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Strassenmagazin Nr. 529 15. bis 28. Juli 2022

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Literatur

Christopher Zimmer Donat Blum Julia Rüegger Shqipe Sylejmani Ariane Koch Samira El-Maawi Ralf Schlatter


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TITELBILD: MYRIAM KAELIN

Editorial

Freiheit Die Surprise-Literaturausgaben im Sommer ­haben Tradition. Wir wollen damit den Blick auf Autor*innen lenken, die wir in letzter Zeit als wichtige Stimmen wahrgenommen haben. Deren Gedanken, Haltungen, Themen und Texte wir spannend finden. «Freiheit» und «Sicherheit» heissen die Themen der beiden Ausgaben. Sie haben mit Fragen zu tun, die uns in den vergangenen Monaten immer wieder beschäftigt haben – uns bei Surprise, uns als Gesellschaft. Mit der Pandemie stand die Frage nach Freiheit und Sicherheit und danach, inwiefern das eine das andere bedingt oder ausschliesst, plötzlich ­unübersehbar im Raum. Sie prägt im Hintergrund aber auch oft die Diskussion um soziale Themen. Wo hört Hilfestellung auf, wo fängt Bevor­mundung an? Wie kann man Sicherheit geben, ohne Freiheit zu rauben? Soeben haben die Frauen in den USA das Recht auf Abtreibung verloren, diejenigen in Afghanistan das Recht auf Schulbildung. Uns erscheint Freiheit

Illustrationen

6 Christopher Zimmer E = mg² 9 Donat Blum

Die Freiheit zu erzählen, was nicht erzählt werden soll

14 Julia Rüegger

Myriam Kaelin lebt und arbeitet in Zürich. Mit Pinsel, Stift und Pixel gestaltet sie Plakate, Getränkeetiketten und anderes für etliche Marken. Ihre Zeichnungen kommen auch in Filmen vor.

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hinweis für reisende, die von verschiedenen orten gleichzeitig aufbrechen

oft selbstverständlich. Aber wird sie beschnitten, greift es sehr schnell das Selbstverständnis, das eigene Weltbild und die Identität an. Im Heft, das Sie in Händen halten, geht es um die Bedeutung von queeren Geschichten und um die Kriegsvergangenheit in Prishtina. Herr Brunner nimmt sich die Freiheit, die Grenzen der Physik zu überschreiten. Wir haben eine Reiseanleitung, die auch das Feilen der Zehennägel berück­ sichtigt, und lernen die Grundsätze der Schlafpartei kennen. Wir erfahren vom Verschwinden der Kinder, bis nur noch eins bleibt: die Flucht aus Alcatraz. Die Autor*innen haben uns ihre Texte geschenkt, die einen noch unpubliziert, andere sind Zweit­ abdrucke. Wir bedanken uns ganz herzlich bei Christopher Zimmer, Donat Blum, Julia Rüegger, Shqipe Sylejmani, Ariane Koch, Samira El-Maawi und Ralf Schlatter. DIANA FREI

Redaktorin

17 Shqipe Sylejmani

Eine Fahrt durch Prishtina

20 Ariane Koch

Die Schlafpartei

22 Samira El-Maawi

26 Rätsel 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

«… denn wir wissen, 30 Internationales was ihr tut!»

24 Ralf Schlatter

Flucht von Alcatraz

Verkäufer*innen-Porträt

«Ein Geben und Nehmen»

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E = mg² TEXT CHRISTOPHER ZIMMER

Als Jakob Brunner sich in den Ruheverstand versetzt sah, machte er sich sogleich daran, ein zwar schon lange angedachtes, aber ebenso lange ungewisses, dank den neuen Lebensumständen nun doch noch möglich gewordenes Projekt zu realisieren, dessen erklärtes Ziel es war, mithilfe der von ihm über die Jahre entwickelten Formel E = mg2 (Energie = Mensch x Geist im Quadrat) die Grenzen der Physik, denen er aufgrund ihrer Ausschliesslichkeit mit zunehmender Skepsis begegnete, in allen drei Aggregatzuständen – fest, flüssig und gasförmig – zu überschreiten. Auch wenn er selber nur wenige Notizen hinterliess, so lassen sich die Ereignisse, von denen hier berichtet wird, doch aufgrund des öffentlichen Interesses und dem daraus resultierenden Archivmaterial nicht nur rekonstruieren, sondern auch, allen Anfechtungen zum Trotz und den Intentionen ihres Urhebers getreu, belegen. Phase 1 – fest. Am 14. August 2012, einem Dienstag, verschwand Jakob Brunner im Alter von 65 Jahren um 12.26 Uhr beim Überqueren des Steinenrings an der Kreuzung Schützenmatte in einem Spalt, der sich in der Mitte des Zebrastreifens unter ihm auftat und sich sogleich wieder über ihm schloss. Dieses Ereignis trug sich so schnell zu, dass Passanten und Autofahrer, die das Vorkommnis bemerkten, mit einiger Verspätung reagierten, dann aber sogleich stehenblieben bzw. an den Strassenrand fuhren und erst zögerlich, endlich aber lebhaft den Vorfall zur Sprache brachten. Durch polizeiliche Ermittlungen konnten der genaue Sachverhalt und die Identität des so Verschwundenen zwar festgestellt werden, doch ergaben Grabungen keinerlei Hinweise auf etwaige seismische oder mutwillige Bewegungen des Bodenmaterials, geschweige denn auf den Verbleib des der Gesellschaft tatsächlich abhanden Gekommenen, der in der unmittelbar folgenden Zeit und auch in den kommenden Jahren weder in seiner Wohnung noch an von ihm privat bevorzugten Örtlichkeiten gesehen wurde. Nach eingehender, alle Möglichkeiten in Betracht ziehender Erörterung gab man derjenigen Theorie den Vorzug, die das Vorgefallene als ein gross angelegtes Täuschungsmanöver interpretierte, als ein nur vorgetäuschtes Geschehen mittels illusionistischer Fertigkeiten, als deren Urheber man den Verschwundenen selbst eruierte. Obwohl von dem so festgestellten Täter zu keiner Zeit und von keiner Person jemals solcherlei Fähigkeiten oder Vorlieben berichtet worden waren und als Motiv für ein derartiges Unterfangen auch keine Ungeregeltheiten in seinem vormaligen Berufs- oder damaligen Privatleben, denen er sich etwa durch eine solcherart verschleierte Flucht zu entziehen gehabt hätte, belegt werden konnten, sahen sich die Ermittler dazu veranlasst, gegen den Obengenannten Anklage wegen Irreführung der Behörden sowie Gefährdung der Verkehrssicherheit durch eine unzulässige bzw. genehmigungspflichtige Veranstaltung zu erheben. Dennoch musste der Fall, der immerhin in der Öffentlichkeit und den Medien einiges Aufsehen erregt hatte, von den 6

ermittelnden Behörden schliesslich ad acta gelegt werden, und das Ereignis geriet in Vergessenheit, bis Jakob Brunner drei Jahre später, wieder um 12.26 Uhr, am 14. August 2015, einem Freitag, in einer am ehesten als Spiegelung des Ereignisses zu beschreibenden Abfolge – Öffnen des Spaltes, umgepolte Bewegung an die Oberfläche, Schliessen des Spaltes, verzögerte Reaktion der Verkehrsteilnehmer – wieder auftauchte. Der ergebnislosen Einvernahme Jakob Brunners auf der Kantonspolizei folgte die Überweisung in die Psychiatrische Universitätsklinik Basel. Den Aufzeichnungen des behandelnden Arztes ist lediglich zu entnehmen, dass Jakob Brunner mehrfach entschieden darauf bestanden habe, nach wie vor nicht älter als 65 Jahre zu sein, da die Zeit seiner Abwesenheit, wie er betonte, nicht angerechnet werden könne. Da keine weiteren Auffälligkeiten festzustellen waren, wurde Jakob Brunner nach einigen Tagen, nicht zuletzt auch aus versicherungstechnischen Erwägungen, aus der Psychiatrischen Klinik entlassen, was aber, wie es sich zeigte, sogleich zur Realisierung von Phase 2 führen sollte. Phase 2 – flüssig. Am 21. August 2015 wurde am dicht besetzten Strand von Rimini ein Mann gesehen, der zwei hölzerne Balken auf der Schulter balancierte und zum Erstaunen und Ergötzen des Publikums in voller Bekleidung auf das Meer zusteuerte, um dort bis zu den Knien in dieses hineinzuschreiten, während sich eine anwachsende Traube von Menschen verschiedensten Alters und unterschiedlichster Herkunft sammelte, die dem Geschehen mit gezückten Smartphones und anfeuernden Rufen beiwohnte, wobei die Redensart, dass Wasser keine Balken habe, schon bald in zahlreichen Sprachen die Runde machte und einiges an Spott und Gelächter hervorrief. Doch der Mann – der in der Folge aufgrund der Fotografien und Videos, die noch lange auf Instagram, YouTube und anderen Plattformen kursierten und beeindruckend hohe Zugriffszahlen erzielten, zweifelsfrei als Jakob Brunner identifiziert werden konnte – Jakob Brunner also reagierte weder auf die Kommentare der Zuschauenden noch liess er sich in irgendeiner Weise von seinem Vorhaben abbringen, das, einmal begonnen, das Verhalten aller Anwesenden erst bis ins Tumultuarische steigerte, um dann in allgemeines Verstummen zu münden, als er einen der beiden Balken auf das Wasser legte und auf diesen stieg, wobei dieser Balken, obwohl doch offensichtlich viel zu kurz, um das Gewicht des auf ihm Stehenden tragen zu können, keineswegs unterging oder auch nur unter die Wasseroberfläche tauchte, worauf Jakob Brunner gewissermassen trockenen Fusses bis an dessen Ende vorwärtsschritt, ohne dass der Balken nun aus dem Gleichgewicht gebracht worden wäre, um von dort aus den zweiten Balken direkt an den ersten anschliessend auf die Wasseroberfläche zu legen und auf diesen hinüberzuwechseln. Alles Weitere geschah dann mit solcher Selbstverständlichkeit, dass die am Strand Zurückgebliebenen noch lange schweigend Surprise 529/22


PORTRÄTBILD: KATHRIN SCHULTHESS

zusahen, wie Brunner aus nichts als diesen beiden Balken eine sich nahtlos reihende Strecke legte, auf der er sich immer weiter von der Küste entfernte, bis er am Horizont allen Blicken entschwand. Auch nach diesem Ereignis verliefen wie schon bei Phase 1 die Ermittlungen im Sande und konnten, da sie nicht über blosse Vermutungen hinausgelangten, wiederum nur ad acta gelegt werden. Dennoch sahen sich die Behörden schon bald dazu veranlasst, in öffentlichen Aufrufen dringend von weiteren Nachahmungsversuchen abzuraten, da etliche Personen, die sich einer unter dem #WasserHatBalken ins Leben gerufenen Challenge angeschlossen hatten, nur knapp vor dem Ertrinken gerettet werden konnten, als sie in immer gewagteren Aktionen, selbst bei hohem Wellengang, dem Vorbild von Jakob Brunner nacheiferten, dessen Act bereits nach kurzer Zeit einen Hype auslöste und mit T-Shirts, Tassen und Tattoos gefeiert wurde, bis einige Monate später Phase 3 die Aufmerksamkeit der Massen auf sich zog. Phase 3 – gasförmig. Am 31. Dezember 2015, nur wenige Minuten vor dem Jahreswechsel, erregte mitten auf dem New Yorker Times Square an der Kreuzung Broadway und Seventh Avenue ein Mann mit einem durchaus gelungenen, wenn auch auf den ersten Blick nicht aussergewöhnlichen, allerdings aufgrund von Ort und Zeitpunkt doch eher deplatzierten Handstand die Aufmerksamkeit der unmittelbar Umstehenden. Doch zog er schon bald auch die Blicke des bei der jährlichen Silvesterparty anwesenden Millionenpublikums auf sich, da ein in der Nähe filmendes Kamerateam die nun folgende Aktion – bei der es sich, wieder belegt durch in diesem Fall noch zahlreichere Aufzeichnungen, zweifelsfrei um Phase 3 des Brunnerschen Projektes handelte –, da also dieses Kamerateam die Aktion festhielt und, der dem Gespür der Redaktion für das Sensationelle, ja geradezu Ikonische des Geschehens zu verdankenden Entscheidung folgend, sogleich auf den sich über dem Verlagsgebäude der New York Times befindlichen Riesenbildschirm von News Corp. übertrug. Von dort aus wurde das Ereignis nicht nur für alle Anwesenden weithin sichtbar, sondern auch weltweit übertragen, und es wurde auch nicht unmittelbar von anderen Einblendungen bereits dafür vorgesehener Prominenz verdrängt, sondern konnte seinen Sendeplatz behaupten, was, gemessen am Fortgang des Ereignisses, durchaus nachvollziehbar erscheint, wobei hier nicht verschwiegen werden soll, dass dieser Fortgang trotz der nicht zu leugnenden Fakten unbegreiflicherweise im Nebulösen geblieben ist. Sicher zu gewährleisten ist nur das unmittelbar darauf Folgende, dass nämlich Jakob Brunner nun eine seiner Hände vom Boden löste und also seinen Handstand nur noch auf einer Hand ausführte, was zu Ausrufen der Bewunderung und zu einem rhythmischen, anfeuernden Klatschen führte, das von den direkt um ihn herum Stehenden wie von einem Epizentrum aus bald die ganze, den Times Square dicht an dicht füllende Menschenmenge erfasste. Als Jakob Brunner dann, was zwar unglaublich erscheinen mag und nun doch aussergewöhnlich genannt werden muss, auch noch vier Finger dieser Hand abspreizte und nur noch auf einem seiner Zeigefinger stand, just in dem Augenblick, als der Countdown hin zum Jahreswechsel angestimmt wurde, millionenfach aus den Mündern der anwesenden Masse, da verband sich dieser scheinbar circensische Akt mit eben jenem Countdown, als wäre dieser allein für ihn gemeint, auch noch als die letzte Ziffer Eins in den allgemeinen Jubel überging, dessen Nachhall bereits ins neue Jahr 2016 ausklang, während sich alle in den Armen lagen und in KüsSurprise 529/22

sen vereinten, auch das Kamerateam, weshalb die letzte Steigerung von Phase 3 nur noch von einer wackligen TV-Kamera in verwischten Bildern festgehalten wurde und deshalb in der Folge von Medien, Politikern und Experten wiederholt in Zweifel gezogen und als Ausgeburt einer allgemeinen Hysterie dargestellt wurde. Nur wenige sind nicht davon abzubringen, dass die unscharfen Bilder das, was sich tatsächlich abgespielt hat, auch wirklich wiedergeben, nämlich dass Jakob Brunner auch noch den Zeigefinger angehoben und daraufhin sich gänzlich vom Boden gelöst habe und immer höher gestiegen oder gefallen sei – diesbezüglich kursieren auch in der Schar der Bekennenden abweichende Meinungen –, über die feiernde Menge hinaus und von dort aus höher als die angrenzenden Wolkenkratzer und selbst als die höchsten Gebäude dieser gigantomanischen Metropole und immer weiter, hinein in den nächtlichen Himmel und das vom Lichtsmog verschleierte Strahlen der Gestirne, um dort sein Projekt durch die konsequente Ausführung von Phase 3 abschlies­ send und alles Weitere erübrigend zu vollenden.

CHRISTOPH ZIMMER, geboren 1959 in Aachen, ist in

Deutschland und der Schweiz aufgewachsen und lebt in Basel. Er schreibt Fantasy-Romane und Geschichten für Gross und Klein. Mit seinem ersten Fantasy-Roman gewann er den Wolfgang-Hohlbein-Preis.

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Die Freiheit zu erzählen, was nicht erzählt werden soll TEXT DONAT BLUM

«Share our stories, our real stories, that’s what breaks down barriers. But in order to do that, you have to believe it has value. Be vulnerable. Dare to be vulnerable.» Michelle Obama Wer sich einmal auf eine tiefergreifende Beziehung eingelassen hat, dürfte erfahren haben, was Person(en) miteinander verbindet: das Teilen von Intimität, das Teilen von Geschichte(n). Um das zuzulassen, müssen wir uns verletzlich machen, und das braucht Mut. Für queere Menschen gilt das in besonderer Weise. Die heteronormative Dominanzgesellschaft sieht nicht vor, dass wir unsere Identität – von einer Mehrheit oft auf Sexualität reduziert – «an die grosse Glocke» hängen, selbstbewusst für unsere Geschlechtsidentität einstehen und die Anerkennung unserer Existenz einfordern. Queere Geschichte(n) zu erzählen, sich verletzlich zu machen ohne sich verletzen zu lassen, ist eine Form des Widerstands, wider die Scham, wider die Unterdrückung unserer Realität:

Die Geschichte von meinem Onkel Vor drei Jahren bin ich zum ersten Mal nach Peru gereist. Meine Nahbeziehung-seit-10-Jahren hat mich dazu überredet: «Lass uns deinen Onkel besuchen, solange er noch fit genug ist!» Seit den 80er-Jahren lebt mein Onkel in Peru. In der Schweiz haben wir uns nur einige wenige Male getroffen. Die Beziehung ist distanziert geblieben. Nach Südamerika hat es mich nie gezogen. Erst recht nicht nach Peru. Meine inneren Bilder von Peru waren braun, wie die Alpaka-Pullover und Fotos, die uns mein Onkel an Weihnachten schickte. Braun wie verfaulte Früchte oder die Momente, in denen ich als Kind beim Malen die Geduld verlor und alle Farben durcheinander pampte. Und die inneren Bilder rochen muffig. So muffig, wie es aus den Weihnachtspaketen roch. Ein Geruch von feuchter Erde, Keller oder nassem Hundehaar. Und trotzdem willigte ich in den Vorschlag meiner Nahbeziehung-seit-10-Jahren ein. Im Wissen darum, dass sich Bilder verändern, wenn mensch sich Befremdlichem stellt. Ein Vorgang, der mich spätestens seit dem ersten Coming-out fasziniert: Selten ist etwas so, wie mensch es Surprise 529/22

((Kasten kann weg. ))

erwartet, wie es einem verinnerlichte Normen diktieren. Und mache ich mir die Mühen, diese neue Bilder zu finden, winkt mit der besseren Passung die Kraft der Befreiung, die Lust der Emanzipation. Lange dachte ich beispielsweise, ich könne nur einen Menschen lieben und nur eine Beziehung führen, bis ich mir das Gegenteil erlaubte. Oder ich könne gar nicht schwul sein, weil ich doch Kinder haben wollte. Oder ich dachte, zum Schwul-Sein gehöre die Trauer darüber, im Alter mit hoher Wahrscheinlichkeit allein im Schaukelstuhl vor dem Fernseher zu sterben. «Hope there’s someone / Who’ll take care of me / When I die», besingt Anohni diese queere Ur-Angst, der mit der Reise nach Lima neue Bilder entgegengesetzt werden sollten: Lima liegt am Meer und mitten in der Wüste, daher die hohe Feuchtigkeit, die Papier und Stoffe, die alles mit saugfähigen Fasern und Poren muffeln liess. Und es ist tatsächlich, wie ich es mir vorgestellt hatte, eine braune Stadt. Schaut mensch jedoch genauer hin, lassen sich mit jedem neuen Blick weitere Farben erkennen, aus denen sich das Braun zusammensetzt: ein über hundertjähriger Park voller Olivenbäume, Pyramiden, auf denen das Matriarchat zelebriert wurde, eine fast permanente Nebeldecke, die bei genauerer Betrachtung aber leicht und flauschig sowohl vor Hitze als auch vor Kälte schützt, und viele viele Menschen, die mit ihrer Stadt nicht angeben, aber sich in ihr auf unaufgeregte Art und Weise zuhause fühlen. Entgegen meiner Erwartungen ist mir Lima nach wenigen Tagen ans Herz gewachsen. Das Verlassen der Stadt fühlt sich an, wie wenn ich morgens vom Wecker zu früh aus dem Bett und der Geborgenheit meiner Daunendecke gerissen werde. Was auf jeden Fall auch an meinem Onkel liegt. Kaum je habe ich einen Menschen seines Alters so oft lachen und schelmisch schmunzeln gesehen wie ihn. Wenn er sich über die Schweiz lustig machte, in der die Norm zu gelten schien, dass man spätestens nach der Geburt des zweiten Kindes nichts mehr zu lachen habe. Oder sich übers ganze Gesicht strahlend freute: Über eine Fischplatte, die viel zu üppig war für den schmächtigen 75-jährigen Mann mit dem opulenten Silberhaar. Oder über das Wiedersehen mit dem Kellner, der ihn und seinen Partner mit Namen begrüsste. Über den Pisco Sour und das Ceviche, das in der Nähe des Hafens von Lima, in Callao, noch einen Tick frischer war als sonst. Über den Wein, der nur selten gut war in Peru. Und über den Umstand, mit seinem Neffen und dessen Date-seit-15-Tagen, mit Jean, in seinem Lieblingsrestaurant im alten Hafen von Callao zu sitzen. Oder über das Kunstzentrum, das nebenan von einer 9


Gruppe junger Architekten eröffnet worden war, in einem alten Geschäftsgebäude mit einer Jugendstil-Galerie nach Pariser Art, und dessen Läden zu Ausstellungsräumen und Ateliers umfunktioniert worden waren: Der Aufbruch, der von dem lebendigen Kunsthaus inmitten der heruntergekommenen Gegend des alten Hafens ausging, sprang ungefiltert auf meinen Onkel über, der durch die Ausstellungsräume tippelte, von Bild zu Bild, von Atelier zu Atelier, und sich vor Staunen nicht mehr einkriegen konnte. Ein 75-jähriger Mann mit strahlendem Gesicht, ganz aus dem Häuschen, wie er in veraltetem Schweizerdeutsch sagen würde, erfasst von einer Freude, die ich so bisher nur von Kindern kannte. Eine Freude, die vor dem Hintergrund, dass sein Leben eigentlich genug Anlass zum Gegenteil geboten hätte, noch stärker strahlte: Als mein Onkel in den 80er-Jahren nach Peru auswanderte, lebten mehr als fünfzig Prozent der Bevölkerung in Armut. Als Mitarbeiter einer lokalen NGO verdiente er selber nicht mehr als 100 bis 200 Franken im Monat. Geld, das aufgrund der ständigen Wirtschaftskrisen über Nacht seinen ganzen Wert verlieren konnte: Reichte es an einem Tag für die Mahlzeiten des ganzen Monats, liess sich am nächsten Tag damit nicht mal mehr eine Glühbirne kaufen. Und als mein Onkel einmal von einer längeren Reise zurückkehrte, war sein erster langjähriger Freund, mit dem er in den Anden als the only gays in the village zusammenlebte, plötzlich spurlos aus der gemeinsamen Wohnung verschwunden. Vermutlich hatte er sich in seiner Abwesenheit mit HIV infiziert. Auf jeden Fall, so erfuhr mein Onkel zwei Jahre später von einem Verwandten, war er schliesslich an AIDS gestorben. Darüber hinaus hatten es neben einem Diktator gleich zwei Terrororganisation auf alle, die mit der Regierung zusammenarbeiteten, abgesehen. Insbesondere auf ausländische Mitarbeiter von NGOs, Homosexuelle und trans Menschen, die sie gerne

öffentlichkeitswirksam inhaftierten, folterten und grausam hinrichteten. Was auch der Grund war, dass mein Onkel nach acht Jahren in den Anden nach Lima flüchten musste, als sein Name auf einer Todesliste auftauchte. Mich berührte aber nicht nur, dass sich mein Onkel trotz all diesen Widrigkeiten seine kindliche und queere Freude bewahrt zu haben schien, sondern noch etwas ganz anderes: Die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns zu verstehen schienen, mit der er mich und meine Realität anerkannte – etwas, das ich davor so noch nie bei irgendeiner Person erlebt hatte. Das lag natürlich auch daran, dass sich mein Onkel und ich einen Grossteil unserer Sozialisierung teilten: Seine Eltern, meine Grosseltern, nahmen einen wichtigen Platz in unser beiden Leben ein, sein Bruder ist mein Vater und wir beide sind schwul, beide queer, und entschlossen, das weitgehend ohne Scham und mit möglichst viel Freude auszuleben. Nichtsdestotrotz überkam mich zu Beginn auch ihm gegenüber Scham, als meine Nahbeziehung-für-10-Jahre und ich auf der ersten Reise nach Lima auch das Datingleben der Stadt erkunden wollten. Wir konnten zwar davon ausgehen, dass mein Onkel wusste, dass wir promisk und gegebenenfalls polyamor lebten, aber ich konnte mir kaum vorstellen, dass das jemand aus meiner Geburtsfamilie wertfrei akzeptieren würde. Also stahlen wir uns wie Teenager aus seiner Wohnung. Und trafen unser Date in einem Stundenhotel. Ein düsterer Ort, in dem der Rezeptionist hinter einer Panzerglasscheibe sass, die so dick war, dass kein Gesicht zu erkennen war, geschweige denn, ob er guthiess, dass hier gerade drei in seinen Augen «Männer» eincheckten. Der Zimmerboden war noch feucht vom NassWischen. Offenbar hatten sich vor wenigen Minuten noch andere Gäste im Zimmer und auf der roten Latexmatratze

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PORTRÄTBILD: QUANG NGUYEN

vergnügt, die unter dem Bettlaken zum Vorschein kam, das nach wenigen zaghaften Bewegungen so weit ver­ rutscht war, dass ich, mittlerweile durch und durch von Scham gelähmt, Forfait erklären musste. Mit zunehmendem Vertrauen – und mit jeder weiteren Reise nach Lima – wurde ich meinem Onkel gegenüber aber immer lockerer. Während ich anfangs Sätze, die Rückschlüsse auf mein Dating-Verhalten zulassen könnten, noch mit einem deutlichen Punkt abschloss, um nicht erklären zu müssen, dass ich jemanden auf Grindr oder Tinder kennengelernt hatte – «Ich gehe tanzen. Punkt.» –, erzählte ich im Verlauf der Zeit meinem Onkel immer genauer, wer die Menschen waren, die ich traf, und schliesslich auch von Jean, mit dem ich einige Tage in eine Oase ausserhalb der Stadt fahren wollte. Mein Onkel reagierte immer ohne zu zögern und ohne jegliche Skepsis, so, wie ich es noch nie bei einer vierzig Jahre älteren Person erlebt hatte. Er gab mir Tipps, wie der Ausflug in die Oase mit Jean besonders romantisch werden könnte und schlug nach meiner Rückkehr nach Lima vor, doch auch Jean in sein Lieblingsrestaurant am Hafen von Callao einzuladen, falls das für die Art, wie er und ich uns treffen würden, stimmig sein sollte. Vor Callao ragt die kleine Halbinsel La Punta in den Pazifik. An deren Spitze befindet sich ein Militärsperrgebiet, wo in einem Keller – «einem Loch», wie mein Onkel betont – der Anführer der Terror-Organisation «Sendero Luminoso» schmorte. Die Gegend um den Hafen galt lange als eine der gefährlichsten Gross-Limas. Was in den heruntergekommenen Gassen, die vom zentralen, heute gut gepflegten Platz abgehen, noch gut an den ausgebrannten Autos und ausgeweideten Häusern zu erkennen ist. An eingeschlagenen Fenstern. Bröckelnden Fassaden. Und an den Holz-Erkern, die verwittert und niedergeschlagen dicht über dem Abgrund hängen. Eine Atmosphäre wie aus Abenteuerromanen, wo Häfen die liederlichsten Gegenden der Städte sind, wo Saufkumpane von Kneipe zu Kneipe ziehen, bevor sie in einem Bordell landen oder sich einen Anker auf den Arm tätowieren lassen. Das kleine Zentrum, der Platz vor dem Restaurant und das neue Ausstellungsgebäude, sind mittlerweile hingegen zu einer der schönsten Gegenden Gross-Limas geworden. Und zusammen mit der Halbinsel La Punta eines der Lieblingsausflugsziele meines Onkels und seines Partnersseit-30-Jahren. Auf der einen Seite der Halbinsel plätschert der sonst sehr raue Pazifik an einen Badestrand, während die andere, wildere Seite, zum Naturschutzgebiet erklärt, Vögeln aus der ganzen Welt einen sicheren Ort zum Innehalten mitten im Chaos und Staub der Stadt bot. Als wir zu viert diesen Vögeln beim Brüten zuschauten, oder was auch immer Vögel so auf einer Zwischenlandung Richtung Süden machen, nahm mein Onkel seinen Partner plötzlich an der Hand und setzte sich mit ein paar schnellen Schritten so von Jean und mir ab, dass auch wir uns an der Hand nehmen und mit Blick auf den Pazifik küssen konnten. Es war eine dieser kleinen Gesten, die mich für meinen Onkel einnahmen. Ohne Worte schien er zu spüren, was ich brauchte, was wir brauchten. Und er schien offensichtSurprise 529/22

lich zu wissen, dass es auch bei einer aller Wahrscheinlichkeit nach zeitlich begrenzten schwulen Beziehung nicht zwingend nur um Sex, sondern auch um Romantik und Liebe gehen konnte. In den nächsten Tagen begannen wir mehr und mehr darüber zu reden, wie er an diesen Punkt seines Lebens gekommen war, wie er früher gedatet hatte und was für ihn Liebe, Sex und Beziehung bedeuteten. Er erzählte mir seine Geschichte vom Cruisen vor Schmuckläden, in deren Schaufenstern Mann sich spiegelte. Von einem jungen Mann, der ihn an einem der ersten Tage in Lima auf offener Strasse angesprochen hatte und zu einem Date einlud, worauf er wusste, dass das Leben für ihn als schwuler Mann in Lima lebenswert sein würde. Und er erzählte mir von der unausgesprochen offenen Beziehung, die er und sein Partner seit dreissig Jahren lebten. Ich fühlte mich gesehen. Und sah mich in ihm in vierzig Jahren: einen schwulen, queeren Menschen, der an der Hand eines Lieblingsmenschen dem Meer entlang spazierte. Ein Gefühl, das einige Tage später noch stärker wurde, als ich abends aus dem Gästezimmer kam und sah, wie meine beiden Onkel auf der Couch vor dem Fernseher eingeschlafen waren: Sein Partner-seit-30-Jahren hatte seinen Kopf auf den Schoss meines Onkels gelegt. Beide schnarchten laut und zufrieden. Ein Bild, das ich davor für unmöglich gehalten hatte. Nicht, weil mir die Fantasie dafür gefehlt hätte, sondern das emotionale Wissen darum: Männer, die gegenseitig ihre Nähe suchten, die sich im Alter liebten – was immer das bedeuten mochte –, so etwas hatte ich davor noch nie erfahren. Weil die Gesellschaft nicht vorsieht, dass wir Geschichten queerer Intimität erzählen.

DONAT BLUM, geboren in Schaffhausen, Studium am Schweizerischen und Deutschen Literaturinstitut, war Tellerwäscher*in und Geschäftsführer*in, ist Literaturaktivist*in, Gründer*in von «Glitter», der ersten queeren Literaturzeitschrift im deutschsprachigen Raum, und lebt in Zürich und Berlin. Das Roman-Debüt «OPOE» ist 2018 bei Ullstein Fünf erschienen.

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hinweis für reisende, die von verschiedenen orten gleichzeitig aufbrechen TEXT JULIA RÜEGGER

man packe einen koffer, den man auf längere zeit tragen kann ohne die hand dabei zu verkrampfen man suche sich ein tier aus, gross oder klein schuppig oder mit dichtem fell füttere es mit hafer und stärke und streichle anschliessend seinen bauch man wärme sich mit daumen- und zeigefinger die haut entlang der achillessehne auf (sie sei eine besonders verletzliche stelle und benötige erhöhte achtsamkeit) man feile sich noch einmal die zehennägel bevor man sie für länger im schuhwerk versenkt man entferne vergessene lockenwickler aus dem haar und stutze die strähnen, die einem die weitsicht verstellen man schneide sich pflaster und schnürsenkel zurecht fülle eine kleine flasche mit absinth man erkundige sich nach der raffiniertesten methode des packens die platzsparend und einfach zu erlernen ist man kümmere sich um die obhut der pflanzen verschenke, was noch im kühlschrank ist schliesse fensterläden, heizungsventile, reissverschlüsse und polstere provisorisch den türspion dann richte man eine abwesenheitsnotiz der email ein je nach dem verabschiede man sich von vögeln oder freunden den wohnungsschlüssel übergebe man den eintagsfliegen man habe ein klares ziel oder eine ungefähre richtung man habe eine vorliebe für steigungen man sei nicht entmutigt, wenn man noch einmal umkehren müsse weil man die kontaktlinsen vergessen habe oder den feueranzünder und dann noch einmal, um den herd zu kontrollieren und ein drittes mal, um einen fadenscheinigen durst zu löschen solange der wasserhahn in reichweite ist dann lasse man das heimweh und die packliste fahren und die erinnerung an alles was liegengeblieben ist: die staubflusenansammlung unterm bett, die haare im abfluss unbeantwortbare liebesbriefe man orientiere sich an einem fahrplan oder der sonne, besonders wenn sie wolkenverhangen ist man orientiere sich am abglanz eines gestirns, an mitgeschöpfen an gleisänderungen 14

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PORTRÄTBILD: JULIAN SALINAS

man gehe, solange der schnee noch schmilzt, der teer noch schillert und das bauchweh im rahmen des erträglichen ist hin und wieder notiere man ein wort oder zwei in ein notizbuch mit fadenheftung, das auf knien sitzt man raste erst, wenn die postleitzahlen fremd anmuten die orientierung schwindet im dämmerlicht dann verschicke man postkarten, unfrankiert und traue sich, ausnahmsweise gegen das gelernte auch zwielichtige gestalten nach dem weg zu fragen dem schnellsten, beschwerlichsten, dem spektakulärsten und bedanke sich auch für unnütze information an manchen tagen täte man so als ob man zu den einheimischen pendlern gehörte an anderen als ob man geodätin wär in der nacht halte man zwiesprache mit fledermäusen mit struppigen schafen und motorradfahrerinnen später betrete man eine schaukelnde fähre überquere einen fluss, wo er am breitesten ist und gehe auf zehenspitzen, in zeitlupe an land während ein strommast im gegenlicht funkelt dort öffne man zum ersten mal den mitgeführten koffer betrachte die verstauten habseligkeiten die vorräte der schnürsenkel, die flasche absinth und entferne die oberste hornhautkruste die sich im schleichmodus gebildet hat anschliessend lüfte man die socken aus falte die verjährten landkarten zusammen und zeichne mit wind und streulicht eine neue

JULIA RÜEGGER, 1994 geboren und aufgewachsen in Basel, studierte ­Literarisches Schreiben, Theater und Philosophie in Hildesheim, Biel und Madrid. Sie schreibt Lyrik und verschiedene Arten von Prosa und forscht an der Universität Basel zum Anthropozän.

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Eine Fahrt durch Prishtina TEXT SHQIPE SYLEJMANI

Ich zog die Tür zu und schaute zu dem Taxifahrer nach vorn. Er lächelte müde und fragte, wohin er mich fahren dürfe. Ich erklärte ihm den Weg zu unserem alten Haus, wie ich es in Prishtina immer tat: «Wissen Sie, wo früher der BMW-Service war? Dort bei der Verzweigung nach rechts, und ein paar hundert Meter weiter vorne ist es gleich!» «Beim EULEX? Ja, natürlich! Eh, den BMW-Service, das habe ich schon lange nicht mehr gehört! Sie sind wohl nicht von hier?», antwortete er und drehte sich kurz zu mir um. Seine Augen strahlten eine solche Güte aus. «Sie haben mich ertappt!», sagte ich und erzählte ihm, dass ich aus der Schweiz zu Besuch in den Kosovo gekommen war. Ich erwähnte das Ableben meines Grossvaters als Grund des Besuchs bewusst nicht, da ich noch nicht in der Lage war, die Beileidsbekundung eines Fremden zu ertragen. «Wie wundervoll, dass Sie hier sind! Gefällt es Ihnen, zurück in der Heimat zu sein?» Ich versuchte zu lächeln und nickte. Die Stadt, die während der Fahrt an mir vorbeizog, wurde samt ihrer Bevölkerung immer grösser. Seit Jahren strömten die Menschen in die Hauptstadt und verwandelten Prishtina in eine Metropole des Balkans. All dies hinterliess seine Spuren. «Nur eines stört mich hier immer wieder. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte niemandem etwas unterstellen oder behaupten, dass es in der Diaspora perfekt ist. Doch dieses Land ist unser Zuhause. Unsere Erde. Wenn ich auf die Stadt blicke, Plastikflaschen oder Abfall am Boden sehe, dann bricht es mir das Herz. Ich möchte nicht theatralisch klingen, doch für diesen Boden haben Menschen ihr Leben gelassen. Für dieses Land haben Menschen im Krieg gekämpft. Damit wir frei sein können. Um diesen Boden, diese Erde, zu ehren. Doch so behandeln wir sie.» Der Taxifahrer wurde langsamer und blinkte, damit er Surprise 529/22

am Strassenrand anhalten konnte. Plötzlich überkam mich eine Scham, dass ich die Unterhaltung losgetreten hatte – was fiel mir nur ein? Der ältere Mann drehte sich zu mir um, und bevor ich die Worte fand, um mich entschuldigen zu können, hatte er seine Brieftasche hervorgeholt und zog ein Bild heraus. Seine Augen waren mit Tränen gefüllt, als er mir das Foto reichte. Es war er, als junger Mann in einer Soldatenuniform. Daneben stand ein anderer junger Mann, um den er den Arm gelegt hatte. «Ich habe für die Freiheit unseres Volkes gekämpft – für diesen Boden und dieses Land. Mein kleiner Bruder hier», er zeigte auf den jungen Mann, der mir voller Willensstärke entgegenlächelte, «er hat für all dies sein Leben gegeben.» Der Mann räusperte sich, doch sein Schmerz stürzte von Tränen begleitet aus ihm heraus. «Zweiundzwanzig Jahre alt war er. Hinterliess Frau und ein Mädchen. Statt ihn beschützen zu können, habe ich ihn sterben sehen, habe ihn und unsere Freunde sich aufopfern sehen und meiner Mutter erklären müssen, dass wir ihren Sohn zu Grabe getragen haben, ohne genau zu wissen, wo in diesen Wäldern er heute ist. Ohne dass sie je Abschied nehmen konnte.» Der Mann vor mir hatte nichts mehr von dem stattlichen Mann, den ich auf dem Foto erkannte. Als hätte er meine Gedanken lesen können, sagte er: «Mit wie viel Mut und Kraft wir diese Erde verteidigt haben. Doch trotz des Sieges sind selbst die Stärksten unter uns an dem Erlebten zerbrochen.» Seine Worte holten etwas längst Verdrängtes in mir hervor und ich konnte nicht anders, als wie er die Tränen loszulassen. Ich wusste nicht, wie ich ihm gebührend für seine Opfer und seine Taten danken sollte. 17


«Ich war damals kaum achtzehn Jahre alt, als ich nach Albanien flüchtete, nachdem man mich als Soldat für den Krieg in Bosnien einberufen hatte. Man inhaftierte meinen Vater, prügelte ihn fast zu Tode und schickte ihn gebrochen wieder in unser altes Haus zurück, als er ihnen meinen Fluchtort nicht verriet. So erging es damals so vielen von uns, die sich weigerten, ins Militär einzurücken. Es hat unsere Familie zerrissen, und jahrelang konnte ich nicht in die Heimat zurückkehren. Erst als der Krieg im Kosovo ausbrach, die Menschen vor den Massakern flüchteten, entschloss ich mich, an der Seite meiner Brüder mein Land zu verteidigen.» Wir kamen bei mir zuhause an und der Mann beendete seine Geschichte damit, dass sein Bruder fiel, mit dem Ende des Krieges und der Rückkehr in eine ungewisse Zukunft. «Viele von uns haben vergessen, was wir für diese Freiheit alles geopfert haben. Jeder ist gebeutelt vom Leben, in einem Land, das kaum eine Perspektive bietet. Seien Sie froh, können Sie nach Ihrem Urlaub wieder weg.» Einen Moment lang sassen wir beide da, sagten nichts und der Mann schüttelte den Kopf. Ich musste unweigerlich an die Geschichten meiner Onkel denken, die ebenfalls an der Front gekämpft hatten. Ich spürte die Erinnerungen an diese Zeit hochkommen und mit ihnen all das Leid, das mit den lange verdrängten Gedanken verbunden war. Ich nahm meine Brieftasche hervor und wollte für die Fahrt ein Vielfaches des Preises bezahlen, doch der Fahrer lehnte vehement ab. «Nein, nicht dafür», sagte er beschwörend. «Es gibt nicht genug Geld, nicht genügend Worte oder Taten, um Ihnen für Ihre Tapferkeit und Ihren Dienst zu danken. Wenn ich daran denke, wie wir in der Schweiz all dem entkommen sind, ist es das Mindeste, was wir Ihnen allen hier schulden», versuchte ich meine Gefühle zu beschreiben und wusste nicht, ob ich respektlos erschien, etwas mit Geld bezahlen zu wollen, das seinem Opfer niemals gerecht werden würde. Da sassen wir nun, zwei Fremde bei ihrer ersten Begegnung, und versuchten, den Sinn all dessen zu verstehen. Plötzlich erwiderte er: «Zojë, wir haben alle unseren Beitrag geleistet. Ich habe unser Land im Krieg, auf den Strassen und in den Wäldern verteidigt, mit dem Gewehr in der Hand. Doch dieses Gewehr wurde mit den Mitteln finanziert, die unter anderem Menschen wie Sie, Ihre Eltern und die restliche Diaspora uns ermöglicht haben. Gott allein weiss, wie oft Sie alle den letzten Euro gewendet haben, bevor sie ihn ausgaben, nur damit ein weiterer für uns gespendet werden konnte. Wie oft Ihre Eltern hungrig ins Bett gingen, um nur einen weiteren Euro für die Spenden in die Heimat zu sparen. Wie sie gebeutelt von der Angst, nie wieder die Familie zu sehen, wieder aufstanden, um in eine Telefonkabine in der kosovarischen Heimat anzurufen, in der Hoffnung, irgendjemand würde den Hörer abheben und erzählen, dass es allen gut ging. Doch es läutete ins Leere.» Er machte eine kurze Pause und schloss: «Wir haben alle unseren Preis für diese Freiheit bezahlt. Jeder auf die Weise, wie er es konnte. Auf die Art, die uns ermöglicht wurde.» 18

Seine Demut schmerzte mich, denn wir wussten beide, welche Bürde schwerer wog. «Sie erzählen dies, als ob Sie mit uns gemeinsam die Nächte durchgemacht hätten, in denen wir fast umkamen vor Verzweiflung. Als Beten das Einzige war, was uns noch blieb», sagte ich, überwältigt von meinen Gefühlen. «Ich glaube, es gibt keinen Menschen in ganz Kosovo, der nicht einen Verwandten in der Diaspora hatte, der dies durchmachen musste.» «Das könnte tatsächlich sein», gab ich zu, und wir beide fanden zu einem Lächeln, obwohl die Tatsache, dass ein so grosser Teil der Bevölkerung auf der ganzen Welt verstreut war, so schmerzhaft wie die Situation selbst war. «Gott sei Dank, dass Sie es damals nach Hause geschafft haben und dass Ihre Familie Sie wohlauf zurück­ erhalten hat. Jetzt müssen Sie nur noch den Verkehr in Prishtina überstehen, denn der scheint mir eine Gefahr für sich zu sein!» Der Mann musste lachen und nickte. «Wir haben es halt alle eilig, und anders kommen wir kaum auf ein anständiges Einkommen», erzählte er und erinnerte mich an die Geschichte eines Gesprächs mit Grossvater vor einem Jahr. «Darf ich Ihnen, bevor ich gehe, noch eine Geschichte erzählen?», fragte ich und teilte das Erbe, das Baba mir hinterlassen hatte. Über die Eile Es war einmal ein Mann, der einen kleinen Stand am Bazar hatte und dort sein Gemüse verkaufte. Er war gerade zum ersten Mal Vater geworden, und als sich der Abend näherte und es langsam dunkel wurde, machte er sich auf den Nachhauseweg, um seinen Sohn vor dessen Schlafenszeit zu sehen. Sein Weg führte am See Sateska vorbei. Der Mann erblickte den gewaltigen See, den eine Eisschicht bedeckte. In seiner Eile entschloss er sich, diesen zu überqueren, voller Sehnsucht nach seinem Neugeborenen. Doch nur einige Meter vom Ufer entfernt sollte das Eis einbrechen, und der Mann versank in den Tiefen des eisigen Wassers, wo der Tod ihn bereits erwartete. Viele Jahre später feierte sein Sohn seinen Geburtstag. Die Mutter hatte nie ein Wort über das Ableben ihres Mannes verloren, und so wünschte er sich einzig, die Wahrheit über seinen Vater zu erfahren. Schweren Herzens kam sie seinem Wunsch entgegen und berichtete, wie ihr geliebter Ehemann umgekommen war und man erst im nächsten Frühling seinen leblosen Körper aus dem See habe bergen können. «Hat es denn keinen anderen Weg nach Hause gegeben?», fragte der Sohn. «Doch, den gab es. Der andere Weg war jedoch viel länger und er wollte nicht zu spät zu dir kommen.» «Aber wäre er den anderen Weg gegangen, wäre er dann bis heute angekommen, so dass ich zumindest jetzt mit ihm zusammen sein könnte?» «Die Moral von der Geschichte ist: Ihre Kinder möchten Sie lieber später oder mit weniger Einkommen bei sich haben als gar nicht», schloss ich. Surprise 529/22


PORTRÄTBILD: VALENTINA PEZZO

Der Fahrer nickte und dankte mir für die Anekdote. Es war ein Geschenk, die Geschichten auf diese Art weiterleben zu lassen, besonders an diesem Tag. «Wissen Sie, ich glaube, dass einem Menschen nie zufällig begegnen», und er zeigte auf seine Uhr. «Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit, für heute Schluss zu machen und zu meiner Familie zurückzukehren. Ich danke Ihnen für Ihre Gesellschaft, Zojë.» «Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre – möge Gott Sie schützen», sagte ich und verabschiedete mich.

Die Liebe und Treue, die mich mit dieser Erde verbanden, waren Teil von mir, meiner Identität. Hier allein konnte ich mich immer wieder von Neuem finden. Hier fand ich eine Liebe, die durch nichts ersetzt werden konnte. Hier war ich ein Stück der Geschichte. Das Opfer, welches die Menschen hier für die Freiheit erbracht hatten, würden wir niemals ermessen können, wir würden ihm nie gerecht werden. Doch wir konnten versuchen, einen Beitrag zu leisten. So, wie wir es damals getan hatten.

Der Schmerz nagte immer mehr an mir, als ich das Gespräch Revue passieren liess und die Holztreppen zu unserem Haus hinaufstieg. Die Zeit, in der wir aus der Ferne fassungslos dem Ende unseres Volkes entgegensahen, war nicht weit entfernt. Immer wieder war ich erstaunt, mit welcher Kraft die Menschen in der Heimat ihr Leben wieder zurückerobert hatten und bis heute alle Krisen bewältigten. Ich trug eine immense Bewunderung für sie in mir, und gerade in Momenten wie während der Fahrt spürte ich auch, welche Schuld in mir wach wurde. Damals waren wir all dem entkommen. Doch heute fühlte es sich oft so an, als würde ich mit jedem Zurücklassen der Heimat auch die Menschen und das Land aus meinen Gedanken verbannen.

SHQIPE SYLEJMANI wurde 1988 in Prishtina, Kosovo geboren und lebt seit ihrem vierten Lebensjahr in der Schweiz. Sie studierte Journalismus in Zürich. In ihrem Erstlingswerk «Bürde & Segen» (2020) blickt sie auf ihre Migrationserfahrungen und die Reisen in ihre Heimat zurück. Der abgedruckte Text ist ein Kapitel aus dem neuen Roman «Würde und Vergebung», der im Oktober 2022 erscheint.

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3/6/22 – 4/9/22

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litafrika Poesien eines Kontinents

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Die Schlafpartei TEXT ARIANE KOCH

1. Ich träumte, dass ich in einem Freilichttheater mitspiele. Die Bühne war ein Fels. Das Wetter war miserabel. Ein grauer Regen peitschte auf den Stein, weit und breit keine Zuschauer*innen. Ich suchte verzweifelt den Ausdruck meines Textes, von dem ich wusste, dass ich ihn gut beherrscht hatte, nun aber kein Wort mehr davon wiederzugeben in der Lage war. Eine ältere Schauspielerin half mir beim Suchen und zitierte frei ein paar Sätze daraus, die mir nicht einmal bekannt vorkamen. Ein junger Schauspieler kam mit stahlblauen Augen immer näher an mich heran, also ging ich von der Bühne ab ­beziehungsweise kletterte ich den Fels hinunter und betrat die Hinterbühne des Theaters, die eine Villa war. Dort suchte ich lange weiter, begegnete jedoch nur mit Blachen abgedeckten Möbeln. 2. Ich war nie eine grosse Schläferin beziehungsweise keine Lang- oder Vielschläferin. Ich schlafe gern fest, aber kurz. Ich bin auch selten müde und wenn doch, so gebe ich es ungern zu. 3. Als ich einmal sehr erschöpft war – von der Arbeit und der Liebe –, da legte ich mich auf den kleinen Rasen im Garten meiner Eltern, um Oblomov* zu lesen. 20

Auf Seite 44 bemerkte ich einen unangenehmen Geruch und tippte auf Katzenkot. Auf Seite 80 schlief ich ein, träumte das Buch zu Ende und noch weiter und nahm es fortan nie mehr in die Hand. 4. Man sollte nicht schlafen, um nicht zu arbeiten, sondern arbeiten, um nicht nur zu schlafen. 5. Man sollte gar nicht arbeiten, sondern herumliegen und Schwätzchen halten, wie Oblomov. 6. Wenn man den Schlaf personifizieren müsste, so würde ich sagen, er ist m bereits beim ersten Stichwort derartig ab, dass wir es nie zum zweiten schafften. 7. Vielleicht sollten wir im Allgemeinen mehr abbiegen. 8. Wenn der Schlaf meine Grossmutter ist, so hat er einen holländischen Akzent, den er aus Protest gegenüber einer rückständigen Schweiz nie abgelegt hat. 9. Es könnte eine Schlafpartei gegründet werden. 10. Es könnte sein, dass eine Schlafpartei einige Surprise 529/22


PORTRÄTBILD: MAYK WENDT

­Anhänger*innen finden würde.

gliedschaft willenlos unterschrieben).

11. Es könnte leider sein, dass die Schlafpartei nicht ins Parlament gewählt würde.

18. Oder es gäbe kein Flugblatt, sondern ein Werbekissen.

12. Wenn die Schlafpartei doch ins Parlament gewählt würde, so schliefen ihre Vertreter*innen während den Sessionen. 13. Ich denke, es lässt sich durchaus dösend regieren – auch Oblomov regierte vom Bett aus. Viele Menschen schwatzen im Schlaf – auch ich. 14. Überhaupt wären viele verschiedene Schläfer*innen in der Schlafpartei willkommen. Zum Beispiel Schlafwandler*innen, Schlaftrunkene, Schlafforscher*innen, Träumer*innen, Traumlose, Bettlägerige, Bettver­ weiger*innen, Bettnässer*innen, Menschen ohne Bett, Menschen ohne Schlaf.

19. Sie sehen, es gäbe viele Möglichkeiten, wie die Schlafpartei gestaltet werden könnte. Ich bin durchaus offen für weitere Ideen von potenziellen Mitgliedern. Die Ideen können Sie mir gerne per Traum zukommen lassen. 20. Meine Grossmutter hätte übrigens eine Schwatzpartei bevorzugt, aber die muss ich an einem anderen Tag (oder in einer anderen Nacht) gründen.

* «Oblomov» von Ivan Gontscharov ist ein russischer Roman (1859), der von Faulheit handelt.

15. Die Schlafpartei könnte Schlafpartys veranstalten, bei der gemeinsam geschlafen würde (nicht zu verwechseln mit Gruppensex). 16. Vielleicht würde dann endlich das gemeinsame nächtliche Träumen entdeckt. 17. Die Schlafpartei könnte mit einem Flugblatt beworben werden, das so lang ist, dass es erstens am Boden nachgeschleift würde und zweitens die Menschen sofort in einen Schlaf verfallen liesse (und sie die ParteimitSurprise 529/22

ARIANE KOCH (geboren 1988 in Basel) schreibt Theater-, Performance-, Hörspiel- und Prosatexte – manchmal auch in Kollaboration. Demnächst geht sie für sechs Monate mit einem Aufenthalts­ stipendium der Landis & Gyr-Stiftung nach London.

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«… denn wir wissen, was ihr tut!» TEXT SAMIRA EL-MAAWI

Haben Sie es bemerkt? Sie sind alle weg alle samt sind sie nicht mehr da. All die kleinen Angelas, usw. Bertas, usw. Cyrills, usw. Djamilas, usw. Erinas, usw. Finns, usw. Ghanimas, usw. Hannas, usw. Ismaels, usw. Joes, usw. Kais, usw.

Ljudmilas, usw. Mehmets, usw. Natalias, usw. Olivias, usw. Petras, usw. Quinns, usw. Regulas, usw. Sehids, usw. Thomas, usw. Uwes, usw. Viviannes, usw. Walters, usw. Xaviers, usw. Yunas, usw. Zoras, usw. Nach dem Alphabet nacheinander

sind sie alle samt gegangen. Die Betten sind leer die Schulen auch die Kindergärten die Kitas und auch die Strassen und die Spielplätze. Die Kinder haben alles verlassen sind davon

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PORTRÄTBILD: EVA LINDER

gegangen. Es blieb ihnen nichts mehr übrig nichts anderes blieb übrig als zu gehen. Haben Sie sie nicht gesehen? Sie haben sich vor unseren Augen davongemacht alle samt die Kapuzen übergezogen eins nach dem anderen und dann miteinander sind sie davon wie Schwalben, haben das Risiko des Weges auf sich genommen. Jetzt ist nichts mehr von ihnen da nur diese Notiz: «Ihr habt uns bestohlen!» Haben Sie sie nicht gelesen? Sie dachten sicher, sicher ist es nicht wichtig denn Kinder haben sowieso nur Blödsinn im Kopf nichts ist wichtig was Kinder sagen denn sie sind vorlaut ständig am reden ständig am spielen und vor allem am träumen. Aber mit einem Auge sind sie immer dabei. Sie sehen sie spüren sie beobachten uns Surprise 529/22

wie wir in Parallelwelten leben nicht bei ihnen sind obwohl wir physisch anwesend sind. Uns selbst optimieren und gleichzeitig Menschen schichten, in Bunkern unter der Erde lagern, ihnen in Lastwagen die Luft wegnehmen, sie im Wasser aufblähen lassen, die Meere leeren, den Boden, das Gewässer, die Luft verschmutzen. Sie täuschen sich also wir haben den Blödsinn im Kopf sie sind nur Symptom Träger*innen, und ohne zu wollen bohrt er sich in sie hinein unser Blödsinn internalisiert verwächst sich in die kleinen Köpfe und so geht er weiter der Blödsinn – eine ernstzunehmende Gefahr eine unmenschliche Quelle zerstörerischer Handlungen. So wie wir tun So wie wir sind verbleiben die Kinder. Aber jetzt sind sie davon gegangen und mit ihnen

ihr Lachen ihre Kreativität ihr Einfallsreichtum ihre Gedanken ihr Humor ihre Klarheit ihre Leichtigkeit – unsere Zukunft. Ihr Erbe, das werden sie nicht antreten – keine brennende Erde keine verschmutzte Luft keine Kriegsfolgen keine Hungerfolgen keine transgenerationalen Traumas. Sie werden nichts von all dem übernehmen und kommen erst wieder wenn wir ihnen ihre Gründe zurück geben.

SAMIRA EL-MAAWI ist freischaffende Autorin und Schreibcoach. Sie erhielt ein SchreibAtelierstipendium sowie einen Freiraumbeitrag der Fachstelle Kultur des Kantons Zürich. Ihr Debütroman «In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel» erschien 2020 im Zytglogge Verlag, das Hörstück «Schnee» wurde für den nationalen Wettbewerb beim Sonohr Radio & Podcast Festival 2020 nominiert.

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Flucht von Alcatraz Das ist die Geschichte von einem, der schon sein ganzes Leben lang gefangen war. Gefangen in sich selber. Der so viel Kraft gehabt hätte und so glücklich gewesen wäre, hätte er sich befreien können von all den inneren Zwängen und Hemmungen. Gerade kürzlich hatte er es wieder gespürt, es war beim Fussballspielen mit seinen Arbeitskollegen, er schoss ein wunderschönes Tor, eine Direkt­ abnahme, alle jubelten ihm zu, aber er winkte nur ab, als wollte er sagen, hört schon auf, so verrückt war das jetzt auch wieder nicht. Und nachher wollten sie ihn feiern für dieses Tor und ihm ein Bier spendieren, aber er erfand eine Ausrede und ging. Innerlich zerriss es ihn beinahe, aber er konnte einfach nicht anders, da stand etwas im Weg, eine unsichtbare, mächtige Mauer. Er setzte sich zu Hause aufs Sofa und stellte den Fernseher ein. Da lief Flucht von Alcatraz mit Clint Eastwood. Und er hatte eine Idee. Tags darauf kaufte er nach der Arbeit in einem Bastelshop Tapetenkleister und Luftballons. Zu Hause bastelte er sich einen Kopf aus Papiermaché, genau wie Clint Eastwood im Film, und malte ihn vor dem Spiegel an, bis er ungefähr sein Ebenbild in der Hand hatte. Und dann, in der Nacht darauf – es war Vollmond –, da haute er ab. Ging in den Kleidern zu Bett, schlüpfte mitten in der Nacht ganz leise unter der Decke hervor, legte den Kopf aufs Kissen, stopfte mit Kleidern die Decke aus, damit es aussah, als läge er noch immer im Bett, ging auf Zehenspitzen zum Fenster, knüpfte drei Leintücher zusammen und stieg hinaus. Die Luft war kühl und klar. Er warf einen letzten Blick zurück, auf sich selber dort im Bett. Dann seilte er sich ab und lief los, auf und davon. Er lief und lief, durch die Strassen, über die Wiesen, durch den Wald, bis er sich sicher war, dass ihn niemand mehr ver24

folgte. Auf einer wunderschönen Lichtung sank er völlig ausgepumpt ins Gras, lag auf dem Rücken und schaute in den unendlichen Sternenhimmel. Und fing plötzlich an zu grinsen, übers ganze Gesicht, hörte nicht mehr auf, es schüttelte ihn richtig am ganzen Körper, und dann fuhr es aus ihm hinaus, eine Mischung aus Schrei und Jauchzer, er erschrak über diese Stimme, die hatte er von sich selber noch nie gehört, so tief und voll, und er sprang auf und tanzte wie ein Derwisch über die Lichtung, warf die Kleider von sich und tanzte und sprang splitternackt umher, legte sich hin, sprang wieder umher, bis zum Morgengrauen. Erst als er wieder vor seiner eigenen Wohnung stand, fiel ihm ein, dass er ja gar keinen Schlüssel bei sich hatte und sein Schlüssel von der Innenseite her steckte. Erst eingesperrt, dann ausgesperrt, dachte er. Und einen Augenblick lang war es, als würde sein gehemmtes, sein eingesperrtes Ich wieder die Überhand gewinnen, aber dann nahm er Anlauf, stiess einen Schrei aus und drückte die Türe ein, als wäre sie aus Papier.

RALF SCHLATTER, 1971 in Schaffhausen geboren, lebt in Zürich als Autor und Kabarettist im preisgekrönten Duo schön&gut. Zu seinen Werken gehören die Romane «Federseel», «Sagte Liesegang», «Steingrubers Jahr» und «Muttertag», der Erzählband «Verzettelt», der Lyrikband «König der Welt». «Flucht aus Alcatraz» stammt aus seinem neuen Buch «43 586 – Ein Schweizer Decamerone», eine Geschichtensammlung mit Rahmenhandlung. Darin enthalten sind auch all seine in den bisherigen Surprise-Literaturnummern publizierten Texte.

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PORTRÄTBILD: RUTH GRÜNENFELDER

TEXT RALF SCHLATTER


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Wir alle sind Surprise #525: Werbeanzeige Heilsarmee

#524: Durch den Urwald

«Menschenunwürdig»

«Sternchen, wohin man blickt»

Die Heilsarmee wirbt mit «Der letzte Obdachlose der Schweiz». Einige von uns Obdachlosen sind sprachlos und empört. Ich bin ein Waldmensch und möchte wie in Bern hier in Winterthur im Walde leben. Die Polizei hat mich schon zweimal des Waldes verwiesen und zur Heilsarmee in Winterthur geschickt. Ich teilte ein kleines Zimmer mit drei anderen Obdachlosen. Die WC-Spülung war oft verstopft, vom Waschbecken lief das Wasser direkt auf die Füsse. Sechs Wochen wurde nichts geflickt, erst nach einer Email und einem Anruf bei der Zentrale in London wurden Reparaturen vorgenommen. Die haben diktatorische Regeln. Zutritt ist nur von 19:00 abends bis 09:00 Uhr morgens. Ich kam mal zehn Minuten zu früh und musste dringend aufs WC, nein, es sei zu früh, und die Türe wurde mir ins Gesicht zugeschletzt. Ich erhielt die Abrechnung vom Sozialamt Winterthur, das für den Monat April CHF 3255.00 an die Heilsarmee bezahlte. Ist der Winterthurer Steuerzahler einverstanden, dass so viel Geld für einen menschenunwürdigen Service bezahlt wird? E. A . WESTACOT T HARI, Obdachloser

Gerne habe ich bis jetzt oft das Surprise Heft gekauft und gelesen. Nun freute ich mich bei Ausgabe Nr. 524 auf den Text «Durch den Urwald».

Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 43 321 28 78 M+41 79 797 94 10 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Klaus Petrus (kp), Sara Winter Sayilir (win) Reporter*innen: Andres Eberhard (eba), Lea Stuber (lea) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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«Am Gewinn interessiert»

Aber solche Texte zu schreiben, hat für mich nichts mehr mit der deutschen Sprache zu tun. Einfach nur lächerlich und verhunzend.

Wenn ich Zeitung lese, habe ich immer das Gefühl, da fehlt doch die Hauptsache. Zum Beispiel kommen in Ihrem interessanten Bericht über die Erdölraffinerie Cressier (welche ich nicht kannte!) viele Fakten. Doch erst jetzt wird an ein Fernwärme-Netz gedacht, obwohl das Gas seit den 1960er-Jahren abgefackelt wird. Jetzt wird davon gesprochen, das Gas «sinnvoll» einzusetzen. Weil Shell/VARO nicht an der Natur/Klima interessiert ist, sondern am Gewinn. Warum dann jetzt das Fernwärmenetz? Weil die Anlage aus Klimagründen eigentlich geschlossen werden sollte! So werden schnell Sachzwänge geschaffen, damit das Geschäft mit dem Erdöl weitergeht. Übrigens wird uns wohl nächstens auch wieder die Kernenergie angedreht! Ja, die vielen E-Bikes brauchen halt «sauberen» Strom. So werden die Menschen immer wieder aufs Neue manipuliert.

S. MOSER, Bern

B. B., ohne Ort

Nachdem ich auf der dritten Seite des Berichts angelangt war, beschloss ich, das Surprise nie mehr zu kaufen. Sternchen, wohin man blickt, normales Lesen ist so nicht mehr möglich. Es gibt sehr wohl gute Texte, die Rücksicht auf die weibliche Form nehmen und trotzdem der Lesespass erhalten bleibt.

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel

#527: Der schmutzigste Ort der Schweiz

Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Donat Blum, Josef Bruckmoser, Foto Flausen, Myriam Kaelin, Ariane Koch, Samira El-Maawi, Julia Rüegger, Ralf Schlatter, Shqipe Sylejmani, Christopher Zimmer

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse

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FOTO: FOTO FLAUSEN

Internationales Verkäufer*innen-Porträt

«Ein Geben und Nehmen» «Ich habe Arbeit, Essen, eine Wohnung und einen Pass», sagt Friday Akpan auf die Frage, wie es ihm gehe. Das erste Mal traf ich ihn zufällig in der Getreidegasse in Salzburg. Eine strategisch günstige Stelle, um die Zeitschrift Apropos zu verkaufen. Friday hat erfreulich viele Stammkunden, mit denen er sich austauscht. «So kann ich die deutsche Sprache üben», sagt der Mann aus Nigeria, der am 15. September 2014 von Italien aus nach Österreich kam. Die ersten Zeitungen verkaufte Friday schon 2015. Der Einstieg bei Apropos war ein Glücksfall. Mit dem Verkauf der Salzburger Strassenzeitung kam ein Stein ins Rollen, der letztlich zum ­anerkannten Asylstatus führte. Denn die freundliche und offene Art des Zeitungsverkäufers fiel auch den Betreibern eines ­Hotels ganz in der Nähe seines Verkaufsstandorts auf. So bekam Friday in diesem Hotel seine erste feste Anstellung. Neben den Kolleg*innen der Strassenzeitung sind für Friday in Salzburg zwei afrikanische Communitys zur neuen Heimat ­geworden. Die eine trifft sich auf dem Fussballplatz zu a ­ frikanischen Meisterschaften. Zwar ist die Herkunft der einzelnen Spieler nicht so wichtig, trotzdem spielt Friday meist mit Freunden aus seinem Heimatland. Die Goldmedaille aber, die er nun stolz in seinem Wohnzimmer präsentiert, hat er für ein ­anderes westafrikanisches Land gewonnen. «Ich habe für Gambia gespielt, weil die sonst keine Mannschaft zusammengebracht hätten.» Die andere Community trifft sich jeweils am Sonntag zum Gottesdienst. Friday hat in seinen ersten Jahren in S ­ alzburg viel Unterstützung von der christlichen Gemeinschaft erhalten und fühlt sich seither mit diesen Menschen eng verbunden. Der Pass, die E-Card, die ÖBB-Vorteilscard, das Busticket für die Fahrt in die Arbeit: Friday ist für den Alltag in Österreich ­ bestens gerüstet. Zu seinen wertvollsten Dokumenten gehört der Asylbescheid. In Nigeria musste Friday Sunday Akpan, wie er mit vollem Namen heisst, neben seinen Eltern auch die beiden Brüder sowie seinen 14-jährigen Sohn zurücklassen. Auch mit seiner jetzigen Familie kann Friday nicht zusammenleben. Sein jüngster Sohn wurde im Mai 2021 im LʼHôpital Femme Mère Enfant in Lyon geboren, weil die Mutter keine österreichische E-Card hat. Seither leben die beiden in Frankreich. An Weihnachten überwies Friday ihnen 200 Euro, worauf er stolz war. Dass er mitunter etwas auf die Seite legen kann, hängt mit ­seiner Arbeit zusammen. Friday ist inzwischen fest bei einer Metallbaufirma nahe Salzburg angestellt. «Meistens fahre ich schon morgens um halb sieben von zuhause in die Firma. So kann ich schon mal eine Überstunde schreiben.» Zu seinem Chef hat er einen guten Draht. Letzte Weihnachten schickte er ihm eine SMS mit den Worten: «I wish you a life of milk and honey, joy, property, long life, welcome to 2022, a year of no ­regret.» Fridays Einkommen reicht für Wohnung und Lebensunterhalt. Der Verkauf von Apropos ist aber nicht nur ein Z ­ ustupf, sondern sein ganz persönlicher Draht zu den Kund*innen, was ihm sehr wichtig ist. Wie der Verkauf läuft, hängt auch von 30

Friday Akpan, 33, aus Nigeria, verkauft in Salzburg die Strassenzeitung Apropos und hat für Gambia im Fussball eine Goldmedaille gewonnen.

der Jahreszeit ab. Der Sommer ist eine gute Zeit, der Höhepunkt des Jahres aber ist Weihnachten. Dann sind die ­Kund*innen spendabel. Letzten Dezember lief es für F ­ riday ­ausserordentlich gut; deshalb konnte er auch die 200 Euro an seine Familie senden. «Das Leben ist ein Geben und Nehmen», ist Friday überzeugt. «Bist du freundlich zu den Leuten, sind die Leute auch freundlich zu dir.» Mit seiner umgänglichen und hilfsbereiten Art hatte er im österreichischen Asylverfahren mit seinen vielen Hürden gute Karten. Auf diese hofft er weiterhin, vor allem was den Verbleib seines jüngsten Sohnes betrifft. Denn nichts möchte Friday mehr als seine Familie nach Österreich holen.

Aufgezeichnet von JOSEF BRUCKMOSER Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von APROPOS/INTERNATIONAL NET WORK OF STREET PAPERS

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VOM OBDACHLOSEN ZUM STADTFÜHRER Eine Podcastserie von Surprise in fünf Teilen Episode 1

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