die es nicht gibt. Vertrauen wir diesen Gesichtern trotzdem? DIF

Das Museum im Lagerhaus wagt sich mit der Ausstellung «Lene Ma rie Fossen – Human» an ein heikles Thema. Anorexie ist ein Tabu, die Bilder dazu sind eine Herausfor derung. Die autodidaktische Foto grafin Lene Marie Fossen (1986–2019) lehnte den linearen Lauf der Zeit ab, der sie in die Pubertät zwingen sollte, und hörte mit zehn Jahren praktisch auf zu essen. Für den Rest ihres Lebens kämpfte sie mit der Magersucht. Mit der Foto grafie fand sie ein Medium, mit dem sie die Zeit und ihren Körper einzufrieren versuchte. Sie ent schied sich, transparent mit ihrer Krankheit umzugehen und ihre Selbstporträts öffentlich zu zeigen. Das Museum im Lagerhaus folgt ihr nun in diesem Kerngedanken. «Human» zeigt dazu weitere The menfelder, die die Lebensfragen der verstorbenen Fotografin spie geln: Flucht, Krankheit, Leid, Fra gen nach dem Sein und nach unserem Selbst verständnis in internationalen Krisen. Fossens Selbstporträts werden mit der Aus stellung «KörperBilder» in einen Dialog gebracht, so entsteht ein grösserer Kontext von Körperlich keit und Körperschemata. Das Mu seum im Lagerhaus setzt sich für ein grenzüberschreitendes Kunst verständnis und für Diversität im Kunstbetrieb ein. Künstlerische Positionen wie die Selbstporträts von Lene Marie Fossen seien hier bei von besonderer Bedeutung, schreibt das Haus. DIF

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BILD(1): MARTIN GATIAL, BILD(2): GESTALTUNG HUBER/STERZINGER, PORTRÄTS: STYLEGAN/THISPERSONDOESNOTEXIST.COM, BILD(3): COURTESY WILLAS CONTEMPORARY

Pörtner in Bern Schönburg

Surprise-Standorte: Coop

Einwohner*innen: 142 493

Sozialhilfequote in Prozent: 1,4

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 24,1

Sozialhilfequote in Prozent: 5,0

Anzahl Zimmer im Prizeotel Schönburg: 188

Die Schönburg ist zwar noch angeschrieben, eine Burg ist es jedoch nicht mehr, sondern ein «Prizeotel», ein Design Hotel, wie auf der Webseite zu erfahren ist. Dazu passt die Eisen plastik, die vor dem Haus steht. Eine Pla kette, auf der der Name des Werks und der Künstler*in vermerkt wären, fehlt. Der Laie tippt auf Bernhard Lugin bühl. In einem der Fenster steht eine weisse Schaufensterpuppe, die eine schwarze Weste, eine Beinschiene und eine rote Kappe trägt, so zumindest sieht es von Weitem aus. Auf dem Platz vor dem Hotel stehen Pflanzentöpfe mit eher kümmerlichen Bäumen darin, darum herum Bänke aus Metall, die von der Sonne aufgeheizt sind, aber nicht wirklich zum Verweilen laden wie der ganze Platz so gestaltet zu sein scheint, dass es möglich ist, sich nieder

zulassen, aber nicht erwünscht. Das ist wohl kein Zufall, sondern Teil des Designs, ebenso wie die Treppe, die hin unter in die Grossverteilerfiliale führt.

Die Stufen sind schräg und ungleichmäs sig, was einen aus dem gewohnten Tritt bringt. An der betongedeckten Bus haltestelle stehen zwei Verpflegungsautomaten, der ehemalige Kiosk wurde zum Take away mit thailändischem Essen umfunktioniert. Es scheint keine gute Passantenlage zu sein, Kund schaft nähert sich keine, die Leute verpflegen sich lieber mit Produkten aus dem Grossverteiler. Auch der versteckte Eingang zur Pizzeria wird kaum genutzt, der einzige Aussentisch steht in der prallen Sonne.

Ganz diskret weist ein kleines Schild den Weg zur Hochschule der Künste. Fast,

als würde man sich derer ein wenig schämen, obwohl dort unter anderem zukünftige Eisenplastiker*innen und Hotelvorplatzdesigner*innen ausgebildet werden. Es kommen denn auch nur zwei junge Frauen vorbei, die Frisuren tragen, wie sie an Kunsthochschulen beliebt sind, was aber nicht heissen muss, dass es sich um Studentinnen derselben handelt. Kulturell scheint in Schönburg trotz dieser Einrichtung nicht allzu viel los zu sein. An dem Anschlagbrett «Aktuells us Schönburg» finden sich nur Veranstal tungsweise aus Biel und vom Thunersee.

Näher gelegene Veranstaltungen sind auf den Wänden der mit Brettern verna gelten Unterführung plakatiert. Die hinter einer Glasscheibe noch sichtbare Treppe in den Untergrund lässt rätseln, ob dieser Weg einst direkt auf die Schön burg führte. Burgen, die etwas auf sich halten, verfügen über unterirdische Gänge ins Freie. Wahrscheinlicher ist es ein Überbleibsel aus jener düsteren Zeit der Verkehrsplanung, als das Auto König war und Fussgänger*innen als Störfaktoren angesehen wurden, die unter den Boden verbannt gehörten, um den Verkehrsfluss nicht zu behin dern. Es wird sich zeigen, wie weitsichtig diese Planung war, angesichts steigen der Energiepreise, die den Autoverkehr in Zukunft weniger attraktiv machen. Da späte Mittagszeit ist, herrscht kein allzu grosses Verkehrsaufkommen. Der Bus, der hält, wird benutzt, doch finden alle einen Sitzplatz. In den Autos sitzt meist nur eine Person, Velos sind trotz des schönen Wetters nur vereinzelt unterwegs, die Leute sind bei der Arbeit oder noch in der Badi.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

Fachschule LIKA, Stilli b. Brugg

Liberty Specialty Markets, Zürich Schwungkraft GmbH, Feusisberg Coop Genossenschaft, Basel AnyWeb AG, Zürich

Gemeinnützige Frauen Aarau Dipl. Steuerexperte Peter von Burg, Zürich Itsmytime.ch, Stefan Küenzi, Berlingen Beat Vogel - Fundraising-Datenbanken, Zürich Stadt Illnau-E retikon

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau hervorragend.ch | Grusskartenshop debe bijouxtextiles Bern Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti Sterepi, Trubschachen TopPharm Apotheke Paradeplatz Ref. Kirche, Ittigen Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich Madlen Blösch, Geld & so, Basel

Fontarocca Natursteine, Liestal Maya-Recordings, Oberstammheim tanjayoga.ch – Yoga in Lenzburg & Online Scherrer & Partner GmbH, Basel Brother (Schweiz) AG, Dättwil

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?

Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto:

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Surprise, 4051 Basel

Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung.

Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation

61 564

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA

Das Programm

Wie wichtigist Ihnen Ihre Unabhängigkeit?

Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

Eine von vielen Geschichten

«Noch nie habe ich irgendwo länger gearbeitet als bei Surprise» sagt Roberto Vicini. Seit über 15 Jahren verkauft der 60-Jährige das Strassenmagazin in der Zürcher Innenstadt. Dabei nimmt er sich gerne Zeit für einen Schwatz und steckt seine Kundschaft mit seinem Lachen an. Er braucht nicht viel, lebt sehr bescheiden. Dennoch ist Roberto Vicini froh um die zusätzliche Unterstützung im SurPlus-Programm. Er ist viel mit dem ÖV unterwegs, um an seinen Verkaufsplatz zu kommen. «Obwohl es nur kurze Strecken sind, schlägt der Ticketpreis schnell auf mein kleines Budget». Neben dem Abonnement für den Nahverkehr erhält der Surprise-Verkäufer zudem 25 bezahlte Ferientage und ist bei Krankheit sozial abgesichert.

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende

Derzeit unterstützt Surprise 24 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten:

· 1 Jahr: 6000 Franken

· ½ Jahr: 3000 Franken

· ¼ Jahr: 1500 Franken

· 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

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In ei g ener Sache

«Vielfältig»

Der Verein Surprise wurde am 10. September mit dem Swiss Diversity Award 2022 ausgezeichnet. Der Preis in der Kategorie «Bildung und soziale Herkunft» ist eine tolle Anerkennung unserer knapp 25-jährigen Arbeit mit sozial benachteiligten Menschen. Vielfältig vertreten waren auch unsere verschiedenen Angebote bei der Preisverleihung im Kursaal Bern: Maria Jesús Bibione (Chancenarbeitsplatz, Basel), Awet Iyasi (Verkäufer, Bern), Negussie Weldai (Chancenarbeitsplatz und Verkäufer, Bern) und Jannice Vierkötter (Co-Geschäftsleiterin).

Imp ressum

Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel

Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo

Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12

Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02

Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo

Anzeigenverkauf

Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 43 321 28 78 M+41 79 797 94 10

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Redaktion

Verantwortlich für diese Ausgabe: Klaus Petrus (kp)

Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win)

Reporter*innen: Lea Stuber (lea), Andres Eberhard (eba) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99

redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

#517: Somalia und Sozialhilfe «Ein Studium für die Sozialhilfe»

Etwas verspätet lese ich Ihr Heft von Anfang Jahr. Wie immer bin ich beeindruckt von der Qualität und Relevanz sowie davon, wie Sie den Spagat zwischen den Strassenverkäufer*innen und den Leser*innen schaffen. Zum Beispiel beim Thema Somalia, wo die Verkaufenden konkret etwas beitragen aufgrund ihres Wissens. Auf diese Weise werden Menschen aus ihnen. Ich selbst bin derzeit auf Sozialhilfe angewiesen. Den entsprechenden Artikel von Andres Eberhard fand ich sehr gut geschrieben. Ich habe festgestellt, dass es gut ist, einen Hochschulabschluss und wirtschaftliche Kenntnisse zu haben, um mit dem Sozialamt klarzukom men. So steht mir aufgrund persönlichen Engagements und Unterstützung durch die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht mittlerweile deutlich mehr Geld mehr zur Verfügung als ohne Intervention, ein Verfahren ist noch hängig. Mir tun die Leute leid, die nicht über diese Möglich keiten verfügen. Die Gemeinden sollten verpflichtet werden, die Bezüger*innen über die Existenz der UFS aufzuklären, es sollte in einem der vielen Papiere stehen, die man unter zeichnet (z.B. bei Rechte und Pflichten). Allerdings frage ich mich auch, ob es denn logisch ist, dass eine staatlich fi nanzierte Stelle den Bezüger*innen hilft, bei einer anderen staatlichen Stelle ihre ebenfalls staatlich definierten Rechte geltend zu machen? Ich bin nicht sicher, ob dies der effizienteste Umgang mit Steuergeldern ist.

ANONYM (Name der Redaktion bekannt)

Ständige Mitarbeit

Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe

Marina Bräm, Miguel Ferraz, Desirée Good, Seynab Ali Isse, Ulrich Jonas, Marko Ković, Roland Schmid, Daniel Sutter, Shqipe Sylejmani, Leah van der Ploeg

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

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«Ich will für meine Gesundheit kämpfen»

In diesen Tagen schwebt Christian auf Wolke sieben. Er ist seiner neuen Freundin begegnet und hat sich bis über beide Ohren verliebt. Und dann hat es auch noch mit den eigenen vier Wänden geklappt: Kürzlich zog Christian ins letzte freie Zimmer einer Wohngemeinschaft ehemals Obdachloser, die vom Hamburger Strassenmagazin Hinz&Kunzt betrieben wird. Für ihn kam das gerade zur rechten Zeit: Aus dem Wohnheim, in dem er zuletzt gelebt hat, musste er nach drei Jahren raus, weil längeres Wohnen dort nicht vorgesehen ist. Nun hat Christian einen unbefristeten Mietvertrag und sagt: «Man muss auch mal Glück haben!»

In knappen Worten erzählt der jugendlich wirkende Mann die traurige Geschichte seiner Kindheit: Als er zweieinhalb Jahre alt ist, geben seine Eltern ihn weg – «meine Mutter war manisch-depressiv, mein Vater ein Alkoholiker und Spieler». Es folgen Jahre in einer Pflegefamilie, über die Christian nicht gross reden will: «Da gab es nur Schläge.» Als Elfjähriger haut er das erste Mal aus dem verhassten Zuhause ab, danach immer wieder. Mit sechzehn kommt er in ein Heim.

Trotz aller Not gibt es auch schöne Momente: Als Sechzehn jähriger segelt Christian als sogenannter schwer erziehbarer Jugendlicher über den Atlantik. Er soll unter fachkundiger Anleitung fürs Leben geschult werden – und büxt in Mexiko erneut aus, obwohl ihm der Trip gut gefällt. «Ich war ein Idiot», sagt der Hinz&Kunzt-Verkäufer rückblickend und grinst. «Und ich hatte das Abhau-Syndrom.» Für ein paar Wochen lebt er bei Fischern, die ihn liebevoll bei sich aufnehmen. Dann kommt die Polizei und steckt ihn in Abschiebehaft. Der Heimat lose muss zurück nach Deutschland.

Christian pendelt viele Jahre zwischen verschiedenen Städten, lebt in Berlin, Hannover, München und Hamburg. Mal schläft er in Obdachlosenheimen, mal bei einer Freundin, mal auf der Strasse und mal im Knast. Vor neunzehn Jahren kommt er zu Hinz&Kunzt, ein Verkäufer hatte ihm von dem Projekt er zählt. «Ich möchte ein normales Leben führen», sagte Christian damals. Dass der Weg dorthin schwer ist, weiss er noch nicht. Bei Hinz&Kunzt habe er immer wieder Hilfe bekommen, sagt Christian rückblickend. Und die Möglichkeit, sich etwas Geld hinzuzuverdienen.

Jahrelang prägt die Heroinsucht sein Leben – bis er eines Tages in ein Therapie-Programm aufgenommen wird. Bis heute ist er auf eine Ersatzdroge angewiesen und froh darüber, dass es sie gibt. Über Heroin sagt er nur: «Zum Glück brauch ich den Scheiss nicht mehr.» Es gehe seit einigen Jahren bergauf bei ihm, sagt Christian und scherzt: «Im Alter wird man ruhiger und weiser.» Gerade hat er sein nächstes Vorhaben ge startet: zehn Tage Leben ohne Alkohol. Ein gewaltiges Projekt

für jemanden, der gewöhnlich «an die zehn Bier» pro Tag trinkt. Doch Christian ist entschlossen: «Ich will das loswerden und für meine Gesundheit kämpfen.»

Wer zu seinem Glück aktuell noch fehlt, ist Luna, eine Ratte und seit gut zwei Jahren Christians Begleiterin. Derzeit ist sie bei einem Bekannten. Christian muss den Käfig, der verwaist neben seinem Bett auf dem Boden steht, noch umbauen, bevor das Tier einzieht. Luna ist nämlich schlau: Sie kann ihre Käfig tür selbständig öffnen.

Einen Hund hat er schon gehabt, eine Katze und auch Mäuse. Letztere sassen einst wie heute Luna gerne auf Christians Schulter: «Ich liebe Tiere.» Und weil das so ist und er so gut mit ihnen kann, hat Christian einen Traum: Er möchte eines Tages als Tierpfleger arbeiten. Wie das klappen kann? Er will demnächst mal beim Tierheim nachfragen, vielleicht kann er dort ja ein Praktikum machen oder ehrenamtlich aus helfen. Christian spürt, er braucht eine Aufgabe, die ihn erfüllt: «Dann habe ich was um die Ohren und komme nicht auf dumme Gedanken.»

Aufgezeichnet von Ulrich Jonas

Mit freundlicher Genehmigung von Hinz&Kunzt

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Internationales Verkäufer*innen-Porträt Christian, 39, verkauft in Hamburg das Strassenmagazin Hinz&Kunzt, ist frisch verliebt und möchte Tierpfleger werden. FOTO: MIGUEL FERRAZ

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