pflichtlektüre 06/2012

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pflichtlektüre Studentenmagazin für die Universitäten Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen

062012

Lernen an Leichen Wenn Menschen ihren Körper der Wissenschaft spenden

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Impressum Herausgeber Institut für Journalistik, TU Dortmund Projektleitung Dr. des. Annika Sehl (ViSdP) Redaktionsleitung Sigrun Rottmann Redaktion Uni-Center, Vogelpothsweg 74, Campus Nord, 44227 Dortmund Tel.: 0231/755-7473, post@pflichtlektuere.com Chef vom Dienst Nils Bickenbach Textchefinnen Kerstin Börß, Melanie Meyer Fotoredaktion Florian Hückelheim, Katharina Kirchhoff, Christiane Reinert, Moritz Tschermak Titelbild Moritz Tschermak Layout & Illustrationen Mats Schönauer, Philipp Schulte, Manuel Solde Redakteure und Reporter Elena Bernard, Maike Dedering, Kornelius Dittmer, Susann Eberlein, Katrin Ewert, Mareike Fangmann, Jonas Fehling, Jana Fischer, Anna Friedrich, Ann-Kathrin Gumpert, Luzie Hecking, Natalie Klein, Olga Kourova, Marie Lanfermann, Mareike Maack, Judith Merkelt, Julia Viktoria Neumann, Alexandra Ossadnik, Helene Seidenstücker, Lena Seiferlin, Dominik Speck, Julia Stollenwerk, Linda Zuber Druck Data 2000 GmbH Kaiser-Wilhelm-Str. 93 20355 Hamburg

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Eins vorab

TEXTJana Fischer FOTOflorian hückelheim

I

mir, wie ich gehört habe, ohne naturwissenschaftlich-technisches Studium nämlich gleich abschminken. Halb so wild, denn selbst wenn wir mal annehmen, dass ich auf irgendeiner sozialversicherungspflichtigen Sprosse der Gesellschaftsleiter lande: Meine Rente würde sowieso nicht reichen, um eine Existenz jenseits von Brot und Wasser zu finanzieren. Und diese Berechnungen gehen wohlgemerkt davon aus, dass ich meinen Lebensabend in einem intakten Staatsgebilde verbringen darf. Ganz schön optimistisch, wenn man bedenkt, dass Europa angeblich schon längst klinisch tot ist.

ch war schon immer ein Angsthase. Selbst die harmlosesten Kleinigkeiten schafften es in meiner Kindheit, die immer gleiche Mischung aus Bauchschmerzen und Herzrasen auszulösen: Aufzüge, weil sie steckenbleiben konnten. Delfine, weil mein Bruder sie mir als menschenfressende Haie verkaufte. Der freundliche Wärter Karl aus „Benjamin Blümchen“, weil er mit seiner blauen Knubbelmütze aussah, als wüchsen ihm Füße aus dem Kopf. Eindeutig ein bösartiges Mutanten-Monster! Egal, was mich das Fürchten lehrte: In mir erwachten sofort alle Fluchtreflexe. Als der Nikolaus bei uns zuhause zum ersten (und letzten) Mal persönlich die Stiefel füllte, verkroch ich mich heulend unter der Bettdecke. Selbst ein Pflaster am Finger der Verkäuferin reichte, damit ich beim Einkaufen schleunigst den Supermarkt verließ. Man kann sich das Drama vorstellen, als mein Vater wegen einer Verletzung wochenlang mit einem Gipsarm herumlaufen musste.

Grausige Zukunftsperspektiven! Ein Glück, dass ich das Elend nicht mehr miterleben muss. Bevor es so weit ist, werde ich wahlweise einem Terroranschlag zum Opfer fallen oder an der nächsten Modeseuche der Saison (Rindergrippe? Schweinewahnsinn?) krepieren. Ginge es nach den zahllosen Gründen zur Panik, wäre ich damals am Nikolaustag lieber gleich unter der Bettdecke geblieben. Aber noch hat selbst ein Angsthase wie ich die Hoffnung, dass auch diese Gefahren mir genauso wenig anhaben werden wie die Mütze von Wärter Karl. Insofern: nur Mut!

Zur Beruhigung: Inzwischen habe ich diese Phobien überwunden. Ich benutze Fahrstühle und in meinen ganz tapferen Momenten könnte ich mir durchaus Benjamin Blümchen-Folgen ansehen, ohne wie früher die angstverschwitzten Hände vor die Augen zu halten. Dass so viel Unerschrockenheit in Übermut umschlägt, muss trotzdem niemand befürchten: Heute hält die Welt ganz andere Schreckensszenarien für mich bereit. Das fängt schon mit den Jobaussichten an. Die kann ich 03

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Er bewegt den Campus Campuskopf: Jan-Philipp Müller leitet den Hochschulsport.

Niemals satt Sag mal, Prof: Warum muss es immer das neuste Smartphone sein?

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Auf Messers Schneide Skalpelle, Tod und Körperspenden.

Willkommen daheim Schimmel im Studentenwohnheim: unzumutbare Zustände in Hacheney.

Profs sponsored by Immer mehr Unternehmen nehmen Einfluss durch Stiftungsprofessuren.

Job

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Nebenjob Pillenschlucker Special Operations: Versuchskaninchen im Dienste der Medizin.

Tod den Praktika Heißt es bald Festanstellung statt Arbeiten für lau?

LEBEN

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Die Party kannste knicken Ohne ausgefallene Partyformate geht nix mehr.

Fang endlich an zu leben! Ein perfekter Lebenslauf ist noch lange nicht alles.

Bilderrätsel Drei Engel und sieben Fehler für Charlie.

Raus

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Hagen kann mehr als hässlich Kulturgebiet: historische Industrie, romantischer Pop und Tic Tac Toe.

V-Tipps Ein letzter Blick in den Nachthimmel, die Kopfhörer auf – jetzt ist Weltuntergang.

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inhalt


Katherine Kerschen wundert sich häufig über die Verschlossenheit der Deutschen.

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ch heiße Katherine Kerschen, komme aus den USA und wohne seit zwei Jahren im Ruhrgebiet. Ursprünglich kam ich hierher, um an einer Schule als Fremdsprachenassistentin zu unterrichten. Letztes Wintersemester fing ich dann mit dem Masterstudium der Angewandten Sprachwissenschaften an der TU Dortmund an und zerbreche mir gerade den Kopf über ein mögliches Thema für die Masterarbeit. Worüber ich mir aber auch den Kopf zerbreche, ist, warum man in Deutschland nicht mit Fremden redet.

ist, aber der Fahrradweg war gesperrt und mitten auf der Straße war eine Baustelle. Eine ältere Frau kam mir entgegen, blieb stehen und rief mir zu: „Junge Frau! Das hier ist ein Bürgersteig, also nur für Fußgänger!“ Ich hielt an und wollte mich rechtfertigen und die Lage erklären, aber sie sagte nur kopfschüttelnd: „Man fährt kein Rad auf dem Bürgersteig, das tut man nicht.“ Wenn ich all die verschiedenen Ausdrücke, die mir von Fremden in Deutschland gesagt worden sind, aufzählen würde, wären die „Top Zwei“ wahrscheinlich „das macht man nicht“ oder „das ist nicht richtig“. Natürlich fangen alle mit „junge Frau“ an. Nie sagt eine fremde Person zu mir: „Guten Tag, wie geht es Ihnen?“ oder „Ihr Schal ist wirklich hübsch“. Das gilt in den USA gar nicht als aufdringlich oder oberflächlich, sondern gehört zum normalen, höflichen Umgang mit Menschen, die man nicht kennt. Ich finde das viel angenehmer, als alle anderen einfach zu ignorieren. Also versuche ich, viele meiner Mitfahrer im Zug anzulächeln. Glücklicherweise wurde ich auf diesen „Fehler“ noch nie hingewiesen.

Dass die Amerikaner offener auf Leute zugehen ist ein bekanntes Klischee – aber wie bei jedem Klischee ist auch an diesem, das habe ich gelernt, was dran. In den USA wird man tatsächlich von Unbekannten im Bus angelächelt oder kurz gegrüßt und denkt sich nichts dabei, außer, dass er oder sie nett ist. Das wird einfach erwartet, wenn man unter Menschen ist. Im Vergleich dazu versucht man in Deutschland den Blickkontakt möglichst zu vermeiden – und mit den Mitfahrern reden tut man schon gar nicht. Wenn ich als Fremde dann doch mal angesprochen werde, dann nur um mich auf Fehler hinzuweisen. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Einmal bin ich mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig gefahren, was natürlich nicht erlaubt 05

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CAMPUSKOPF Von Aerobic bis Zumba: Jan-Philipp Müller bringt Studenten in Bewegung. Seit 2004 leitet der Diplom-Sportwissenschaftler den Dortmunder Hochschulsport. TEXTJANA FISCHER FOTOFLORIAN HÜCKELHEIM

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napp 5 500 Studierende nutzen den Hochschulsport in Dortmund. Besonders beliebt ist der Fitnessbereich, der im Oktober 2009 neu eröffnet wurde.

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üller selbst war lange als Leichtathlet aktiv. Seine Spezialdisziplin: 400-MeterLauf. Inzwischen ist er öfter auf der Ruhr als auf der Tartanbahn. Beim Rudern kann er dort Sport und Natur verbinden.

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ber sechzig Sportarten hat Jan-Philipp Müllers Team im Angebot – von Jonglieren und Schach bis zu indischem Tanz. Auch in Trendsportarten wie Speedminton oder Ultimate Frisbee können Studierende sich versuchen.

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in wichtiges Projekt für Jan-Philipp Müller ist der „Pausenexpress“: „Da kommt unser Team in die Büros von TU-Angestellten und macht Fitnessübungen mit ihnen.“ Müller gefällt, dass so nicht nur Studenten vom Hochschulsport profitieren.

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SAG MAL, PROF

PROTOKOLL/FOTOJONAS FEHLING

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ie Bedürfnisse des Menschen lassen sich in drei aufeinander aufbauende Ebenen einteilen. Sie heißen Existenz, Status und Macht. Die unterste Ebene ist die Existenzsicherung – wir wollen nicht frieren und hungern. Solange man Hunger hat, ist der Status völlig egal. Erst, wenn die Bedürfnisse auf der Existenzebene erfüllt sind, möchte der Mensch mehr. Zusätzlich will er nun positive soziale Beziehungen, Gruppenzugehörigkeit, Status und Anerkennung erhalten. Ist auch das erfüllt, wollen wir etwas auf der Welt zu sagen haben, sie gestalten und andere beeinflussen können, also Macht.

der Fall, steht man meist vor dem Problem der aufwärts gerichteten Vergleiche: Menschen neigen dazu, sich mit jenen zu vergleichen, die in der Rangordnung etwas höher stehen. Diesen Abstand will man verkleinern. Die Putzfrau vergleicht sich nicht mit dem Vorstand, aber vielleicht mit dem Hausmeister. Mit dem Kauf des neuesten Smartphones hat man nun zunächst die gewünschte Stufe erreicht. Taucht aber plötzlich jemand mit einem noch neueren Smartphone auf, so setzen die aufwärts gerichteten Vergleiche ein. Man schielt auf das neue, nächst höhere Level und will das vermeintlich bessere Gerät ebenfalls besitzen. So sind wir bei Statusfragen auf Dauer nie vollkommen zufrieden. Irgendwann tritt Sättigung ein, aber es geht immer noch eine Stufe höher.

In unserer Gesellschaft begegnen uns die Bedürfnisse auf der ersten Ebene meistens nicht mehr. Viele Produkte, um die es in unserem Leben geht, sind Statussymbole und fallen deshalb in die zweite Ebene der Gruppenzugehörigkeit. Zu diesen Statussymbolen gehört zum Beispiel das neueste Smartphone auf dem Markt. Außerdem können einige Produkte signalisieren, dass man über Macht verfügt. Das klassische Beispiel ist ein Parkplatz in der Nähe der Parkplätze des Vorstands. Das sagt aus: „Ich steige gerade in der Rangordnung auf. Ich bin wichtig. Verscherz‘ es dir nicht mit mir“.

Deshalb sollte man sich zumindest klarmachen, ob man gerade hunderte von Euro in ein Gerät investieren will, das man nur für eine kurzfristig intensive Anerkennung in einer Gruppe braucht. Die Anschaffung ändert diesen Status nicht wesentlich. Ehrlich zu sich selbst zu sein und über die tatsächlichen Gründe, die zu einer Kaufentscheidung geführt haben, nachzudenken, kann also viel Geld sparen.

Wenn man nun etwas wie ein Smartphone kauft, sollte man sich vorher überlegen, welchen Zusatznutzen das bewirkt. Warum will ich dieses Ding unbedingt? Brauche ich das Produkt selbst oder geht es mir darum, jemanden zu beeindrucken? Ist Letzteres

Psychologie-Professor Heinrich Wottawa von der Ruhr-Universität Bochum 09

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Tote fürs Leben In Präparierkursen lernen Medizinstudenten beim Sezieren von Leichen den menschlichen Körper kennen. Dabei sind sie auf Menschen angewiesen, die bereit sind, sich nach ihrem Tod der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Die Körperspender ermöglichen den angehenden Ärzten, später Lebenden zu helfen. TEXTELENA BERNARD FotosMoritz Tschermak



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raun-graue Leichen liegen auf Metalltischen. Je zehn Studenten stehen in weißen Kitteln um einen Tisch herum, ausgerüstet mit Skalpellen und Pinzetten: Sezierbesteck. Über allem liegt in beißender Geruch, der die Augen tränen lässt und von Zeit zu Zeit Schwindel auslöst. Für Clara, Annika und Daniel ist die Situation nicht mehr außergewöhnlich. Zum dritten Mal stehen die Medizin-Erstsemester der Ruhr-Universität Bochum im Präparationssaal, tragen die Haut von den toten Körpern ab und legen Sehnen und Muskeln frei. „Wir machen das noch gar nicht lange, aber es wird schon fast Routine“, erzählt Annika: „Wir kommen rein und wissen genau, was wir zu tun haben.“

„Ich glaube, das macht es am Anfang leichter“, meint Daniel und Clara erzählt: „Ich rede mir ein ,Das ist nur eine Wachspuppe´. So komme ich besser damit klar und der Körper fühlt sich tatsächlich ein bisschen so an, als wäre er aus Wachs“.

Vom Entschluss bis auf den Präp-Tisch Bis ein Mensch, der seinen Körper nach dem Tode spenden möchte, wirklich den Studierenden und Ärzten zur Verfügung gestellt werden kann, ist es ein langer Weg. An der Universität Duisburg-Essen beginnt er bei Gudrun Mikus. Sie berät Menschen, die sich vorstellen können, ihren Körper der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Täglich melden sich bei ihr zwei bis drei Personen, die ihren Körper nach dem Tod spenden möchten. Mit jedem führt Gudrun Mikus ein individuelles Beratungsgespräch. „Das sind oft ganz intensive, sehr persönliche Gespräche“, erzählt sie. „Ganz wichtig ist, dass sich die Körperspender darüber bewusst sind, dass sie meist erst nach mehreren Jahren bestattet werden. Für die Angehörigen kann das eine enorme Belastung sein. Sie haben bis zur Bestattung lange Zeit keine Gedenkstätte, zu der sie gehen könnten, wie wir es in unserer Tradition gewöhnt sind. Das macht die Trauerbewältigung und das Abschiednehmen oft schwieriger und ist eine große psychische Herausforderung.“ Viele der Menschen, die sich bei ihr melden, sind alleinstehend oder haben nur wenig Kontakt zu ihrer Familie. Als Grund für ihre Spendenbereitschaft geben sie oft an, dass sie nach ihrem Tod niemanden mit der Grabpflege belasten möchten. Oft ist es aber auch der Wunsch, nach dem Tod nützlich zu sein und der Wissenschaft zu dienen: „Bei manchen ist die Körperspende so etwas wie eine Familientradition. Da haben schon die Großeltern gespendet und die Eltern, und die Kinder wollen es auch machen“, berichtet Gudrun Mikus.

Jeder Studierende ist für einen Bereich der Leiche zuständig. Annika arbeitet am Arm. Die Haut hat sie schon gelöst und unter dem Fettgewebe werden Sehnen und Muskeln sichtbar. „Anfangs hatte ich Hemmungen, den toten Körper zu berühren und habe mich total unwohl gefühlt. Wenn man am Arm präpariert, sieht man zum Beispiel auch die verkrampfte Hand der Leiche. Inzwischen habe ich mich aber schon daran gewöhnt.“ Ihr Kommilitone Daniel sagt, er habe von Anfang an kein Problem mit dem Sezieren gehabt: „Als die Leichen noch abgedeckt waren, habe ich mich unsicher gefühlt und mich gefragt, was wohl auf mich zukommt. Als sie dann aber aufgedeckt wurden, habe ich als Erster angefangen zu präparieren. Das ist zum Beispiel am Fuß technisch gar nicht so einfach. Die Hornhaut ist ziemlich dick und durch die Fixierung zusätzlich verhärtet.“ Gedanken über die Persönlichkeit des Menschen, der da vor ihnen auf dem Seziertisch liegt, blenden Clara, Annika und Daniel bisher bewusst aus.

„Ich habe eine Stunde lang geduscht, um den Geruch wieder loszuwerden.“

Daniel (22) und Annika (19) studieren Medizin im ersten Semester an der RUB.

Für die Aufnahme in die Körperspenderkartei hat das Universitätsklinikum ein Mindestalter von 60 Jahren festgelegt. Seit 2004 muss jeder, der in die Kartei aufgenommen wird, sofort einen Beitrag zu den Bestattungskosten leisten: 900 Euro, wenn er eine Urnenbestattung auf dem Gräberfeld des Universitätsklinikums wünscht, 500 Euro, wenn er in einem eigenen, von der Familie bezahlten Grab bestattet werden möchte oder die Asche verstreut werden soll. „Die Kosten für das Universitätsklinikum liegen weit höher. Bis 2004 haben wir dafür das Sterbegeld von der Krankenkasse bekommen. Als das abgeschafft wurde, kam eine Kostenexplosion auf uns zu. Deshalb nehmen wir seitdem einen Beitrag von den Spendern“, erklärt Gudrun Mikus. Die Spendenbereitschaft sei trotz der damit verbundenen Kosten nicht zurückgegangen. Noch immer gebe es mehr Spendewillige, als das Institut aufnehmen kann.

An die Arbeit mit Leichen hat sich Clara (19) schon gewöhnt.

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Die Medizinstudenten lernen in den Präp-Kursen den menschlichen Körper genau kennen. Diese Erfahrung ist für den späteren Beruf unverzichtbar.

An der RUB müssen die Spender bisher keinen finanziellen Beitrag leisten; alle Kosten trägt die Uni. Wie an der UDE sollte der Körper aber bestimmte Voraussetzungen erfüllen: Der Spender darf nicht unter ansteckenden Krankheiten wie Tuberkulose oder HIV leiden, es dürfen zum Todeszeitpunkt keine schweren Verletzungen vorliegen und auch eine vorherige Organspende ist nicht möglich. Spezielle Krankheitsbilder hingegen können interessant sein: „Die meisten Menschen sterben ja nicht einfach so, sondern an Krankheiten, die auch den Körper verändern. Die Studenten müssen im Rahmen der Präparierkurse herausfinden, woran der Mensch gestorben ist“, erklärt der Bochumer Anatomieprofessor Rolf Dermietzel. Ein Ausschlusskriterium hingegen ist Übergewicht: „Das machen wir nicht mehr, denn man kann es den Studenten nicht zumuten, wenn jemand 100 Kilo oder mehr wiegt.“

Körperspendeausweis immer dabei

er gewaschen und vorbereitet. Damit der Körper nicht verwest, muss er durch ein spezielles Verfahren haltbar gemacht werden. „Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten“, erläutert Eva Urselmans, Präparatorin an der Universität Duisburg-Essen. „Für die Präparierkurse werden die Körper mit Formalin haltbar gemacht. Sollen sie dagegen für ärztliche Fortbildungen dienen, werden sie mit Alkohol fixiert. Letzteres kann die Verwesung zwar nicht aufhalten, sondern nur verlangsamen, dafür bleiben aber die Gelenke beweglich. Bei OP-Fortbildungskursen ist das sehr wichtig.“ Die Chemikalie Formalin dagegen ist zwar in der Lage, die Leichen jahrelang frisch zu halten, macht sie aber gleichzeitig unbeweglich. „Damit sie etwas geschmeidiger bleiben, enthält die Fixierlösung auch Glycerin,“ erklärt Eva Urselmans.

Erfüllt ein Spender alle Voraussetzungen, unterschreibt er eine Erklärung und erhält einen Körperspendeausweis, den er von da an immer bei sich tragen soll. Darauf ist die Telefonnummer des zuständigen Bestattungsinstituts vermerkt. Das muss unverzüglich benachrichtigt werden, sobald der Tod des Spenders von einem Arzt festgestellt wurde. In einem Umkreis von 50 Kilometern lässt die UDE den Leichnam abholen, die RUB im Umkreis von 100 Kilometern. Dann beginnt die Arbeit der Präparatoren. Sobald die Personalien des Verstorbenen geprüft wurden, wird

Sobald wie möglich nach dem Tod muss die Fixierlösung in den Körper eingebracht werden. Mit einem Druckgerät injizieren die Präparatoren das Formalingemisch in Blutgefäße im Oberschenkel, von wo aus es sich im ganzen Körper verteilt. Mindestens ein Jahr lang bleibt der Körper dann in einer Anlage liegen, in der er bis zur Verwendung im Präparierkurs kontinuierlich mit Formalin berieselt wird. Alkoholfixierte Leichen werden dagegen eingefroren und einige Tage vor der ärztlichen Fortbildung wieder aufgetaut.

„Ich rede mir ein ‚Das ist nur eine Wachspuppe‘. So komme ich besser damit klar.“

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Bevor eine formalinfixierte Leiche in einem Präparierkurs genutzt wird, muss sie gründlich gewässert werden. „Das ist wichtig, damit möglichst wenige Formalindämpfe austreten“, sagt die Präparatorin. „Denn Formalin ist ein Gefahrenstoff, der möglicherweise krebserregend ist“. Zum weiteren Schutz der Studierenden und ihrer Betreuer im Kurs gibt es in der Essener Anatomie unter jedem Tisch eine Absauganlage, die das von den Leichen ausgehende Formalin direkt aufnimmt. An der RUB dagegen hält eine Belüftungsanlage, die den ganzen Raum versorgt, die Formalinkonzentration in der Luft möglichst gering. Doch auch wenn die vorgeschriebenen Werte nicht überschritten werden, nehmen die Studenten den Formalingeruch als belastend wahr. „Beim ersten Mal ist mir schwindelig geworden und ich habe Kopfschmerzen gekriegt“, erzählt Clara. „Zu Hause habe ich dann eine Stunde lang geduscht, um den Geruch wieder loszuwerden.“

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Trauerbewältigung ohne Grabstätte Dennoch ist Clara froh, dass sie den Präp-Kurs besuchen kann: „Natürlich kann man sich auch in einem Buch angucken, wie zum Beispiel ein Nerv aussieht. Aber eine richtige Vorstellung bekommt man erst, wenn man alles in echt sieht und anfassen kann. Das ist sehr wichtig für uns, damit wir später lebenden Menschen helfen können.“ Die 19-Jährige hat schon selbst darüber nachgedacht, ihren Körper nach ihrem Tod der Forschung zur Verfügung zu stellen: „Nach meinem Tod merke ich eh nichts mehr und ich finde es wichtig, anderen zu helfen, gute Ärzte zu werden.“ Annika und Daniel haben zwar auch schon über die Körperspende nachgedacht, sich dann aber beide dagegen entschieden: „Schon allein wegen meiner Familie“, sagt Annika. „Mir selbst tat es auch gut, meinen Opa nach seinem Tod noch einmal aufgebahrt zu sehen und mich verabschieden zu können. Ich glaube, es wäre für meine Familie sehr schwer, wenn ich jahrelang nicht beerdigt würde.“

2.

„Ich finde es gut, wenn ich nach meinem Tod noch nützlich bin.“

3.

Reinhold Weispfennig hat diese Erfahrung gemacht: Seine Mutter und sein Vater haben sich der Wissenschaft zur Verfügung gestellt. „Meine Eltern haben mit der ganzen Familie über ihre Entscheidung gesprochen und wir waren damit einverstanden“, erzählt er. „Wir sind nicht religiös und schon immer offen mit dem Thema Tod umgegangen. Vielleicht war es deshalb für uns nicht so schwierig.“ Seine Mutter habe die Grabpflege immer als unangenehm gefunden und wollte ihren Kindern damit nicht zur Last fallen. Obwohl seine Mutter erst mehr als zwei Jahre nach ihrem Tod bestattet wurde, ist die Familie gut mit der Trauerbewältigung klargekommen: „Wir haben uns im Familienkreis über gemeinsame Erlebnisse mit meiner Mutter unterhalten und an sie gedacht. Ein Grab brauchten wir dafür nicht. Nur meine Nichten und Neffen fanden es komisch, dass die Oma erstmal nicht beerdigt wird.“ Reinhold Weispfennig hat seine Eltern beim Sterben begleitet und schon dabei Abschied genommen.

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1. Um die Haut zu schneiden, müssen die Skalpellklingen gut geschärft sein. 2. Mit Kittel, Schürze und Handschuhen geht es an die Arbeit. 3. Je zehn Studenten präparieren verschiedene Bereiche einer Leiche. 4. Um zu den darunter liegenden Schichten vorzudringen, wird das Fettgewebe herausgelöst und in einer Schale gesammelt. Später werden alle Teile der Leiche zusammen eingeäschert.

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meist im April, veranstalten die Universitäten eine Gedenkfeier für alle Körperspender, die im vorangegangenen Wintersemester in Präparierkursen genutzt wurden. Neben den Angehörigen der Verstorbenen sind auch die Studierenden und Mitarbeiter, die an den Kursen beteiligt waren, zu der Feierlichkeit eingeladen. So können sie den Spendern einen letzten Respekt zollen. Alle Teile einer Leiche werden zusammen eingeäschert. Während des Präparierkurses gibt es deshalb an jedem Tisch einen Behälter, der ausschließlich für Teile des jeweiligen Körpers bestimmt ist. An der nächsten Gedenkfeier wollen die Studenten auf jeden Fall teilnehmen. Daniel sagt: „Ich finde es sehr wichtig, dass man sich durch den Präparierkurs auch mit dem Tod beschäftigt. Und bei der Gedenkfeier können wir noch einmal zeigen, wie dankbar wir den Menschen sind, die uns durch ihre Spende so sehr geholfen haben.“

„Bei der Beisetzungsfeier war die Trauerbewältigung schon abgeschlossen“, sagt er. „Trotzdem war das eine gute Abrundung.“ Auch Tina Indenkämpen ist der Überzeugung, dass ein Grab nicht notwendig ist, um sich an einen Verstorbenen zu erinnern. Die 38-Jährige möchte ihren Körper später selbst der Wissenschaft spenden: „Ich hoffe, dass es bei mir noch etwas dauert, aber man sollte sich ja schon früh Gedanken machen. Da ich keine Kinder habe, glaube ich nicht, dass sich nach meinem Tod noch irgendwer für mich interessieren wird. Wenn ich auf einem Präparier-Tisch lande, kann zumindest noch jemand etwas mit mir anfangen. Ich finde es gut, wenn ich noch nützlich bin.“ Die Medizinstudenten sind Menschen wie ihr sehr dankbar für ihre Entscheidung. „Ich bewundere die Körperspender. Für uns ist es unglaublich hilfreich, dass wir an ihnen üben können“, sagt Daniel. Auch Professor Dermietzel bestätigt: „Wir sind auf die Körperspender angewiesen, denn nur dank ihnen können die Studenten den menschlichen Körper genau kennenlernen und auch individuelle Unterschiede erkennen. Für ihren späteren Beruf ist das unverzichtbar. Modelle können zwar einen Zusatznutzen bringen, aber sie sind zu oberflächlich.“ Einmal im Jahr,

Gelöste Stimmung nach dem Präparieren. Hände waschen und ab nach Hause!

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SCHÖNER WOHNEN Schimmel in fast jeder Ecke, anonymes Nebeneinander-Wohnen und winzige Zimmer – klingt nach Horror-Zuständen? Für viele ERASMUS-Studenten der TU Dortmund sind sie Realität. Willkommen im Wohnheim Hacheney! TEXTMAREIKE FANGMANN FOTOSMAREIKE FANGMANN, KATHARINA KIRCHHOFF

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in riesiger weißer Gebäudetrakt - das Erste, was beim Aussteigen aus der U-Bahn in Hacheney auffällt. Zwischen Büros des Berufsförderungswerkes ganz versteckt ein Studentenwohnheim. Das Wohnheim Nummer fünf, Hacheneyer Straße 180. Leere Klingelschilder neben der Haustür. Verdreckte Scheiben im Eingang. Und drinnen sieht es nicht besser aus. Im Gang der dritten Etage steigt einem fauliger Geruch in die Nase. Auf einem Schrank in der Küche steht eine Dose mit verschimmeltem Essen. Was genau es mal war, ist nicht mehr zu erkennen. Überall liegt dreckiges Geschirr. Und in Mikrowelle und Backofen scheint sich der Schmutz schon eingebrannt zu haben. Aus welcher Ecke der stechende Geruch kommt, ist bei der Masse an Dreck nicht mehr zu identifizieren.

Campus entfernt. Mit dem Auto macht das eine Fahrtzeit von etwa einer Viertelstunde, mit der Bahn sind es bis zum Hauptbahnhof elf Minuten plus weitere sieben Minuten mit der SBahn zur Uni – „umständlich“, findet Stéphane. „Es ist wirklich nervig, dass wir nicht einfach zur Uni laufen können. Stattdessen müssen wir früher aufstehen und uns in die Bahn quetschen. Das hatte ich nicht erwartet“.

Wohnen unter „Gleichgesinnten“ „Ich habe den Antrag gestellt und konnte wählen, ob ich eine Wohnmöglichkeit der Uni in Anspruch nehmen will oder nicht. Da habe ich zugestimmt, mehr Auswahl hatte ich aber nicht“, erklärt Stéphane. Deutsche Antragsteller können zwischen ihren Wunschobjekten wählen, ausländische nicht. Das zeigt das Formular auf der Internetseite des Studentenwerkes. Auf telefonische Anfrage waren die Zuständigen zu keiner Stellungnahme bereit. Stefanie Kortmann vom Studentenwerk schildert jedoch per E-Mail, wie die Organisation abläuft: „Ein wesentliches Kriterium bei der Einteilung von Gaststudenten ist die verfügbare Kapazität. Der Austauschstudent kann über die Hochschule einen Wunsch hinsichtlich der Miethöhe angeben. Bei der Platzzuweisung wird versucht, diese Höchstgrenze einzuhalten.“ Die Wahl, ein Wohnheim auszuschließen, bleibt verwehrt. In Hacheney gibt es einen weiteren Störfaktor für den Belgier: „Hier wohnen ausschließlich ERASMUS-Studenten, keine Deutschen. Dabei bin ich doch hergekommen, um mit den Leuten Deutsch zu sprechen. Hier reden wir meist auf Englisch. Das nervt!“ Diese Zuteilung sei aber bewusst so getroffen, erklärt das Studentenwerk. „Wohnen unter ‚Gleichgesinnten‘ – schnelle Möglichkeit, Kontakt zu knüpfen“, begründet es Stefanie Kortmann.

Hier wohnt Stéphane Pierarrd. Er ist Journalismus-Student in Brüssel und wird nun für ein halbes Jahr im Rahmen des ERASMUS-Programms an der TU Dortmund studieren. Untergebracht ist er für diese Zeit im Wohnheim Nummer fünf. In der dritten Etage wohnt er in einem Einzelzimmer. Die anderen Bewohner trifft er meistens nur in der Küche. Ein Ort, an dem sich Stéphane nicht gerade oft aufhält, gibt er zu. Denn alle Bewohner einer Etage teilen sich eine einzige Küche. 20 Leute, etwa 8 m². In anderen Wohnheimen der TU, etwa dem an der Ostenbergstraße, hat jeder Student eine eigene Küche. So auch der australische Student Andrew Fitzpatrick. Er ist oft in Hacheney um seine Kommilitonen zu besuchen und ekelt sich ebenfalls vor den Zuständen in der Gemeinschaftsküche. „Viele meiner Freunde wohnen hier, deshalb komme ich gerne her. Aber nicht, weil es hier so schön ist“, sagt er. „Hier macht jeder nur das, was er will. Wenn mal einer keinen Bock hat, lässt er seinen Müll einfach liegen. Schließlich weiß ja niemand genau, wer‘s war. Ist ja auch allen egal“, erklärt Stéphane. Dementsprechend sieht es aus: Zwei Bewohner gehen in die Küche, stellen ihr benutztes Geschirr in die Spüle und verschwinden. Stéphane versucht, seinen Ärger zu verdrängen, doch eigentlich hatte er etwas Anderes erwartet. Versprochen wurde ihm nämlich eine Wohnung in Uninähe, in einem Wohnheim gemeinsam mit deutschen Studenten. „Unmittelbare Nähe zur Uni“, schreibt das Studentenwerk Dortmund auf seiner Homepage. Dabei liegt das Studentenwohnheim Hacheney über sieben Kilometer vom

Doch Stéphane will nicht nur meckern. „Na ja, ich habe ja jedenfalls eine eigene Toilette und eine Dusche“, sagt er. Fair findet er seine Situation trotzdem nicht. „Meine Bekannten in Ostenberg zahlen den gleichen Preis, haben aber ein größeres Zimmer, sind nah an der Uni und haben keine dreckige Gemeinschaftsküche“, klagt der Belgier. Die Miete für ein Zimmer im Wohnheim Hacheney beträgt zwischen 216 und 246 Euro. 17

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Niemand daheim: Die Klingelschilder des Wohnheims deuten an, dass ein Großteil der Wohnungen in Hacheney leersteht.

Den Studenten fehlt es nicht nur an Sauberkeit, sondern auch am sozialen Miteinander. Denn ohne Backofen und mit verdrecktem Herd macht kochen wenig Spaß. Die Konsequenz: Die Studenten essen auswärts, Bekanntschaften im Wohnheim bleiben aus. „Jeder macht sein eigenes Ding. Man sieht sich hier kaum“, sagt Stéphane. Aber es gebe auch Lichtblicke, denn ab und zu seien auch im Wohnheim Hacheney gemeinsame Partys mit Musik und Pizza - vom Lieferservice versteht sich angesagt. Gefeiert wird im Gemeinschaftsraum, der kann zwar auch nicht unbedingt mit seiner Schönheit überzeugen, aber zumindest die Größe passt. Das Wohnheim hat sogar eine eigene Facebook-Gruppe: „Hacheney 2012 – 2013“. Die Bewohner versuchen eben, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Etwas sarkastisch: Das von Stéphane ausgewählte Gruppenbild zeigt eine Weinflasche mit Weinglas. „Was könnte man hier sonst auch anderes tun, als sich zu betrinken?“, sagt er grinsend. Gemotzt über die schlechten Zustände wird in der Gruppe nicht. „Hauptsächlich planen wir hier Organisatorisches oder so. Wegen so etwas werden wir ja keine Revolution starten“, verrät Stéphane augenzwinkernd. Trotzdem will er weg. Aber das ist gar nicht so einfach.

Kosten fürs Internet kommen dazu. Die Bewohner in der Ostenbergstraße hingegen zahlen zwischen 203 und 220 Euro, sind näher am Campus, haben Internet inklusive und eine eigene Küche. Vor allem Letzteres wäre auch der Wunsch des Westeuropäers. „Ich bin einer der Wenigen, die wirklich jedes Mal ihr Geschirr abwaschen und ab und zu auch mal die Küche putzen. Aber wenn ich dann wieder hier reinkomme, sieht es aus wie sau. Ich benutze die Dinge hier auch gar nicht mehr. Ich habe mir lieber eine eigene Pfanne gekauft. Da weiß ich, dass sie sauber ist“, erzählt er. Vielleicht seien es die anderen aus ihrer Heimat nicht gewohnt. Oder sie seien einfach frustriert, da sie eine eigene saubere Küche erwartet hatten, vermutet er.

Meinung gegen Meinung Verantwortlich für die Lage im Wohnheim scheint sich niemand zu fühlen. „Den Hausmeister habe ich hier erst zwei Mal gesehen. Einmal hat er Stress gemacht, als wir angeblich zu laut waren. Und dann kam er, als jemand seinen Schlüssel vergessen hatte.“, erzählt der Student. „Aber er macht einmal in der Woche die Zimmer und den Flur sauber. Jeden Montag. Und er bringt neues Klopapier und ‘nen sauberen Mülleimer.“ Trotzdem sind viele Studenten unzufrieden mit der Arbeit des Hausmeisters: „Der Backofen ist nun schon seit über zwei Wochen defekt. Wir haben ihn mehrfach darauf angesprochen, aber bis jetzt ist nichts passiert“, beschwert sich Jussi, ein Student aus Finnland. Er sei nur selten anwesend und wohne auch nicht im Wohnheim. Eine Nummer des Hausmeisters ist nirgendwo im Haus zu finden. Dabei wirbt das Studentenwerk nach eigener Aussage mit einem „guten Vor-Ort-Service durch Hausverwalter bei Fragen und Problemen“. Eine Reinigungskraft des Berufsförderungswerks, die sich gerade am Gebäude aufhält, schildert ihre Sicht der Dinge: „Die Studenten sind doch selber Schuld. Denken, sie wären erwachsen, aber können nicht mal ihren Mist wegräumen. Ist doch klar, dass wir denen nicht jedes Mal wie blöd alles hinterher räumen. Wir lassen uns ja auch nicht auf der Nase rumtanzen!“

Widerstand ist zwecklos „Ich habe mich schon erkundigt, es dauert mindestens drei Monate, bis ich hier raus kann und eine andere Wohnung beziehen darf. Und ich muss mich natürlich auch selbst um alles kümmern“, beschreibt er die komplizierte Lage. Nur am Ende eines Semesters ist ein Wechsel möglich. Für ihn also zu spät. Doch mit einem solchen Anliegen ist Stéphane nicht alleine. Viele wären lieber in einem der anderen Wohnheime untergebracht. So auch sein Freund Jussi. Der Student aus Finnland ist mit seinem Heim in Hacheney ganz und gar nicht zufrieden und beneidet die anderen „Ausländer“ aus der Uni. Denn auch die ERASMUS-Veranstaltungen finden hauptsächlich dort statt. „Da sind wir immer die ersten, die gehen müssen. Wir haben den längsten Rückweg, und auch die U-Bahn fährt ja nicht so lange“, sagen die beiden enttäuscht. Manchmal wird so ein Wechsel-Begehren dann doch erfüllt: Die spanische Studentin 18

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Austauschstudent Stéphane Pierrard will raus aus Hacheney.

Von außen deutet nichts auf die üblen Zustände im Innern des Wohnheims hin.

Alicia Aguilera Flage sollte ebenfalls während ihres Deutschlandaufenthalts ein Zimmer in Hacheney beziehen. Anders als die meisten ERASMUS-Teilnehmer wurde sie vor ihrer Ankunft bereits vorgewarnt: „Ich komme von Mallorca, wo sich ja bekannterweise eine Menge deutscher Touristen tummeln. Und da ich beim Flughafen in Palma arbeite, ist es wichtig, Deutsch zu können. Also habe ich entschieden, am Austausch-Programm teilzunehmen. Eine Freundin aus Mallorca war im letzten Jahr an der TU und auch in Hacheney untergebracht. Sie hat mich dann sofort über die Situation dort aufgeklärt und mir zu einer anderen Unterkunft geraten“, erklärt die 21-Jährige. „Sie sagte, dass es weit von der Uni entfernt sei und erzählte auch von der verdreckten Gemeinschaftsküche.“ Daraufhin habe Alicia sofort ihre Betreuerin kontaktiert, um vor ihrer Ankunft das Wohnheim zu wechseln. Am Anfang hieß es aber, dass das nicht möglich sei. Zwei Wochen später habe sie dann aber eine Mail bekommen, in der stand, dass in der Ostenbergstraße ein Zimmer frei geworden sei. „Da habe ich ohne zu zögern zugestimmt!“, sagt die Studentin. „Ich bin jetzt in Ostenberg und einfach super glücklich, weil es nah an der Uni ist, ich einen tollen Kontakt zu meinen Mitbewohnern habe und alles richtig schön ist dort!“, schwärmt die Spanierin. Warum so viele ERASMUS-Studenten in Hacheney landen, darauf hat das Studentenwerk auch auf Nachfrage keine konkrete Antwort. Stefanie Kortmann erklärt nur, dass das Verfahren „auf einer Absprache mit der TU“ basiere. Die Kriterien, die über das Los der Studenten entscheiden, seien folgende: „Bei der Einteilung wird das Geschlecht berücksichtigt. Auch der kulturelle oder regionale Hintergrund des Gastes kann bei der Zusammenstellung einer WG entscheiden.“ So bleibt auch die Frage, warum etwa amerikanische Austausch-Studenten prinzipiell anderen Unterkünften zugeteilt werden, weiterhin offen.

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WER BEZAHLT MEINEN PROF? In Zeiten knapper Kassen sind die Ruhr-Unis auf neue Geldgeber angewiesen. Doch die Unterstützung aus der Wirtschaft kann auch Probleme bereiten. TEXTHALUKA MAIER-BORST

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m Profifußball ist ein Fünf-Jahres-Vertrag über 750 000 Euro für einen Spieler ein schlappes Sümmchen. Aber für Universitäten ist das eine Menge Geld. Deswegen suchen Hochschulen immer wieder nach Möglichkeiten, Personal und Forschungsprojekte von Unternehmen finanzieren zu lassen. Und das gilt auch für die Unis im Ruhrgebiet. Seit April 2011 lehrt Norbert Kockmann als Professor für Apparatedesign an der TU Dortmund. Doch die nächsten dreieinhalb Jahre wird er die Uni fast nichts kosten. Gestiftet wird sein Lehrstuhl durch 750 000 Euro vom Aspirin-Hersteller Bayer. Die Stiftungsprofessur ist nur eines von vielen Projekten, das der Konzern mit der TU Dortmund betreibt. So vergibt Bayer Stipendien für herausragende Studenten in Chemie und Chemieingenieurwesen und beteiligt sich am „Tag der Chemie“. Außerdem finanziert das Leverkusener Unternehmen gemeinsam mit dem Bundesministerium für Forschung und Bildung und der TU das mehrere Millionen teure Forschungsprojekt „Invite“.

Crashkurs: Das Geld der Anderen Norbert Kockmann sieht in der zunehmenden Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Universitäten zahlreiche Vorteile. „Durch die vielen Vorträge der Unternehmen bekommen die Studenten einen guten Eindruck, wohin sie das Studium führen kann“, erklärt er. „Mir hat so etwas in meinem Studium gefehlt.“ In Zeiten, in denen das Geld von Bund und Ländern längst nicht mehr ausreicht, müssen die deutschen Universitäten Geld aus anderen Bereichen bekommen. Grundsätzlich gibt es dabei drei verschiedene Arten der Förderung. Die gängigste sind die sogenannten Drittmittel. Sie werden an einzelne Forschergruppen für Projekte vergeben, die der jeweilige Geldgeber förderungswürdig findet. Das kann bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zum Beispiel die Erforschung der Tiefsee sein. Bei privaten Unternehmen kann aber durchaus auch nach einer Lösung geforscht werden, wie die Nudeln besser in die Tüte kommen. An den Ruhr-Unis ist die Bedeutung von Drittmitteln – wie in 20

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ganz Deutschland – gestiegen: Ihr Anteil am Gesamthaushalt der drei Unis Dortmund, Bochum und Duisburg-Essen ist, laut den Angaben der jeweiligen Jahresberichte, von 2005 bis 2010 um 18 Prozent angewachsen.

den Verdacht, den die CBG äußert. So erklärt das Justiziariat der Uni Köln in einem Schreiben von 2008, dass „Studien (…) mit dem Ziel einer kritischen Überprüfung (…) nur auf der Grundlage besonderer diesbezüglicher Beschlussfassungen innerhalb des Lenkungsausschusses durchgeführt werden.“ Unabhängige Gutachten durch andere Forscher, wie sie in der Wissenschaft alltäglich sind, sind damit gar nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich.

Eine weitere Möglichkeit, eine Universität finanziell zu unterstützen, ist eine Stiftungsprofessur wie die von Norbert Kockmann. 2009 veröffentlichte der Stifterverband der deutschen Wissenschaft eine Studie zu dieser Art der Förderung. Unter anderem wurde dabei die Motivation der Firmen untersucht, Professuren zu finanzieren. „Primär ging es den Stiftern darum, Kontakte zu knüpfen und spätere Spitzenkräfte zu rekrutieren“, erklärt Melanie Schneider, die an der Studie mitgewirkt hat. Insgesamt kam der Verband zu dem Fazit, dass Stiftungsprofessuren den Unis und den Stiftern nutzen. Allerdings bezog sich die Studie auf Gesamtdeutschland. Lässt sich dieses Ergebnis uneingeschränkt auf NRW übertragen? „Ich gehe davon aus, dass dieses Meinungsbild auch für NRW gilt“, sagt Melanie Schneider vom Stifterverband.

Es gibt zudem Hinweise darauf, dass die Probleme an der Uni Köln in NRW wohl kein Einzelfall sind. Bereits im vergangenen Jahr kritisierte der Landesrechnungshof, die oberste Prüfungsbehörde in NRW, in einem anonymisierten Bericht, dass bei Stiftungsprofessuren teilweise gegen bestehende Gesetze verstoßen werde. Mal war unrechtmäßigerweise mit dem Professor vereinbart worden, dass alle Erfindungen dem Stifter exklusiv zur Verfügung stehen sollten. Ein anderes Mal versprach ein Stifter teure Gerätschaften für den Fall, dass der eigene Lieblingsbewerber auf den Lehrstuhl berufen würde. Die Beschreibung dieses Falls endet mit dem Satz: „Daraufhin wurde nur dieser Kandidat seitens der Berufungskommission vorgeschlagen und von der Hochschule tatsächlich auf die Professur berufen.”

„Transparenz ist der einzige Weg, dem Vorwurf der Beeinflussung zu entgehen.“

Matthias Jaroch, Sprecher des Deutschen Hochschulverbands (DHV), hält diese Entwicklung für bedenklich: „Wir vom Hochschulverband fordern seit langem zu größtmöglicher Transparenz auf. Das ist der einzige Weg, dem Vorwurf der Auftragsforschung und der Beeinflussung durch die Stifter zu entgehen.“ Jaroch kennt die Argumente, dass Betriebsgeheimnisse und der Forschungsvorsprung in Gefahr seien, wenn Verträge mit Stiftern offen gelegt würden. Er hält jedoch diese Befürchtungen für übertrieben: „Da gäbe es sicher Möglichkeiten, das so darzustellen, dass das nicht passiert.“

Die dritte Möglichkeit, Universitäten zu fördern, sind Forschungskooperativen. Dabei arbeitet nicht ein Lehrstuhl oder eine Forschungsgruppe mit dem Stifter zusammen, sondern ein ganzer Fachbereich. Besonders bekannt geworden ist in NRW die Kooperation zwischen der medizinischen Fakultät der Uni Köln und der Bayer AG. Das allerdings rührt nicht aus neuen Entdeckungen aus dieser Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Vielmehr hat es ein seit 2008 andauernder Streit inzwischen auch in die Medien geschafft.

In puncto Stiftungsprofessuren halten sich die Ruhr-Unis weitestgehend an die Vorgaben des DHV, wie auch das Positivbeispiel von Norbert Kockmann zeigt. Eine Auflistung aller Stiftungsprofessuren, die die pflichtlektüre bekommen hat, ist auf der folgenden Seite zu sehen. Allerdings konnten wir keine Liste der wichtigsten Drittmittelgeber der Ruhr-Universitäten zusammenstellen. Zwei von drei Unis stellten uns die dafür benötigten Informationen nicht zur Verfügung. Die Universität Duisburg-Essen begründet dies damit, dass vertragliche Vereinbarungen mit den Stiftern ihr die Offenlegung verbieten würde, die TU Dortmund hat uns bis Redaktionsschluss nicht geantwortet. Lediglich die RUB wollte eine vollständige Auflistung bereitstellen. Sie wird auf pflichtlektuere.com veröffentlicht, sobald sie eintrifft.

Der Fall Köln – viel Geld, viel Streit Die Vereinigung „Coordination gegen Bayer-Gefahren“ (CBG) will seit vier Jahren Einsicht in die Verträge zwischen Bayer und der Uni nehmen. Sie vermutet, dass der Konzern sich mit der Kooperation das Recht erkauft hat, darüber zu bestimmen, welche Studien veröffentlicht werden. Im schlimmsten Fall – so die Kritiker – würde das bedeuten, dass Bayer in Köln durchgeführte Studien verheimlichen könnte, wenn die Studien BayerMedikamenten ihren Nutzen absprechen. Die Universität und Bayer hingegen fürchten, dass alleine durch eine Offenlegung „negative Folgen für ihre Forschungsfreiheit entstehen“. Dokumente, die der pflichtlektüre vorliegen, sprechen eher für 21

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STIFTUNGSPROFESSUREN AN DEN RUHR-UNIS Uni

Fach

Stifter

Bereich

Professor

Medizin

Novo Nordisk

Werner-CreutzfeldStiftungsprofessur für Diabetologie und Gastrointestinale Endokrinologie

Juris Meie

Medizin

Med El

Stiftungsprofessur für Hör– und Kommunikationsstörungen

nicht genannt

Chemie

Beilstein

Bioorganische Chemie

Frank Schulz

Elektrotechnik

RWE

Energieeffizienz

Johanna Myrzik

Ingenieurwissenschaften

Bayer

Apparate-Design

Norbert Kockmann

Logistik

Audi

Auftragsabwicklungsprozesse

nicht genannt

BWL

Deutsches Institut für Interne Revision e.V.

Interne Revision und Corporate Governance

Marc Eulerich

Gesellschaftswissenschaften

Johann-WilhelmWelker-Stiftung

Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Ethik in Politikwissenschaft und Gesellschaft

Andreas Blätte

Ingenieurwissenschaften

Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft

Biomechanik

Wojciech Kowalczyk

Mathematik

Alexander von Humboldt-Stiftung

Algebraische Geometrie

Marc Levine

Medizin

Heinz-Nixdorf-Stiftung

Demenzforschung

Dirk Hermann

Medizin

Boston Scientific

Interventionelle Neuroradiologie

Isabel Wanke

Medizin

Heisenberg-Professur DFG

Experimentelle Psychobiologie

Sigrid ElsenbruchHarnish

Wirtschaftswissenschaften

RWE-Trading

Energiehandel und Finanzdienstleistungen

Rüdiger Kiesel

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VERSUCHSKANINCHEN Special Operations: Bittere Pillen sind für Studentin Inga gewinnbringend. Für die Forschung testet sie Medikamente. TEXTHELENE SEIDENSTÜCKER FOTOSCHRISTIANE REINERT MONTAGEMORITZ TSCHERMAK

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enn Inga Clauß nicht gerade im Hörsaal sitzt und Geographie paukt, kann es vorkommen, dass sie zu Forschungszwecken Pillen schluckt oder in der Röhre liegt. Denn Inga ist Versuchskaninchen für medizinische Studien. Und das ist manchmal mit eigenartigen Methoden verbunden: „Einmal hatte ich vier Schläuche im Mund mit Kakao, Tee, Wasser und Saft.“ Bei dieser Studie im Kernspin wurden die Gehirnströme der 22-Jährigen untersucht und wie ihr Gehirn auf Belohnung oder Bestrafung reagiert. Durch eine Spezialbrille sollte sie auf einem Bildschirm Kombinationen aus Kreisen, Dreiecken und Quadraten in logische Reihenfolgen bringen. „Lag ich richtig mit meinen Einschätzungen, wurde ich mit Kakao belohnt. Ansonsten gab es zur ‚Bestrafung‘ Kamillentee“, erklärt Inga.

Gehirn hinterher auf CD sehen zu können. Außerdem ist es ein netter Nebeneffekt, so zu erfahren, dass man keinen Tumor im Kopf hat“, findet Inga. Lustige Studien gebe es auch: Zum Beispiel solche, bei denen literweise Bier getrunken wird, um anschließend die Reaktionsfähigkeit zu testen. Schlechte Erfahrungen hat Inga noch nie gemacht, eher witzige Erlebnisse, die als Anekdoten auf Partys für Belustigung sorgen: Zum Beispiel sollte es bei einer Studie für zwei Stunden 200 Euro geben. Am Telefon erfuhr Inga, dass es sich um eine Reizdarm-Studie handelte, bei denen den Freiwilligen ein Analballon eingeführt werden sollte. „Als ich Freunden davon erzählte, war ich baff, dass einige bei so etwas mitmachen würden. Für 200 Euro! Da sieht man die Grenzen, wo man absagt oder zusagt – meine war da auf jeden Fall erreicht!“

„Bei meiner ersten MRT-Studie musste ich vor dem Kernspin ein Kontrastmittel einnehmen – da dachte ich noch ‚Oh je‘; bei einer anderen Studie war es ein körpereigenes Hormon. Aber man wird im Vorfeld immer gut informiert und unglaublich nett behandelt – das nimmt einem die Angst“, sagt die Studentin. Bei Kernspin-Untersuchungen sollte man auch besser nicht klaustrophobisch sein. Denn für solche Studien müssten die Versuchskaninchen bis zu einer Stunde bewegungslos in der Röhre liegen. Seit die Bochumerin eine Zahnspange trägt, darf sie an solchen MRT-Studien allerdings nicht mehr teilnehmen. Denn im Kernspintomographen, der Röhre, darf man keine Metallteile am Körper tragen. Aber für Inga gibt es noch genug andere Angebote: „Am schwarzen Brett hängen regelmäßig Abreißzettel, wo Probanden für medizinische oder psychologische Tests gesucht werden.“ Inga betont, dass sie bei keinen Studien mitmache, bei denen sie die Gefahren und Risiken nicht einschätzen kann. „Dafür habe ich meinen Körper zu lieb“, sagt sie. Am Anfang wollte sie „nur mal aus Neugierde gucken“, wie das so sei, inzwischen finde sie es auch gut, durch ihre Teilnahme „die Leute zu unterstützen“. Denn hinter den Gesuchen, die am Schwarzen Brett neben „Wohnung zu vermieten“ und „Fahrrad zu verkaufen“ aushängen, verbergen sich oftmals Studien von Doktoranden, die Probanden für ihre Dissertation suchen. Durchschnittlich 50 Euro plus Verpflegung bekommt Inga für eine Studie, die etwa zwei bis drei Stunden dauert. Als Hauptverdienst reichten solche unregelmäßigen Jobs aber nicht aus. Sie mache das auch weniger wegen des Geldes: „Es ist schon interessant, mal im Kernspin zu liegen und sein 23

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GENUG

FACHKRÄFTE

KAFFEE

FIRMA

BWL

JAHRGÄNGE

MANGEL

PRAKTIKUM

NACHFOLGER

GENERATION

BABYBOOMER

GEKOCHT

Die „Generation Praktikum“ hatte es beim Jobeinstieg schwer. Für ihre Nachfolger soll es einfacher werden: Die Jahrgänge sind kleiner, den Firmen fehlen Fachkräfte. Doch nicht jeder wird davon profitieren. TEXTKORNELIUS DITTMER FOTOMORITZ TSCHERMAK

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des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) stellte 2007 in einer Umfrage in Zusammenarbeit mit der Hans-BöcklerStiftung und der FU Berlin fest, dass 37 Prozent der 499 befragten Uni-Absolventen nach dem Studium mindestens ein Praktikum absolvierten. Fast jeder zweite Praktikant arbeitete ohne Bezahlung. Aber auch Jahre nach dem Aufschrei, den Medienberichte über die „Generation Praktikum“ in Deutschland auslösten, hat sich die Situation nicht völlig entspannt. In einer Nachfolgestudie gaben 2011 immerhin noch 28 Prozent von 674 Befragten an, in den drei Jahren nach ihrem Studienabschluss ein Praktikum gemacht zu haben. 40 Prozent von ihnen wurden nicht bezahlt – bei einer mittleren Wochenarbeitszeit von 36,5 Stunden.

evor Markus Henrik von seinem Praktikum bei einem Mobilfunkbetreiber erzählt, zögert er kurz. „Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht verplappere. Die haben gute Anwälte“, sagt er. Schließlich schildert er, wie er mit anderen Praktikanten und Marketingspezialisten an einem Konferenztisch saß. Sie sollten Marketingkonzepte entwickeln. Henrik fühlte sich endlich ernst genommen, wollte sich präsentieren, entwickelte mit den Anderen Idee um Idee. „Ein paar Wochen später haben wir bei einer Medienkampagne gemerkt, dass die eine Idee von uns eins zu eins übernommen hatten“, erzählt Henrik. Die Firma hatte sie als kostenlose Stichwortgeber benutzt. Der einzige Lohn: Kaffee, Kugelschreiber, Komplimente. Heute ist der 30-Jährige Autor und Musiker. Er hat die Erfahrungen aus diesem und weiteren Praktika im Roman „Copy Man“ verarbeitet. Sein 2010 erschienenes Buch handelt von drei Universitätsabsolventen, die während einer Probearbeitszeit um eine Stelle konkurrieren. Der Job ist jedoch nur ein Köder, um in die unbezahlte Probezeit zu locken. Alle drei müssen wieder gehen. Daraufhin schmieden sie einen Plan, um sich am Arbeitgeber zu rächen.

Fachkräftemangel als Chance Dieses Problem könnte bald auf natürlichem Wege verschwinden – zumindest teilweise. Laut einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge (DIA), einer von Versicherern und Banken finanzierten Denkfabrik, stirbt die „Generation Praktikum“ aus. Den heutigen Studierenden, also den Jahrgängen der um 1990 Geborenen, sagt das DIA sehr gute Berufsaussichten voraus und verkündet: „Es wird keine ‚Generation Praktikum‘ geben.“ Begründet wird die Prognose mit der Geburtenschwäche der Jahrgänge. Außerdem werde bei ihrem

Der Roman schildert überspitzt das Leben junger Leute, die als „Generation Praktikum“ in die Geschichte eingehen. Ihr Weg in das Berufsleben unterscheidet sich stark von dem ihrer Eltern. Festanstellungen sind seltener, Praktika häufen sich. Die Jugend 24 job


Kommentar

Eintritt in den Arbeitsmarkt die Elterngeneration, aufgrund ihrer Größe „Babyboomer“ genannt, in Rente gehen. Anja Kettner vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit stimmt dieser Prognose grundsätzlich zu. „Die geburtenstarken Jahrgänge verlassen den Arbeitsmarkt bald, und zwar in großen Kohorten“, sagt sie. Es entstehe ein Fachkräftebedarf, von dem Absolventen profitieren würden.

Geisteswissenschaften: Alles wie gehabt? Die Volkswirtin, die 2012 mit einer Analyse zu Fachkräftemangel promoviert hat, sieht die Zukunft trotzdem nicht so rosig wie die Forscher des DIA. Nicht alle Absolventen werden ihrer Meinung nach gleichermaßen vom Fachkräftemangel profitieren, sondern vor allem diejenigen, die bereits heute gute Chancen haben – etwa Ingenieure, Naturwissenschaftler und Informatiker. Anders sieht es für Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaftler aus. Sie sind laut der Studien der DGB Jugend besonders von den Problemen der „Generation Praktikum“ betroffen – und werden es vermutlich weiterhin sein. „Das wird auf jeden Fall noch eine Weile ein problematischer Bereich bleiben“, sagt Kettner. „Geisteswissenschaftler sind von der Ausbildung her in der Wirtschaft weniger gut einsetzbar.“ Sie hätten mehr Schwierigkeiten bei der Jobsuche. Gleichzeitig gebe es bei ihnen eine Absolventen-Schwemme. Kettner mahnt deshalb, bei der Studienwahl auf die Berufsperspektiven zu achten, sich breit aufzustellen, als Geisteswissenschaftler auch mal BWL-Vorlesungen zu besuchen. „Die Chancen verbessern sich – allerdings nur für die, die zum Anforderungsprofil passen. Für junge Leute heißt das: Qualifizierung, Qualifizierung, Qualifizierung.“

von Helene Seidenstücker Praktikanten sind für Unternehmen billige und in Dauerschleife austauschbare Arbeitskräfte. Nach sechs absolvierten Praktika und Hungerlöhnen für Jobs, die ohne mich sonst Vollzeit-Angestellte geleistet hätten, weiß ich: Ein Hochschulstudium schützt nicht vor Ausbeutung. Mit meinem Bachelor-Abschluss in französischer und spanischer Romanistik in der Tasche, wollte ich meinen Traumjob Journalistin verwirklichen – in München, einer der Medienhauptstädte Deutschlands, bestimmt kein Problem. Dachte ich. Um einen der begehrten Volontariatsplätze zu bekommen war ich auch bereit, Kompromisse einzugehen. Ein Praktikum, um meine Qualifikationen unter Beweis zu stellen, nahm ich in Kauf. Was folgte, war eine Praktikumsodyssee durch die Medienlandschaft: von Ein-Monatsbis Drei-Monats-Praktika, von unentgeltlich bis Hungerlohn, von Botengängen bis 60-Stunden-Wochen war alles dabei. Warum das Ganze? Zu Beginn hörte ich jedes Mal die gleiche Leier: „Wenn Sie sich gut anstellen, haben Sie bei uns die besten Übernahme-Chancen.“ Nach dem Praktikum davon plötzlich keine Spur mehr: „Sie haben sehr gute Arbeit geleistet, aber leider haben wir ausgerechnet im Moment keine Kapazitäten, Sie zu übernehmen.“

Sonst müssen sich kreative, junge Geisteswissenschaftler, die etwa „Irgendwas mit Medien“ machen wollen, weiterhin auf Stellen wie diese beim „Verlag Woeckel Press“ bewerben: „Textdurchsichten – Beschreibung: unvergütetes Praktikum am Heim- bzw. Telearbeitsplatz für Studenten, Absolventen oder Berufserfahrene. Arbeitszeit: 20-40 Stunden/Woche. Bezahlung: keine. Dauer: Nach Vereinbarung. Ihre Aufgaben: Durchsichten (Inhalt, Rechtschreibung und Grammatik) sowie sprachliche Verbesserung von Texten zur Veröffentlichung in deutscher, englischer, chinesischer und spanischer Sprache. Außerdem Texte mit einem Contact Management System in Webseiten einfügen.“

Ich habe daraus gelernt. Ich rate jedem Praktikanten, sich nicht unter Wert zu verkaufen und direkt zu Beginn eines Praktikums seinen Standpunkt klar zu vertreten. Ich werde mich nie wieder anbiedern oder von leeren Phrasen blenden lassen. Denn solange man bei dem Spiel mitspielt, ist man letztendlich mitverantwortlich für die Ausbeutung der „Generation Praktikum“.

Am Heimarbeitsplatz kann man sich die Arbeitszeit immerhin selbst einteilen – und nebenbei am eigenen Roman über ausgebeutete Praktikanten schreiben.

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Einfach nur Musik hören, tanzen und Einen trinken – das reicht heute für eine gute Party nicht mehr aus. Requisiten wie Schaum, Kopfhörer und Kissenschlachten erobern die Clubs. Studentin Sarah testet eines der neuen Partyformate: 120 Minuten Durchtanzen im Knicklichterregen. TEXTLena Seiferlin FotosLena Seiferlin, Moritz Tschermak

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ink, blau, grün: Die Decke des Saals leuchtet in grellen Farben. Der DJ brüllt ins Mikro: „Gleich ist es soweit! Seid ihr ready für zwei Stunden pure Energie? Zeigt mir, wie ihr blitzbangen könnt!“ Während sich einige Tanzwütige zu diesem Zeitpunkt noch fragen, was genau denn blitzbangen ist, stürmt Sarah schon nach vorne. „Ich wette die Jungs am Mischpult werfen gleich Hunderte von Knicklichtern in die Menge“, sagt sie. „Human Lights“ ist das Motto der Party, die das DJ-Team Blitzbangers aus Köln in den Club Daddy Blatzheim im Dortmunder Westfalenpark mitgebracht hat. Sarah soll mit ihrer Vermutung Recht behalten. Bis zum Einwurf der Knicklichter sind es noch zehn Sekunden. Chris, MC bei den Blitzbangers, beginnt herunterzuzählen. Es ist ein Countdown, dessen „Go“ von allen Feiernden sehnlichst erwartet wird. Dann nämlich können sie endlich tanzen. Ganze zwei Stunden lang. Alle Blitzbanger-Partys sind von so kurzer Dauer und machen damit ihrem Namen alle Ehre: blitzschnell so richtig bangen – abgehen eben.

innovative Formate auf dem Veranstaltungsmarkt ziehen immer mehr Feierlustige an. Beleg dafür sind Kopfhörer-, Crossover- und Lunchpartys, Kissenschlachten und Hüpfburgen statt Dancefloors. Und auch das exzessive Feiern im Daddy Blatzheim zeugt von der Partywut vieler junger Erwachsener. Obwohl es drinnen warm und stickig ist, den Tanzenden der Schweiß von der Stirn tropft und ihren Rücken herunter rinnt, steht so gut wie nie jemand draußen. Stattdessen drängen sich alle auf der höchstens 20 Quadratmeter großen Tanzfläche aneinander; hüpfen, springen, drehen sich, rempeln einander an und vergessen, dass morgen erst Freitag ist. Die Blitzbangers sind ein Mal im Monat im Daddy Blatzheim. Außerdem veranstalten sie verschiedene Feste in Köln, wo das Team herkommt. Dass die Dortmunder am nächsten Tag oft im Hörsaal, am Schreibtisch oder am Fließband sitzen müssen, interessiert allem Anschein nach weder Veranstalter noch Gäste. Der Großteil bleibt bis zum Ende. Zwar haben alle die ablaufende Zeit immer vor Augen, doch schreckt die späte Uhrzeit niemanden ab.

Auch Sarah will heute Abend abgehen: „Ich bin zum ersten Mal hier, eine Kommilitonin hat mir davon vorgeschwärmt“, erzählt sie vor der Party. Für Sarah ist das Daddy Blatzheim im Westfalenpark die „bestmögliche Location. Keine genervten Anwohner drum herum, und die Größe des Raumes passt auch perfekt“, sagt sie. Trotz der enormen Hitze im Saal hat die 21-Jährige sich vorgenommen, alles zu geben. Noch schüttelt sie ihre blonde Mähne, die sie jedoch schon bald zu einem Zopf binden wird. Diese Hitze!

Mix it, Baby! Ein bisschen aufgeregt zählt Sarah den Countdown mit runter, bei „Null“ wirft sie die Arme in die Luft und kreischt laut los, als die ersten Takte des Intros angespielt werden. Die Musik ist eine spannende Mischung aus Pop, Hip-Hop, Elektro, Funk und vielem mehr – für jeden ist etwas dabei. Das sorgt auch für einen bunten Mix beim Publikum. Der Stil ihrer Klamotten ist unterschiedlich, doch eins haben alle gemeinsam: Sarah, ihre Freunde und der Rest der tanzenden Gäste sehen schon reichlich mitgenommen aus, ihre Haare hängen triefend nass in die Stirn. Das Aussehen ist hier aber weniger wichtig. Wichtiger ist eine gute Party – und dass jeder Knicklichter en masse bekommt. Am besten eins von jeder Farbe. Einige haben aber nur pinke, nur blaue oder nur grüne Lichter in der Hand – ein Statement für die Lieblingsfarbe? Sarah muss sich nach den ersten 30 Minuten hinsetzen. Eine breite Fensterbank, fast so lang wie der Raum selbst, ermöglicht das „Dabeisein“ auch dann

Immer ein anderes Party-Thema Jede Blitzbanger-Feier steht unter einem besonderen Motto. An anderen Abenden werden statt bunter Knicklichter dicke Daunenkissen unters Volk gebracht. Oder Eierkartons, in denen irgendwo das „goldene Ei“ versteckt ist. Wer das findet, darf umsonst trinken. Die Blitzbangers treffen mit der unkonventionellen Art zu feiern genau den Nerv dieser Partygeneration. Liebevoll gestaltete und 27

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ihnen bleibt, intensiv und ausgelassen zu nutzen.“ So entstehe stets eine sehr besondere und explosive Stimmung, meinen die Kölner. Sarah ist das nur recht. „Ich habe lange nicht so viel getanzt“, sagt sie und dreht in den letzten 15 Minuten noch ein Mal richtig auf. Nach einer kurzen Pause auf der Fensterbank tanzt sie sich durch die letzten 20 oder 30 aktiven Gäste nach vorne. Ihre Freunde springen hinterher, motivieren gleich noch ein paar weitere Mädchen, von der Bank aufzustehen und mitzumachen. Zum letzten Mal abgehen, zum allerletzten Mal an diesem Abend für einen Song kreischen, den sie sich schon die ganze kurze Zeit gewünscht haben. Und vor allem: In den letzten Minuten getanzt haben. Das fühlt sich ein bisschen so an, als habe man nie gesessen. Eine großartige Leistung, finden Sarah und Anhang. Und ein ganz besonderes Erlebnis. Aber: „Es hätte ruhig länger gehen können.“

noch, wenn Tänzerin oder Tänzer etwas erschlafft. Hier herrscht alberne Ausgelassenheit. Wurden die Knicklichter eben noch durch die Gegend gewirbelt, beim Lieblingslied wie ein Zeigefinger auf die DJs gerichtet oder in großen Kreisen um den eigenen Kopf bewegt, können sich Sarah und ihre Freundinnen nun viel intensiver mit dem Spielzeug beschäftigen. Mit Haken an einem Ende bleiben die Lichter am Ohrring hängen. Aneinander gehakelt können sie zu Buchstaben werden. Und in die Schuhe gesteckt sehen sie aus wie bunte Seitenspoiler. Was sich aus strahlenden Knicklichtern, ein bisschen Alkohol und einer guten Kamera nicht alles machen lässt! Mit einer langen Belichtungszeit haben die Mädchen auch noch länger als nur zwei Stunden etwas von ihren Knicklichtern. Nur zu lange ausruhen, das geht nicht. Schließlich sind zwei Stunden schnell vorbei. Weiter geht es also, zu den Beats von Cro, Wankelmut, Cypress Hill und Lykke Li.

Je kürzer, desto besser? Je kürzer die verbleibende Zeit, desto verrückter die Party im Westfalenpark. Das Daddy Blatzheim kocht, die Uhr zeigt 0:44 – es bleibt nur noch eine Dreiviertelstunde – und Sarah trägt mittlerweile einen hüpfenden Pferdeschwanz. Trotzdem ist ihr anzusehen, dass sie ein bisschen frische Luft dringend gebrauchen könnte. Darauf hofft sie leider vergeblich. „Zwei Stunden können ganz schön anstrengend sein“, keucht die 21-Jährige. Am Anfang dachten Sarah und Co. noch, dass die Zeit knapp bemessen sein könnte und die Minuten genutzt werden müssen. Doch die Menge wird immer schwächer, vielen geht schon die Puste aus. „Man muss doch durchhalten“, sagt Sarah, „das ist sonst schließlich auch nicht so schwierig!“ Jeder will sie schaffen, die zwei tanzbaren Stunden. „Ich nehme jedes Lied mit, weil in 120 Minuten ja nicht so viele Songs kommen können“, keucht die Medienwissenschafts-Studentin. Den Blitzbangers spielt sie damit in die Hände. Ihre Intention beschreibt das Team so: „Unsere Veranstaltung zeichnet sich durch die radikale Beschränkung der Feierzeit auf zwei Stunden aus. Auf diese Weise spüren unsere Besucher beinahe einen gewissen Druck, die Zeit, die

Ausgefallene Partyformate in Dortmund: Suite023, Schwanenwall 23 (www.suite023.de): jeden Mittwoch „The Ugly Kids Club“ (Bier, Tischtennis, Rockmusik). Daddy Blatzheim, Am Buschmühlenteich im Westfalenpark (www.daddyblatzheim.de): ein Donnerstag/Monat „Blitzbangers“ (verschiedene Mottos), alle zwei oder drei Monate „Zirkus Elektronikus“ (verkleidete Zirkusmitglieder, Artisten, Elektromusik). Odeon, Ludwigstraße 8-10 (www.club-odeon.de): verschiedene Formate; monatliche Mottopartys wie „Study’s Freaky Friday“ (Hüpfburg, Seifenblasen, Popcorn), „American Pie Party“ (Tortenschlacht, Candy-Giveaways, etc.), „Nacht Erobique“ (Aerobic).

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Hygiene für die Seele Gregor Betz vom Institut für Soziologie an der TU Dortmund erklärt, warum Partyformate immer ausgefallener werden. InterviewLena Seiferlin FotoChristiane Reinert

Viele Clubs listen in ihrem Veranstaltungskalender ungewöhnliche und neuartige Partyformate auf, etwa eine Kissenschlacht auf der Tanzfläche. Wie kommt es zu dieser Kreativität? Dieser Prozess, den wir ‚Eventisierung’ nennen, deckt sich mit einem allgemeinen Trend in unserer Gesellschaft, möglichst viel Spaß zu haben. Mehr und mehr wird es zur höchsten Priorität, bei allem, was wir machen, stets auch etwas zu erleben. Das gilt natürlich besonders für die Freizeit-Gestaltung: Es genügt nicht mehr einfach nur eine Party wie jede andere, sondern es muss gleich ein Abend sein, der im Gedächtnis bleibt.

muss also die Menschen um mich herum mit Kissen hauen oder bewerfen – und das ist in Ordnung so. Es wird keine konsequenzenreiche Entscheidung verlangt und ich muss mich nicht auf irgendetwas festlegen. Ich kann einfach meine Freizeit genießen. Abschalten, sozusagen. Daraus folgt eine Enthemmung, die den Abend noch unvergesslicher werden lässt. Zumeist hat das noch nicht einmal langfristige Konsequenzen. Warum machen so viele Veranstalter diesen Hype mit? Die Anbieter bekommen den Druck von zwei Seiten zu spüren. Von den Nachfragern, der ‚Partygeneration’, und vom Veranstaltungsmarkt, der sich laufend verändert. Immer mehr Angebote führen eben zu einem ständig wachsenden Konkurrenzdruck zwischen den Veranstaltern. Die müssen sich immer mehr, immer Innovativeres ausdenken, um mithalten zu können. Versprechen sie nicht ein immer noch größeres Erlebnis, werden sie irgendwann nicht mehr wahrgenommen. Dadurch, dass sich der eine Anbieter vom anderen abheben muss, entstehen die verrücktesten Ideen. Wir sprechen hier von einer Selbstüberbietungsspirale.

Und wieso nimmt der Wunsch nach besonderen Erlebnissen zu? Nun, heutzutage lösen sich viele Dinge, die über Jahrzehnte hinweg als Gewissheit galten und unserem Leben und der Gesellschaft Stabilität verliehen, auf. Das sind zum Beispiel traditionelle Familienzusammenhänge oder vorgezeichnete Berufswege. Gerade junge Menschen stehen in ihrem Alltag ständig vor neuen Entscheidungen. Im Studentenleben erfahren sie das jeden Tag: Welches Thema für meine Bachelor-Arbeit nutzt mir für meinen späteren Berufswunsch? Sollte ich ein Praktikum absolvieren oder einen ‚sinnvollen‘ Studi-Job suchen? Schließe ich einen Master an? Vergleichen Sie alleine, wie viele neue Masterprogramme in den letzten Jahren neu eingeführt wurden, zwischen denen zu wählen ist!

Verändert diese neue Generation von Partys die Gesellschaft? Jede soziale Praxis ist Teil unserer Gesellschaft. Von daher verändert eine neue Partymode logischerweise auch die Gesellschaft mit. Immer mehr lassen sich auch Gegentrends zu einer immer weiter zunehmenden ‚Verspaßung’ beobachten. So gibt es insbesondere bei jungen Menschen zwischen zwanzig und dreißig Jahren den Trend, sich Freizeitaktivitäten zu suchen, die gleichzeitig auch sinnvoll sind oder bestimmte Werte repräsentieren. Denken Sie an Urban Gardening und Gartenmilizen, an neue Formen von Protestbewegungen, wie den Nachttanzdemos gegen die GEMA-Tarifreform oder an das so genannte ‚Upcycling‘ als Modetrend. Es scheint aber Grenzen in der Spaßgesellschaft zu geben. Zu viele Neuheiten wirken irgendwann unauthentisch. Es kommt zu einer Hülle des Spaßes, die durch diese Gegentrends wieder mit Sinn gefüllt wird.

Doch was hat das mit den neuen Partyformaten gemein? Das liegt näher, als es auf den ersten Blick erscheint. In Zeiten, in denen wir uns in unserem Alltag ständig selbstreflektieren, Risiken abwägen und Entscheidungen treffen müssen und in denen traditionelle Gemeinschaften an Bedeutung verlieren, sehnen wir uns nach Fluchtmöglichkeiten. Events – wie etwa die von Ihnen angesprochenen neuen Partyformate – dienen gewissermaßen als ‚Seelenhygiene‘. Sie sind vorstrukturiert; ich gehöre einer Gemeinschaft an, ich kann mich schlichtweg fallen lassen und all die mehr oder weniger großen Probleme des Alltags hinter mir lassen. Wenn es zum Beispiel heißt, es gibt eine Kissenschlacht, dann weiß ich: Aha, ich 29

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Raus mit dir! Bachelor, Master, Jobeinstieg – zwischendurch noch Prüfungen, Praktika und ein obligatorisches Auslandssemester. So stellen sich viele den idealen Studienverlauf vor. Selbstfindung, Umwege oder Auszeiten gelten als Karrierekiller. Dabei gibt es gute Gründe, mal wieder mehr Leben in den Lebenslauf zu bringen. TEXTNatalie Klein FotosNatalie Klein, Privat­­­­

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Silvan ist Teil der Generation Lebenslauf. Für viele Leute in seinem Alter ist Lebensplanung gleich Karriereplanung. Sie wollen höher, weiter, schneller. Das beobachtet auch Gabriele Hildebrand-Stümpel. Als Bewerbungscoach hilft sie unter anderem jungen Absolventen den Lebenslauf zu optimieren und gibt Einblicke in die Arbeitswelt. In ihrem Job-Alltag nimmt sie eine gesellschaftliche Werteverschiebung wahr. Viele junge Leute seien heute von Anfang an auf materielles Ansehen, die große Karriere aus. „Und was man im Lebenslauf schreibt, ist auch eine Art Fassadenwettbewerb, also etwas Materielles. In dem Sinne: Ich bin der Klügste, der Beste, der Schönste.“

orgens um halb sieben klingelt Silvan Kuhs (21) Wecker. Das Fernstudium ruft und dabei ist Selbstdisziplin angesagt. „Du musst dir feste Zeiten einplanen, das ist nicht immer so einfach. Aber andererseits ist es total flexibel. Denn manchmal bin ich nur ein, zwei Wochen im Monat zuhause“, sagt Silvan. Vor einem regulären Studium mit Anwesenheitspflicht hatte er Panik. Denn seine große Leidenschaft, E-Gitarre spielen, kostet Zeit und die nimmt er sich. Silvan lässt sich nicht stressen. Das war schon immer so.

Fassadenwettbewerb Lebenslauf

Gerade mit seinem schnellen Studienabbruch hatten viele Leute aus Silvans Umfeld ein Problem. Der Hagener selbst nennt es die leichteste Entscheidung, die er je treffen musste. „Ich saß in einer Vorlesung und alle hingen förmlich an den Lippen vom Dozenten. Na ja, ich nicht“, erinnert er sich. Zwei Tage Langeweile reichten ihm. Er wollte seine Zeit nicht weiter im Hörsaal verschwenden. „Man soll doch aufhören, wenn es am schönsten ist“, sagt er heute ironisch. Am Wettbewerb um den vermeintlich perfekten Lebenslauf nimmt Silvan nicht teil. Was im Lebenslauf gut aussieht und was nicht, interessiert ihn nicht.

Als er vor zwei Jahren sein Abiturzeugnis bekam, hatten viele Klassenkameraden schon den vollen Durchblick. Etwa Betriebswirtschaftslehre studieren, dann die Firma vom Vater übernehmen. Silvans Weg sah anders aus: Er wanderte 900 Kilometer auf dem Jakobsweg, studierte zwei Tage auf Lehramt, brach das Studium ab, jobbte und machte Musik. Was für Silvan eine wichtige Phase der Selbstfindung war, finden Freunde und Verwandte nicht gerade normal. „Du schlägst dich erst einmal ein bisschen durch und merkst, dass die Leute das nicht schätzen“, erinnert er sich. „Alle denken, du machst dir ein schönes Leben und schläfst den ganzen Tag. Dabei steh‘ ich wahrscheinlich früher auf als die meisten von denen.“

Anders als bei Silvan sei aus einem Hang zur Perfektion heute aber ein Zwang geworden, sagt Buchautor und Karriere-Experte 31

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Nicola am Kap der Guten Hoffnung (oben), am Fish River Canyon in Namibia (Seite 30) und auf dem Tafelberg in Kapstadt (Seite 34).

Nicola ist Lehramt-Studentin aus Leidenschaft. Bereits während des Abiturs hat sie eine Ausbildung zur Freizeitsport-Leiterin gemacht, heute arbeitet sie als Tutorin am Sport-Institut. Aber das Fernweh holt sie ständig ein. Schon nach dem Abitur unterrichtet sie ein Jahr lang Englisch und Sport an einer Grundschule in Ecuador. „Die Schule lag im Nebelwald. Da hab ich so richtig auf dem Land gelebt, in einem 200-Einwohner-Dorf. In meiner Gastfamilie hatte ich 13 Gastgeschwister.“ Solche Erfahrungen zu vernachlässigen, nur um schnell mit dem Studium fertig zu werden? Das kommt für sie nicht in Frage. Dass sie ein Semester länger studiert als die Regelstudienzeit vorgibt, nimmt sie gerne in Kauf. „Ich hätte auch locker in sechs Semestern fertig werden können. Aber man muss eben abwägen, was einem wichtig ist. Das eine Semester mehr macht den Braten auch nicht fetter.“ Leben bedeutet für Nicola, ein Ziel vor Augen zu haben und trotzdem frei zu sein. Ein netter Nebeneffekt dieser Einstellung: Gerade weil sie ihre Träume trotz des Studiums verwirklicht, ist sie vielen anderen Studenten ihrer Zeit einen ganzen Schritt voraus. Denn jene hecheln dem perfekten Lebenslauf hinterher und vergessen dabei zu leben.

Klaus Werle. Einerseits fühlen sich junge Menschen zwar einem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt, andererseits aber wählen sie den perfektionierten Weg oft selbst. Viele wollen direkt nach dem Studium schnellstmöglich den perfekten Job, der eine möglichst schnelle Karriere mit sich bringt. „Alles soll optimal laufen, alles soll schon von Anfang an zielführend sein“, bekräftigt auch Gabriele Hildebrand-Stümpel. Dabei sei es in Ordnung, das persönliche Glück aus verschiedenen Lebensbereichen zu beziehen. „Das Leben eines Menschen besteht eben aus der beruflichen und der privaten Seite.“

Einmal um die Welt, bitte! Was die Musik für Silvan bedeutet, ist für Nicola Hedwig (23) das Reisen. Während sich ihre Kommilitonen durch Klausuren quälen, bereist die Dortmunder Lehramt-Studentin in den Semesterferien die Welt. Seit Studienbeginn hat sie schon Praktika in Norwegen und Kapstadt absolviert und ist von Nicaragua bis nach Ecuador gereist. Ganz einfach zu organisieren ist das nicht: Vor und nach den Auslandsaufenthalten ist für Nicola Stress pur angesagt. Trotz des straffen Zeitplans im Bachelor-Studium sei das machbar. In verschiedenen Studiengängen müsse man das aber unterschiedlich organisieren, erklärt sie. „Ich kenne natürlich BWL- oder Maschinenbau-Studenten, die in der vorlesungsfreien Zeit drei Monate Prüfungen haben. Aber dafür haben die dann schon eher die Möglichkeit während des Semesters rumzureisen, wenn ich in Pflichtveranstaltungen sitze“.

Die Versuchung, perfekt zu sein, ist groß. Egal für welche Fachrichtung - in der Buchhandlung um die Ecke und im Internet wimmelt es nur so vor gut gemeinten Tipps. Ratgeber, Experten und Unternehmen offenbaren, welche Praktika, Seminare und Hobbies in den Lebenslauf passen. Dabei ist das blinde Nachahmen vermeintlich idealer Lebensläufe nicht so Erfolg versprechend, wie viele denken. Folge man äußeren Vorgaben statt 32

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Silvan am Ziel des Jakobswegs in Spanien (links oben), im Sauerland (links unten) und am Hagener Hengsteysee (rechts).

eigenen Talenten und Wünschen, gingen Individualität und das gewisse Extra verloren, sagt der Autor Klaus Werle. Er nennt das das „Paradoxon der Perfektion“: „Wenn alle den gleichen Idealen und vermeintlich perfekten Lebensläufen hinterherhecheln, sind am Ende vielleicht alle perfekt, aber niemand mehr einzigartig.“

Primärstudien am Arbeitsmarkt. Sie dienen dazu, im Leben einen besseren Überblick zu bekommen. Das alles hilft, sich selbst besser einsortieren zu können.“ Jobben, rumreisen oder sich sozial engagieren – vermeintliche Lücken im Lebenslauf können so auch Zeichen für Reife und Erfahrung sein. Sich hier und da mal eine Pause zu gönnen, sollte die Gesellschaft mehr akzeptieren, findet Silvan. „Alle wissen doch, wie viele an Burnout Erkrankte und depressive Menschen es gibt. Aber sobald jemand eine Pause braucht, finden das alle schlimm.“ Niemand habe in solchen Fällen Verständnis.

Mut zur Lücke Auf der Suche nach etwas, das ihm wirklich liegt, hatte Silvan ungefähr ein halbes Jahr Leerlauf. Was für andere eine bedrohliche Lücke im Lebenslauf ist, sieht er als Zeit zur Orientierung. Von Tontechnik bis Komposition klapperte er Studienberatungen ab. Freunde rieten ihm: Wenn er schon was mit Musik machen wolle, dann solle er das wenigstens auch studieren. Doch statt jahrelang in Seminaren zu sitzen, will Silvan kreativ sein und mit seinen Songs rausgehen. Nebenbei jobbt er mal hier, mal da – zum Beispiel im Weihnachtsbaumverkauf. „Du stehst acht Stunden in der Kälte und schleppst Bäume rum. Das ist echt harte Arbeit“, sagt er. Heute arbeitet Silvan im pädagogischen Bereich mit Kindern und Jugendlichen und studiert Kulturwissenschaften im zweiten Semester. Philosophie gehört zu seinen Lieblingsfächern, denn hier lernt er etwas für das Leben. Wenn es zeitlich passt, will er auch in diesem Jahr wieder Tannenbäume verkaufen. Denn obwohl das nicht viel mit seinem Studium zu tun hat, ist es für ihn ein netter Nebenjob mit netten Kollegen. Auch Gabriele Hildebrand-Stümpel erkennt in solchen Tätigkeiten wichtige Erfahrungen. „Sie sind wie kleine

Um aus der Masse herauszustechen, brauche es vor allem Mut, sagt Klaus Werle. Vielen fällt es schwer, sich dem Trend der Perfektion zu entziehen. Schon allein, weil Perfektionierung auch eine Risikoverminderung sei. Wer alles richtig mache, könne schließlich nichts falsch machen. „Menschen mögen kein Risiko. Sie mögen Dinge, von denen sie glauben, dass sie gut sind, weil viele andere Menschen sie auch tun“, sagt Klaus Werle. Tatsache sei aber: Am meisten lernen wir aus Fehlern und nicht, indem wir Vorgekautes nachbeten oder Erwartungen erfüllen. Dann zitiert er einen Harvard-Professor: „Learn to fail - or fail to learn.“ So können auch Umwege hilfreich, gar unabdingbar sein, die eigenen Talente zu finden oder zu entwickeln. Eine Zauberformel, die vom Mainstream zum Außergewöhnlichen führt, gibt es aber nicht. „Sich ab und zu die Frage zu stellen, ob das, was man tut, auch das ist, worin man gut ist und womit man sich wohlfühlt, kann nicht verkehrt sein“, rät Klaus Werle. Und statt in allen Be33

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reichen perfekt sein zu wollen, solle man sich auf Weniges konzentrieren. Für Silvan gibt es keine Umwege oder Irrwege. Das Leben verlaufe nicht linear. „Das ist vielleicht ein Wunschgedanke, mit der Realität hat das aber nichts zu tun.“ Zukunftsangst hält er für etwas Aufgezwungenes. „Ständig fragen einen die Leute: ‚Hast du schon dies und das gemacht?‘“ Egal ob es dabei um die Jobsuche oder Prüfungen im Studium geht – die Frage selbst beinhalte bereits, dass man noch nichts erreicht hat. Im Endeffekt beeinflusse einen das negativ. „Du selbst würdest dich höchstens fragen: ‚Wann werde ich?‘ Das ist viel positiver“, sagt er. Manchmal sei ein Weg schwieriger, manchmal leichter, aber am Ende erreiche man das Ziel: Das haben Silvan die 900 Kilometer auf dem Jakobsweg gezeigt. „Ich war im Nichts, ich hatte einen Rucksack und sonst überhaupt nichts. Du hast dort keine Orientierung, aber du guckst nach Wegweisern, und so findest du Schlafplätze und triffst nette Leute.“ Wo er in fünf oder zehn Jahren sein will, weiß Silvan nicht. Eigentlich plant er immer nur eine Woche voraus. „Spaßeshalber denk‘ ich mir manchmal, wie es später wohl sein wird. Aber das ist nicht tiefsinnig.“ Dann sieht der 21-Jährige sich irgendwo auf Reisen, in einer Großstadt oder im Ausland. Träume seien das aber alles nicht und wenn es anders käme, wäre er auch nicht traurig. Für Silvan ist das Leben wie eine Reise ohne Ziel: Irgendwo ankommen will er nicht. Das typische Reihenhaus mit Vorgarten und Hund braucht er schon gar nicht. Erstmal will er jetzt sein Studium abschließen und mit seiner Band Musik machen. „Wenn man den eigenen Idealen treu bleibt, kann man auch Wege gehen, die man nicht geplant hatte. Es öffnen sich andere Türen und man kommt irgendwie klar“, sagt er.

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R채tselraten

Drei Engel f체r Charlie Seid ihr fit genug, die sieben Fehler im unteren Bild zu finden? FotoLuzie Hecking

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Kulturgebiet

Liebster Platz TextJill Grosjean FotoFlorian Hückelheim

„Hagen ist hässlich, dreckig und keinen Ausflug wert.“ An der Uni begegnen mir immer wieder Vorurteile gegen meine Heimatstadt. Viele Kommilitonen kennen nur den Hagener Hauptbahnhof. Aber mein Lieblingsplatz liegt direkt im Herzen der Stadt: Die Elbershallen. Ein historisches Industriegelände, das als Baumwolltextilfabrik viele Jahrzehnte von großer wirtschaftlicher Bedeutung für die Stadt war. Nachdem die Hallen jahrelang leer standen, ist hier heute eine ganze Menge los. Italienische Pasta, griechisches Bifteki, spanische Tapas oder amerikanische Burger: Die Restaurants laden zu einer kulinarischen Rundreise ein. Natürlich besuche ich nicht alle direkt hintereinander, aber am Wochenende verbringe ich hier gerne Zeit mit meinen Freunden. In der alten Schlosserei etwa wird die Hagener Geschichte durch amerikanisches Ambiente neu in Szene gesetzt. Man läuft auf rustikalem Holzboden und ist umgeben von Backstein-Wänden mit Rissen und Löchern und riesigen Industrierohren. Dabei sitzt man inmitten von amerikanischen Details – von der Retro-Tanksäule bis zum knallroten Pick-Up-Truck. Hier verliere ich schon mal bei einer Runde Dart oder gewinne beim Billard. Und wenn ich schon beim Sport bin, da bietet sich auch die Bowling-Halle direkt gegenüber an. Neben Sport und Essen gibt es in den Elbershallen aber auch richtig viel Kultur: In einer alten Backsteinkappelle wurde vor ein paar Monaten ein kleines Theater eröffnet. Außerdem gibt es regelmäßig Konzerte, Tanzveranstaltungen oder Kunstmärkte von Jungdesignern. Das Besondere an diesen Märkten sind die „I love Hagen“-Produkte. Denn „Hagen lieben“, das tue ich.

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Peinliche Platte

bandschriftlich

TexTmaike DeDerinG FOTOaXl Jansen MONTAGemoriTZ TscHermak

PROTOKOLLmaike DeDerinG FOTO3sT

Lena, Lisa und Dana sind 3st. Schon seit ihrer Schulzeit kennen sich die Essenerinnen und schnell stand fest: Musik ist die gemeinsame Leidenschaft. Die drei Mädels bezeichnen ihre Musik als romantischen Pop. Die Lieder sind selbst geschrieben – auf der Bühne interpretieren sie aber auch gerne Hits aus den Charts. Mit ihren Songs haben sie es schon in diverse Radiosender geschafft, bei einem belgischen Internetradio sogar Platz 1 in der Jahreswertung erreicht.

Wohlbehütet aufgewachsen und daher ein wenig naiv, begeisterte es mich als Achtjährige, wie hemmungslos die Mädels von Tic Tac Toe in ihren Liedern mit Schimpfwörtern um sich warfen. Voller Inbrunst sang ich „Ich find‘ dich scheiße“. Meine Motivation war ähnlich wie die meines kleinen Cousins, wenn er als Fünfjähriger zu meiner Tante sagte: „Mama, du hast scheiße gesagt. Scheiße ist aber ein böses Wort. Du darfst nicht scheiße sagen.“ Hauptsache Gelegenheiten finden, dieses „verbotene“ Wort zu benutzen.

Unser Musikstil klingt wie:

Zudem eröffneten mir diese Lieder eine völlig neue Welt. Natürlich verstand ich die Texte nicht richtig, sie faszinierten mich aber. Mit Fragen wie „Was macht man auf einem Strich?“ oder „Wer ist ein Dealer?“ löcherte ich meine Eltern, nachdem ich „Warum“ gehört hatte. Damals war ich übrigens felsenfest überzeugt, man würde es ‚Dieler‘ schreiben.

Wir machen Musik, weil...

Das schimpfwortärmere „Warum“ mauserte sich letztendlich zu meinem Lieblingslied. Meist finde ich die traurigen Songs am tollsten, auch heute noch. Als es in der sechsten Klasse einmal Aufgabe war, eine Ballade auswendig zu lernen und vorzutragen, etwa „Der Erlkönig“ oder „Belsazar“, wollte ich deswegen auch den Klassiker von Jazzy, Ricky und Lee zum Besten geben. Ein wenig Überredungskunst war nötig, aber letztendlich war mein Lehrer einverstanden. Zum Glück handelte es sich bei „Warum“ um Sprechgesang, denn wenn ich eins noch nie konnte, dann ist es singen. Trotzdem bin ich sehr froh, dass die Handys von damals noch nicht filmen konnten. Den Auftritt heute auf Youtube zu finden, das wäre doch ziemlich peinlich.

Als nächstes planen wir...

Probehören auf pflichtlektuere.com

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Neues vom V-Mann

fOTOLisa Spreckelmeyer / Pixelio.de

Kopfhörerparty 22. Dezember, Witten, Party 22 Uhr, WerkStadt Mannesmannstraße 6 www.soundinsilence.de Stille Nacht - und trotzdem laut. Ein Stereo-Kopfhörer sorgt für Rock- und Pophits oder Dance und Chart-Beats direkt auf die Ohren. Wer den Kopfhörer absetzt, unterhält sich, ohne zu schreien. 6 Euro + Pfand Wir verlosen fünf Gästelistenplätze für die Kopfhörerparty. Schreibt einfach bis zum 17. Dezember eine Mail an pflichtlektuere@gmail.com.

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fOTOW. R. Wagner / Pixelio.de

FotoMiriam trescher / Pixelio.de fOTOJess Pinkham

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Wurstige Weihnacht 22. Dezember, Dortmund, Comedy 20 Uhr, Cabaret Queue Hermannstraße 74 www.teloek.de Zahllose Plätzchen sind schon vertilgt – ob im Depot oder daheim. Zeit für etwas Herzhaftes, ab in die Weihnachtsmetzgerei. Das Comedy-Duo Der Telök erzählt mit Musiker Helmut Sanftenschneider die defitge Weihnachtsgeschichte . 18 Euro VVK / 20 Euro AK

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