pflichtlektuere 04/2012

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pflichtlektüre Studentenmagazin für die Universitäten Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen

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I will survive

Unterwegs mit einer Überlebenstrainerin www.pflichtlektuere.com


Sudoku

Impressum Herausgeber Institut für Journalistik, TU Dortmund Projektleitung Dr. des. Annika Sehl (ViSdP) Redaktionsleitung Sigrun Rottmann Redaktion Uni-Center, Vogelpothsweg 74, Campus Nord, 44227 Dortmund Tel.: 0231/755-7473, post@pflichtlektuere.com Chef vom Dienst Julia Hortig Textchef Nils Bickenbach Fotoredaktion Florian Hückelheim, Katharina Kirchhoff, Christiane Reinert Titelbild Florian Hückelheim Layout Julia Hortig, Daniel Klager, Timo Spieß, Christopher Tölle Redakteure und Reporter Elena Bernard, Maike Dedering, Kornelius Dittmer, Lara Eckstein, Lara Enste, Mareike Fangmann, Jonas Fehling, Sandra Finster, Jana Fischer, Anna Friedrich, Tobias Fülbeck, Luzie Hecking, Kirsten Hein, Stephanie Jungwirth, Jens Jüttner, Natalie Klein, Olga Kourova, Judith Merkelt, Julia Viktoria Neumann, Alexandra Ossadnik, Marylen Reschop, Philipp Schulte, Helene Seidenstücker, Lena Seiferlin, Dominik Speck, Julia Stollenwerk Druck Data 2000 GmbH Kaiser-Wilhelm-Str. 39 20355 Hamburg

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eins vorab

Den Ernst des Lebens annehmen oder lieber noch die Kindheit genießen? Mareike hält es für ehrlicher, sich im Studium nicht von jetzt auf gleich erwachsen zu geben. TEXTMareike Fangmann FOTOKatharina Kirchhoff

Vom behüteten Zuhause ins chaotische Studentenwohnheim. Keine Mama mehr, die einem die geliebten Spaghetti vorsetzt. Oder dafür sorgt, dass man mit sauberer Wäsche auf die Straße geht. Oder morgens so lange nervt, bis man endlich aufgestanden ist. Im Studium ist vieles anders als in der Schulzeit. Aber bedeutet der Beginn des Studiums automatisch, dass man schlagartig erwachsen sein muss?

Ab und zu darf man auch mal das Kind raushängen lassen. Das ist doch viel ehrlicher als pseudo-erwachsenes Benehmen. Denn mal ganz ehrlich: Wer kann nicht von sich behaupten, dass er statt der Krisenberichte von Peter Kloeppel ab und zu lieber die Weisheiten von Homer Simpson bevorzugt? Oder sich über einen besorgten Anruf von Mama freut? Wer hat noch nie eine Vorlesung verpasst, weil er nicht aus dem Bett gekommen ist? Man kann eben nicht von jetzt auf gleich erwachsen werden. Nur stur seine Zukunft im Blick haben. Und das ist auch gut so!

Als Ersti hat man es schwer. Wie soll man sich verhalten inmitten all dieser erfahrenen Studenten? Während man selbst unsicher auf dem Campus herumschlendert, scheinen sie von Vorlesung zu Vorlesung zu eilen, ihre Karriere vor Augen, die Kindheit hinter sich lassend. Doch halt, was war das denn? Ein Spongebob-Shirt? Und da, eine Hello-Kitty-Tasche? Ja, wir befinden uns noch auf dem Campus, und bei genauerem Hinsehen fällt auch dem Ersti auf: So schnell werden Studenten wohl doch nicht „groß“.

Denn das Studium soll auf die Zukunft und das Berufsleben vorbereiten – und setzt es nicht schon voraus. Man hat schließlich einige Semester Zeit, sich zu entwickeln. Wie eine Fortsetzung der Schulzeit. Na gut, der zukünftige Beruf rückt nun immer näher. Dennoch darf ein Student ruhig mal den „Ernst des Lebens“ ein wenig vernachlässigen und noch Kind sein.

Jeder kennt das Gefühl, wenn das Studium beginnt. Alles wirkt so ernst und man denkt: „Das muss ich jetzt auch sein“. Aber nach einer Weile merkt man: Lockerlassen ist auch mal okay. Klar, man sollte schon wissen, wie seine Zukunft in etwa aussehen sollte. Schließlich hat man eine gewisse Verantwortung für sich selbst. Trotzdem muss ein Student kein perfektes Organisationstalent sein.

Also: Es sollte durchaus erlaubt sein, die Zeit als Student noch zu genießen. Der Arbeitsstress kommt schließlich früh genug – was aber nicht heißt, dass man nicht auch da gelegentlich das innere Kind in sich wiederentdecken darf.

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2000 Teller Spaghetti Campuskopf: Ivene Gmomotka verteilt nicht nur Mensa-Essen.

Aufblitzende Erinnerung Sag mal, Prof: Woher kommen Déjà-vus?

STUDIUM

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Offline: Studieren auf Entzug Erschreckende Selbst-Erkenntnisse nach zehn Tagen ohne Internet.

Bücherhalle oder Lesesaal Die oft stickigen Uni-Bibliotheken stehen vor einigen Herausforderungen.

Überleben im Blätterhaus Was die Campus-Landschaft an Mahlzeiten und Gefahren bereithält.

JOB

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Nebenjob: Maskottchen Special Operations: Eine blaue Maus im Stadion.

Personaler persönlich Was sie bewegt und was ihnen bei Bewerbern wichtig ist.

Unter der Lupe im Rollenspiel In Assessment-Centern bringen Schauspieler die Teilnehmer an ihre Grenzen.

LEBEN

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Hörspiel 2.0 Viele Studenten bleiben trotz neuer Medien bei ihren alten Kassetten.

Lebenswichtige Pause Wer nur durcharbeitet, gefährdet seine Gesundheit.

Gegeneinander studieren Krampf statt Dampf - wie sehr Konkurrenzdenken schaden kann.

RAUS

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Auf der Halde und aus der Kindheit Kulturgebiet: 529 Stufen, die sich lohnen und Heino als Held vergangener Tage.

V-Tipps Ein Schwein in Gaza, die Beatles im Planetarium und blinde Poesie.

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inhalt


Verrückte Fanliebe Neulich in Deutschland: Eine US-Amerikanerin wundert sich über unsere Sportkultur TextBecca Anderson PROTOKOLLMareike Fangmann fotoKatharina Kirchhoff

„Football“ – übersetzt heißt das „Fußball“. Theoretisch. Doch in Wirklichkeit sind die beiden Sportarten nicht zu vergleichen. Nicht nur bei den Regeln gibt es fast keine Gemeinsamkeiten. Auch der Hype um die deutschen Profiteams im Fußball ist mit dem Fankult im US-amerikanischen Football kaum zu vergleichen. Die Sportkultur in Deutschland ist wirklich etwas ganz Anderes!

eigene Team gewonnen hat. So etwas wie hier habe ich noch nie erlebt! Ich wusste ja, dass die Deutschen fußballverrückt sind – aber so? Hier zählt lange nicht nur der Sport an sich, vielmehr wird der eigene Verein zum geliebten Kulturgut, das man so gut und so oft es geht unterstützt. Gewinnen steht aber ganz klar an erster Stelle.

Und gerade in Dortmund ist eine Steigerung wohl kaum möglich. Da Mein Name ist bin ich ja genau zur richtigen Zeit Becca Anderson am richtigen Ort und ich bin so gelandet. Nachdem etwas aus meiner ich mit meinen Heimat in Florida deutschen Freunden nicht gewöhnt. das Pokalfinale geseNatürlich lieben hen und Dortmund auch wir unseren gewonnen hatte, Sport. Aber eben flippten alle aus. Ich anders. Wahrdachte, das wär‘s. Es scheinlich hat jeder schon einmal wurde gejubelt und vom Super Bowl gefeiert – aber da gehört, dem wohl ging es ja noch nicht größten Sporteeinmal richtig los. vent des Jahres Später sind wir auf in den USA. die Meisterfeier geBeinahe jeder gangen und ich war Für Becca Anderson ist die Fanliebe der Deutschen etwas ganz Besonderes. verfolgt das Finaüberwältigt, wie viele Menschen dorthin le im TV – aber kamen! Alles war nur noch schwarz-gelb. Unglaublich! nicht alleine. Der Super Bowl ist ein riesiges Gemeinschaftsereignis: Man grillt, trinkt und jubelt gemeinsam für sein Lieblingsteam oder Das nenne ich echte Fanliebe! Mit so etwas habe ich in Deutschland verliert zusammen. Das Ganze wird immer zum Highlight, egal, wie nun wirklich nicht gerechnet. Und da heißt es immer, wir Amis das Spiel ausgeht. Und es wird schon Wochen im Voraus geplant. wären verrückt ... Aber nach dem Spiel ist dann auch alles genauso schnell wieder vorbei. Entweder das favorisierte Team hat gewonnen oder nicht. Auf jeden Fall gehen die meisten zufrieden nach Hause, denn man hatte gemeinsam Spaß. Bis zum nächsten Finale ist die Saison dann so gut wie vergessen. Es ist zwar ein unglaublich intensives Sportereignis, aber eben nur das Spiel an sich. „Nachwirkungen“ gibt es nur selten. Ganz anders hier in Deutschland. Klar, auch hier schaut man sich die Spiele gemeinsam an. Aber so richtig geht es erst los, wenn das 05

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Hauptsache

Früher haben unsere Eltern immer gesagt:

Unsere Fotografen zeigen, was passiert, w

FOTOSFLORIAN HÜCKELHEIM, CHRIS

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che lecker!

mer gesagt: „Mit Essen spielt man nicht!“

s passiert, wenn man es trotzdem macht. HÜCKELHEIM, CHRISTIANE REINERT

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Die Kantinen-Fee Ohne sie müssten viele Studenten der TU Dortmund wohl mit Magenknurren in die Vorlesungen: Ivene Gmomotka (47) arbeitet seit 14 Jahren als Küchenhilfe in der Mensa am Campus Nord. Und hier kümmert sie sich nicht nur um das Mittagessen. TEXT MAREIKE FANGMANN FOTO CHRISTIANE REINERT

Von halb sieben bis Viertel vor drei im Einsatz. Allein die Vorbereitung des Mittagessens dauert über zwei Stunden. Hinterher steht noch eine gründliche Endreinigung an.

Auch das Dekorieren fällt in ihren Aufgabenbereich. Das Auge isst schließlich mit.

Über 1000 Portionen verteilen die Küchenhilfen täglich. Bei Spaghetti können es auch schon mal 2000 werden. Beschwerden bekommen die Angestellten dabei eher selten zu hören.

Nicht nur das Mittagessen bereitet Gmomotka täglich vor. Insgesamt 670 Sandwiches, Baguettes und belegte Brötchen müssen also für die Außenstellen pünktlich fertig geschmiert sein.

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Sag mal, Prof Wie kommen eigentlich Déjà-vus zustande? PROTOKOLLDOMINIK SPECK FOTOSDOMINIK SPECK MONTAGECHRISTOPHER TÖLLE

Vorgwei

ndan.

Prof. Dr. Georg Juckel, Leiter der psychiatrischen Uniklinik Bochum, erklärt Geschichtsstudent David Spieker, was bei Déjà-vus in seinem Gehirn passiert.

Obwohl wir uns für den Bruchteil einer Sekunde in die Vergangenheit zurückversetzt fühlen, wissen wir, dass das Déjà-vu ein „Als-Ob-Erlebnis“ ist. Das unterscheidet das Déjà-vu zum Beispiel von einer Halluzination. Wer halluziniert, ist überzeugt davon, dass die Situation, die er im Kopf durchlebt, real ist. Halluzinationen brauchen zudem kein Objekt, um zu entstehen.

In Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ wird die Hauptfigur durch den Geschmack einer „Madeleine“ (französisches Gebäck) an ihre Kindheit erinnert. Dadurch kommt die Handlung ins Rollen, der Protagonist durchlebt einen Teil seiner Vergangenheit noch einmal. Was Proust schon richtig erkannte: Ein Déjà-vu ist immer mit einem Objekt verbunden – in diesem Fall die „Madeleine“. Gegenstände, wie Prousts „Madeleine“, können solch ein Objekt sein, aber auch Menschen, Situationen oder Gerüche, von denen wir glauben, sie schon einmal getroffen, erlebt oder gerochen zu haben. Mit dem Objekt verbinden wir Stimmungen, Erlebnisse, Gefühle oder Gedanken. So kommt eine Erinnerungskette ins Rollen, die nur für Millisekunden aufblitzt: Ein Flashback oder ein Bewusstseinsstrom.

Das Déjà-vu ist also ein ganz normales Bewusstseinsphänomen: Nichts, worum wir uns Sorgen machen müssten. Im Gegenteil: Es kann sogar sehr wichtig sein. Zum Beispiel bei Psychotherapien, denn auch Traumata werden auf diese Weise abgespeichert. Wenn Therapeuten versuchen, die Ursachen für die psychischen Probleme ihrer Patienten zu finden, können Déjà-vus eine große Rolle für den Heilungsprozess und die Diagnose spielen. Ein Déjà-vu funktioniert wie eine zerplatzte Seifenblase: Wir sind enttäuscht, wie schnell der „Zauber“ vorbei ist.

Neurobiologisch lassen sich Déjà-vus so erklären: Erinnerungen werden im Hippocampus, einem Teil des Großhirns, abgespeichert. Dort gibt es ein explizites und ein implizites, also bewusstes und unbewusstes Gedächtnis. Unbewusste Erinnerungen werden tief im Hippocampus vom normalen Wachbewusstsein abgekoppelt. Dort hat schon Freud das Unbewusste vermutet. Der Déjà-vu-Auslöser stößt eine Kette unbewusster Erinnerungen an, in der auch Gedanken und Emotionen gespeichert sind. Dann wird für kurze Zeit eine Verbindungsbahn zwischen Hippocampus und Großhirnrinde aktiviert, die die unbewusste Erinnerung ins aktuelle Bewusstsein zurückholt. Doch schnell wird klar: Die Erinnerung ist fehlerhaft.

Was wolltest du schon immer wissen? Mail es uns an gutefrage@pflichtlektuere.com Die besten Fragen lassen wir von Experten im Heft beantworten.

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Digitales Koma Studieren ohne Internet? Vor zwanzig Jahren selbstverständlich – aber heute? pflichtlektüreRedakteurin Jana Fischer hat den Selbstversuch gemacht und für zehn Tage den Stecker gezogen.

TEXTJana Fischer FotosChristiane Reinert ILLUSTRATIONFLORIAN HÜCKELHEIM

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Status Quo

in gespielter Dramatik die Augen zu, alle fünf Minuten scherzt jemand, er würde mir „dann auf Facebook schreiben“. Es passt zu gut, dass wir abends eine Veranstaltung zum Thema Bloggen haben. Eine von der Sorte, nach der man die Netzwelt am liebsten sofort mit den eigenen geistigen Ergüssen vollspammen möchte. Ein bisschen fühlt es sich an wie ein Stück Schokokuchen, das man ansehen, aber nicht essen darf. „Du kannst dich dann ja per Telegramm für deine Klausuren anmelden“, bekomme ich zum Abschied zu hören. Danke, ich wollte es eigentlich mit einer Brieftaube probieren. Aber es stimmt natürlich: Ich habe Glück, dass gerade keine der üblichen Online-Anmeldungen ansteht. Stattdessen beweist ausgerechnet die Klausur zur „Einführung in die Mediensysteme“, dass das Internet die Uni doch noch nicht überall durchdrungen hat: Die Anmeldung läuft über einen Zettel an der Sekreteriatstür.

Eigentlich verfluche ich die Idee schon jetzt. Der Einfall mit dem Internet-Selbstversuch kam mir ein paar Stunden vor der Redaktionskonferenz. Die Erkenntnis, dass das einige Nerven kosten dürfte, folgte schon ein paar Stunden danach. Trotzdem: Jetzt komme ich aus der Nummer nicht mehr heraus, für die nächsten zehn Tage bin ich offline. Die freundlichen Hinweise darauf, dass die Uni sich inzwischen fast vollständig über das Internet organisiert, heben meine Laune zwar nicht gerade – sie kitzeln aber auch meinen Trotz heraus: „Die Leute haben jahrhundertelang ohne Internet studiert, da werde ich das wohl zehn Tage lang schaffen“, erkläre ich einem der wohlmeinenden Freunde. Er zuckt mit den Schultern: „Bei denen hat das Studium aber auch nicht mit einer Online-Bewerbung angefangen.“

Tag 1 Wie automatisch will ich nach dem Aufstehen erst einmal bei Spiegel Online vorbeischauen. Könnte ja sein, dass in der Nacht die Welt untergegangen ist. Heute muss ich mich mit meinem Fernseher als Ersatzdroge begnügen und lese im Videotext nach, was es Neues gibt: Banken herabgestuft. Griechenland pleite. Wetter doof. Manchmal will man gar nicht so genau informiert sein. Immerhin bleibt ohne die morgendliche Internet-Ablenkung mehr Zeit, um in der Uni nach Literatur für mein nächstes Referat zu suchen. Das Problem: Wie findet man die, wenn der Bestand nur online erfasst ist? Meine Frage nach einem Zettelkatalog quittiert die Bochumer Bibliothekarin mit ungläubigem Lachen: Den gebe es schon seit Jahren nicht mehr. Ich grase die Regale also auf analogem Weg ab und lande so ein paar Zufallstreffer. Dass ich in der benötigten Zeit normalerweise schon das halbe Thesenpapier vorbereitet hätte, ignoriere ich konsequent. Man muss den Frust ja nicht provozieren.

Tag 4 Der Dozent ist fertig für heute: „Ich maile Ihnen dann, welche Texte Sie bis nächste Woche herunterladen sollen.“ Okay, der Satz hat für mich gleich zwei Haken. Mein Tischnachbar ist sichtlich verwirrt, als ich frage, ob er mir die Texte vielleicht ausdrucken und morgen im Tutorium geben könne. Ich wiederum komme mir etwas blöd vor, als ich den Grund für meine Bitte erkläre. Immerhin: Am nächsten Tag drückt er mir einen Stoß Papier in die Hand. So ein Offline-Leben macht ganz schön abhängig. Zum zweiten Mal wird mir das heute bewusst, als ich nachmittags einen Bußgeldbescheid im Briefkasten finde. Ärgerlich genug, dass ich geblitzt worden bin – aber kann mir mal jemand erklären, wie zum Teufel man ohne Online-Banking Geld überweist?

Tag 2 In Dortmund habe ich weniger Glück mit meiner Recherche. Die Bibliothek ordnet ihren Bestand innerhalb der Fächer nur nach Erwerbsdatum. Die von mir benötigten Mittelalter-Bücher verstecken sich dementsprechend zwischen unzähligen Hitler-Biografien. Also keine Chance. Umso dankbarer bin ich für die gut sortierte Bereichsbibliothek. Der Geschichts-Dozent nickt amüsiert, als ich in der Sprechstunde von meiner Literatursuche erzähle: „Ja, ich habe auch gerüchteweise gehört, dass man früher ohne Internet studieren konnte.“ Wie das funktioniert haben soll, weiß er auch nur noch teilweise. Mit Anfang 30 gehört er selbst bereits der InternetGeneration an.

Tag 5 Nächstes Seminar, nächstes Problem: Ich muss einen Radio-Beitrag über Eurobonds aufnehmen und suche einen Experten zum Thema. Mit Sicherheit könnte Google mir einen Haufen Volkswirtschaftler nebst passender Telefonnummer ausspucken, aber das hilft mir im Moment wenig. Weil mir nichts Besseres einfällt, frage ich erst einmal auf gut Glück in meiner Umgebung herum. Tatsächlich: Einem Mitstudenten fällt sofort ein Professor ein, der bereit ist, mir zu helfen. Bleibt nur noch die Frage, wie ich an ein Aufnahmegerät der Uni komme. Die reserviert man nämlich – wie könnte es anders sein? – per Online-Formular. Da ich befürchte, dass mein digitales

Tag 3 Meine Kommilitonen haben ihren Spaß an meinem InternetVersuch. Wenn ich an einem Computer vorbeilaufe, halten sie mir 11

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Ohne Internet muss wohl oder übel der gute alte Videotext zur Informationsbeschaffung herhalten.

Koma als Argument eher mittelmäßig überzeugen würde, stelle ich mich einfach dumm: „Ich habe das noch nie gemacht. Kann ich das vielleicht nochmal gezeigt bekommen?“ Tatsächlich, es funktioniert: Die nette Dame von der Geräte-Ausleihe füllt für mich am Computer ein Feld nach dem anderen aus und nach wenigen Minuten habe ich mein Aufnahmegerät in der Hand.

moralischen Dilemma zwischen Schwarzfahren und Schummeln, als ich das Ticket doch noch aus der hintersten Ecke meines Portemonnaies fische. Was, wenn ich es nicht gefunden hätte? Sieht so aus, als hätte die Online-Bürokratie der Uni auch ihre praktischen Seiten. Nur für mich gerade nicht.

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Tag 6 „Hast du die Rundmail für das Kompaktseminar gelesen?“ Nein, habe ich nicht. Wie auch? Offensichtlich sollen wir uns irgendein Programm herunterladen und uns online in eine Excel-Tabelle eintragen. Ich würde gerne Bescheid sagen, aber das Büro der Seminarleiterin ist abgeschlossen. „Macht nichts, rufe ich eben später an“, denke ich mir. Erst zuhause merke ich: Die Telefonnummer steht im Internet. Was das Programm betrifft, bin ich natürlich ohnehin aufgeschmissen. Meine Hoffnung, dass ich es mir einfach von einem anderen PC kopieren kann, erfüllt sich nicht, sodass nur eine Möglichkeit bleibt: Warten, bis ich wieder ins Internet darf. Zum Tagesabschluss wartet noch eine kleine Schrecksekunde: Mein Semesterticket ist verschwunden. Normalerweise wäre das kein Problem – es geht schließlich bloß um einen knittrigen Papierwisch, den man beliebig oft ausdrucken kann. Nur muss man dazu auf die entsprechende Website kommen. Ich sehe mich schon im 12

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In Sachen Zeitverschwendung hatte ich mir eigentlich wahre Wunderdinge von meiner Internetlosigkeit versprochen: Keine betrunkenen Karaoke-Sänger auf Youtube. Niemand, dem man auf Facebook dabei zusehen muss, wie er oder sie sich blamiert. Keine Chance, sich auf Wikipedia sinnloses Wissen über US-amerikanische Fernsehserien anzueignen. Ich dachte, es müsse unendlich viel Zeit bleiben, an der eigenen akademischen Erleuchtung zu arbeiten. Eine ziemlich naive Vorstellung, denn mal ehrlich: Als könnte man seine Zeit nicht anders totschlagen. Ich lese, ich sortiere, ich beklebe die Collage an meiner Wand oder schneide mir die Fingernägel – nur an das, was ich eigentlich erledigen müsste, denke ich nicht einmal. Ob dieser Mangel an Konzentration wohl Zufall ist? Vielleicht hat das Internet uns einfach daran gewöhnt, im Minutentakt neue Reize geliefert zu bekommen. Auch sonst wollen sich keine Zeitspar-Effekte einstellen. Ich schreibe als freie Mitarbeiterin für eine Lokalzeitung und war gestern Abend bei einem Konzert. Der


tete: Er spürte ständig ein Vibrieren in der Brust, weil er sein Smartphone immer in der Hemdtasche bei sich getragen hatte. Insofern beruhigt es mich etwas, dass ich nach zehn Tagen noch nicht mit Schaum vor dem Mund herumlaufe. Trotzdem: Dass ich nachmittags im Seminar sitze und die Stunden bis Mitternacht zähle, weist eindeutig auf Vorfreude hin.

Artikel ist fertig – nur dumm, dass ich ihn nicht in die Redaktion mailen kann. Stattdessen setze ich mich nun in den Bus und bringe ihn per USB-Stick vorbei. Wenn ich bedenke, dass ich früher für jeden Artikel diesen Aufwand gehabt hätte ... Der Redakteur zuckt mit den Schultern: „Was meinst du, wie umständlich das erst war, als wir hier nur Schreibmaschinen hatten?“

Ich stelle mich sicherheitshalber auf eine lange Nacht ein, als ich um kurz vor zwölf den Computer hochfahre, doch die Sorge ist relativ unbegründet. In meinem Postfach wartet zwar eine ansehnliche E-Mail-Flut, aber wenig, wofür sich das Wachbleiben gelohnt hätte: Die übliche Spam-Armada, Rundmails, eine Praktikums-Absage. Auch sonst ist nichts aus den Fugen geraten, die Netzwelt ist offenbar ohne mich ganz gut klargekommen. Als ich mich um kurz nach eins dabei erwische, dass ich den WikipediaEintrag von Sandra Maischberger lese, entscheide ich, dass es Zeit zum Schlafen ist.

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„Fühlt man sich eigentlich isoliert, so ohne Facebook?“, will eine Freundin wissen. Genau die Frage habe ich mir vor meinem Selbstversuch auch gestellt, obwohl ich meine Internet-Nutzung bisher immer für halbwegs moderat gehalten habe. Ich will kein „Gefällt mir“ dafür, dass ich mir einen Joghurt aus dem Kühlschrank hole und wenn ich gelegentlich vor Laternenpfosten laufe, liegt es nicht daran, dass ich auf einem Smartphone Mails abrufe. Tatsächlich fehlt Facebook mir erstaunlich wenig, wenn man von einem negativen NebenefEinen Tag später öffnet sich auf fekt mal absieht: Selbst wenn ich Facebook das Chat-Fenster: „Na, holst Wie findet man ohne Online-Katalog das richtige Buch in der Uni-Bibliothek? nur den richtigen Seminarraum du die letzten zehn Tage nach? ;-)“ wissen will, sind für eine Antwort oft mehrere SMS notwendig – Tatsächlich, es stimmt: Ich sitze seit zwei Stunden am PC und surfe und das schlägt sich auf die Handykosten nieder. Natürlich hat man in fünf Browser-Fenstern. Erstens hat sich doch einiges auf der menes früher auch ohne Facebook-Gruppen – zumindest in der Regel talen Ablage angesammelt, das ich bereitwillig auf die Zeit nach Ver– geschafft, zur richtigen Zeit gemeinsam zur richtigen Vorlesung suchsende verschoben habe. Zweitens bin ich da vorhin auf diesen aufzukreuzen. Inzwischen habe ich mich aber so daran gewöhnt, Blog gestoßen, auf dem ... na ja, es ist immer das gleiche. Trotzdem dass ich notfalls einfach nachfragen kann, dass ich es mit dem Aufbin ich weniger wegen meines eigenen Surfbedürfnisses froh, wieder schreiben offenbar nicht mehr so genau nehme. Internet zu haben: Mit Sicherheit studiert es sich bequemer, wenn das Internet permanent alles verfügbar hält. Ob das automatisch weniger Stress bedeutet, ist eine andere Frage – allerdings eine überflüssige. Offline studieren ist langfristig ohnehin unmöglich, solange der Rest der Welt sich online organisiert. Kurzfristig bedeutet es Wikipedia, du fehlst. Es schmeichelt mir ja, wenn wissenschaftliche zumindest ziemlich viel Aufwand und Trickserei. Wie das wohl erst Autoren annehmen, dass mir als Leser sämtliche Hintergründe und aussieht, wenn man auch noch auf alle anderen Medien verzichten Fachtermini geläufig sind, aber: Nein, verdammt nochmal, ich habe muss ...? Stop! Besser, ich komme gar nicht erst auf dumme Gedankeine Ahnung, warum auf den Tod Heinrichs VI. ein Thronstreit ken…. folgte. Normalerweise hätte das Internet mich in einer Minute aufgeklärt. Jetzt müsste ich erst in die Bibliothek fahren und dort nach dem Lexikon des Mittelalters suchen. Ohne Online-Katalog natürlich. Ich entscheide, dass mich der Thronstreit doch nicht so brennend interessiert.

Nachher

Tag 9

Tag 10 Neulich habe ich von einem Gefängnisinsassen gelesen, dem eine besondere Variante des Internet-Entzugs Phantomschmerzen berei13

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Der Bib-Check Turbo-Lernen im Bachelor, Internetrecherche, vernetzen im virtuellen Raum: Wir studieren anders als die Generationen vor uns. Universitätsbibliotheken müssen sich ebenfalls anpassen und dabei viel mehr sein als nur Bücherhallen. TEXT/fotosJulia Stollenwerk

Stickig, warm: Anna bevorzugt andere Orte zum Lernen.

Doch obwohl die Zugriffszahlen auf elektronische Medien explosionsartig gestiegen sind, bleibt die Nachfrage nach gedruckten Büchern weiterhin sehr hoch. 2011 wurden beispielsweise in der Dortmunder Uni-Bibliothek über 740.000 Mal Bücher ausgeliehen, und die Zahl der aktiven Nutzer ist um fast zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Hinzu kommt: „Nicht alle Publikationen und Informationen werden zukünftig flächendeckend in digitaler Form vorliegen“, so Jürgen Heeg, Vertreter für wissenschaftliche Bibliotheken im Bundesvorstand des Deutschen Bibliotheksverband (dbv). In manchen Bereichen müsse man immer noch auf gedruckte Bestände zurückgreifen.

Ein Studium ohne Internet? Kaum vorstellbar. Ein Studium ohne Bibliotheken? Auch nicht. Denn während wir uns einerseits vernetzen, mit E-Books und PDFs lernen, haben die Uni-Bibliotheken mit ihren Bücherregalen keinesfalls ausgedient. Im Gegenteil: Die „Bib“ bleibt für viele ein wichtiger Anlaufpunkt auf dem Campus – und dabei stellen wir sie vor neue Herausforderungen. Zunächst die Bibliotheken-Welt in Zahlen. Immer mehr Haushaltsmittel werden in elektronische Medien gesteckt, dazu gehören neben E-Books und -Journals auch Datenbanken und der Erwerb von Lizenzen dafür. Die Uni-Bibliothek in Dortmund beispielsweise hat aktuell zirka 280 kostenpflichtig lizenzierte Datenbanken. Nach Angaben der Bibliotheksleitung wurde im vorigen Jahr fast 280.000 Mal auf sie zugegriffen. Zusätzlich bietet die Bibliothek über ein Portal mehrere Tausend Datenbanken an, die frei im Internet abrufbar sind. Insbesondere bei Fachzeitschriften geht der Trend zur digitalen Nutzung: Schon bald wird in den meisten Fächern der Zugriff nur noch online erfolgen.

Michael Elberth, Lehramtstudent mit den Fächern Englisch und Psychologie, lernt sowohl mit Büchern als auch mit digitalen Quellen – die Uni-Bibliothek schätzt er vor allem als Lernort. „Zu Hause bin ich ständig abgelenkt. Da gibt’s mein Bett, Internet, den Fernseher, Schokolade und Kühlschrank.“ Für ihn bietet das Lernen in der „Bib“ in erster Linie einen leeren Schreibtisch – und Ruhe. Michael nennt noch einen weiteren Vorteil: „Wenn ich sehe, dass 14

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alle anderen um mich herum arbeiten, motiviert mich das.“ Zu einem Problem wird das Ganze nur, wenn sich hier so viele Leute tummeln, dass es kaum noch Platz gibt. Den Wunsch nach einem Ort für ungestörtes Lernen verspüren immer mehr Studenten. 1,1 Millionen Nutzer verzeichnete die Zentralbibliothek im vergangenen Jahr in ihrem Lesebereich – ein neuer Höchststand, meldet die Bibliotheksleitung. Einen freien Einzelarbeitsplatz findet man während Klausurphasen kaum. Gruppenarbeitsplätze sind besonders gefragt und fast rund um die Uhr belegt. Die große Auslastung hängt auch damit zusammen, dass sich Studenten heute länger auf dem Campus aufhalten als früher. „Die Bologna-Reform mit ihren komprimierten Bachelorund Masterstudiengängen hat geradezu einen Schub von lernenden Studenten in die Bibliotheken getrieben“, erklärt Heeg. An der RUB lässt es sich gemütlicher lernen als anderswo.

Die Dortmunder Bibliothek versucht dem Andrang mit langen Öffnungszeiten entgegen zu kommen. Doch um den gestiegenen Anforderungen gerecht zu werden, muss sich in den Büchereien noch mehr tun. „Den größten Handlungsbedarf sehen wir bei der räumlichen Verbesserung des Lernortes“, sagt der Leiter der Dortmunder Uni-Bibliothek, Dr. Joachim Kreische. Kleine Maßnahmen seien bereits geplant. So sollen beispielsweise Raumteiler für Gruppenarbeitsbereiche eingesetzt werden. Größere Gruppenarbeitsräume, für die die Nachfrage eigentlich hoch ist, wird es allerdings nicht so schnell geben – dafür reicht der Platz nicht.

dass sich die Lerngewohnheiten der Studenten ändern“, erklärt Dr. Jörg Albrecht, Geschäftsbereichleiter der Benutzungs- und ITDienste. „Wer mobil am iPad oder Notebook arbeitet, braucht nicht unbedingt einen normalen Schreibtisch, viele Dinge werden heute gerne auf dem Sofa erledigt.“ Und von den Studenten wird das neue, bequeme Angebot gerne angenommen. „Es ist dort absolut ruhig, man kann sich also gut konzentrieren“, findet zum Beispiel Jura-Studentin Beate Schwentker. „Durch die Sofas und kuscheligen Sessel ist es aber auch sehr gemütlich. Eine gute Kombination.“

Ein bisschen mehr Gemütlichkeit?

Mehr Service – vor Ort und virtuell

Auch Anna Dörnemann wünscht sich für ihr kulturwissenschaftliches Studium oft einen Raum, in dem sie sich zum Lernen zurückziehen kann. Aber in der Uni-Bibliothek? „Da würde ich mich nie freiwillig reinsetzen“, gibt Anna zu. „Wenn man reinkommt ist es stickig und warm. Nach zwei Stunden bekomme ich da Kopfschmerzen.“ Damit ist sie nicht allein: Fast ein Drittel gaben bei einer aktuellen, landesweit von den Universitätsbibliotheken organisierten Umfrage an, dass sie mit den klimatischen Bedingungen in der Bücherei unzufrieden sind. Auch das ist in Dortmund ein bekanntes Problem. „Die Klimaanlage ist leider nicht auf dem modernsten Stand der Technik“, bedauert Bibliotheksleiter Kreische. Es werde aber daran gearbeitet, um noch das Beste herauszuholen.

Nicht nur der Lernraum ist den Studenten wichtig. Sie erwarten auch mehr Beratung und Service von ihrer „Bib“. So wenden sich immer wieder Studenten bei technischen Fragen an das Personal, das eigentlich gar nicht dafür zuständig ist. Das könnte sich aber ändern, denn bald soll die Uni-Bibliothek eine noch zentralere Rolle auf dem Campus spielen: „Die Universitätsbibliothek wird in Zukunft immer weniger Bücherhalle sein und sich immer stärker zum Beratungs-, Lern- und Kommunikationszentrum entwickeln“, schätzt der Dortmunder Bibliotheksleiter Kreische ein. Dabei spielt das Online-Angebot eine große Rolle. Die Ruhr-Unis arbeiten derzeit an zentralen Rechercheportalen, bei denen die vielen verschiedenen Datenbanken unter einer Oberfläche vereint werden sollen – aussehen könnte das ungefähr so wie beim Online-Shoppingportal Amazon. Mit wenigen Klicks könnte man dann auf die Ergebnisse aller Datenbanken zugreifen, statt wie bisher jede einzeln aufrufen zu müssen. Damit nähern sich die Bibliotheken den schon längst zur Gewohnheit gewordenen Strukturen unseres sozialen Lebens an: Vernetzung. Die Bibliothek übernimmt die Funktion eines Navigators und Filters. Sie soll für eine nahtlose Infrastruktur auf dem Campus sorgen und durch eine einfachere Bereitstellung des Materials und integrierten Service das Studium erleichtern. Unsere „Bibs“ in der Zukunft: wahrscheinlich nicht überall räumlich ansprechend, dafür aber modern in ihrem Angebot – insbesondere virtuell.

Für Anna gibt es auch sonst keine Anreize, in der Uni-Bibliothek zu lernen. Ein wenig charmanter 70er-Jahre-Bau, ockerfarbener Teppichboden, die beengende Platzsituation: An einen Arbeitsraum hat sie andere Ansprüche. Ganz anders hat sie das während ihres Auslandssemesters in Taiwans Hauptstadt Taipeh erlebt: „Die Bibliothek dort war gigantisch, hell und weitläufig. Und es gab gemütliche Räume, wo richtige Wohnzimmeratmosphäre herrschte.“ Da kann wohl keine der Ruhr-Universitäten mithalten. Wenigstens ein bisschen Gemütlichkeit ist aber Anfang Mai in die Bochumer Uni-Bibliothek eingezogen. Hier ist eine neue „Lernlandschaft“ entstanden: Eine flexible Arbeitsumgebung mit Einzel- und Gruppenarbeitsplätzen und zwei Gruppenarbeitsräumen, dazu einen Loungebereich mit Sofas und Sesseln. „Wir haben festgestellt, 15

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Campus Survival Heilkräuterpflücken zwischen Uni-Gebäuden? Eine warme Suppe von der Wiese statt aus der Mensa? Könnte ein Mensch auf dem Campus überleben, wenn es drauf ankäme? pflichtlektüre-Autorin Judith Merkelt hat es ausprobiert. TEXTJudith Merkelt FotosFlorian Hückelheim

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pons lassen sich gut als Zunder benutzen. Alternativ kann man(n) Birkenrinde verwenden. Birke brennt dank ihres hohen Teergehalts gut und ist im Campuswäldchen weit verbreitet. Da ich nicht rauche, habe ich kein Feuerzeug, also reibe ich einen Holzstab − auf meinem Zunder − schnell zwischen den Fingern. Leider ist es heute so feucht, dass der Funken nicht recht überspringen will.

Alles ist still. Ich schmecke Staub. Dann schlage ich die Augen auf. Der Dortmunder Campus ist völlig zerstört. Panik kommt in mir auf, denn ich bin vollkommen allein. Was ist passiert? Wie soll ich in dieser unwirklichen Uni-Landschaft überleben? Natürlich ist diese Szene nur ein böser Traum. Aber ich frage mich: Könnte ich auf dem Dortmunder Campus überleben, wenn ich von der Zivilisation komplett abgeschnitten wäre? Mit Hilfe der Biologin Andrea Hirsch möchte ich herausfinden, was ein Mensch zum Überleben braucht. Und: Gibt es diese Dinge auf dem Campus der TU Dortmund? Hirsch selbst hat in Dortmund Biologie studiert und kennt den Campus gut. Wo sie nicht weiter weiß, helfen mir das „Survival-Handbuch“ und der Ratgeber „Tierische Notnahrung“.

Es dauert deshalb ziemlich lange, bis ich ein Feuer entfacht habe. Weil ich die Watte durch pusten am Brennen halten muss, schwirrt mir der Kopf und ich bin sprichwörtlich aus der Puste. Die Wärme des Feuers tröstet mich dann aber darüber hinweg. „Ich habe Feuer gemacht“ Feuer ist auch zum Wasserabkochen wichtig. Andernfalls könnte ich mich mit Parasiten anstecken. Um das Wasser von gröberen Verunreinigungen zu befreien, folge ich einem guten Tipp aus dem Survival-Handbuch und filtere es durch einen Socken. Doch was könnte als Gefäß taugen, indem ich das Wasser erhitzen kann? Andrea Hirsch schlägt vor, eine Konservendose aus dem Müll zu suchen.

Prioritäten setzen Natürlich denken die meisten bei dem Wort Survival sofort ans Essen. Aus Dschungelcamp und Co. sind uns die Bilder von lebenden Maden und Känguruhoden sehr präsent. Ein gesunder Mensch kann problemlos mehrere Tage ohne Nahrung auskommen. Wer aber pitschnass wird und auf der nackten Erde schläft, wird über schlimmeres klagen als einen knurrenden Magen.

Lecker Blütensalat

Nach all der Arbeit knurrt mir natürlich gehörig der Magen. Auf Autsch! Beim Hausbau im Campus-Grün darf man nicht pingelig sein. dem Campus gibt es erstaunlich viele essbare Pflanzen. Wir komEin Unterstand und Feuer haben binieren Knoblauch-Rauke mit oberste Priorität, erklärt Andrea Gundermann zu einer Suppe − Hirsch. Auf einem Schleichweg, der Nord und Südcampus von beiden habe ich noch nie geverbindet, will ich mein Lager hört. Die Knoblauchrauke ist ein aufschlagen. Dort befindet sich kleines Kraut, das man oft in der ein kleiner Wald. Aber wie baue Nähe von Brennnesseln findet. ich ohne Hämmer und Nägel „Gundermann nennt man auch eine Hütte? Ich lehne lange Soldatenpetersilie und er lässt Stöcke zu beiden Seiten daran, sich wunderbar als Gewürz eineine Art Höhle entsteht. Nun setzten“, erklärt Andrea Hirsch. muss ich kleines Geäst zwischen In die Suppe könnte ich mir auch die Stöcke winden, für die ein paar Brennnesseln rühren. Ich Dämmung schichte ich Blätfinde, gerade die jungen TrieBiologin Andrea Hirsch zeigt, wie ein paar Äste zur Unterkunft werden können. ter darüber. Damit es auf dem be schmecken roh wie frischer Spinat. Richtig lecker ist auch der Boden der Hütte nicht zu kalt ist, Sauerampfer, der seinem Namen geschmacklich alle Ehre macht. bauen wir eine Matratze. Andrea Hirsch legt kleine Äste zu einer „Du kannst auch klebriges Labblatt als Suppeneinlage verwenden. Art Lattenrost zusammen. Ich verteile hohes Gras von der gegenAußerdem macht sich das auch sehr gut als Kopfschmuck“, meint überliegenden Wiese darauf. Dann liege ich Probe. Es ist warm Andrea Hirsch und windet mir gleich einen Kranz um den Kopf. und riecht angenehm nach gemähtem Rasen und Wald in meiner Hütte. Hier könnte ich durchaus eine Nacht schlafen − auch wenn Als Beilage könnte ich mir auch einen Wildblumensalat zubereiten. das selbstgebastelte Bett piekt. Löwenzahn und Gänseblümchen wachsen auf dem Campus an jeder Ecke und auch die Hundsrose mit ihren pinken Blüten findet man hier vor allem zwischen Chemiegebäude und dem Gebäude für Robotertechnik. Jedoch nicht alle Blüten sind essbar: Bei ButterDamit es richtig warm wird, brauche ich ein Feuer. Praktisch, blumen ist Vorsicht geboten, sie sind zum Beispiel giftig. Allein dass ich ein Mädchen bin, denn − wer hätte das gedacht? − Tamvon den gefundenen Pflanzen würde ich wohl nicht überleben

Der Funke muss überspringen

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können. Sie haben nicht genug Kalorien. Wenn man grundsätzlich auf Fleisch verzichtet, nimmt man mit Kartoffeln, Nudeln und Reis genügend Kalorien zu sich, doch all das wächst auf dem Campus nicht.

gibt es etwas gegen die fiesen Quaddeln. Spitzwegerich hilft – zwischen den Händen zerrieben − gegen das Brennen und beruhigt die Haut. Tee aus Efeu und Holunderbeeren ist gut gegen Husten und Schnupfen. Und sollte einem der Weltuntergang (oder die Uni) mal zu viel werden: Lavendel – vor dem Maschinenbau I-Gebäude zu finden - beruhigt und Johanniskraut ist gut für die Nerven.

Vegetarier haben ein Problem

Neben der Notfall-Apotheke ist auch das Vorbeugen von Krankheiten wichtig. Um einer schmerzhaften Entzündung zu entgehen, sollte man sich eine Zahnbürste basteln. Andrea Hirsch weiß, wie: „Du musst dir einen grünen Zweig suchen, keine Eibe − die ist giftig − und dann auf ihm herumkauen, bis sich die Fasern lösen. Mit dem zerkauten Ende kannst du dir dann die Zähne putzen.“ Auch zur Vorbeugung gegen Erkältungen hat sie einen Tipp: „ Ich würde mir abends ein paar Steine ins Feuer legen. Mit Stoff umwickelt sind die eine prima Wärmflasche.“

Gut, dass ich keine Vegetarierin bin denn: Ich brauche Fleisch. Dabei fallen mir zuerst die Kaninchen ein, die abends über den Campus hoppeln. Ob ich eins davon fangen könnte? Andrea Hirsch ist überzeugt: „Wenn du dir die Hecken und Sträucher auf dem Campus genau ansiehst, erkennst du kleine kahle Löcher darin. Durch diese Löcher schlüpfen sie immer, wenn sie ins Gebüsch wollen.“ Ich muss mir nur eine Schlinge knüpfen und sie vor eins der Löcher hängen. Wenn ein Kaninchen hindurch schlüpft, heißt es: Abendessen.

Alles überlebt?

Könnte ein Mensch eine Allerdings ist KaninchenWeile allein auf dem Campus fleisch nicht besonders fett überleben? Der Müll und die und schlecht als einzige herumliegenden Baustoffe Fleischquelle geeignet. Eine bieten viele Möglichkeiten, die Taube besitzt zum Beiman in der freien Natur nicht spiel mit 18 Gramm Fett hat. Gerade Plastikfolien, Glasdreimal mehr Kalorien als flaschen und Stoffreste können ein Kaninchen. Flugvögel beim Überleben helfen. Dafür sind leider ziemlich flink ist der Campus artenärmer als und deshalb schwierig zu eine natürliche Umgebung. Befangen. Ich könnte mein sonders Obstbäume und SträuGlück mit einem Angelhacher wären für eine ausgewoken und Köder probieren. gene Ernährung wichtig, aber Der oberste Teil meiner Apfel- oder Birnbaum habe Ohrringe gäbe einen ich noch nicht gesichtet. Auch ziemlich guten Haken ein größeres Gewässer, in dem ab. Außerdem könnte ich man Fische und Muscheln Schnecken fangen oder finden könnte, gibt es nicht. Würmer essen. Allerdings Trautes Heim, Grün allein: Pflichtlektüre-Autorin Judith Merkelt im Survival-Zuhause. beschreibt der Autor von Besonders überrascht haben mich „Tierische Notnahrung“ die Vielfalt der Heilkräuter und zahlreichen Möglichkeiten einen Regenwürmer als sandig und undelikat. Seinen Ekel zu überwinden, Unterschlupf zu finden oder zu bauen. Laufe ich jetzt über den würde sich hier nicht lohnen. Generell kann ich mir vorstellen, Campus, sehe ich die Pflanzen und Kräuter viel bewusster. Und ich Insekten und Würmer zu essen. Ich würde sie allerdings – wie empbin froh, wenn eines der Kaninchen an mir vorbei hoppelt, ohne fohlen – kräftig durchbraten und Flügel und Beine entfernen. Alles dass ich es jagen muss. Bei einer Katastrophe würde ich mir trotzandere überlasse ich den Y-Prominenten aus dem Dschungelcamp. dem vor allem eins wünschen: Gesellschaft. Würmern zum Abendessen, piekende Nesseln und Kälte mögen einen runterziehen − aber die Einsamkeit stelle ich mir am schlimmsten vor.

Die Campus-Apotheke ist gefüllt

Für den Fall, dass man sich in der freien Natur verletzt, hat der Campus für viele Eventualitäten eine Notfall-Apotheke bereit. Sollte man beim Brennnessel sammeln (so wie ich) nicht gut aufpassen, 18

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Das Mauskottchen Special Operations: Eine blaue Maus aus Plüsch hüpft im Stadion vom VfL Bochum herum. Das menschliche Innenleben: der schweigende Student Torsten Hambuch.

TextHelene Seidenstücker FotoFlorian Hückelheim

Bobbi ist mit seinen fünf Jahren ein echter Klotz. Er ist 1,90 Meter groß und wiegt etwa 80 Kilo. Bei jedem Heimspiel vom VfL Bochum feiert Bobbi „seinen“ Verein. Stumm. Denn sprechen, das kann Bobbi nicht. Bobbi Bolzer ist eine Maus. „Und Mäuse können ja nicht sprechen“, weiß Torsten Hambuch, Bobbis‘ menschliches „Innenleben“. Sobald Torsten den riesigen Mäusekopf überstülpt schweigt er, tapst durchs Stadion, winkt, lässt sich streicheln und schüttelt Hände. Das ist sein Job. „Für mich ist es nicht schwer, die Klappe zu halten“, sagt Torsten.

Luftballons, Buttons und Aufkleber an Kinder. „Ein besonders schönes Erlebnis war das Maskottchen-Zusammentreffen mit Erwin von Schalke und der Biene Emma vom BVB“, erinnert sich Hambuch. Bobbi Bolzer zu sein ist nicht immer leicht. Das Anziehen dauert und das hölzerne Innenleben des so plüschig aussehenden Mäusekopfes wiegt einige Kilos und auch das Sichtfeld als Maus ist arg eingeschränkt: „Gott sei dank kenne ich mich im Stadion gut aus“, sagt Torsten. „Und sicherheitshalber hat Bobbi auch immer eine Begleitung zur Sicherheit dabei!“

Seit drei Jahren schlüpft der 27-jährige Kulturwirtschaftsstudent aus Essen regelmäßig in das überdimensionale Mäusekostüm und bringt nicht nur Kinderaugen zum Strahlen. Meistens: „Manche Kinder rennen aber auch weg – kein Wunder, wenn so eine riesige blaue Maus auf sie zukommt“, sagt er.

Torsten selbst hat normalerweise nichts gegen hohe Temperaturen und Regen – Bobbi aber schon: „Im Regen muss Bobbi sich schleunigst irgendwo unterstellen“ – denn wenn die Plüschmaus sich erst einmal voll Wasser gesogen hat, dauert das Trocknen eine Woche. Im Sommer kann es in dem Plüschkostüm echt heiß werden.“ Die Bezahlung für diesen manchmal schweißtreibenden Job sei „normal“, sagt Torsten. Aber über den genauen Betrag schweigt er lieber – genau wie sein Alter Ego Bobbi.

Gemächlich stapft er mit seinen riesigen Plüschmäuseschuhen von Fan zu Fan: „Eigentlich ist Bobbi ja das Maskottchen vom Kinderclub. Aber vor allem die Auswärtsfans der gegnerischen Mannschaften sind ganz wild auf Fotos mit Bobbi Bolzer – möglich, dass das aber auch Alkohol im Spiel ist“, mutmaßt Hambuch. Auf Bobbi sind schon Bierbecher gelandet und an seinem Schwanz zieht der ein oder andere Fan gerne mal. Torsten hat seine Vorliebe für die Blau-Weißen als kleiner Junge entdeckt: „Als ich fünf war, habe ich mir mit meinem Opa ein Spiel angesehen. Die Trikots fand ich cool. Später bin ich jahrelang zu den Spielen von Rot-Weiss Essen gepilgert; als sie dann aber in die vierte Liga abgestiegen sind, hatte ich keine Lust mehr und bin übergeschwenkt.“ Vor jedem Spiel läuft Bobbi unter der Stadionüberdachung hin und her, begrüßt die Fans, posiert, ganz Profi, für Fotos und verteilt Autogrammkarten. Oder er hält sich im Familienblock auf und verschenkt 19

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Auch nur ein Mensch Ein Job, viele Klischees. An Personalern kommt früher oder später niemand vorbei. Wie sie wirklich ticken und welche Hürden man überspringen muss, um den Traumjob zu ergattern. Texthelene seidenstücker FOToSchristiane reinert, florian Hückelheim

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des Lanuv - falsch: „Bewerbungen zu sichten, tabellarisch auszuwerten und Listen zu erstellen ist Fleißarbeit“, sagt Berker. Zwar seien 95 Prozent der Bewerbungen sehr ordentlich und brauchbar, aber sie habe auch da schon Außergewöhnliches erlebt: „Da war mal jedes Blatt in einer Klarsichthülle. Das ist auffällig bei einer Umweltbehörde. Grundsätzlich gilt: Je weniger Papier, desto besser.“

Nervös, mit feuchten Händen und einem dicken Kloß im Hals sitzt du am großen Konferenztisch, dir gegenüber eine Kommission aus respekteinflößenden Personalbeauftragten, Abteilungschefs und Fachbereichsleitern, die mit kritischen oder nichtssagenden Blicken auf dich und deine mühevoll gestaltete Bewerbungsmappe blicken. Du versuchst souverän zu wirken. Denn es geht um deinen Traumjob. Doch zuvor wird dich diese Jury in einem einstündigen Gespräch auf Herz und Nieren prüfen.

Nach einer Vorauswahl werden einige Bewerber zu einem Gespräch eingeladen. Zusätzlich wurde ein Fragenkatalog für die Auswahlgespräche entwickelt, wodurch jeder Bewerber die gleichen Chancen erhalte, sich zu präsentieren, erklärt die Personalerin. Am Ende entscheide ein Punktesystem und ein Abschlussgespräch über den optimalen Anwärter. „Das alles geht sehr fair zu“, betont Berker. Das Lanuv beschäftigt Gleichstellungs-, sowie Schwerbehindertenbeauftragte, bei jedem Bewerbungsgespräch wird Protokoll geführt, jede Stelle öffentlich ausgeschrieben. „Persönliche Sympathie oder Antipathie oder Verbindungen von Mama und Papa nützen gar nichts. Auch Ein verstecktes Gewerbegebiet im Initiativbewerbungen werden Süden von Recklinghausen. Die triste nicht bevorzugt behandelt“, Fassade des Landesamts für Natur, sagt Berker. Das formelle Umwelt und Verbraucherschutz Verfahren habe seinen Sinn: NRW (kurz: Lanuv) macht auf den Regine Berker, Personalerin beim Lanuv: „Bei uns geht alles sehr fair zu.“ „Uns geht es nur um die ersten Blick keinen besonders moderfachliche Eignung. Wir nen Eindruck. Öffentlicher Dienst wollen den besten Bewerber herausfinden und müssen daher sehr – verstaubte Behörde mit verstaubten Strukturen? Weit gefehlt. stringent vorgehen.“ Das Lanuv wendet in sämtlichen Bewerbungsverfahren modernste Methoden an. Die Personalerin saß selbst schon auf der anderen Seite des Schreibtisches. Sie äußert Verständnis für die Sorgen und Ängste der Regine Berker (51), Juristin und seit 30 Jahren im öffentlichen Bewerber: „Es ist anstrengend für den Kandidaten. Da während des Dienst tätig, ist die Leiterin der Abteilung 1, Zentraler Bereich. Gesprächs wenig Platz für Small-Talk ist, hole ich den Bewerber imFreundlich lächelnd gerät sie ins Plaudern: Seit 2008 sei sie hier mer persönlich aus dem Wartebereich ab und versuche ihm durch zuständig für alles, was mit Personal zu tun hat. Und das in sieben etwas Plauderei die Nervosität zu nehmen“, sagt die Personalleiterin. verschiedenen Fachbereichen, wie zu Beispiel Finanzen, ControlSie wolle Mut machen, nicht verunsichern: „Und wenn es mal nicht ling, Justiziariat oder Informatik. Denn im Lanuv, in dem etwa klappt mit der ersehnten Stelle, dann nehme ich mir gern Zeit für 1.500 Menschen angestellt sind, arbeiten nicht ausschließlich Naein Feedback-Gespräch. Ich möchte dem Kandidaten erklären, dass turwissenschaftler. Neben Besprechungen mit Fachbereichsleitern, es einen Grund gibt, warum wir sie oder ihn nicht einstellen konnBüroarbeit oder Veranstaltungen im Ministerium hat die Personaleten. Die Bewerber sollen schließlich für die Zukunft daraus lernen.“ rin nahezu täglich mit Bewerbungsverfahren zu tun: „100 Bewerbungen pro ausgeschriebener Stelle sind Normalität.“ Um solche Vorstellungsgespräche kommt kein Student herum. Die Bewerbungs-Ratgeber dazu stapeln sich in den Buchhandlungen und Bibliotheken. Jeder Experte weiß es am besten. Doch wollen Personaler Kandidaten wirklich absichtlich mit Fangfragen überrumpeln und ins Straucheln bringen, um herauszufinden, was nicht in der Bewerbungsmappe steht? Was macht so ein Personaler eigentlich den lieben langen Tag? Die pflichtlektüre war bei den echten Experten und hat den Spieß einmal umgedreht – und drei Personalern auf den Zahn gefühlt.

Modernes Amt

„Douglas Holding“ fördert

Im Lanuv lande keine Bewerbung ungelesen im Papierkorb. Jeder Lebenslauf werde nach bereits in der Stellenausschreibung festgelegten Kriterien durchgesehen: Gemeinsam mit den Fachabteilungen erstellt Berker tabellarische Ranking-Listen und sichtet die Lebensläufe Punkt für Punkt nach „erforderlichen“ und „wünschenswerten“ Kriterien. Wer also glaubt, nur Bewerber hätten viel zu tun mit dem stundenlangen Zusammenstellen aller Unterlagen, Beglaubigungen, Kopien, Bescheinigungen – und die Gegenseite würde das alles höchstens einmal durchblättern, der liegt – zumindest im Fall

Die Sonne spiegelt sich auf dem gläsernen Unternehmenskomplex der Douglas-Gruppe. Die Unternehmenszentrale hebt sich ab vom Rest der grauen Sauerlandmetropole Hagen: ein moderner Empfangsbereich mit hochwertigem Mobiliar, überall Menschen in schicker Geschäftskleidung. Hier wird Wert auf Stil gelegt. Das zeigt sich auch in dem exklusiv eingerichteten Konferenzraum mit überdimensionalem Besprechungstisch, an dem oft potenzielle 21 job


Bewerber dem „Leiter Personalmanagement“ Frank Lobert Rede und Antwort stehen müssen. Seriös und kompetent kommt er rüber in Anzug und Krawatte, zielstrebig und wie einer, der sich selbst das abverlangt, was er von anderen erwartet. Seit zehn Jahren ist er am Standort Hagen angestellt. Insgesamt beschäftigt das Unternehmen 25.000 Mitarbeiter in 17 europäischen Ländern und fünf Geschäftsbereichen. Dazu gehören die Tochtergesellschaften Douglas, Thalia, Christ, AppelrathCüpper und Hussel.

Absolventen und Praktikanten geworben. Für interne Talente werden Workshops und Nachwuchsförderprogramme organisiert. „Von ausgewählten Azubis, Praktikanten und Mitarbeitern versprechen wir uns, dass sie das Potential zu Führungskräften haben.“

Lobert war während seines Wirtschaftsstudiums Werksstudent bei der Douglas Holding. Über ein Projekt im Personalbereich ist er im Personal-Controlling gelandet. „Inhaltlich ist das Personalwesen ein facettenreiches Thema. Das wird häufig unterschätzt.“ Man müsse Allrounder sein und einen Überblick haben, was in den Fachbereichen passiere. Bei 1.200 Mitarbeitern, die er betreut, Terminen mit Vorgesetzten und dem Tagesgeschäft, klingt das nach harter Arbeit.

In Einstellungsverfahren entscheiden die Personaler gemeinsam mit Fachbereichsvertretern über die Eignung der Kandidaten. „Als Personaler geben wir hier vor allem den Input, wie authentisch der Bewerber rüberkommt und ob er zur Unternehmenskultur passt. Wir sind da unter Umständen weniger emphatisch. In erster Linie sollte der Bewerber über eine Dienstleistermentalität verfügen und sich mit dem Handelsgedanken identifizieren können. Über die fachliche Qualifikation hat der Fachbereichsleiter den besseren Überblick“, erklärt Lobert. Verantwortungsbewusstsein und Eigeninitiative seien wichtig. „Guten Kandidaten bieten wir Chancen. Aber die Leute müssen heiß auf den Job sein.“

Der Douglas Holding flattern jährlich 4.000 Bewerbungen für Fachpersonal und 1.000 Bewerbungen um Ausbildungsplätze ins Haus. Lobert schaut erst im zweiten Schritt auf die Noten. Für ihn zählt der rote Faden im Lebenslauf. Erst wenn dort ersichtlich ist, dass „es grundsätzlich passen könnte oder interessante Stationen erkennbar sind“, liest er Zeugnisse und Anschreiben genauer. Dieses sollte immer einen individuellen Charakter haben und die Motivation des Bewerbers deutlich machen: „Das Schlimmste ist, den Personaler schon im Anschreiben zu langweilen“, betont Lobert. Zusätzlich legt das Unternehmen großen Wert darauf, seine Nachwuchskräfte selbst zu rekrutieren. Auf Messen, Veranstaltungen an Universitäten und firmeneigenen „Recruiting-Events“ wird um

Eine gute Vorbereitung und Freude auf ein Vorstellungsgespräch sei sympathischer als „ganz cool und hip rüberkommen zu wollen und dabei keine zwei Sätze geradeaus sprechen zu können oder sich um Kopf und Kragen zu reden“, sagt Lobert. So sei es zwar Aufgabe der Personaler, das Gespräch in eine angenehme Atmosphäre zu bringen, aber wenn die Chemie unstimmig sei, könne eine „super Aktenlage im Vorfeld“ nicht helfen. „Es macht keinen Sinn, mit Leuten einfach etwas auszuprobieren“, erklärt Lobert. „Es muss einfach von vorneherein passen!“ Und vormachen kann man dem 35-jährigen Personalmanager sowieso nichts: „Manch einer hatte wohl ein Bewerbungstrainingsbuch durchgelesen und dachte, er müsse das so machen.“ Daher versucht er bei „seinen“ Bewerbern

Chefs, die planlos aus einem Stapel von Bewerbungen auswählen? Die gibt‘s nicht, wehren sich die Personaler. Kai Schumacher: „Glück ist nichts Dauerhaftes und kein Zustand, Glück sind für mich viel kleine Momente.“

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„im Gespräch das Individuelle herauszukitzeln. Wenn das Gesamtbild stimmig ist, haben motivierte Kandidaten gute Aussichten, in der Douglas Holding Karriere zu machen.“

Personaler aus Überzeugung Kohle und Stahl sind traditionell die Wahrzeichen des Ruhrgebiets. Auch bei der Rothe Erde GmbH in Dortmund, einem Technologieunternehmen innerhalb der ThyssenKrupp AG, dreht sich noch alles um Stahl und die Herstellung stählerner Industrieelemente. Seit 2004 ist Henning Viebahn hier Personalleiter. Und das aus frühester Überzeugung: Während seines Betriebswirtschaftsstudiums legte er seinen Schwerpunkt auf „Personal und Organisation“, absolvierte anschließend ein Traineeprogramm im Personalbereich. Auch nach 20-jähriger Berufserfahrung möchte er nicht aufhören, dazuzulernen: „Viele Aufgaben und auch sich selbst kann man nur dann erfolgreich weiterentwickeln, wenn man immer wieder neues Wissen durch äußere Impulse erlangt und dieses dann in seine Arbeit einfließen lässt.“

Douglas: 4000 Bewerbungen flattern jährlich auf den Schreibtisch von Frank Lobert.

Der Personalleiter sagt, er möchte sensibel mit den Bewerbern umDem Personalleiter fehlt nicht das Herzblut für seinen Job. Obwohl er schon 1.000 Bewerbungsgespräche hinter sich hat, lassen gehen: „Wenn ein Bewerber besonders nervös erscheint, verlängere ihn einzelne Schicksale von Kandidaten oder Kündigungen nach ich die Small-Talk-Aufwärmphase. Wir wollen im Gespräch den Feierabend nicht los: „Es kann belastend sein, wenn man bei einem Menschen kennenlernen. Hier kann er uns über seine QualifikatioKandidaten bei der Durchsicht der Bewerbung oder nach einem nen hinaus durch seine Persönlichkeit überzeugen.“ Gespräch das Gefühl hat, der wird es schwer haben, eine adäquate Stelle zu finden. Auch Situationen, in denen Personal abgebaut Henning Viebahn erwartet auch von der „Gegenseite“ Professionawerden muss, belasten und beschäftilität: „Der Bewerber sollte bei der gen mich noch nach der Arbeit sehr.“ Wahrheit bleiben. Das EingeständUngewöhnliche Episoden bleiben dem nis, etwas nicht zu wissen und Personaler ebenfalls im Gedächtnis. dort noch Qualifizierungsbedarf „Einmal ist ein Bewerber mit einem zu haben, ist in der Regel kein zu Steh auf! ensl Leb r you p Taxi 200 Kilometer weit zum VorstelBeinbruch und immer besser als pim ‘t Don ern. zu versuchen, uns Kenntnisse lungsgespräch angereist. Ein anderer Patz Lücken und vorzugaukeln.“ Meilensteine wie Bewerber übernachtete eine Nacht vorim tion Praktika, Auslandsaufenthalte her im Hotel – trotz einer Entfernung tiva Mo Sei kompakt! Mache deine oder Projektarbeiten zählen bei von weniger als 100 Kilometern.“ . Lebenslauf deutlich – ohne Floskeln Henning Viebahn weit mehr als das berühmte „Vitamin B“. 5.000 Bewerbungen landen bei der Werde konkret! Schweife im Gespräch „Wenn man bei der Arbeit nur als ThyssenKrupp AG jährlich auf den kt. nicht aus, sondern komm auf den Pun ‚der Sohn oder die Tochter von…‘ Tischen. Da bleiben skurrile Details wahrgenommen wird, überspitzt nicht aus, die Skepsis oder Verwundeformuliert vielleicht sogar als rung auslösen: „Ich erinnere mich an Sei aktiv! Höre zu und stelle Fragen. Maulwurf, tut man diesen eine E-Mail-Adresse „superbrain@...“. e stell Ver ig! icht aufr Personen keinen Gefallen daDie attestierten Studienleistungen und sch Sei authenti mit.“ Viebahn stellt an „seine“ ließen diesen Schluss nicht unbedingt Dich nicht. Bewerber schlicht und einfach zu. Manch einer schießt auch ganz die gleichen Anforderungen eindeutig über das Ziel hinaus, sich für dich ide Sei selbstbewusst, aber höflich! Kle wie an sich selbst: Sie sollen die ausgeschriebene Stelle interessant der Position entsprechend. Kompetenz, Engagement und zu machen, das wirkt dann unfreiwillig Authentizität mitbringen. komisch“, sagt Viebahn und schmunzelt. Ein Tipp des Personalers: In der Beschreibung der eigenen Kenntnisse und Erfahrungen sollten Bewerber mit Superlativen sehr sparsam umgehen.

Perfekte Bewerbung

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Nichts für Nervöse In Assessment-Centern müssen Bewerber zeigen, dass sie wirklich für einen Job geeignet sind. Personaler setzen sie unter Extremstress. Wer gewinnen will, muss authentisch sein – und Rollenspiele überstehen.

Textkornelius dittmer, olga Kourova FOTOSKatharina KirchhofF, Olga Kourova

Bewerber nach Maß: In Assessment-Centern finden Firmen heraus, welche Job-Anwärter am besten zu ihnen passen.

Irgendwann hatte David Witham genug. Er konnte den Umgangston zwischen den Vertretern der Parteien nicht mehr ertragen und mischte sich ein. Zu diesem Zeitpunkt war eine sachliche Debatte über Haushaltspolitik nicht mehr möglich – weil ein aggressiver, rechthaberischer Teilnehmer seinen Gegenüber als dumm darstellen wollte. „Es war mein großes Plus, dass ich mich gewehrt und den anderen Bewerber verteidigt habe“, sagt David. „Ich habe dieses Spiel gewonnen und ein gutes Feedback bekommen.“ David ist kein Parlamentsmitglied. Die leidenschaftliche Debatte war ein Rollen-

spiel, Teil eines Auswahlverfahrens für das Pharmazieunternehmen „Johnson & Johnson“, ein Ausschnitt aus einem Assessment-Center. Assessment-Center (assessment, engl.: Einschätzung, Beurteilung) sind eine beliebte Methode, mit der Unternehmen prüfen wollen, ob ein Bewerber auf einen Posten passt. Aus einer Befragung des „Arbeitskreises Assessment-Center“ geht hervor, dass 70 Prozent aller Dax-Unternehmen solche Verfahren haben und dass sie in der Dienstleistungsbranche, besonders bei Banken und im öffentlichen Dienst verbreitet sind. Meist einen ganzen Tag lang durchläuft eine 24 job


Gruppe von Teilnehmern Tests, die Anforderungen ihres späteren Berufsalltags simulieren. Dabei wird ihnen streng auf die Finger geschaut, auf höchstens drei Teilnehmer kommt ein Beobachter. Für Personalchefs eine Möglichkeit, das Potenzial der Bewerber einzuschätzen. Für die Teilnehmer eine stressige und belastende Situation. Es geht um ihre berufliche Zukunft.

Eine deutsche Erfindung Auch wenn Eignungstests heute manchem Bewerber schlaflose Nächte bereiten, sollen sie Auswahlprozesse gerechter machen. Dadurch, dass die Kompetenzen der Bewerber präzise eingeschätzt werden und für alle die gleichen Leistungsstandards gelten, soll immer der geeignetste Bewerber die Stelle bekommen. So die Theorie. Die Idee dazu hatten erstmals Psychologen und Militärs der Weimarer Republik (1919-1933). Die Größe der deutschen Armee war nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg durch den Versailler Vertrag auf 100.000 Soldaten begrenzt. Es gab weniger Offiziersposten. Nur die Fähigsten sollten aufsteigen. Vorher, im Kaiserreich, reichte meistens ein Adelstitel für die Beförderung. So einfach war das in der Zeit der Weimarer Republik nicht mehr. Dort entstanden Auswahltests mit Interviews, Gruppendiskussionen, Handlungs- und Geistesanalyse und auch Rollenspielen. Den Nazis gefiel das liberale Auswahlverfahren nicht, sie ersetzten es durch einen ideologischen Gesinnungstest.

Assessment-Veteran: David Witham.

seines Einsatzes für den Mitbewerber. Er vermutet seinen Fehler darin, dass er das Verfahren als Spiel angesehen und nicht ernst genug genommen hat. Er nahm es zu locker, während andere, so David, „schüchtern, passiv und nicht authentisch sind“. Es sei ein Vorteil, schon Erfahrungen mit Assessment-Centern zu haben, sagt David, Mitte 30. Und hat einen Tipp: „Als Vorbereitung sollte man mit Freunden solche Spiele spielen.“

Ernste Spielerei Dass Assessment-Center den Arbeitsalltag realistisch abbilden, ist Anna Müllers* Aufgabe. Sie arbeitet neben ihrem Studium als Schauspielerin für Rollenspiele. Sie heißt dann zum Beispiel Frau Wurst und spielt eine Mitarbeiterin, die etwas geklaut hat. Der Bewerber kommt herein und spielt den Chef. Dann folgt ein krawalliges Rollenspiel. Es soll die Bewerber nervös machen, soll ihre Schwächen offenlegen. „Ich kriege vorher die Information mit den Rollen- und Situationsbeschreibungen. Die Bewerber wissen, dass ich eine Schauspielerin bin“, erzählt sie. „Ein Teilnehmer“, erinnert sich Anna an die Klau-Szene, „wusste die Einzelheiten nicht und hat nicht berücksichtigt, dass die von mir gespielte Verkäuferin 25 Jahre im Unternehmen gearbeitet und immer einen guten Job gemacht hat.

*Name von den Autoren geändert

Auch die Probleme in ihrer Familie hatte er nicht auf dem Schirm, obwohl ich in der Szene genug Andeutungen gemacht hatte“, sagt Anna, die fürs zweistündige Rollenspielen 240 Euro kassiert. Nach der gespielten Chef-Verkäuferin-Situation erzählt Anna den Personalern, was sie gut oder schlecht am Verhalten des Bewerbers fand. „Manchmal ist das schon ein Arschjob. Denn es hängt auch von mir ab, ob der Bewerber in einem guten oder schlechten Licht dasteht.“ Viele Bewerber machten einen groben Fehler. Sie waren zu streng oder zu nachgiebig mit der von Anna gespielten Frau Wurst. Sie fanden keinen Mittelweg.Zurück zur Politik-Debatte und Assessment-Veteran David: Der Absolvent des Studiengangs „Internationales Management“ der Uni Hamburg scheiterte trotz 25 job

Was macht ein gutes Assessment-Center aus? Lest dazu das Interview auf der nächsten Seite

www:

Wie wirken sich anonyme Bewerbungen aus? Ein Thema auf pflichtlektuere.com


„Passt er, Jungs?“ Dr. Walter Jochmann, ehemals Student der Ruhr-Universität Bochum, ist Mitglied der Geschäftsführung der Beratungsfirma „Kienbaum“ – einer beliebten Adresse für Wirtschaftswissenschafts- oder Jura-Absolventen. Der 54-Jährige ist Experte für Personal-Management. PROTKOLLkornelius dittmer FOTOKIENBAUM

Was sind die Stärken des Assessment-Centers?

dem: Es lohnt sich. Ich würde sagen, dass durch Assessment-Center die Wahrscheinlichkeit um 20 Prozent steigt, dass der Bewerber wirklich zum Job passt.

Es lassen sich sozial erwünschte Eigenschaften, bei denen alle gut aussehen wollen, überprüfen. Fragt man Manager, welchen Führungsstil sie bevorzugen, sagen alle „kommunikativ-kooperativ“. Mit Tests kann man feststellen, ob sie es nur sagen, weil es erWas macht ein gutes Assessment-Center aus? wünscht ist. Es gibt auch kontaktfreudige Dass es dynamisch und nicht ganz dumund realistisch am me Menschen, die aus Alltag orientiert jedem Auswahlverfahist. Nicht irgendren, besonders Bewerwelche dummen bungsgesprächen, gut Postkorbübungen herauskommen. Diese (StandardübunGruppe kann man in gen, bei denen der Assessment-Centern Teilnehmer unter weiter nach KompeZeitdruck Posteintenzen differenzieren. gang bearbeiten Außerdem kann man und dabei die gucken, ob jemand zur Dringlichkeit und Unternehmenskultur Bedeutung der passt. Ein ProjektAnfragen einschätarbeit-orientiertes zen muss. Anm. d. Unternehmen mit flaAut.). Auch dass cher Hierarchie stellt es nicht viel Zeit beispielsweise fest, dass braucht: Intellider Bewerber klare genz- und WisPersonalexperte Walter Jochmann meint: Assessment-Center lohnen sich, auch wenn sie abschreckend wirken. Anweisungen oder senstests können einen Kommandostil vorher im Internet braucht. Bei einem erledigt werden. Assessment-Center kann man die Beobachter einfach fragen: „Passt Aber bei vielen Unternehmen gibt es kein gutes Rekrutierungsverder oder passt der nicht, Jungs?“ fahren. Dabei wäre es Werbung. Die Firmen müssen sich verkaufen, um Top-Bewerber zu bekommen. Es ist so, dass sie mittlerweile genauso viele Optionen haben wie die Unternehmen. Das wird sich Warum geben Unternehmen eigentlich so viel Geld für Assessin Zukunft noch verstärken. ment-Center aus? Könnten sie das nicht leichter haben? Es kostet Geld und Zeit. Man ist zeitlich unflexibel. Vielleicht ist der gewünschte Bewerber beim AC schon nicht mehr auf dem Markt. Außerdem kann der Aufwand Bewerber abschrecken. Trotz26 job


Die Kassetten-Retter Spurensuche mit TKKG oder Hexerei mit Bibi: In Kindertagen gehörte die Kassette zum Einschlafen einfach dazu. Das Medium verschwindet langsam, aber gerade bei Erwachsenen liegen die Hörspiele im Trend. Bei Facebook, Release-Partys oder Open-Air-Hörspielen erleben sie einen neuen Hype. TextNatalie Klein, Lena Seiferlin Mitarbeit/FOTOSAlexandra Ossadnik/Europa

Saskia Tomczak liebt ihre Hörspiel-Kassetten.

mit ihrer Sammelleidenschaft ist sie nicht allein. Laut Arndt Seelig, Marketing Manager bei Europa, der Hörspiel-Marke von Sony, sind 60 Prozent der Drei ???-Hörer älter als 18 Jahre. „Bei den Erwachsenen gibt es einige Sammler, die seit Bestehen der Serie MCs kaufen und diese Tradition fortführen wollen“, weiß er.

Licht aus, Kassettenrekorder auf Play und dann schnell unter die Bettdecke – das ist für Sabrina Steffes (21) seit ihrer Kindheit ein abendliches Ritual. Verändert hat sich nur, was sie hört, denn Bibi Blocksberg war ihr irgendwann zu langweilig. Die Drei ??? Justus, Peter und Bob hingegen begleiten sie seit mittlerweile 13 Jahren in den Schlaf. „Wenn ich die Stimmen höre, kann ich am besten einschlafen. Deshalb brauche ich manchmal mehrere Tage, bis ich eine Kassette fertig gehört habe.“ Das ist auch der Grund, warum sie nicht auf CDs umsteigen würde. Am nächsten Abend kann Sabrina einfach zu der Stelle zurückspulen, an der sie eingeschlafen ist. Sabrina ist ein eingeschworener Kassettenfan. Insgesamt 154 Folgen der Drei ??? reihen sich fein säuberlich geordnet in ihrem Regal. Und

Walkman statt iPod So ähnlich geht es auch Alexandra Protze. Ein Leben ohne TKKG kann sich die Dortmunder Studentin kaum vorstellen. Seit über 20 Jahren verlässt sich die 27-Jährige auf ihren Kassettenrekorder. Man27

leben


che teilen die Leidenschaft mit ihr mehr als andere: „Immer wenn ich bei einer Freundin von mir übernachte, hören wir eine oder mehrere Folgen gemeinsam.“ Alexandras Freund hingegen kann das abendliche Gemurmel nicht leiden. Wenn er bei ihr schläft, greift sie auf ihren Walkman zurück. Bei Alexandras 31-jähriger Schwester Steffie sieht das etwas anders aus: Sie hört die ihre Lieblingshörspiele auch zusammen mit ihrem Ehemann im Bett.

das auch ‚gefällt’“. Auf diese Weise offenbaren sich bei Facebook mehr als 100.000 Nutzer als Fans der Drei ??? und gut 20.000 als Anhänger von Bibi Blocksberg. In dieser Gemeinschaft geht es nicht mehr nur um das ursprüngliche Hörerlebnis.Auch das gemeinsame Aufdecken von Ungenauigkeiten in den Geschichten oder der Austausch von Expertenwissen reizen die Fans. So widmen sich StudiVZ-Gruppen beispielsweise dem Erraten von Bibi BlocksbergZitaten oder beschäftigen sich mit der Frage, wo Bibis Bruder Boris nach Folge neun geblieben ist. Interessant ist, dass Facebook-Nutzer mindestens das dreizehnte Lebensjahr erreicht haben müssen; ein Alter, in dem Kinderhörspiele zumeist eher peinlich sind. Das Netzwerk StudiVZ ist ohnehin für Studenten gedacht. Hier zeigt sich wieder, dass die Großzahl der Fans erwachsen, oder doch zumindest dem Kinderhörspielalter entwachsen ist.

Warum viele Erwachsene die Kassette unzähligen anderen Unterhaltungsangeboten vorziehen, kann verschiedene Gründe haben, sagt Miriam Gothe. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine Soziologie der TU Dortmund erkennt darin vor allem eine Routinehandlung: „Man muss nicht lange überlegen, was man sich im Fernsehen oder Internet angucken könnte. Die Kassette und den Rekorder kennt man seit 20 oder 30 Jahren. Man kann einfach auf Altbekanntes zurückgreifen.“ Dabei sei es normal, dass manch Erwachsener die Liebe zur Kassette erst nach vielen Jahren wiederentdeckt. „In der Pubertät will man sich erst einmal von der Kindheit abgrenzen. Aber sobald diese Phase vorbei ist, entdecken Erwachsene solche Leidenschaften wieder“, so Miriam Gothe. Gerade aus diesem Grund würden Marketing-Experten in den Erwachsenen auch eine potentielle Kaufkraft sehen. So gibt es neben den Hörspielen an sich offizielle Fanartikel und Kinderhörspiel-Events für Erwachsene.

Aber das gemeinschaftliche Zelebrieren der Hörspiele beschränkt sich nicht allein auf das weltweite Netz. Bei den Record-ReleasePartys zu den Drei ??? des Veranstalters Lauscherlounge hören die Fans zusammen mit einem der Drei ???-Sprecher die neueste und noch nicht veröffentlichte Folge der Hörspielserie – zum Beispiel in Klubs, in Strandbars oder im Stadien. Annika Metze, Mitarbeiterin bei Lauscherlounge, sieht den besonderen Reiz solcher Veranstaltungen darin, die Leidenschaft für Kinderhörspiele teilen zu können: „Die Geschichten zusammen zu erleben, zusammen zu raten, was passiert, zusammen zu lachen, sich zu gruseln und zu erschrecken.“

Kinderhörspiele im Social Web

„Public-Listening“ im Klub

Heute durchstöbern die erwachsenen Sammler nicht mehr nur Flohmarktstände. Die Möglichkeiten, sich mit den altbekannten Hörspielen zu beschäftigen, sind vielfältiger geworden: Man trifft sich virtuell im Internet oder persönlich auf groß organisierten Kinderhörspiel-Veranstaltungen. Neben Internetportalen rund um diese Hörspiele erkennt Miriam Gothe besonders in den sozialen Netzwerken einen virtuellen Treffpunkt für Gleichgesinnte: „Man kann sich auf Facebook schnell und unaufwendig kenntlich machen, indem man ‚gefällt mir’ anklickt. Das erhöht die Anschlusskommunikation. Und außerdem sortiert Facebook die Freunde, denen

Diplom-Pädagogin Miriam Gothe erkennt in diesen Trends eine neue Dimension des Kinderhörspiels. „Man hört es eben nicht mehr nur alleine, mit den Geschwistern oder mit dem Partner. Man sieht, dass andere das Gleiche hören.“ Dabei könne man die Leute persönlich kennenlernen und einfach mal etwas anderes erleben. Laut Annika Metze kommen zu den Hörspiel-Events wesentlich mehr Erwachsene als Kinder, da die Generation der ersten Hörer inzwischen erwachsen ist. Der Altersdurchschnitt liegt bei über 30 Jahren. Grundsätzlich rechtfertigt ein solcher Retrotrend auch, dass Erwachsene noch vermeintliche Kinderkassetten hören, sagt Miriam Gothe: „Sobald etwas zum Kult wird, ist man eben nicht mehr im Verdacht, Kinderhörspiele zu hören, sondern man befindet sich mitten im Trend.“ Derlei Trends interessieren die Bochumer Studentin Sabrina Steffes nur wenig. Sie hat weder den Drei ???-Kinofilm gesehen, noch interessiert sie sich für Live-Events. Ihr geht es schlichtweg um das Hörspiel. Laut Miriam Gothe ist eine Abwehrhaltung gegen diese Modernisierungen aber nicht nur auf einen „Früher-waralles-besser“-Gedanken zurückzuführen. Vielmehr würden die Fans dadurch ihre besondere Wertschätzung des ursprünglichen Formates betonen. Die Hörspiele aus Kindertagen haben sich bis heute nur wenig verändert, sagt Gudrun Marci-Boehncke, Germanistik-Professorin an der TU Dortmund: „Bei TKKG und den Drei ??? sind die Protagonisten nicht viel älter geworden. Die Geschichten werden

Nur ein kleiner Ausschnitt von Saskia Tomczaks Kassetten-Sammlung.

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nur vorsichtig man das Raumodernisiert.“ schen des Bandes Heute hätten die nicht hört, ist Charaktere zum die Qualität gut. Beispiel Handys, Und die Qualität anders als in von Kassetten den 70er Jahren. wird ja auch Die Charaktere nicht besser, je aber blieben im öfter man sie Wesentlichen hört, sondern gleich, es gäbe eher schlechter. nur eine äußere So habe ich Anpassung der sie digital und Gegebenheiten. strapaziere meine So wecken auch Kassetten nicht.“ neue Folgen der Auch Alexandra Serien KindheitsProtze gewöhnt erinnerungen bei sich langsam an den erwachsedie neuen Trends. nen Zuhörern. Alle Folgen, die Außerdem haben sie auf MC nicht die altbekannten mehr findet, Kinderhörspiekauft sie jetzt im le heute einen digitalen mp3Die ersten Folgen der Drei ??? und TKKG. Klassikerstatus Format. und werden von Generation zu Generation weitergegeben, erklärt Arndt Seelig von Anders als die erwachsenen Hörer heute wachsen ihre Kinder Europa. So sind, anders als bei Hörspielen wie Bibi Blocksberg oder größtenteils ohne das Medium Kassette auf. CDs und iTunes-Store Bibi und Tina, bei den Drei ??? noch immer die Sprecher der ersten gehören für sie zum ganz normalen Alltag. Und während sich Folge dabei. manch erwachsener Kassetten-Fan mit der Digitalisierung abfindet, suchen andere die letzten Restbestände des kleinen, rappelnden rechteckigen Sammlerstücks auf Flohmärkten zusammen. Für sie wird es schwer, mit der Zeit zu gehen. Hörspiele als Download und auf CD werden bei ihnen vermutlich kaum jemals den Stellenwert Nicht nur hierüber können sich die Fans der Drei ??? freuen. Wäherreichen, den die Kassette für sie hat. Sie wollen Altbekanntes, eine rend alle anderen Hörspiele von Europa – wie Hanni und Nanni, Tradition fortführen und ihrer Sammelleidenschaft nachgehen. Fünf Freunde und TKKG – nur noch auf CD oder online erhältlich sind, ermitteln die Drei ??? weiter auf Kassette. Der Grund: Die Nachfrage nach den Drei ??? auf dem Retro-Medium ist durch die vielen Sammler weiterhin stabil, sodass sich die Weitervermarktung auch auf MC - also auf Kassette - lohnt.

Bye Bye Bandsalat

In eigener Sache:

Laut Europa gehören die Geschichtten von TKKG und Fünf Freunde hingegen zu den erfolgreichsten Hörspielen auf dem digitalen Markt. Das zeigt sich auch an den wachsenden Download-Zahlen. Miriam Gothe vermutet, dass der Produktionsstopp des veralteten Mediums eine noch größere Begehrlichkeit bewirken könnte. Denn der Aufwand, an die einzelnen Folgen heranzukommen, erhöht sich enorm. „Eigentlich hat das Ende der Kassettenproduktion aber keinen Einfluss auf die Verfügbarkeit des Inhalts, denn dieser bleibt ja durch die Digitalisierungsmöglichkeiten bestehen“, so Gothe.

In der letzen Ausgabe (Wilde Ehe, 03/012) ist uns leider ein Fehler unterlaufen. Folgende Fotos (S.28/31) wurden falsch ausgezeichnet:

Saskia Tomczak nutzt diese Möglichkeit, um die Lebensdauer ihrer Lieblingshörspiele zu verlängern. Die 30-Jährige hat mittlerweile all ihre Folgen von Regina Regenbogen digitalisiert. Bandsalat und Tonbandspulen bleiben ihr dadurch erspart. Aber sie sieht in der Digitalisierung noch viele weitere Vorteile: „Allein dadurch, dass

Die Fotos stammen von Alexander Pallmer, Apart Hochzeitsfotografie. Wir bitten um Entschuldigung. 29

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Mach mal Pause Pausen haben einen schlechten Ruf. Leistungsfähigkeit wird oft gleichgesetzt mit durcharbeiten, Überstunden und Wochenendarbeit. Wir ignorieren das hohe Risiko für unsere Gesundheit, verkennen den hohen Nutzen von Pausen. TEXTHelene Seidenstücker FotosKatharina Kirchhoff, Sarah zoche

schenzeitlich dachte, mein Herz setzt aus. War laut Arzt aber „nur“ stressbedingter erhöhter Blutdruck.“

Unser Leben ist anstrengend. Ob Druck und Prüfungsstress im Studium, Angst vor der Kündigung, mangelnde Anerkennung und Konkurrenzdenken im Job oder Probleme im Privatleben – wir stehen nahezu dauerhaft unter Anspannung und gönnen uns keine Auszeit. Das Resultat: Gesundheitliche Probleme, von Kopfschmerzen bis hin zu Herz-Kreislauf-Problemen, Schlafstörungen, Depressionen und Burnout. Pausen bedeuten vor allem Erholung. Warum sie gesund sind, welche Pause für wen am geeignetsten ist und was bei zu wenig Pause passieren kann, dem sind wir einmal nachgegangen – mit erstaunlichen und erschreckenden Ergebnissen.

Sie hat eine Ärzteodyssee hinter sich, war unter anderem bei der Hausärztin und Heilpraktikerin, beim Venerologen und Kardiologen. Die einhellige Diagnose: erhöhter Stress. Und die Empfehlung: zum Ausgleich Sport machen – und zur Ruhe kommen. Dafür gab es neben Studium und Referendariat aber keine Zeit: „Mein Kopf war so voll – ich stand dauernd unter Stress und kam nicht dazu, mich mal zu entspannen.“ Auch Julias Beziehung ging in die Brüche. Der doppelte Druck wegen Studium und gesundheitlichen Problemen war zu viel. „Ich wäre so gerne zu einem Psychotherapeuten gegangen“, erinnert sie sich. Das ist angehenden Lehrern aber untersagt, sonst werden sie nicht verbeamtet. „Wenn man da keine Depressionen bekommt, dann hat man Glück“, sagt Julia.

Julia H. ist 30 Jahre alt. Sie ist Lehrerin für Deutsch und Englisch. Kaum zu glauben, dass diese fröhlich und agil wirkende Frau während ihres Studiums völlig aus dem Gleichgewicht geriet – sie stand damals am Rande eines Nervenzusammenbruchs: „Es ging zur Mitte meiner Studienzeit los. Je stressiger die Uni gerade war, desto schlimmer war es“, erinnert sich die junge Lehrerin. Es begann mit Kopfschmerzen, Erschöpfung und Magen-Darm-Problemen: „Vor jeder Klausur hatte ich Durchfall und musste kotzen!“ Und es wurde noch schlimmer: Julia bekam eine chronische MagenSchleimhaut-Entzündung, Beklemmungsgefühle und Dauermüdigkeit, Schwindelattacken. „Mir war ständig so schwindlig, dass ich gegen die Wände gelaufen bin. Ich war sogar im Kernspin wegen Tumorverdachts. Ich hatte solche Beklemmungen, dass ich zwi-

Das Gehirn braucht Zucker und Schlaf „Depressive Dekompensation, die Vorstufe einer Depression, ist die weltweit meistverbreitete Krankheit“, klärt Dr. Wolfgang Mattern, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in Bochum auf. Ursachen dafür können körperlicher wie seelischer Natur sein: Überlastung oder Überforderung beispielsweise am Arbeitsplatz, soziale und 30

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emotionale Unsicherheiten oder psychische Sorgen. Ein Anzeichen von Überbeanspruchung sind Schlafstörungen. Im Schlaf wird die Energie getankt, die jeder für den Tag braucht. Ist der Schlaf-WachRhythmus gestört, können Leistungsschwäche und Konzentrationsstörungen, Unruhe und verminderte Belastbarkeit auftreten. Dr. Mattern erklärt es so: „Das Gehirn braucht Zucker und Schlaf zum Arbeiten. Wenn der Schlaf fehlt, ist die setzen nicht mehr gewährleistet und führt zu Fehlschaltungen im Gehirn. Befindet sich das Gehirn im Ungleichgewicht, können Schlafstörungen und Depressionen die Folge sein.“ Die Ursache hierfür ist einfach: Zu wenig Pausen, die Effektivität eines Menschen sinkt. „In der Regel ist es am besten, alle drei Stunden eine kurze Pause zu machen. Wer viel sitzt, sollte diese zum Ausgleich möglichst aktiv gestalten mit Entspannungs- und Bewegungsübungen“, rät Dr. Mattern. Wer allerdings bereits unter Schlafstörungen oder Depressionen leidet, hat es schwerer: „Medikamentöse Behandlungen haben Suchtpotential. Helfen können Verhaltenstherapie oder auch Hypnose. Hier lernt der Patient, seine Stressfaktoren zu erkennen und sinnvolle Pausen-Mechanismen, wie er mit dem Stress umgehen kann“, erklärt der Facharzt.

Christian Klein und Jascha Telaar: Die Fitness-Gurus der Ruhr-Uni Bochum.

Situationen einfach aus. Der berühmte Sekundenschlaf kann einen überraschen“, warnt Dr. Walther.

Sinnvolle Pausen einschieben Zur Vorbeugung von beispielsweise stressbedingten Schlafstörungen haben zwei Sportstudenten der Bochumer Uni ein in Deutschland einmaliges Pausen-Konzept entwickelt: Mit der „PowerPause“ wollen Christian Klein und Jascha Telaar gestresste Arbeitnehmer in der Mittagspause fitter machen und ihnen zu einem größeren körperlichen und geistigen Wohlbefinden verhelfen. „Bewegungsmangel ist im Alltag der meisten Menschen leider etwas Akutes“, sagt Christian Klein. „Ständiges Sitzen führt zu Verspannungen, Rückenschmerzen und weniger Leistungsfähigkeit. Durch ‚Kopf ausschalten und auspowern’ fühle ich mich nicht nur besser, ich bin auch leistungsfähiger“, ergänzt Jascha Telaar. Die „PowerPause“ dauert eine halbe Stunde, ist auf Koordination, Kräftigung oder Ausdauer ausgerichtet und findet im oder möglichst nahe am Unternehmen statt: Ein Staffellauf durchs Treppenhaus, Muskelkräftigung mit Wasserflaschen oder Übungen am Bürostuhl sind nur einige Beispiele.

Pausenlos erschöpft Wer chronisch schlecht schläft oder ständig müde ist, sollte sich an einen Schlafmediziner wie Dr. Jörg Walther wenden. Er ist Oberarzt im Schlaflabor der Bergmannsheil-Klinik in Bochum. „30 bis 40 Prozent der Menschen fühlen sich schlecht ausgeschlafen“, sagt er. Der Schlaf sei aber als Pause notwendig für die geistige und körperliche Erholung. Damit diese funktioniert, brauchen wir einen bestimmten Schlafablauf: 25 Prozent sollten aus dem REMSchlaf – auch Traumschlaf genannt – und fünf bis 15 Prozent aus Tiefschlaf bestehen, der Rest aus Leichtschlaf (vor allem morgens). „Eine Schlafstörung hindert daran, überhaupt in den Tiefschlaf zu kommen“, erklärt Dr. Walther. „Die Schlafapnoe ist die häufigste aller auftretenden Schlafstörungen. Hier kommt es durch eine Verengung der Luftwege zu Atempausen im Schlaf. Dadurch sinkt der Sauerstoffwert, das Gehirn nimmt diesen Mangel auf, sendet einen Impuls und weckt den Schlafenden auf. Dieser Impuls, also die Kurzunterbrechung vom Schlaf, ist ein Schutzmechanismus.“

In einem dreimonatigen Pilotprojekt in einem Bochumer Unternehmen haben die Kommilitonen ihr Konzept im Rahmen des Sportstudiums erfolgreich getestet: „Die Teilnehmer waren erst skeptisch, weil sie nicht wussten, was sie erwartet“, sagt Telaar. Am Ende jedoch fingen die Mitarbeiter Diäten an oder bildeten private Walking-Gruppen. Die beiden Sportwissenschaftler wollen ihre „PowerPause“ nach dem Masterabschluss als Geschäftsidee umsetzen. Sie haben bereits mehrere Anfragen von Unternehmen, die auf eine moderne betriebliche Gesundheitsförderung setzen. Heute weiß auch Julia H., dass sie besser und früher auf ihren Körper hätte hören sollen. Sie wird jeden Tag an die schlimme Zeit während des Studiums erinnert: Durch das ständige Sitzen hat sie schmerzhafte und hässliche Krampfadern bekommen, die jetzt operativ entfernt werden müssen. Inzwischen achtet sie auf Warnsignale und legt rechtzeitig Pausen ein: „Zeit für sich selbst zu nehmen, ist schon toll“, sagt die Lehrerin. „Wäre mir damals bewusst gewesen, wie wichtig das ist – vielleicht hätte ich dann auch weniger gekotzt.“

Doch schüttet die Weckreaktion Stresshormone wie Adrenalin aus, die langfristig das Herz-Kreislauf-System schädigen und zu eingeschränkter Herzleistung führen können. Bei Martin Fliegner (52) ist genau das passiert: Er bemerkte jahrelang seine Atemaussetzer im Schlaf nicht; durch seine chronisch schlechte Sauerstoffsättigung bekam er eine Herzmuskelentzündung. Um besser zu atmen, hat er nun eine Schlafmaske. „Die Maske produziert einen Überdruck und drückt zusätzliche Luft in meine Atemwege. „Ich merke, dass ich über den Tag bessere Laune habe und ausgeglichener bin“, erzählt der Schlafpatient. Auch sein Blutdruck hat sich reguliert und seine Herzfrequenz ist niedriger geworden. 90 Prozent der Patienten mit schlafbezogenen Atmungsstörungen brauchen diese Maske als Therapie – das dann allerdings ein Leben lang. Gefahr droht dagegen, wenn Schlafstörungen nicht ernst genommen werden: „Der Körper holt sich seinen Schlaf anderswo. Er schaltet dann in monotonen

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Verbissen Gemeinsam in langweiligen Vorlesungen, der gleiche strenge Dozent – neu an der Uni kämpfen Studenten gegen dieselben Probleme, schließen Freundschaften. Doch irgendwann heißt es: Nerviger Konkurrenzkampf, gegeneinander statt miteinander – „und welche Note hast du so?“ TEXTJULIA VIKTORIA NEUMANN FOTOSFLORIAN HÜCKELHEIM ILLUSTRATIONENLENA SEIFERLIN

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Übersetzen besser als ich“, sagt Hanna. Bei einer anderen Arbeit bestand Hanna dann im ersten Anlauf, Tanja musste überarbeiten. Statt Hanna um Hilfe zu bitten, regte Tanja sich über den Dozenten auf, reagierte merkwürdig. Erste Anzeichen, dass Tanja Leistungen wurmten: Sie musste nochmal ran, während Hanna bestanden hatte.

Hanna und Tanja* waren Freundinnen, bis das Konkurrenzdenken ihre Freundschaft zersprengte. Es gab keinen großen Knall. Hanna sagt, es begann, als Tanja ihr ein Skript nicht geben wollte. Dabei war alles so gut losgegangen: Im ersten Semester lernten sie sich kennen. Beide studierten Lehramt, Deutsch und Englisch in Duisburg. Beide waren neu, hatten dieselben Probleme. Sie saßen gemeinsam in Seminaren, gingen zu Vorlesungen und Tutorien. Als Studentische Hilfskräfte arbeiteten sie bei derselben Chefin, legten Arbeitszeiten zusammen. Abends trafen sie sich, feierten gemeinsam Geburtstage. Tanja und Hanna waren noch nicht die besten Freundinnen. Vielleicht hätten sie es werden können, bevor das die Freundschaft zerstörte, was sie zusammengebracht hatte: die Universität.

Gegen die Freundin Gisela Steins, Sozialpsychologin an der Uni Duisburg-Essen, zeichnet ein Dreieck auf ein Blatt Papier und erklärt das Selbstwerterhaltungsmodell. An die Spitze schreibt sie „soziale Nähe“ – Hannas und Tanjas Freundschaft. An die beiden unteren Enden schreibt sie die Worte Leistungsgebiet und Leistungsqualität. „Wenn es mir in dieser Konstellation schlecht geht, was mache ich?“, fragt Steins. „Ich kann meine Leistungsqualität verbessern oder das Gebiet wechseln“, erklärt sie. Das heißt konkret: Man hat die Wahl zwischen mehr Arbeit oder Arbeitsplatzwechsel. „In beiden Fällen ist die Nähe gerettet.“ Tanjas Selbstwertgefühl hatte einen Knacks, deshalb veränderte sie die dritte mögliche Variable: Die „Freundschaft mit Hanna.“

Wenn alles solidarisch beginnt, warum endet es nicht auch so? Peter hat die Klausur geschafft, Annika wieder eine Eins-Komma-Null ohne zu lernen, Fabian macht schon das vierte Praktikum, Inga ein tolles Auslandsjahr in Bali. Schneller, höher, weiter. Hanna und Tanja kämpften miteinander: Sie hielten sich Plätze frei, nahmen Kopien für die Andere mit, gingen gemeinsam Unterlagen durch, verglichen Hausaufgaben. Bis sie um die Dinge konkurrierten, die für sie beide wichtig waren: Klausurnoten, Leistungsnachweise, Lob von der Chefin.

Von da an kämpfte Tanja ohne Hanna gegen die Uni, die Dozenten, die schwierigen Klausuren. Sie belegte andere Vorlesungen und legte Arbeitszeiten um. Hanna brachte ihr weiter Unterlagen mit, hielt Plätze frei. Tanja ging ihr aus dem Weg, dann ignorierte sie ihre Freundin völlig.

Das erste Warnzeichen sei ein gemeinsames Proseminar gewesen, erinnert sich Hanna. Dafür kauften sie Reader im Kopierladen. Hanna konnte ihren nicht mehr finden, also fragte sie Tanja. Die hatte ihre Sachen immer ganz penibel archiviert, in Ordnern im Arbeitszimmer, das wusste Hanna. „Sie sagte, dass sie mal geschaut habe, den Reader aber nicht mehr fände.“ Als Hanna wissen wollte, wie Tanja ohne Reader die Hausarbeit geschrieben hätte, druckste die Freundin. Das Skript habe sie selbst leihen müssen. Tanja war fertig mit der Hausarbeit, Hanna hatte nicht einmal angefangen.

„Der Mensch ist nicht von Natur aus kooperativ“, sagt Gisela Steins. „Die natürliche Neigung ist, dem Anderen etwas wegzunehmen oder vorzuenthalten. Das passiert, wenn der Gewinn des Anderen ein Verlust für mich ist. Oder seine Leistung mein Selbstwertgefühl verringert. Dann wird konkurriert.“ Und die Folgen? Man gibt nicht mehr alles Preis, erzählt nicht, welche Seiten im Buch die wichtigsten sind oder wie die Anmeldung zur Fortbildung funktioniert.

Ein Tabu Diplom-Psychologe Michel Egeri arbeitet in der psychologischen Beratungsstelle an der Ruhr-Uni Bochum. Kaum einer kommt zu ihm, um über Konkurrenz zu sprechen. Weil es ein Tabu ist, Kommilitonen und Freunde zu beneiden. Normal ist, sich mit ihnen vergleichen zu müssen. „Im Menschen gibt es zwei Strebungen“, erklärt Egeri. „Die eine, etwas Besonderes, Einzigartiges zu sein: Das macht mich aus.“ Jetzt könne man sagen: Dann ist alles gut, jeder ist auf seine Art toll. Aber es gebe noch eine zweite Strebung: Die, sich zu verorten. „Wir gucken nicht auf uns allein.“ Deshalb wird beim Grillen nach den Noten gefragt, auf Feiern der Lebenslauf verglichen, im Café das Praktikum angesprochen.

Tanja zog sich zurück. Statt von Hanna angespornt zu werden, wandte sie sich ab. Nach neun Semestern hatte Hanna ihr Examen fast in der Tasche, Tanja noch nicht. Auf einmal hinterfragte ihre Chefin Hannas Arbeit, schikanierte sie, wollte nicht glauben, dass Hanna so lange kopieren war. Die Situation eskalierte, als Hanna einen Tag Urlaub nehmen wollte. Auslöser war ihre ehemalige Freundin Tanja: Die hatte Hanna bei der Chefin schlecht gemacht. Hanna konnte nur noch heulen.

Gewollter Kampf

„Wie stark Konkurrenzdenken ausgeprägt ist, hängt von der Umwelt und vom Inneren des Menschen ab“, sagt Egeri. „In Fächern wie Wirtschaft und Jura sagen die Profs: Schauen Sie Ihren Nebenmann an. Einer von Ihnen schafft es nicht. Der fängt mit der Angst an.“ Daraus entstehe das Denken, „jetzt muss ich konkurrieren.“ Bücher werden versteckt, Termine verheimlicht, E-Mails nicht weitergeleitet. Für ein Seminar übersetzten Hanna und Tanja einen Text. Tanja bestand, Hanna nicht. „Das kommt vor, sie war im

„Es ist wie ein Bett, auf dem viele unter einer warmen Decke liegen“, sagt Egeri. Je kürzer die Decke wird, umso mehr haben keinen Schutz, keine Wärme, keine Behaglichkeit.“ Die Decke sei die Sicherheit auf einen Arbeitsplatz, gutes Geld, den Traumjob. Je weniger davon da ist, umso mehr wird gezogen. „Dann geht es dem Einzelnen nicht mehr darum, dass allen warm ist.“ Die Uni vermittelt nicht mehr: Irgendwo ist für dich eine Hintertür offen. 31 33

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Der Kampf ist gewollt, auch von der Industrie. Egeri erklärt das so: „Es sind genug da, die meinen Platz einnehmen, ich bin ersetzbar – also arbeite ich härter.“ Man sehe, wie die Decke kleiner wird und plötzlich ginge es darum, in seiner Fächerkombination mit Mathe und Sport mehr wert zu sein als mit Geschichte und Deutsch, die als „brotlose Kunst“ gelten.

nach außen: Es geht nur noch um die besten Noten, den schnellsten Studienverlauf. Dabei verlor Tanja das aus den Augen, was sie bisher erreicht hatte und wie gut sie dabei war.

Die meisten Studenten würden aber nicht auf das System schauen, sondern sich selbst kritisieren: Ich kann das nicht, das ist zu schwer, ich bin zu schlecht, ein Versager, ein Nichtskönner, ich gebe auf. Aus Tanjas Sicht wurde die Decke kleiner und ihr kalt, deshalb kämpfte sie gegen ihre Freundin – und damit in die falsche Richtung. Ihre Leistungsqualität hat sie nicht verbessert. Gisela Steins von der UDE erklärt das so: „Wenn man am Erfolg gemessen wird, erhöht sich der eigene Leistungsanspruch.“ Das sei auch gut, denn wenn man sich nicht anstrengen müsse, unterfordere man sich.

Andrea Berkhuijsen, Leiterin der psychologischen Beratungsstelle der Uni Duisburg-Essen, vermisst bei Studenten genau diese Frage: Worauf kann ich stolz sein? „Die sehen: Der Andere kann das besser, ist gut, ich nicht. Aber die Frage ist umgekehrt: Was gelingt mir?“, sagt Berkhuijsen. Da könnten Freunde und Familie helfen quasi ein Schatzkästchen an „Ego-Pushern“ liefern. Beim Studium gehe es um mehr als nur gute Noten: der französische ErasmusStudent, der bei der Büchersuche Probleme hat, oder die spanische Kommilitonin, der man den Campus zeigt – „Studenten bewegen sich in unterschiedlichen Gruppen. Da kann man sich einbringen“.

Das Anspruchsniveau sollte also über den eigenen Fähigkeiten liegen. Doch sie betont: „Wir bleiben sowieso immer unter dem Anspruch.“ In der Leistungsgesellschaft mache man sich das aber nicht klar. „Man ist ständig am Schuften, hat aber nie Freude daran. Weil man nie das erreicht, was man wollte.“ Statt zu sehen, dass sie es genauso schaffen kann wie Hanna, wurde Tanja neidisch. Die „intrinsische“, also innere Motivation, durch das Studium etwas in ihrem Lieblingsfach zu lernen, ging verloren. Sie wurde „extrinsisch“, wendete sich

Mehr als gute Noten

Und trotzdem stopft sich Pauline Wiegand im ersten Semester Germanistik ihren Stundenplan voll, muss sich Bastian Albrecht in Wirtschaft über Noten profilieren, „weil man sonst nichts hat, anonym ist“. Wenn man an den Unis nachfragt, hört man diese Sätze und solche von Benedikt Meyer-Wertkamp in Dortmund, dass man „ohne Ellenbogen nicht weit kommt“. Marco Schäfer in Duisburg sagt: „Wer sich nicht anstrengt, bleibt zurück, fällt tief.“ Und es werden Geschichten erzählt, wie man im Wirtschaftsingenieurwesen mit 210 Kommilitonen anfängt und mit 55 kurz vor dem Bachelor-Abschluss steht, dass man sich gegenseitig beäugt, Stipendien, Auslandssemester, Praktika, Referenzen und Kontakte der anderen Studenten genau beobachtet. Marius Zima erzählt, dass er mit seinem Freund die Lebensläufe am Laptop vergleicht, um zu gucken, wo sie stehen. Es ist ja auch einfach, dieser Vergleich: Tabellarischer Lebenslauf und Klausuren-Durchschnitte machen es möglich. Und man braucht ihn. Doch es gibt kein perfektes Maß für „Normalsein“ – obwohl eigentlich alle nur durchschnittlich sind, nur sein können. Weil es immer jemanden gibt, der weiter wirft, höher springt, schneller rennt. Und trotzdem wünscht man sich manchmal, eben doch besser zu sein. Studenten ordnen sich ein: unten, Mitte, oben – wo bin ich? Die Universität gilt dann als Arbeitsstätte – mit vielen Mitbewerbern gegen einen, wo man besser keine Freunde sucht. Dabei wird eins vergessen: Vielleicht ist es gerade Peter, der mir den Klausurenstoff so gut erklären kann, Fabian derjenige, der den Kontakt zum Lieblings-Unternehmen vermitteln würde. Und womöglich weiß Inga, wo in Bali ein super Job frei wird. *Namen geändert

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Rätselraten

Gewinnspiel: Alice im Wunderland Finde alle sechs Fehler im unteren Bild und maile die Aufzählung bis zum 20. Juli an gewinnspiel@pflichtlektuere.com – samt deiner Adresse (für den Fall, dass du gewinnst und deinen Preis nicht abholen kannst; sonst wird sie gelöscht). Viel Erfolg! Zu gewinnen gibt es zwei Freikarten für „Juicy Beats“ in Dortmund. Bei dem Festival am 28. Juli im Westfalenpark treten 40 Bands auf sechs Bühnen auf. Dazu gibt es 100 Djs auf 14 Floors. Von der Teilnahme ausgeschlossen sind Mitarbeiter der pflichtlektüre-Redaktion und deren Angehörige. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

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Kulturgebiet

Liebster Platz TextSascha Rutzen FotoJulia Viktoria Neumann, Christiane Reinert

150 Millionen Kubkimeter Abraum, einst Gesteinsschichten, auf 220 Hektar, 152 Meter hoch aufgetürmt. Das ist meine Halde. Das kann ich so einfach behaupten, weil hier sonst kaum jemand ist. Dabei sind es die 529 Stufen bis nach ganz oben wirklich wert. Hier, auf Halde Hoheward zwischen Herten und Recklinghausen, wurde der aus umliegenden Zechen entnommene Aushub zur größten Haldenlandschaft Europas aufgeschichtet. Ich bin gerne hier mit Freunden, um raus aus der Stadt zu kommen. Die umgibt einen auch auf der Halde, aber sie wirkt still. Es ist schön, den Sonnenuntergang hier oben mitzuerleben, die ersten Sterne dabei aus- und die Nacht durchzumachen. Wenn die Morgenröte dann bei Dortmund wieder den Himmel färbt, hat das seinen Reiz. Eine kreisrunde Ebene, mit zwei sie überspannenden Bögen, auf dem Gipfelplateau der Halde bildet das 2008 eröffnete Horizontobservatorium, ein modernes Stonehenge, das den Verlauf von Sonnenstand und Mondphasen nachvollziehbar macht. Leider ist dieser Teil derzeit gesperrt. Wegen eines Risses in einem der Bögen droht Einsturzgefahr. Noch steht nicht fest, wann die Anlage wieder geöffnet wird. Das hat fast Symbolcharakter, weil das Ruhrgebiet eben kein formschöner Bogen ist. Der einstige Hochofen Europas wird mit Industriekultur befeuert. Landschaftsmarken, Extraschichten, Backsteinromantik. An guten Tagen sieht man 50 Kilometer weit, überblickt den Pott mit einer Pirouette. Kraftwerke, Fabriken, Schnellstraßen. Ein Häusermeer schwappt metaphorisch zwischen grünen Baum-Inseln. Meine Halde hat sich gemausert. Statt graue Zechen-Tristesse zu vermitteln, lädt sie dazu ein, näher zu kommen und sich die eigene Heimat von oben anzuschauen. Und dat lohnt sich! Wo ist dein liebster Platz im Ruhrgebiet? Sag‘s uns: * liebsterplatz@pflichtlektuere.com 36

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Peinliche Platte

bandschriftlich ProtokollMaike Dedering FotoSpeedswing

TextJana Fischer FotoChristiane Reinert

Meine ersten Sprechversuche lauteten „Nee, nee“. Mit Protest hatte das nichts zu tun – ich wollte einfach nur den Schneewalzer mitsingen. Bis ins Grundschulalter hießen meine Helden Heino und Stefanie Hertel, denn Volksmusik war für mich das Größte. Schuld daran: die liebevolle Indoktrination meiner Oma, die mich von Anfang an gewissenhaft beschallte. Ich fand alles toll, was sich bei ihr auf dem Plattenspieler drehte. Wenn Oma die Beste war, musste das schließlich auch für ihre Musik gelten, oder?

SPEEDSWING ist der Name, den sich acht Musiker aus dem Ruhrgebiet gegeben haben. Gleichzeitig beschreibt er auch ihren Musikstil: Der Sound ist eine Mischung aus Swing, Rockabilly, Ska und Punk. Die Band ist festivalerprobt und spielt bei zahlreichen Events hier in der Gegend. Im Sommer zum Beispiel bei Essen.Original. Erfolg hat SPEEDSWING aber nicht nur in der Heimat, sondern auch in den USA, Japan und Australien erreichen ihre CDs gute Verkaufszahlen. Unser Musikstil klingt wie:

Abends schauten wir am liebsten den Musikantenstadl oder riefen beim Grand Prix der Volksmusik etliche Male für die Kastelruther Spatzen an. Wenn wir spazieren gingen, waren sämtliche Berchumer Dorf-Omis entzückt darüber, wie inbrünstig ich das Rennsteiglied krähte. Auch sonst hielt ich mit meinem musikalischen Talent nicht hinterm Berg: Im Alter von sieben Jahren rockte ich das Dorffest mit einer fulminanten Playback-Performance zum Anton aus Tirol. Warum mich niemand davon abgehalten hat? Es ist mir bis heute ein Rätsel, aber wenigstens hatte mein Vater seine Video-Kamera nicht dabei.

Wir machen Musik, weil...

Kein Wunder, dass es ein ziemliches Highlight für mich war, als ich in der Hagener Stadthalle „Die Stars der Volksmusik“ bewundern durfte: Andy Borg! Die Wildecker Herzbuben! Nur dass Heintje so gar nicht mehr aussah wie auf den alten Plattencovern, enttäuschte mich doch ein wenig. Was, wenn ich damals gewusst hätte, dass ich wenige Jahre später in einer Rockband ziemlich brachiales Getöse veranstalten würde? So richtig mit E-Gitarre und The-Clash-TShirt? Ich wäre schockiert gewesen. Ganz lässt die Vergangenheit sich aber ohnehin nicht ausblenden: Bei einigen Heino-Liedern bin ich jedenfalls bis heute erschreckend textsicher.

Wir wären gerne Vorband von...

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Probehören auf pflichtlektuere.com


Neues vom V-Mann

fOTOHanna Kuzu, Lauscherlounge

Lauscherlounge 14. Juli, Essen, Party 20 Uhr, Kammerspiele Bochum Königsallee 15 www.schauspielhausbochum.de Kassette-Hören am Strand. Mitmach-Ratespiel und Wissensquiz mit Oliver Rohrbeck alias Justus Jonas von „Die Drei ???“. Eintritt 14 Euro

Heldenrausch 21. Juli, Essen, Party ab 12 Uhr, Heldenbar im Grillo Theater Theaterplatz www.heldennaechte.de Indiediscothèque mit Jan 3000 + Thorrissey. Musik mit Euphorie-Faktor macht euch zu nächtlichen Helden, die von der Terrasse aus die ganze Stadt überblicken. Eintritt 5 Euro

Seegeflüster 31. August und 1. September, Hagen, Festival Ab 16 Uhr, Eventbad Hengstey Landwehrstraße 17 www.seegefluester-hagen.de Madcon, Jupiter Jones, Frida Gold, Bosse, Thomas Godoj, Stereolove und Auletta. Tagesticket 29,50 Euro

fOTOJana Chiellino, Faster Than Sound / Aldeburgh Music

fOTOSeverin Vogl, Theater Stückwerk

Abflug 12. Oktober, Bochum, Theater 20 Uhr, Bahnhof Langendreer Wallbaumweg 108 www.bahnhof-langendreer.de Fünf Uhr morgens, Kleinstadt in Oberbayern, Melina N‘Kapou schläft noch, als die Polizei ihr Haus stürmt. Wenige Stunden später sitzt sie im Flugzeug nach Afrika, einfach abgeschoben. Theaterstück über die erste europäische Sammelabschiebung, die mit EU-Mitteln gefördert wurde. Eintritt 12 Euro / Ermäßigt 8 Euro

Von - über - mit Liebe 8. August, Essen, Theater 20 Uhr, Theater Courage Goethestraße 67 www.theatercourage.de Selbstverfasste Text über die Liebe. Gefühlvoll, frech, mit Humor aber auch kritischen Untertönen: Renate Khan Boloki und Ulrike Pietrzak widmen sich dem Herzen. Sie spielen Situationen, in die wir alle geraten können - verliebt, verlobt oder allein. Eintritt 5 Euro

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Christian Marclay 22. September, Bochum, Performance 21 Uhr, Jahrhunderthalle An der Jahrhunderthalle 1 www.ruhrtriennale.de Fünf Musiker mixen Töne und Musik zu Videos und Graphiken. Eintritt ab 20 Euro / Ermäßigt 10 Euro

Blind Slam 2. September, Duisburg, Poetry-Slam 20 Uhr, Parkhaus Meiderich Bürgermeister-Pütz-Straße 123 www.parkhaus-meiderich.de Dichterwettbewerb, bei dem das Publikum blickdichte Brillen aufzieht und den Sieger durch Zurufe ermittelt. Eintritt 3,50 Euro

Die Atzen 14. September, Dortmund, Konzert 20 Uhr, FZW-Halle, FZW Ritterstraße 20 www.fzw.de „Disco Pogo“ und „Strobo Pop“ und sorgen für Schweiß auf der Tanzfläche. Eintritt 20 Euro


fOTOPresseamt, Stadt Bochum

fOTOLudwiggalerie

fOTOAlamode FILM

Kinostart „Das Schwein von Gaza“ Start: 2. August 2012 Komödie Dem palästinensischen Fischer Jafaar geht statt kleiner Fische endlich etwas großes ins Netz. Leider ist es kein Riesenfisch, sondern ein dickes Hängebauchschwein. Das ist in der stürmischen Nacht von einem Frachter gefallen. Jaafar zieht es versehentlich aus dem Meer – und muss es schnell wieder loswerden, denn Schweine gelten in Gaza als unrein. Also versucht er, es gewinnbringend zu verkaufen: An den deutschen UN-Beamten, an die Israelis hinter der Grenze, an jüdische Siedler, die auf der anderen Seite des Sicherheitszaunes Schweine züchten. Doch keiner will das Tier haben. Nur die russisch-jüdische Siedlerin Yelena ist interessiert. Allerdings will sie nicht das Schwein, sondern nur dessen Sperma. Jafaar wittert einen lukrativen Geschäftszweig. Doch wie soll er an die Samenzellen kommen, ohne sich zu versündigen? Ein Film über das Volk des Gazastreifens, zwischen israelischem Militär und Diktat der islamischen Fundamentalisten.

Durchs Schlüsselloch Bis 16. September, Oberhausen, Ausstellung Di-So 11-18 Uhr, Ludwig Galerie, Schloss Oberhausen Konrad-Adenauer-Allee 45 www.ludwiggalerie.de Es wird privat. Endlich kann man ganz ohne Scham in fremde Wohnzimmer, Küchen, Bäder und Schlafzimmer gucken. Natürlich nicht nur durch das Schlüsselloch. Eintritt 6,50 Euro / Ermäßigt 3,50 Euro

The Beatles-Love 27. Juli, Bochum, Musikshow 21 Uhr, Zeiss Planetarium Castroper Straße 67 www.planetarium-bochum.de Unter dem sich langsam drehenden nächtlichen Sternenhimmel sitzen. Dazu Originalaufnahmen der Beatles. Ohrenkino im Planetarium, bei dem der klare Blick aufs Sternenbild und angenehm warme Temperaturen garantiert sind. Die Tonaufnahmen des Tonmeisters der Band wurden neu bearbeitet und kommen in 5.1 digitalen Surround-Sound. Eintritt 8,50 Euro / Erm. 6,50 Euro

Mitmach-Revolution

Sommerkino

Bis 25. April, Dortmund, Ausstellung Di-Fr 9-17 Uhr, Sa und So 10-18 Uhr DASA Friedrich-Henkel-Weg 1-25 www.dasa-dortmund.de

11. Juli bis 19. August, Duisburg, Kino Landschaftspark Duisburg-Nord Emscherstraße 71 www.stadtwerke-sommerkino.de

Kleine Geschichte des Selbermachens: Heimwerker, Tüftler und Dilettanten - gezeigt wird die Enwicklung von Amateurkulturen bis zur Web 2.0 Nutzung. Lust auf Bastelarbeit? Das „Tüftlerlabor“ der Ausstellung ist die Alternative zur Anleitungs-Suche auf Blogs oder in Bastelbüchern. Dabei hilft die Werkzeugkunde mit „Heimwerkers Lieblingen“. 39

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Unterm lauen Sternenhimmel die besten Filme genießen: 39 Nächte lang können Film-Fans vor herrlicher Industriekulisse alle möglicne Blockbuster genießen. Klassiker und Kultfilme. Gezeigt werden beim Open-Air auch aktuelle Filmhits wie „Dreiviertelmond“, „The Artist“ und „Der Gott des Gemetzels“. Ein Licht-Magier taucht die Kulisse des Hüttenwerks in ein strahlend buntes Meer an Farben.



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