pflichtlektüre 02/2012

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pflichtlekt체re Studentenmagazin f체r die Universit채ten Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen

022012

Verschoben Warum wir wichtige Aufgaben oft vertagen www.pflichtlektuere.com


REIN

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Fakt ist ... ... dass die Unis Social Media verschlafen haben.

Früher war alles besser? Unsere Einblicke: Wie die Ruhr-Unis früher aussehen.

STUDIUM

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Kunst auf seiner Haut Campuskopf: Warum der Dozent Stefan Schaark mit Tattoos übersät ist.

Glashaus Politik Sag mal, Prof: Warum verschanzen sich die Politiker in Hinterzimmern.

Flucht nach Riga Wunschstudium Medizin? Viel Spaß bei der Studienplatz-Suche.

JOB

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Good Vibrations Special Operations: Wie eine Studentin mit Dildo-Partys ihr Geld verdient.

Wege zum Glück Nein, das ist kein Titel einer Telenovela. Wie man Freude im Job haben kann.

Ich bin dann mal weg! Auslandsbewerbungen sind tückisch. Jedes Land hat eigene Vorgaben. Ein Überblick.

LEBEN

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Morgen, morgen, nur nicht heute... ...fang ich mit dem lernen an. Ganz sicher.

Zahlenspiele Über ein Grundeinkommen wird gerne debattiert. Aber ist das auch bezahlbar?

Kulturgebiet Über die Alm-Fantasien eines Frühreifen.

RAUS

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V-Tipps Butterfahrt, Essen-Werden Open Air und Slam für Jungpoeten. Was im Pott so abgeht.

Schwindelfreie Balkenhocker Unser Bilderrätsel: Sechs Fehler im Bild und ein toller Preis.

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inhalt


eins vorab

Nora trägt Kontaktlinsen und Brille. Meistens aber nicht - wie im Foto oben - gleichzeitig. TEXTNORA SONNabend MontageFLORIAN HÜckelheim

Brillenträger haben es schwer. Sie müssen sich ihr Gesicht einrahmen und ihr Blickfeld begrenzen lassen. Zum Glück gibt es für alle, die ihre Sehschwäche nicht offen zur Schau stellen wollen: Kontaktlinsen. Die Scheu, sich ins Auge zu fassen, ist nicht mehr groß – wer schön sein will, muss leiden. So lässt sich gar nicht mehr auf den ersten Blick unterscheiden, wer wirklich gute Augen hat und wer eine Sehschwäche.

Nun ist also die Brille die Zahnspange von gestern. Bei solch einer Wiederholung alter Verhaltensmuster könnten einem die Augen feucht werden. Denn auch die Brille ist doch ein Understatement: Man bekennt sich nur oberflächlich zu Schönheitsfehlern. In Wirklichkeit soll das heißen: „Mein einziges Makel ist meine Sehschwäche.“ Wer ist schon echt gern auf (Seh-)Hilfe angewiesen?

Außer man schaut sich an der Uni um. Augenscheinlich scheint hier der Prozentsatz von Menschen mit Sehschwäche überproportional hoch zu sein. Statt Kontaktlinsen trägt Student nämlich Brille. In allen Farben und Formen, aber vorzugsweise im Nerd-Stil, das heißt: groß, dunkel, Hornbrille. Wieso Kontaktlinsen tragen, wenn man mit Brille viel erwachsener wirkt? Wer Brille trägt, wirkt intellektuell, ist voll Indie. Wer Brille trägt, schämt sich nicht für Defizite – er gibt damit sogar das Statement ab: „Ich steh dazu, dass ich Makel habe.“

Aber sehen wir es mal so: Hauptsache, Kontaktlinsen bringen unsere Augen nicht zum Tränen und Brillengläser sind nicht verschmiert. Der Vorteil an Kontaktlinsen ist doch: sie stören nicht bei Regen. Der Vorteil der Brille: es lässt sich besser weinen. In Wirklichkeit ist der Unterschied echt überschaubar. Niemand wird übersehen, weil er Kontaktlinsen oder Brille trägt. Und zum schöne-Augen-machen sollte es auch egal sein: Wer glaubt, dass Brille besser ankommt, sollte ruhig mal Kontakt-Linsen einsetzen. Auf der nächsten WG-Party, auf der ihm die Augen deshalb tränen, wird ihm dadurch vielleicht sogar die Kontakt-Aufnahme erleichtert: „Sag mal weinst Du, oder ist das der Regen...?“

Déjà-vu? Ja genau, es gab schon mal so einen Trend. Das modische Statement der vierten Klasse: die Zahnspange. Egal ob locker oder fest – unheimlich cool. Es blitzte und blinkte im Mund und war irgendwie exotisch. Wer keine Zahnspange hatte, wollte unbedingt eine haben. Spätestens mit 16 aber war die Spange nicht mehr cool, sondern verhasst. Tat weh. Und schön sah sie auch nicht aus.

Und im Studium? Da ist es doch auch egal, ob Brille oder Kontaktlinse – am Ende zählt nicht die Mode, sondern nur eins: dass wir den Durchblick haben.

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Fakt ist ... ... dass die Ruhr-Universit채ten noch nicht im Web 2.0 angekommen sind. Nur Wenige finden ihre Uni auch bei Facebook gut.

GrafikVinzent friedrich recherchesehbastian hetheier

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Ein Semester Party Neulich in Deutschland: Gegen die Zeit, gegen die Polizei, gegeneinander. Text/Fotojanne huet, zacharie Bustreau, Nicolai Lisberg PROTOKOLLSEBASTIAN HETHEIER

Wir sehen überragend aus. Die Männer tragen einen Anzug, die Frauen haben die schönsten Kleider rausgesucht. Die Uhr zeigt fast Mitternacht an. Mit Champagner in der Hand stehen wir alle vor der Studentenkneipe „Area 51“ am Gardenkamp in Dortmund. Der Champagner wird geöffnet und die Menschen gratulieren einander, fast so, als sei Silvester. Aber man kann auch im Frühjahr den Jahreswechsel feiern.

betrunken bin. Das finde ich ganz wunderbar!“ Weil wir zu laut waren, taucht um 2.30 Uhr die Polizei auf und beendet unsere Erasmus-Party. Normalerweise bedeutet das auch das Ende des Abends, aber nicht für uns. Die Party wird in der Wohnung einer Studentin fortgesetzt. Wir starten einen Armdrück-Wettbewerb.

Die selbsternannten Meister von Dänemark und Mexiko fangen an. Das Später, in der WohnheimSpiel beginnt, die Gegner Disco ist die Stimmung halten ihren Atem an. Der Camille mag an ihrem Erasmus-Semester vor allem die Partys. ganz toll. Verschiedene Kampf bleibt unsicher, bis Lieder aus den 90ern dröhnen aus den Lautsprechern und wir tander Däne eine entschlossene Handlung macht und gewinnt. Auch zen. Eines von den tanzenden Mädchen ist eine Freundin von uns, die Frauen kämpfen gegeneinander, bis der Glaube an die eigenen Camille Bertrand (21) aus Frankreich. Sie wohnt seit Oktober in Fähigkeiten wächst und sie die Männer herausfordern. Dortmund und mag das Erasmus-Leben, besonders die Partys. „Es ist ganz wunderbar mit so vielen Leuten aus so vielen verschiedenen Die Party dauert noch vier Stunden. Wir trinken, lachen, feiern. Ländern zu feiern. Das ist eigentlich das, was die Erasmus-Partys Die letzten Gäste verlassen die Wohnung um 6.30 Uhr. Wir wollen ganz besonders macht. Jede Person bringt verschiedene Traditionen alle noch ein bisschen schlafen, bis der nächste Tag beginnt – und und verschiedene Arten zu feiern mit und wenn man all das kombidie nächste Party. niert, bekommt man eine tolle Party.“ Aber obwohl man vielleicht viel trinkt, glaubt Camille Bertrand, dass man sein Deutsch auf diesen Partys verbessert. „Es ist einfacher deutsch miteinander zu sprechen, wenn ich vielleicht ein bisschen 05

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Einblicke Sah es hier eigentlich immer schon so aus? Bei unserem Blick in die Bildarchive der vier UniStandorte zeigt sich: Die Studenten wechseln, der Campus bleibt. FOTOSELLEN BRINKMANN

Typisch f체r den Bochumer Campus: Waschebton, wohin das Auge schweift - heute wie damals.

Vorzeigebau an der TU Dortmund Ende 1973: Der Geb채ude-Komplex EF50. Parkplatzprobleme? Fehlanzeige.

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Vom Einheitsgrau-braun zum Regenbogen-Turm: Der Sitz der Verwaltung am Campus der Uni Essen.

Fast so schick wie früher ist die Uni Duisburg, hier das Gebäude LF, Lotharstraße 65, renoviert 1986.

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Der Tattoo-Prof Stefan Schaak (37) ist immer im Wandel: Bis Oktober 2011 hatte er an der Uni Bochum einen Lehrauftrag in den Fächern Orientalistik und Islamwissenschaft. Heute widmet er sich mit Studenten eigenen Projekten - die nötige Inspiration holt er sich durch Meditation. TEXTHENRIKE FISCHER, INGO MARTIN SCHMITZ FOTOFLORIAN HÜCKELHEIM

Seine Stechpalme, die noch keinen Namen hat, aber weiblich ist, brachte er aus seinem Bochumer Büro mit. Das Wachstum der Namenlosen bedeutet für ihn Harmonie.

Auf seinen Oberarm ließ sich Schaak das Symbol für „Mensch und Wort“ stechen. Probleme bereiten ihm die Bildchen im Alltag nicht. Die meisten Reaktionen der Studenten und Kollegen sind positiv.

Geräusche unterstützen Schaak beim Meditieren. Dafür benötigt er den Gong und die Klangschale. Mit christlicher Liturgik kann er nicht viel anfangen, dennoch mag er das Läuten der Kirchenglocken.

Feuer ist für Schaak ein vergängliches Element. Es steht für die Sterblichkeit aller Dinge.

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Sag mal, Prof Werden wir heute eigentlich noch von Politikern oder von Lobbyisten regiert? PROTOKOLLSEBASTIAN HETHEIER FOTOSFLORIAN HÜCKELHEIM ILLUSTRATIONGERD ALTMANN/ALLSILHOUETTES.COM/PIXELIO.DE

Britta Rehder ist Professorin für Politikwissenschaft an der Uni Bochum. Von ihr will Lehramts-Studentin Anna Gerlach (22) wissen: Haben Politiker überhaupt noch Macht?

Dass die Lobbys gezielt Kontakte zu Parlamentariern unterhalten, um direkten Einfluss zu nehmen, wird gerne kritisiert, ist aber Teil des normalen politischen Tagesgeschäfts. Ein Umstand der aber immer stärker hinterfragt wird. Unabhängige Vereine wie „Lobbycontrol“, die als „watchdogs“ fungieren, haben sich zur Aufgabe gemacht Lobbyarbeit in der Politik zu überwachen. Hier steht die Forderung nach Transparenz, die für die Öffentlichkeit wichtig ist.

Lobbyarbeit ist eine Form von Interessenvertretung und in einer Demokratie wollen wir, dass verschiedene Interessen vertreten und in der Politik umgesetzt werden. Der Staat möchte damit, dass die Lobbys sich einbringen, denn ohne diese Mitarbeit wäre unsere Regierung nicht handlungsfähig. Oft ist er auf die Expertise der Lobbys angewiesen und umgekehrt möchten die jeweiligen Interessengruppen, dass Politik für sie gemacht wird. Es herrscht also eher ein miteinander. Dabei entsteht ein komplexes Beziehungsgeflecht das zwar problematisch ist und Anlass für Kritik birgt, aber sicher nicht pauschal verurteilt werden sollte.

Die politische “Heimlichtuerei“ aber, all das, was unter Ausschluss der Öffentlichkeit hinter verschlossenen Türen passiert, ist notwendige Bedingung für funktionierende Politik. Sonst könnten keine Abkommen oder Verträge geschlossen werden. Unter hundertprozentiger Transparenz und ständiger Kontrolle wäre politische Arbeit nicht möglich und schädlich für das System. Welche Folgen radikale Transparenz für politische Systeme haben kann, haben bereits zahlreiche „WikiLeaks“-Veröffentlichungen gezeigt.Der Einfluss der Lobbys lässt sich nicht ausschalten, es muss aber unser Anspruch sein zu kontrollieren, dass er nicht zu groß wird.

Im politischen System Deutschlands ist die Vertretung von Interessen de facto asymmetrisch. Unternehmen aus der Wirtschaft oder aktuell Banken, haben bessere Chancen auf politische Einflussnahme als beispielsweise Sozialverbände. Für den Staat sind die dem wirtschaftlichen Wohlstand erwachsenden Steuereinnahmen nämlich unverzichtbar. Zudem wirkt hier der Vorteil der kleinen Gruppen. Nehmen wir das Beispiel Atomausstieg. Die Atomlobby besteht aus einer Handvoll Unternehmen, welche die gesamte Branche repräsentieren. Kleinere Gruppen haben bei einem wichtigen Wirtschaftszweig wie der Energievorsorgung bessere Chancen auf eine schnelle Einigung mit der Politik. Was zusätzlich von der heutigen Realpolitik begünstigt wird, die der Regierung schnelle Entscheidungen abverlangt.

Was wolltest du schon immer wissen? Mail es uns an gutefrage@pflichtlektuere.com Die besten Fragen lassen wir von Experten im Heft beantworten. 09

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NC-Flucht in

Wer Arzt werden will, muss einen langen und steinigen Weg

von Zuhause entfernt – in Riga. Dort hat sie sich mi Studienplatz erkämpft. Auf den hätte sie in

TEXTLéonie lauer, Lena Christin Ohm Foto Florian Hückelhei

Leise quietschen die Turnschuhe auf dem PVC-Boden, als Gina den Flur der Reha-Klinik im oberbergischen Nümbrecht entlang läuft. Sie reibt ihre Hände aneinander, damit das Desinfektionsmittel schneller trocknet, bevor sie nach dem nächsten Patienten schaut. Es ist der letzte für heute, danach kann sie ins Bett. Es ist vier Uhr nachts – nicht gerade die Zeit, zu der man als Praktikantin in Deutschland normalerweise arbeitet. Schon gar nicht freiwillig. Doch Gina schlägt sich gerne die Nächte um die Ohren und verzichtet aufs Feiern. Sie will Medizin studieren – um jeden Preis.

„Ich wollte es unbedingt versuchen. Denn etwas anderes als Medizin kann ich mir nicht vorstellen“, sagt sie. Um ihren Notenschnitt zu verbessern, machte sie den „Test für medizinische Studiengänge“, bei dem unter anderem Merkfähigkeit und räumliches Vorstellungsvermögen bewertet werden. Gina besuchte Vorbereitungskurse, brütete über den Übungsbögen und investierte 530 Euro in Kursgebühren, Unterlagen und Anmeldegebühr – vergeblich!

Ansturm auf die Studienplätze

Dieser Traum schien jedoch mit ihrem Abitur 2010 vorerst zu platzen: Gina kam nur auf einen Schnitt von 2,0. Der Numerus clausus im Fach Medizin liegt aber normalerweise im oberen Einserbereich. Und davon war sie weit entfernt. Aber direkt aufgeben?

Ihr Testergebnis konnte ihre Abi-Note nicht verbessern. Dennoch bewarb sie sich um einen Medizinstudienplatz. „Weil ich wusste, wie schlecht meine Chancen waren, habe ich mir extra die unbe10

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ins Ausland

nigen Weg gehen. Für Gina (21) beginnt er 1500 Kilometer

e sich mit Hartnäckigkeit und Einfallsreichtum einen

tte sie in Deutschland lange warten müssen.

Florian Hückelheim, privat- ILLUSTRATIONJULIA HORTIG, TIMO SPIESS

Uniklinikum Bergmannsheil in Bochum. Vor allem die anhaltende Diskussion um den Ärztemangel auf dem Land macht deutlich, wie schwierig die Situation ist. „Wir können jetzt aber trotzdem nicht plötzlich anfangen, fünf- oder zehntausend mehr Ärzte im Jahr auszubilden“, so Langer, „die sitzen dann auf lange Sicht gesehen auf der Straße. Und das will auch niemand.“ Eine Lösung des Problems ist noch nicht in Sicht.

liebtesten Unis rausgesucht und sie auf die höheren Listenplätze gesetzt“, sagt Gina. Aber selbst das hat nichts gebracht. Sie war nur eine von insgesamt 40.387 Bewerbern im Wintersemester 2010/11, die sich um einen der 8.629 Medizin-Studienplätze bewarben. „Viel zu wenige“, murren abgewiesene Abiturienten. Die Bewerberzahl ist in den vergangenen zehn Jahren um rund 20.000 gestiegen, während nur knapp 1.000 neue Studienplätze geschaffen wurden.

Vom Gerichtssaal in den Hörsaal?

War früher das Verhältnis noch 1 zu 2,5, so kommen heute auf einen Studienplatz schon fünf Bewerber. Nur knapp 20 Prozent der Abiturienten schaffen es also an eine der 15 deutschen Medizinfakultäten. „Wenn schon Bewerber mit einem Abitur im unteren Einserbereich abgewiesen werden, dann ist das echt hart“, sagt Professor Doktor Stefan Langer (42), Leitender Oberarzt am

„Es ist doch unmöglich, dass man hier auf direktem Weg schon fast keinen Medizin-Platz mehr bekommt“, ärgert sich Gina. Mit den vom Hochschulstart berechneten zwölf Wartesemestern wollte sie sich nicht abfinden – und engagierte einen Anwalt. 11

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Das ist schon fast normal geworden: In den letzten Jahren gab es eine regelrechte Klagewelle von Studienbewerbern, die versuchten, den Weg an die Uni über den Gerichtssaal zu gehen. Beim Verwaltungsgericht München vervierfachte sich die Anzahl der Eilanträge und auch in Frankfurt stapeln sich 1060 Studienplatzklagen – Tendenz steigend. Bei der Klage berufen sich die Abiturienten auf Artikel 12, Absatz 1 des Grundgesetzes: „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf [...] und Ausbildungsstätte frei zu wählen.“ Das funktioniert deshalb, weil die Kapazitätsberechnungen einiger Hochschulen fehlerhaft sind: Wenn ein Professor weniger lehrt und mehr forscht als vertraglich vereinbart, kann die Uni das Studienangebot nicht voll ausschöpfen. Wenn die Anwälte solche Fehler in der Berechnung entdecken, müssen neue Studienplätze geschaffen werden. Meistens sind das nur zehn bis 15 Plätze, die unter allen Klägern ausgelost werden. Dabei hatte Gina wieder kein Glück: Obwohl sie es an 15 Universitäten versuchte, bekam sie keinen Platz. „Ich war unheimlich enttäuscht, als selbst das nicht geklappt hat“, erinnert sie sich. Die Anwaltskosten musste ihre Familie selbst übernehmen. „Ich hätte mich auch bei nur einer Uni einklagen können, aber es ist unwahrscheinlich, gerade dort ausgelost zu werden.“ Eine einzige Klage kostet schon ungefähr 1500 Euro. Das muss man sich erst einmal leisten können.

Praxis oder Privatuni?

Gina hat ihr Studium selbst in die Hand genommen.

In der Wartezeit machte Gina mehrere Praktika in der Neurologie und Orthopädie einer Reha-Klinik und ein OP-begleitendes Praktikum in einer HNO-Praxis. „Ich wollte nicht nur rumsitzen, sondern auch ohne Studium schon was lernen“, sagt sie. Doch eine Ausbildung kam für Gina nicht in Frage. Einerseits, weil eine medizinische Ausbildung nur an wenigen Unis den Schnitt hebt. Und andererseits, weil sie nach drei Jahren noch mindestens sechs Wartesemester gehabt hätte. „Es hätte sich für mich nicht gelohnt, weil ich keine Ahnung habe, wie hoch meine Wartesemester wirklich sind. Immerhin habe ich nach zwei Semestern Warten immer noch zwölf“, erzählt sie. Und das vermutlich auch nur, weil man offiziell nicht mehr als zwölf haben kann und sich die Anzahl nicht erhöhen darf. So kann es passieren, dass die Anzahl der Wartesemester oft ein bis zwei Jahre lang gleich bleibt. Also versuchte Gina es bei der Privatuni Witten/Herdecke. Neben den obligatorischen Bewerbungsunterlagen musste sie einen handgeschriebenen, tabellarischen Lebenslauf, einen ausführlichen Lebenslauf auf PC, ein Motivationsschreiben, eine Bescheinigung über ein sechsmonatiges Krankenpflegepraktikum und eine schriftliche Bildinterpretation abgeben. „Das ist ein vollkommen verrücktes Verfahren“, findet sie. „Warum soll ich denn eine Parkbank im Schatten interpretieren, wenn ich Medizin studieren will?“ Die Antwort darauf weiß Eric Alexander Hoffmann, Sprecher der Universität Witten/Herdecke: „Es geht um das Persönlichkeitsprofil der Bewerber. Eine Bildinterpretation hilft da ungemein.“ Es gäbe keine richtigen oder falschen, sondern nur interessante Antworten. Und der handgeschriebene Lebenslauf diene dazu, die Motivation der Bewerber zu testen. „Wir wollen nicht eine Bewerbung unter

Prof. Dr. Stefan vom Uniklinikum Bergmannsheil in Bochum. 12

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„Das liegt auch daran, dass die Situation für Ärzte hier nicht mehr so gut ist wie früher“, erklärt Langer. Immer weniger Medizin-Absolventen entscheiden sich für die Patientenversorgung und immer mehr für einen besserbezahlten Job in der Industrie. Und von denen, die behandelnde Ärzte werden wollen, wandern jedes Jahr viele ins Ausland ab - 2010 waren es laut Bundesärztkammer über 2220. „Da muss nachgebessert werden: Es kann nicht sein, dass wir Ärztemangel haben, ein Großteil der Abiturienten keinen Studienplatz bekommt und von den Medizin-Absolventen dann auch noch etliche in die Industrie oder ins Ausland gehen“, kritisiert Langer. „Und um die Lücken zu füllen, werden Ärzte aus Rumänien oder Ungarn angeworben, die hier erhebliche Sprachprobleme haben.“

vielen sein, hinter die man einen Haken macht, deshalb fordern wir mehr“, erklärt Hoffmann. Und obwohl eine Bewerbung in Witten/ Herdecke anstrengender ist als an staatlichen Unis, bewerben sich jedes Jahr rund 900 Abiturienten auf die 42 Studienplätze für Medizin. Aber Gina war keine der glücklichen 42.

Kein Glück in den Niederlanden Deswegen hieß es: Bewerbung in den Niederlanden, in der Hoffnung auf einen NC-freien Studienplatz. Um sich dort bewerben zu dürfen, musste Gina Kurse in Physik, Chemie und Niederländisch nachweisen. Auch dafür musste sie tief in die Tasche greifen: Rund 1600 Euro kosteten die Prüfungen. Aber als Deutsche landete sie wie alle Ausländer automatisch in der schlechtesten Kategorie. Dort werden die Studienplätze nur im Losverfahren vergeben. Und wieder ging Gina leer aus. „Als der Ablehnungsbescheid kam, war das echt hart. Jetzt musste ich mindestens noch ein halbes Jahr warten, bis ich mich wieder irgendwo bewerben konnte.“ Langsam wurde die Enttäuschung von Frustration und Hoffnungslosigkeit abgelöst.

Auch Gina fände es schwierig, später mal in einem Krankenhaus im Ausland zu arbeiten. „In einer anderen Sprache Patienten zu versorgen, stelle ich mir ziemlich kompliziert vor“, erzählt sie. „Das sieht man ja auch an vielen ausländischen Ärzten hier: Teilweise können sie ihre Patienten einfach nicht verstehen.“

Zukunft in Riga

Um zu sehen, ob nicht doch etwas anderes als Medizin für sie in Frage käme, schrieb sich Gina im Sommersemester 2011 an der Uni Maastricht ein. Extra in den Niederlanden, weil dann die Wartesemester in Deutschland weiterzählen. „Ich dachte, irgendwas muss es doch geben, was ich vielleicht sonst machen möchte. ‚European Studies‘ war auch ganz nett, aber es kommt für mich nicht an Medizin ran“, erzählt sie. So denken viele Abiturienten in Deutschland. Der einzige Ausweg: Im Ausland studieren und hoffen, dass man irgendwann an eine deutsche Uni wechseln kann. Möglichst direkt nach dem Physikum, um die wichtigen Sachen auf Deutsch zu lernen. Auch wenn ein Studium im Ausland sehr teuer werden kann – schließlich sind nicht überall die Studiengebühren so niedrig wie in Deutschland.

Bis Gina sich darüber Gedanken machen muss, dauert es noch. Denn erst mal geht’s für die Gummersbacherin nach Lettland. Dort hat sie nach mehreren Bewerbungen an ausländischen Unis endlich einen Studienplatz bekommen. Seit dem Sommersemester 2012 studiert sie an der Lettischen Universität in Riga Medizin. An den Studienplatz ist sie durch die Organisation „College Contact“ gekommen. „Lettland ist zwar total weit weg, aber die Vorlesungen sind auf Englisch und das Studium ist fast genauso organisiert wie in Deutschland“, sagt sie. Nach dem Physikum will sie an eine deutsche Uni wechseln – wenn ein Platz frei wird. So machen es viele Studenten in Riga. Da müssen sie zwar pro Jahr rund 7000 Euro an Studiengebühren bezahlen, aber immerhin können sie Medizin studieren. 1582 Kilometer weit weg von zu Hause. Und das alles für den Traumberuf.

Diese Alternative hätte auch Langer gewählt, wenn er nicht nach seiner zweijährigen Bundeswehrzeit einen Medizin-Studienplatz bekommen hätte. Nach seinem Abitur 1989 hätte niemand damit gerechnet, dass er mal Professor Doktor wird – mit einem Schnitt von 2,4, noch schlechter als Gina. „Ich hätte nie sechs Jahre lang auf meinen Studienplatz gewartet“, erzählt er, „da hätte ich eher einen Kredit aufgenommen, um im Ausland zu studieren.“ Soweit kam es aber nicht: 1992 bekam er einen Studienplatz in München, an einer der beliebtesten Unis für Medizin. „Da hatte ich Glück - vor 20 Jahren war die NC-Situation noch nicht so verrückt wie heute“, gibt Langer zu.

Deshalb verschwinden die Ärzte Statt mehr Plätze zu schaffen, werden Ärzte aus dem Ausland angeworben, um die zahlreichen unbesetzten Stellen zu füllen. Im Jahr 2010 kamen laut Bundesärztekammer 1.847 ausländische Ärzte nach Deutschland, die meisten davon aus Osteuropa. Die Zahl der angeworbenen Mediziner ist in den vergangenen zehn Jahren um über 70 Prozent angestiegen – damit stellen sie fast sechs Prozent der in Deutschland tätigen Ärzte dar. 13

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Unerforschte Fächer Gießereitechnik, Kristallographie, Mineralogie? Noch nie gehört von diesen Studiengängen? pflichtlektüre hat sich auf die Suche nach unbekannten Studiengängen in den Untiefen des Vorlesungsverzeichnisses gemacht. Mit überraschendem Ergebnis. TExtAlexandra Ossadnik FotosFlorian Hückelheim, Alexandra ossadnik

Die Mineralogie-Studentinnen Frauke Petersen (24) und Ann-Katrin Stolze (25) sitzen am Röntgenfluoreszenzspektrometer der RUB.

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Was? Das kann man studieren? Diese Frage haben die beiden Masterstudentinnen Ann-Kathrin Stolze (25) und Frauke Petersen (24) schon oft zu hören bekommen. Und viele der Frager staunen, welche Jobaussichten den beiden offenstehen und das mit dem Abschluss im Fach Mineralogie. Doch nicht nur in diesem exotischen Studienfach stehen den Absolventen Tür und Tor bei potenziellen Arbeitgebern offen. Ann-Kathrin und Frauke sind im dritten Mastersemester Mineralogie an der Ruhruniversität Bochum und vollauf begeistert. „Ich fühle mich pudelwohl, vor allem die vielen Möglichkeiten innerhalb des Studiums und später im Beruf haben mich überzeugt“, sagt Ann-Kathrin. In der Mineralogie beschäftigt man sich hauptsächlich mit Gesteinen und Gläsern. Hört sich langweilig an, ist es für Ann-Kathrin aber nicht: „Ich bin sehr zufrieden. Als ich mein Studium anfing, hatte ich keine Ahnung, wo ich mit diesem Abschluss arbeiten kann.“ Mittlerweile weiß die Master-Studentin, was sie will und bereut ihre Entscheidung nicht. Mineralogen können sowohl in der Industrie als auch in der Forschung arbeiten. Beim Automobilhersteller Ford kommen sie zum Einsatz, wenn es darum geht neue Lacke zu entwickeln. In der Pharmaindustrie braucht man die Experten der RUB zur Herstellung von Medikamenten. Selbst beim Bundeskriminalamt können Mineralogen arbeiten. Dort helfen sie unter anderem bei der Spurenanalyse.

Frauke Petersen und Ann-Kathrin Stolze im Labor der Mineralogie.

Industrie auszutauschen und zusammen zu arbeiten. Zusätzlich organisieren die Dozenten zahlreiche Exkursionen. Ann-Kathrin war mit ihrem Studiengang schon in Brasilien und Spanien. Um Geld zu sparen haben die Studenten während der kompletten Exkursion in Zelten geschlafen. Für den nötigen Abenteuerfaktor ist also gesorgt.

„Die Mineralogie hat viele Einsatzgebiete. In der Planetargeologie, den Umweltwissenschaften, bei den Ingenieuren, in der Forschung zur Lagerung radioaktiver Abfälle. Da gibt es viele Möglichkeiten“ sagt Sumit Chakraborty, Professor für Mineralogie und Petrologie an der RUB. Frauke findet dieses Thema spannend. „Mich faszinieren natürliche und synthetische Gläser. Damit lassen sich radioaktive Abfälle einschließen. Ein weiterer Schritt Richtung sicherem Endlager“, sagt Frauke. Sie ist begeistert und will nach ihrem Studium in der Industrie zu diesem Thema forschen. Bis Studenten allerdings soweit sind, müssen sie zunächst ihren Bachelor in der Fachrichtung Geowissenschaften machen. Im Master-Studium haben sie dann die Wahl zwischen sechs verschiedenen Vertiefungsrichtungen. Darunter etwa Mineralogie, Petrologie und Kristallographie.

Großer Ansturm Bevor die Studiengebühren abgeschafft wurden, haben sich jährlich circa 60 Studenten für das Studium angemeldet. „Dieses Jahr waren es 350“, berichtet Pia, die auch Mitglied im Fachschaftsrat ihrer Fakultät ist. Um dem Ansturm der Studenten Herr zu werden, wird das Studium der Geowissenschaften im kommenden Wintersemester mit einem NC belegt. Zwar sind Studienplätze heiß begehrt, doch machen nur etwa 40 Prozent der Studenten auch den Abschluss. „Die Arbeitsmarktchancen sind allerdings hervorragend. Wir haben sehr wenige Absolventen, die arbeitssuchend sind oder ausbildungsfern arbeiten“, sagt Dr. Thomas Fockenberg vom Institut für Geologie, Mineralogie und Geophysik an der RUB. Minen- und Ölfeldunternehmen, die sogenannten Explorationsfirmen, suchen händeringend nach Fachkräften. Pia, Ann-Kathrin und Frauke wird’s freuen.

Attraktive Vielfalt Pia Schröer (24) hat hingegen den Studiengang Kristallographie an der RUB für sich entdeckt. Der Unterschied zur Mineralogie: Die Kristallographie beschäftigt sich mit den Atomen und Molekülen der Gesteine. Kristalle sind nahezu überall zu finden. Sie stecken in Solarzellen, Medikamenten, sogar in Anti-Falten-Cremes. Das macht das Feld für Pia so interessant. Eigentlich wollte sie Japanologie und Medienwissenschaften studieren. Doch nach dem Abi rieten die Eltern ihres damaligen Freundes zu dem exotischen Studiengang. „Von alleine wäre ich nicht auf die Idee gekommen, Geowissenschaft zu studieren. Die Eltern meines Ex arbeiten allerdings bei Bayer. Sie haben mir von dem Studiengang vorgeschwärmt“, sagt sie. Zudem lockt das Institut für Geologie, Mineralogie und Geophysik mit zahlreichen Kooperationen. Diese ermöglichen es den Studenten, sich mit Kollegen aus anderen Fakultäten und der

Doch nicht nur den beiden steht eine glänzende Zukunft bevor. Auch die Universität Duisburg Essen (UDE) kann mit einem wahren Exoten-Studiengang ihre Studenten begeistern. Mitten im Gewerbegebiet Duisburg-Ruhrort, am Ende einer Sackgasse, steht vor dem Panorama des Ruhrgebiets das Institut für Angewandte Materialtechnik. Der blaue Gebäudekomplex ähnelt eher einem Schulgebäude, beherbergt im Inneren aber das Institut für Gießereitechnik der Universität Duisburg-Essen – inklusive einer eigenen Gießerei. Thomas Steinhäuser ist seit 1995 Professor am Institut für 15

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Gießereitechnik-Studenten bei der Arbeit: So wie hier werden zahlreiche Gußformen hergestellt.

stellung kommt von einer Firma, die mit dem Institut kooperiert. Ein halbes Jahr lang arbeiten die Studenten in der jeweiligen Firma an ihrem Projekt, nutzen die Maschinen und Arbeitsräume ihres Arbeitgebers und werden als Arbeitskraft bezahlt. Die Ergebnisse stellen die Absolventen auch dem Betrieb zur Verfügung. In bis zu 70 Prozent der Fälle bleiben die Studenten direkt bei diesem Arbeitgeber, bei dem sie ihre Abschlussarbeit geschrieben haben. „Deswegen haben wir auch kaum Master-Studenten hier. Die Betriebe werben die Absolventen umgehend ab“, sagt Professor Steinhäuser.

Gießereitechnik. Er war schon dabei, als das Fach noch ein eigenständiger Studiengang an der UDE war. Heute gehört das Fach zum Studiengang Maschinenbau und wird noch als Vertiefungsrichtung gelehrt. „Früher waren die meisten unserer Studenten ausgebildete Handwerker, die zu uns kamen, um sich weiterzubilden. Heute hält es sich die Waage mit den Studenten, die sofort nach dem Abitur Maschinenbau studieren“, sagt Steinhäuser.

Interesse aus der Praxis

Beste Aussichten also für Studenten der Gießereitechnik. Mehr noch: Laut einer Engpassanalyse der Arbeitsagentur Nürnberg werden Fachkräfte in der Ingenieursbranche benötigt. Im Metallbau-Bereich zeigt sich in NRW wie in ganz Deutschland ein großer Mangel an Fachkräften. Auf eine gemeldete Arbeitsstelle bei der Arbeitsagentur kommen in Deutschland nur 3,9 arbeitslose Ingenieure/Gießereitechniker. Professor Steinhäuser weiß ohnehin, wo er seine Studenten nach ihrem Abschluss unterbringen kann: „Wir entlassen den Großteil unserer Studenten mit einer Beschäftigung, die tauchen in den Statistiken der Arbeitsagentur gar nicht auf. Wir haben institutseigene Stellenanzeigen, die gar nicht bei der Arbeitsagentur landen und auf die sich die Studenten schon während des Studiums bewerben“. Imke Jansen würde nach ihrem Studium gerne als Produktionsleiterin arbeiten. Sie sucht momentan nach einem Praktikum. Das dürfte allerdings nicht lange dauern.

Im Wintersemester meldeten sich zwölf Studenten der UDE an. Imke Jansen (23) ist eine von ihen und eine von nur drei Frauen. Sie ist mittlerweile im fünften Semester ihres Maschinenbau-Studiums. „Für dieses Studium hab ich mich wegen der Mischung aus naturwissenschaftlichen Fächern und der Praxis entschieden. Ich liebe Naturwissenschaften“, sagt Imke. Bei einer Exkursion zur Gießerei im dritten Semester erfuhr sie von dem Fach. „Ich fand es sofort spannend“. Seitdem pendelt sie zwischen Gießerei und Hörsaal und arbeitet mittlerweile selbst an den mannshohen Maschinen. In den ersten drei Semestern bekommen die Studenten eine grundlegende Einführung in die Welt des Maschinenbaus. Im fünften und sechsten Semester werden dann Grundlagen der Gießereitechnik gelehrt. Der Schwerpunkt liegt auf den Vorlesungen, doch etwa ein Viertel der Zeit verbringt jeder Student in der Gießerei und stellt Gussformen oder kleine Gusswerke her, zum Beispiel Reißverschlüsse. Im letzten Semester geht es dann an die Bachelorarbeit, die sich von denen anderer Institute deutlich unterscheidet. Denn die Aufgaben16

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Manche treibens bunt Special Operations: Dildos, Gleitgel, Vibratoren – Was manch einer sorgfältig im Nachttisch versteckt, bringt Stefanie W. mit zur Arbeit. Ihr Job: Als Liebesengel Steffi Dildopartys schmeißen. TextKatja Vossenberg FotoFlorian Hückelheim

Im Glas prickeln leise die Sektbläschen vor sich hin, der Raum riecht nach einer blumigen Duftkerze und es herrscht eine neugierige Spannung. Stefanie W., in ihrem Job besser bekannt als Liebesengel Steffi, macht ihren Koffer auf: Die ersten Mädels aus der Runde schauen schon neugierig hinein. Was mag ihnen Steffi in den nächsten eineinhalb Stunden wohl alles zeigen?

vergangenen Sommer in den Kreis der „Vertriebsagentur Liebesengel“, wie es offiziell heißt, aufgenommen. Mit ihrem Nebenjob ist sie sehr zufrieden: „Man trifft einfach so viele Menschen. Ob Studentinnen, ältere Frauen, Verheiratete oder die Dorfjugend, die einfach Langeweile hat – das ist spannend.“ Manchmal sind bei den Partys auch Männer dabei. Für Stefanie ist das kein Problem. „Meistens sind die viel schüchterner als die Frauen. Viele haben zwar eine große Klappe, aber viel Respekt vor dem Thema.“ Einmal hat sie es geschafft, einen Mann richtig in Verlegenheit zu bringen. „Als ich seinen Finger genommen habe und in die so genannte ‚Taschenmuschi‘ gesteckt habe, da ist er hochrot geworden“, erinnert sie sich.

So oder so ähnlich kann es aussehen, wenn die Studentin ihrem Job als Liebesengel Steffi nachgeht und Dildopartys veranstaltet. „Meistens fange ich mit kleineren, spielerischen Sachen an“, so die Studentin. Dann holt sie das Spielzeug raus: Den kleinen, grünen Dildo, der geformt ist wie ein Wurm. Oder aber das Modell in lila, mit Blümchen verziert und einem kecken Maulwurfkopf. Dildos im Koffer von Liebesengel Steffi gibt es eigentlich in allen möglichen Variationen: aus Silikon oder Naturlatex, aber auch Edelstahl oder Glas. Sobald sie ihre Ware auspackt, läuft die Party eigentlich von alleine. Jede will mal gucken, die meisten Mädels auch anfassen. Während die eine noch etwas beschämt kichernd zur Seite schaut, greift die andere schon forsch zum lila MaulwurfDildo und begutachtet ihn. „Das kann dann auch schon einmal ein bisschen ausarten. Einmal hatte ich sogar eine Art ‚Schwertkampf‘ mit zwei Dildos“, erzählt Stefanie schmunzelnd.

Mit ihrem Studium an der FH Dortmund ist der Job leicht zu vereinbaren. „Ich kann sehr spontan und selbstständig arbeiten“, meint Stefanie. Während der Prüfungszeit macht sie keine Partys. Ansonsten können es schon mal drei im Monat werden. Mit einem Verdienst bis zu 200 Euro pro Abend ist Liebesengel auch nicht der schlechteste Job: „Es hängt immer davon ab, wie viel die Leute kaufen.“ Bis sie ihr Studium abgeschlossen hat, wird sie auch noch sicherlich weiter als Liebesengel Steffi Dildopartys schmeißen.

Liebesengel ist die Elektrotechnik-Studentin aus Recklinghausen zufällig geworden. Zu ihrem Geburtstag war sie selber einmal Dildoparty-Gastgeberin. „Ich war dem Thema einfach sehr offen gegenüber und habe mich ein bisschen mit der Beraterin unterhalten.“ Nach weiteren Gesprächen wurde die 24-Jährige im

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Carsten Baltzer: „Glück ist für mich, das zu erreic

Mit Glück zum Erfolg Wer im Job glücklich sein will, braucht eine Arbeit, die Spaß macht. Die Risiken: Wenig Geld, kaum Jobs, keine Aufstiegschancen. Doch Studien zeigen: Die Angst ist unbegründet. Wer Mut beweist und sein Glück verfolgt, wird am Ende belohnt. Vier Glückssucher zeigen, wie es geht. TextMatthias Wiesel, Christina Wilkes MitarbeitJana Hofmann FotoSFlorian Hückelheim

Die Ruhe vor dem Sturm in der Rettungswache des Roten Kreuzes an Dortmunds Ruhrallee. Gerade werden die letzten Lappen und Gummiflitschen weggeräumt, zwei blitzblanke Einsatzwagen stehen in der Halle. Dann geht plötzlich alles ganz schnell: Die Piepser schlagen Alarm. Drei Männer in Rettungsjacken stürmen in den Wagen, der Motor springt an und der Einsatzwagen rast mit Blaulicht aus der Halle. Lukas Rohm guckt ihnen hinterher. Am liebsten wäre er selbst in den Wagen gesprungen. Aber der 21-jährige hat Dienstschluss. Seit September macht Lukas eine Ausbildung zum Rettungsassistenten. Immer noch ist er bei jedem Notfall aufgeregt: Der Adrenalinstoß, wenn das Signal in die Wache kommt, wenn der Wagen mit Blaulicht durch die Straßen fegt. Der Moment, wenn ein Patient „Danke“ sagt und in Lukas‘ Augen schaut – das ist sein

Glück. „Ich würde eingehen, wenn ich das nicht mehr machen könnte, das wäre das schlimmste, was passieren kann.“ Noch nie war das Thema „Glück“ so beliebt wie heute. In Büchereien füllt die Literatur dazu meterweise Regalwände. Dabei sind die Herangehensweisen und Definitionen grundverschieden: Ob „Glück“ lediglich das kurzzeitige Hochgefühl meint, ein Synonym für „Zufriedenheit“ ist oder allgemein das subjektive Wohlergehen bezeichnet, ist umstritten. Die zentrale Frage aber ist, wie nachhaltiges Glück erreicht werden kann. Denn fest steht: Glücklich werden kann jeder, entscheidend ist die innere Einstellung. Was aber heißt das konkret für Studium, Ausbildung und Berufsleben? Wie finde ich den Job, der mich glücklich macht? Was mache ich, wenn ich 18 job


ch, das zu erreichen, was ich mir vorgestellt habe.“

den falschen Weg eingeschlagen habe? Und welche Rolle spielen Geld und Karriere beim Glück der Arbeit? Studien aus den USA zeigen ein überraschendes Ergebnis: Nicht der Erfolg führt zum Glück. Vielmehr führt das Glück zum Erfolg.

„Wenn man eine große Leidenschaft verspürt, sollte man sich nicht davon abbringen lassen“, erklärt die Glückstrainerin Dr. Katrin Beckmann aus Gelsenkirchen. Auf die innere Stimme zu vertrauen sei eine gute Voraussetzung, um im Beruf langfristig glücklich zu werden. Beckmann spricht aus eigener Erfahrung: Die gelernte Biologin entdeckte in Australien die Glückwissenschaften für sich. Heute hilft die 33-Jährige in Workshops und Gesprächen bei der Glücksfindung. Es sei wichtig, einen Beruf zu finden, der den eigenen Stärken entspricht, an dem man Freude hat und in dem man einen Sinn sieht. Manchmal bedeute das, ein gewisses Risiko in Kauf zu nehmen, sagt sie.

Vom Kindheitstraum zum Beruf Wenn Carsten Baltzer (24) von seinem größten Glückserlebnis erzählt, weiß er gar nicht, wo er anfangen soll: „Das muss man erlebt haben: Wenn du dich das erste Mal in die Kurve neigst, das ist einfach nur geil.“ Seit Carsten mit 15 Jahren zum ersten Mal alleine im Segelflugzeug saß, lässt ihn das Fliegen nicht mehr los. Während der Schulzeit verbrachte er fast jedes Wochenende auf dem Flugplatz. Kaum den Segelflugschein in der Tasche, nahm er Kontakt zu einer privaten Flugschule auf. Noch vor der Abiturprüfung unterzeichnete er den Ausbildungsvertrag zum Verkehrspiloten.

Seit kurzem interessieren sich auch Ökonomen, wie Dr. Adrian Chadi von der Universität Münster, für die Glücksforschung. Die ökonomische Herangehensweise setzt Glück mit Zufriedenheit gleich. Chadi vertraut vor allem auf die Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Sie zeigen, dass ein sicherer Arbeitsplatz ganz entscheidend für die Zufriedenheit ist. „Arbeitslosigkeit ist einer der größten Unzufriedenheitsfaktoren“, sagt Chadi. Von Risiko hält er deshalb nicht viel.

Dabei waren seine Eltern anfangs nicht begeistert. „Du spinnst doch“, sagten sie, als er mit 14 Segelfliegen lernen wollte. Lukas Rohm: „Glück ist, wenn man mit sich zufrieden sein kann.“ Carsten blieb hartnäckig, brachte Werbematerial mit nach Hause und konnte sie überzeugen. Als er sich für Pilot Carsten war es wichtiger, einen Beruf auszuüben, den die Pilotenkarriere entschied, unterstützen sie ihn, halfen die rund er liebt. Die Pilotenausbildung hat er vor anderthalb Jahren 70 000 Euro für die Flugausbildung aufzubringen. „Viel Geld“, abgeschlossen. Einen Platz im Cockpit hat er dennoch nicht. gesteht Carsten. Obwohl er wusste: Eine Jobgarantie gibt es nicht. 19 job


40 Bewerbungen seien seitdem zur Post gegangen. „Den ersten Test für Air Berlin habe ich bestanden“, sagt er. Jetzt kann er es kaum erwarten, endlich eine Rückmeldung zu bekommen. Denn mit dem Arbeitsvertrag würde sein Kindheitstraum in Erfüllung gehen. Bis er Gewissheit hat, arbeitet Carsten als „Ramp Agent“ am Dortmunder Flughafen. Dort koordiniert er die Abfertigung der Urlaubsflieger. Zwar sei das weder sein Traumberuf, noch bringe es viel Geld, „aber dafür habe ich weiterhin mit der Fliegerei zu tun“. An freien Tagen geht Carsten weiterhin Segelfliegen. Für die Glückstrainerin ist dieser Weg genau richtig: Klappt es nach der Ausbildungszeit nicht gleich mit dem Traumjob, sollte man sich vorübergehend etwas anderes suchen. Wichtig sei es, dass man darin den Sinn sieht, sich seine Leidenschaft zu finanzieren. „Das eigentliche Ziel sollte man auf jeden Fall weiterverfolgen“, sagt sie und empfiehlt, sich damit immer wieder kleine Glücksmomente zu verschaffen – etwa in der Freizeit. Diese würden zu nachhaltiger Zufriedenheit führen.

Glück auf Umwegen Nur die wenigsten finden ihr Glück auf Anhieb. Auch Profikoch Tom Waschat hat mit 40 nochmal neu angefangen. Dabei hatte er das erreicht, wovon andere träumen. Mit 23 Jahren war er vom Fensterputzer zum Küchenchef in einem der Novotel Hotels aufgestiegen. Kochte für prominente Feinschmecker in Luxemburg und der Schweiz und brauchte sich finanziell um seine Kinder keine Sorgen zu machen. Kochen – das war Toms Ding. Auszutesten, wie Sachen schmecken – sein kleines Glück. Und doch fehlte ihm etwas. Beim Radfahren am Niederrhein kam ihm eine Idee, die ihn nicht mehr los lies. 2008 mietete er ein leerstehendes Ladenlokal in Duisburg-Bruckhausen und eröffnete dort seine eigene Kochschule, ein Küchenlabor zum „forschen und scheitern“, wie er sagt. Offen für jeden, der mit einfachen Mitteln gesund kochen will – ganz ohne Fertigtüte. „Was mich total gestört hat: Es gab immer mehr Kochsendungen im Fernsehen, aber nie wurden dort die einfachen Sachen gezeigt.“ An drei Tagen in der Woche lädt er Kinder aus dem integrativen Kindergarten und der Grundschule an den Herd. Abseits vom Kochen gibt er BenimmTipps, bereitet sie so auf das spätere Leben vor. „Einige der Kids betreue ich jetzt seit vier Jahren. Sie sind als Problemkinder hergekommen. Vier gehen jetzt aufs Gymnasium. Das macht mich stolz.“ Wenn Tom von „Problemkindern“ spricht, weiß er, was er sagt. Selbst im sozialen Brennpunkt aufgewachsen, kennt er die Nöte vieler Kinder und Familien aus der Umgebung. „Umso glücklicher macht es mich, wenn ich sehe, dass sich etwas verändert“, sagt er. Lebensglück, für das Tom gerne auf die Sterneküche verzichtet, aber auch so manche Strapaze in Kauf nimmt. Denn seine Kochschule finanziert sich nur aus Spenden, Geld nimmt er für die Kochstunden nicht. Manchmal sei es ein Kampf, sagt Tom. „Wenn ich die Miete nicht bezahlen kann, ziehe ich umher und frage, ob ich für jemanden ein Vier-Gänge-Menü kochen kann.“ Doch das reicht nicht. Lange arbeitete er nebenbei im Nobelrestaurant, jetzt ist er wieder auf Jobsuche. Das sei verdammt hart, sagt er. Doch Tom Kai Schumacher: „Glück ist nichts Dauerhaftes und kein Zustand, Glück sind für mich viel kleine Momente.“

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ist niemand, der schnell aufgibt. Alle Dinge, die er angefangen habe, hätten funktioniert. „Weil ich nicht müde werde, dafür zu arbeiten“, sagt er. Ein wagemutiges Leben, das er liebt, weil er seine Kochschule liebt. Weil es ihn erfüllt, anderen zu helfen. Der Schritt zurück in sein altes Leben kommt für ihn nicht in Frage. „Immer häufiger orientieren sich Menschen im Beruf um“, stellt Glückstrainerin Katrin Beckmann fest. Glück spiele eine größere Rolle als früher. Das liege vor allem an einer schnelllebigeren Welt. Berufliche Veränderungen seien heute einfacher zu realisieren. Auf der anderen Seite erhöhen die gesellschaftlichen Entwicklungen aber auch den Druck: Ein Überangebot an Wahlmöglichkeiten konfrontiert die Menschen ständig mit Entscheidungen, neuste Technologien erfordern immer höheren Einsatz von jeder Arbeitskraft. Permanenter Leistungs- und Zeitdruck sind die Folgen. Dieses Arbeitsumfeld kann auf Dauer zu Unzufriedenheit führen. Ein Zustand, der nicht ignoriert werden sollte, rät Beckmann. „Unsere Gefühle haben eine Warnfunktion. Darauf sollten wir hören.“ Ob bei Unzufriedenheit im Beruf ein sofortiger Jobwechsel notwendig ist, sollte dennoch gründlich geprüft werden. Katrin Beckmann rät, zu allererst die Ursache der Unzufriedenheit zu finden: „Ich muss in mich gehen und gut überlegen: Ist es wirklich der Job oder stimmt mit mir etwas nicht?“ Dabei kann sich zum Beispiel herausstellen, dass es nur ein bestimmter Kunde ist, der die Unzufriedenheit auslöst, oder der Chef oder ein Arbeitskollege. „Ein klärendes Gespräch kann mir da helfen“, sagt die Expertin. Wer aber feststellt, dass der Job selbst unzufrieden macht, sollte konsequente Schritte einleiten. Dabei geht es nicht um den sogenannten „positiven Stress“ im Job: Ein gewisser Grad an Stress im Alltag und bei der Arbeit ist normal und fördert sogar unsere Leistungen – durch Ausschüttung des Stresshormons Adrenalin. Zum Problem wird der Stress dann, wenn zwei weitere Faktoren dazukommen: Ein zunehmender Widerwille gegen die Arbeit und das Gefühl, keine Kontrolle mehr zu haben. „Dann ist es negativer Stress“, erklärt die Glückstrainerin. „Jetzt muss ich den Schritt wagen, meine Sachen packen und mir etwas Neues suchen, was mich glücklich macht.

Das liebe Geld Glück und eine positive Grundstimmung bei der Arbeit sind aber nicht die einzigen Faktoren für ein gelingendes Leben. Von Glück lässt sich keine Familie ernähren und die Miete bezahlt sich damit auch nicht. Gerade Freiberufler gehen ein hohes Risiko ein: keine feste Anstellung, kein festes Gehalt. Pianist Kai Schumacher (32) hat sich dennoch für genau diesen Weg entschieden. So sicher das Einkommen auch wäre, kein Bürojob könne das Bühnengefühl und das Adrenalin beim Schlussapplaus ersetzen. „Ich müsste schon taub werden oder eine Hand verlieren, damit ich mit der Musik noch aufhöre.“ Und das, obwohl die erste Zeit nach seinem Studium an der Folkwang Universität der Künste in Essen einer „Ochsentour“ glich. „Mit meiner Band ‚Trustgame’ bin ich in einem klapprigen 21 job

Tom Waschat: „Für mich ist Glück das Gegenteil von Dunkelheit. Es wird hell.“


Musiker. Für den Pianisten ist die Rolle, die das Geld in Leben einnimmt, eine Frage des Lebensstils: „Ich habe kein Auto und mache kaum Urlaub. Wenn ich mir etwas Luxus gönne, ist es die Party nach einem Auftritt.“ Eine Einstellung, die auch Katrin Beckmann in ihren Seminaren beobachtet. „Glückliche Menschen kommen mit weniger Geld aus.“ Grund dafür sei die Unterscheidung zwischen „Brauchen“ und „Wollen“, sagt sie. Wem etwas im Leben fehle, der möchte einen Ausgleich schaffen – etwa durch ein teures Auto oder neue Klamotten. Wer glücklich ist, braucht diese Statussymbole nicht. Tatsächlich müssen sich glückliche Menschen weder um materielle Güter, noch um gesellschaftliches Ansehen sorgen, erklärt Beckmann. „Der Erfolg kommt bei glücklichen Menschen fast von allein“ – auch im Beruf. Den Zusammenhang zwischen Glück und Erfolg versuchten die Psychologin Lyubomirsky und ihr Team wissenschaftlich nachzuweisen. Dazu analysierten sie zahlreiche Studien zum Thema Glück. Einige Ergebnisse: Bei glücklichen Arbeitern konnte eine höhere Produktivität, weniger berufliche Ausfälle und eine größere Bereitschaft zu zusätzlichem Engagement nachgewiesen werden. Sie werden eher zu Vorstellungsgesprächen eingeladen und ihre Arbeitsweise wird von anderen positiver bewertet. Außerdem erhalten glückliche Menschen im Schnitt auch „bessere“ Jobs, die sich durch hohe Autonomie, Bedeutsamkeit und Abwechslung auszeichnen. Auch ein höheres Einkommen und größeren Wohlstand nach der Ausbildung wiesen die Studien nach. Damit widersprechen die Ergebnisse allen bisherigen Annahmen: Primär führt nicht der Erfolg zum Glück, sondern das Glück zum Erfolg. Wer also auf der Arbeit glücklich ist, hat die besten Voraussetzungen erfolgreich zu sein.

Katrin Beckmann: „Glück ist für mich ein Signal vom Körper: Es läuft gut, weiter so.“

Bus von Jugendzentrum zu Jugendzentrum getingelt, habe nachts irgendwo auf dem Boden gepennt und am Ende reichte die Kohle doch nicht“, erinnert sich Kai. Gezweifelt hat er trotzdem nie an sich und seinem Berufsweg. Damals sei das Bandleben genau das Richtige gewesen, auch wenn er diese Strapazen nicht noch einmal durchmachen möchte. Dass ihm die Entscheidung für die Kunst nicht schwer gefallen ist, lag wohl auch an seinen Eltern. Ihre Unterstützung hat den Pianisten ermutigt, seinen Weg zu verfolgen. „Ich wusste immer: Mich kann jemand auffangen – auch finanziell.“

Pianist Kai Schumacher ist dafür das beste Beispiel. Seit zwei Jahren ist er mit einer neuen Band unterwegs, „Mobilée“ heißt die Formation. Mit ihrer Mischung aus Folk und Rock/Pop hat „Universal Music“ sie ihm Sommer 2011 unter Vertrag genommen. Im Februar waren sie auf Tour, jetzt kommt das erste Album. Kai hat es geschafft. Das Glück hat ihn zum Erfolg geführt.

Funktioniert Glück also doch nicht ohne Geld? Katrin Beckmann gibt zu, dass ein gewisses Grundeinkommen die Glücksfindung durchaus unterstützt. Die finanzielle Sorglosigkeit gebe die nötige Zeit, mit sich ins Reine zu kommen und herauszufinden, was wirklich das Richtige ist. Jemandem, der viel arbeiten muss, fehle diese Zeit. „Das heißt aber nicht, dass es das Geld an sich ist, was die Menschen glücklich macht“, betont die Trainerin. Das zeigen auch Studien. Tatsächlich beeinflussen äußere Lebensumstände wie das Einkommen nur zu zehn Prozent das dauerhafte Glücksempfinden, belegt die US-Psychologin und bekannte Glücksforscherin Sonja Lyubomirsky in ihren Studien. Bereits nach kurzer Zeit tritt ein Gewöhnungseffekt ein. Während psychische und genetische Voraussetzungen das Glücksniveau zu 50 Prozent bestimmen, kann der restliche Anteil von 40 Prozent durch bewusste Verhaltensweisen beeinflusst werden. Damit gemeint sind Aktivitäten, die immer wieder neue Erfahrungen und Ergebnisse hervorbringen. Die Belohnung: Wiederkehrende Glückserfahrungen und somit nachhaltiges Glück, statt eines kurz andauernden Glückshochs, das etwa durch die Gehaltserhöhung ausgelöst wird.

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Kai Schumacher verdient sich mittlerweile seinen Lebensunterhalt mit der Kunst. Am Klavier ist er solo unterwegs und gibt bis zu 20 Konzerte pro Jahr. Außerdem arrangiert er Stücke für andere 22 job

Mehr zum „Glück der Arbeit“ in unserem Themenspecial unter www.pflichtlektuere.com


Bewerben im Ausland

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Fehler im Lebenslauf, Schnappschuss als Bewerbungsfoto - so vergeigt man in Deutschland seine Chance auf ein Vorstellungsgespräch. Doch in jedem Land warten andere Stolperfallen. Wie du dich bei der Auslandsbewerbung nicht zum Horst machst. TEXTANNIKA KOENIG FOTOSLENA KALMER

Deutschland – Verkaufsprospekt in eigener Sache Hier gibt es eine grundlegende Regel: Ordnung. Das entspricht dem Klischee von deutscher Vorschriftenliebe. Für den Berliner Bewerbungs-Experten Jürgen Hesse kennzeichnet sich der deutsche Charakter dadurch, „dass sie pünktlich und fleißig sind, alles sehr schöne preußische Tugenden“. Wer sich dagegen sträubt, hat höchstens in kreativen Arbeitsbereichen Erfolg und landet sonst schnell auf dem Ablagestapel. Besonders wichtig: das Foto. Es ist zumeist der erste Eindruck vom Bewerber, eine große Chance die Bewerbung positiv einzuleiten und sollte deswegen Freundlichkeit und Motivation zeigen. Der Experte warnt: „Wenn man das am Bahnhofautomaten macht und gehetzt ist, dann sieht man aus wie eine Leiche auf Urlaub. Deswegen sollte man besser zu einem Fotografen gehen, der kann jeden schön in Szene setzen.“ Im darauffolgenden, einseitigen Anschreiben sollte man sich kurz fassen und präzise formulieren. Höchste Priorität gilt auch den Anlagen. Hier kann geklotzt werden, was das Zeug hält: Zeugnisse, Arbeitsproben, Referenzen. Jürgen Hesse beschreibt den gut durchdachten Anhang als „eine Art Verkaufsprospekt in eigener Sache.“ Und auch beim Lebenslauf gibt es eine Regel: tabellarisch, übersichtlich, chronologisch. Religion oder politische Orientierung sind keine Themen. Auch für die ewige Frage der richtigen Verpackung hat Hesse eine Antwort: „Die Altar-Mappen“, wie er sie nennt, sind zwar beeindruckend, aber im Grunde sperrig und unpraktisch. Also lieber eine einfache Mappe wählen oder die Unterlagen einfach mit einer Büroklammer zusammenheften. Wer nichts über Bewerbungsfallen im Ausland weiß, für den hagelt es Absagen.

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England – Unbedingt nachfragen Im Land der roten Telefonzellen, schwarzen Taxis und der Queen liegt der Fokus auf praktischen Erfahrungen und dem jüngsten Job. Die Bewerbung ist ein Mischmasch aus der deutschen und amerikanischen Bewerbung. Das Anschreiben ähnelt dem deutschen, ist also eine Seite lang. „Beim Lebenslauf gibt es eine Annäherung an den amerikanischen“, hat Laura Hope festgestellt. „Der Trend geht weg vom Foto und persönlichen Informationen. Trotzdem kann man beides noch verwenden, wenn man möchte. Deswegen ist es noch wichtiger auszusortieren, welche Details auch wirklich mit der beruflichen Laufbahn und dem Praktikum zu tun haben.“ Sprachkenntnisse solle man unbedingt angeben, da die meisten Muttersprachler, die Englisch als Erstes gelernt haben, begeistert wären, wenn man darüber hinaus andere Sprachen spreche. „Das heißt aber nicht“, sagt Laura Hope, „dass man sich Fehler in der Bewerbung erlauben kann.“ Hat den Überblick: Laura Hope.

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Anders als in Deutschland wird viel Wert auf schriftliche Referenzen von Arbeitgebern und Professoren gelegt. Man schicke sie nicht sofort mit, solle sie aber auf Anfrage bereit halten, betont Laura Hope: „Kümmert euch rechtzeitig darum. Häufig sind die Professoren dankbar, wenn ihnen die Studenten einen groben Entwurf für die Referenz vorlegen. Alle Studenten aus ihrem Vorlesungssaal können sie nicht kennen. Das merkt man leider manchmal in der Referenz.“ Falls eine Notenübersicht gewünscht ist, sollte man daran denken, dass das Notensystem im englischsprachigen Raum anders aufgebaut ist und übersetzt werden muss. Ein äußerst wichtiger Tipp: In England oder auch den USA wartet man nicht geduldig, bis man von dem Unternehmen hört, bei dem man sich beworben hat. „Unbedingt zwei Wochen später anrufen und erkundigen, ob die Bewerbung wirklich angekommen ist. Wenn ja, dann nach fehlenden Unterlagen und dem ersten Eindruck fragen“, sagt Laura Hope. „Das beweist Hartnäckigkeit.“

USA – Yes, I Can

In den USA muss man sich verkaufen können. Die Bewerbung fängt mit einem Telefongespräch an, dann schickt man Anschreiben und Lebenslauf an einen festen Ansprechpartner. Laura Hope, Beraterin für Auslandsaufenthalte im International Office der TU Dortmund, warnt: „Jede Bewerbung hat ungefähr 30 Sekunden. Wenn das Personalbüro sie nicht interessant findet, wandert sie in den Mülleimer.“ Im Anschreiben zählt, was man aus sich macht. „Extended Truth“ nennt man das: Nichts erfinden, aber alles Erlebte möglichst positiv darstellen. Laura Hope empfiehlt Schlagwörter zu benutzen: „Mit Action-Verbs wie zum Beispiel ‚handled‘ oder ‚convinced‘ kann man in zusammenhängenden Phrasen beschreiben, was man gemacht hat.“ Man solle einfach selbstbewusst formulieren, ganz nach dem Motto: „Yes, I can!“

Frankreich – Unter der Lupe

Die Bewerbung sollte am besten nicht von einem Muttersprachler geschrieben werden. So gehe der eigene Stil verloren und man verfälsche seine Sprachkenntnisse, sagt Laura Hope. Der Lebenslauf ist sehr sachlich. Wegen der „Political Correctness“ fallen in den USA viele persönliche Informationen weg, „wie zum Beispiel: Religion, Geburtsdatum, Nationalität sowie die detaillierte Schulbildung. Auch Fotos sind verboten.“ Um fair zu bleiben, ist der Lebenslauf nicht chronologisch: Hier zählt vor allem, was man zuletzt gemacht hat und wie erfolgreich man damit war. Interessen und Fähigkeiten ergeben sich für den Personalchef aus den sogenannten Skills. Erlernte Fähigkeiten wie „Leadership- und Team-Skills, sowie das Ehrenamt müssen drin sein, sollten aber mit Hobbys oder Praktika belegt werden.“ Man darf auch nicht das sogenannte „Objective“ vergessen: Das sind zwei, drei Zeilen, direkt nach den Kontaktdaten. Was sucht man, wo möchte man hin und was bringt man mit? Es lohnt sich dafür, die Internetseiten des Unternehmens zu durchforsten. So kann man das Firmenmotto und das grafische Erscheinungsbild des Unternehmens übernehmen.

Die Bewerbung für ein Praktikum in Frankreich muss vor allem eines sein: französisch. Schließlich ist die Landessprache höchstes Kulturgut und darf deshalb nicht mit einer englischen Bewerbung abgetan werden. „Die Bewerbung für ein Praktikum in Frankreich muss schön sein“, erklärt Laura Hope. „Wenn man dort in einer Klausur ein Wort durchstreicht, gibt es schon Punktabzüge. So ist es auch mit den Bewerbungen.“ Und weil eine Bewerbung auf Französisch („Lettre de Motivation“) sowieso schon schicker sein muss, wird das Ganze handschriftlich verfasst. Eigentlich unüblich im Zeitalter von PC und Co.: Französische Chefs stellen einen Handschrift-Experten ein. Das hängt mit der immer noch sehr hierarchisierten Struktur in Firmen und der zentralen Rolle des Chefs zusammen. Er will eben alles ganz genau wissen. So beugt sich der Experte dann über die Bewerbung und analysiert. Kringel, Pünktchen oder kursive Schrift verraten nämlich so einiges über die Persönlichkeit des Schreiberlings. Beim Lebenslauf ist die französische Prämisse eher elitär: Der Ruf der Universität ist besonders wichtig, ebenso der akademische

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In deutschen Bewerbungen dominiert die Ordnung. Der Charakter der Deutschen ist durch preußische Tugenden geprägt.

Lebensweg. Am besten ergibt sich daraus schon eine klare Linie und Zukunftsvision des späteren Berufs des Bewerbers. Die Bewerbung besteht auch hier aus Anschreiben und dem Lebenslauf. Das Anschreiben sollte zurückhaltender verfasst werden, seine Fähigkeiten sollte man aufzählen, aber nicht zu dick auftragen. Was in den USA als Verkaufstalent gelten könnte, wird hier möglicherweise als unhöflich aufgefasst. Beim Lebenslauf gibt es einen ganz besonderen Fauxpas, den man vermeiden sollte. Denn das deutsche Resümee, französisch résumé, scheint zwar inhaltlich als Überschrift geeignet, ist aber völlig falsch. Ein résumé ist eine Inhaltsangabe, richtig wäre: Curriculum Vitae. In Frankreich sind im Gegensatz zu den USA oder England wieder mehr persönliche Informationen gefragt. Falls man mit Sprachkenntnissen punkten möchte, sollte man dies möglichst mit Noten, Sprachkursen und Zertifikaten belegen.

Q Ohne sein Gesicht zu zeigen, muss sich der Bewerber in den USA verkaufen.

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Kurz vor knapp Erledigt! Aber mal wieder erst in letzter Minute. Wer Dinge aufschiebt, hat nicht nur Stress, sondern kann sozial vereinsamen. Was viele humorvoll Aufschieberitis nennen, wird in der Psychologie schon unter dem Fachwort Prokrastination erforscht. TEXTNora Sonnabend, Sebastian Claus FotosFlorian H端ckelheim

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ein Symptom mit verschiedenen Ursachen“, erklärt Leyhausen. „Oft entsteht es, weil man unangenehme Gefühle nicht aushält und verhindern möchte.“ Wird eine Aufgabe nicht erledigt, wird dieses Gefühl zwar immer schlimmer, aber laut Leyhausen hat dieses Verhalten mit Vernunft nicht viel zu tun: „Das Gefühl ist so unangenehm, dass man es einfach nicht macht“, sagt er. Ohne an die Konsequenzen zu denken. Oft klappt es ja am Ende doch. Anna hat zum Beispiel durchaus positive Erfahrungen beim Aufschieben gemacht: „Unter Druck kann ich einfach am besten arbeiten.“ Sie braucht das Adrenalin zum Arbeiten.

Es ist wieder ein Wettlauf gegen die Zeit. Bedrohlich rennen Sekunden- und Minutenzeiger über das Ziffernblatt, der Kopf brummt. Schon Stunden geht das so. Und es ist noch einiges zu tun. Innerhalb kürzester Zeit muss die Arbeit erledigt werden, die eigentlich auf mehrere Tage oder gar Wochen angelegt war: Literatur finden, sichten, verarbeiten und eigene Gedanken zu Papier bringen. Dann der nächtliche Weg zur Uni: per Rad, Bus oder Bahn. Bis Mitternacht muss die Hausarbeit im Briefkasten des Dozenten liegen, gut verpackt und abgestempelt. Wieder einmal wurden die Aufgaben so lange aufgeschoben, bis sie nicht mehr zu ignorieren waren. Stress, weil die Arbeit liegen blieb, anstatt dass sie eingeteilt wurde.

Anna ist ein Kick-Aufschieber. So würde zumindest Malte Leyhausen sie nennen. Er teilt Menschen, die viel aufschieben, in zwei Typen ein: Kick-Aufschieber mögen Nervenkitzel. „Das ist eine Art Lebensstil. Dieser Typ genießt das ein Stück weit, sieht eine Lust darin, Sachen aufzuschieben. Er hat durch sein Verhalten noch nie große Katastrophen erlebt.“

Klar, Studenten geraten als erste unter den Verdacht, Aufgaben aufzuschieben. Dafür sind sie Studenten. Außerdem gibt es strukturelle Gründe: Die Universität als Lernort konzentriert nicht nur viele junge Menschen auf engem Raum. Hier sorgen offensichtliche Kontrollpunkte wie Fristen und Klausuren dafür, dass Probleme schnell auffallen. Doch leidet nicht jeder von Zeit zu Zeit darunter? Ein zweiter Blick lohnt sich: Noch nie waren die Zerstreuungsmöglichkeiten durch moderne Medien und Technik so groß wie heute – ein paar Klicks ermöglichen den Ausflug in weltweite, nahezu unbegrenzte Netzwerke. Videos von talentfreien Hobbysängern aus Indien oder das pfiffige Kochrezept für die Geburtstagsparty in einem halben Jahr haben Vorrang. Haus- und Seminararbeiten, Texte und Bücher müssen warten. Zeit ist ja noch genug.

Anders der Verdrängungs-Aufschieber: Er leidet. Zwar durchschaut er rational, wie er sich verhalten müsste, um Dinge zeitig zu erledigen und plant deshalb auch ein, wann er Aufgaben erledigen will. Aber wenn es soweit ist, verspürt er ein starkes Unwohlsein. Die Angst davor, zu versagen, zum Beispiel wegen einer schlechten Note, wird so übermächtig, dass er alles aufschiebt. Extremes Aufschieben kann in einer Verhaltensstörung enden, so Leyhausen. Und das kann zu einer nicht-stoffgebundenen Sucht führen. Wenn Aufschieben zur Sucht wird, muss gehandelt werden. Dazu muss der Betroffene erst einmal begreifen, dass er überhaupt süchtig ist. Das passiert meist mit der Erkenntnis, dass jetzt „der Preis zu hoch geworden ist“, so Malte Leyhausen. Eine Sucht erkenne man, wenn man sich die Frage stellt, ob man durch das Aufschieben schon einmal eine Chance verpasst und dieses Verhalten schon viel im Leben kaputt gemacht hat. Dann ist es höchste Zeit, die Notbremse zu ziehen.

Angst vorm ersten Schritt So geht das regelmäßig vielen Studenten. Studenten wie Anna. Anna Sommerer ist 24 Jahre alt und hat in Krefeld an der Hochschule Niederrhein Produktdesign studiert. Studieren, das sei wie Schule, aber nur mit Lieblingsfächern, sagt sie. Trotzdem hat sie immer wieder Dinge aufgeschoben: „Um ehrlich zu sein, schiebe ich alles vor mir her. Wenn ich für eine Seminararbeit am 15. eines Monats Deadline hatte, habe ich regelmäßig erst am 14. angefangen, daran zu arbeiten.“ Alles, auf das man erst mal keine Lust habe, ließe sich aufschieben: spülen oder auch lernen. Und Anna weiß, dass diese Arbeit gar nicht immer schlimm sein muss, hat sie damit erst einmal begonnen „Dann kann es sogar Spaß machen. Nur eben der erste Schritt ist am schlimmsten.“

Wie jede andere Sucht Der Zwang, etwas aufzuschieben, kann das Leben einschränken wie jede andere Sucht. Scham und ein schlechtes Gewissen spielen eine große Rolle. „Man verliert ständig sein Gesicht. Man verspricht Sachen, die man nicht einhalten kann und muss sich selbst und andere immer wieder enttäuschen“, sagt Leyhausen. Süchtige glauben immer wieder selbst daran, dass es beim nächsten Mal klappen könnte. Dann ist die Aufgabe, die sie pünktlich erledigen möchten, ja noch relativ weit weg. Aber nach drei Wochen sind sie kein bisschen motivierter und der Stress geht wieder von vorne los. Mit der Zeit wirkt sich das auf das soziale Umfeld aus: Isolation kann die Folge sein – wie bei anderen Verhaltenssucht-Krankheiten auch.

Fast jeder kennt das Blockadegefühl vor diesem ersten Schritt, wenn die Arbeit eigentlich losgehen sollte, man sich aber nicht aufraffen kann. Ein Problem, vor dem längst nicht nur Studenten stehen. Es kann in allen Lebenslagen auftreten. Die einen nennen es, mit einem Augenzwinkern, Aufschieberitis. Neuerdings taucht aber auch immer häufiger ein Fremdwort auf: Prokrastination. Der Ursprung dieses Wortes hat mit der Angst vor dem ersten Schritt zu tun: Das englische Wort procrastination kann mit zögern oder zaudern übersetzt werden.

Genau das beobachtet Bozena Fitzek-Toepsch in ihrer täglichen Arbeit als psychologische Studienberaterin an der TU Dortmund, wo sie Einzelberatungen und Workshops zum Thema Prokrastination anbietet: „Der Verlust sozialer Kontakte kann so weit gehen, dass Depressionen daraus resultieren. Das ist in der Praxis durchaus öfter zu beobachten.“ Dazu kommt oft ein großes Maß an Scham, weshalb sich viele Betroffene mit ihren Sorgen nicht an ihr Umfeld

Malte Leyhausen berät Menschen, die Prokrastination „betreiben“, also ständig Dinge aufschieben. Er leitet eine Praxis für sogenannte Systemische Beratung und Therapie in Mannheim, hat ein Buch und Artikel zum Thema veröffentlicht. „Prokrastination ist 27

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Prokrastination 2.0: Die nächste Ablenkung ist nie weit entfernt und die aktuelle Arbeit ganz schnell weit weg.

Eine Münze dient zum Beispiel als Entscheidungshilfe: Auf der einen Seite ist die Krone, auf der anderen der Stift. Münze werfen und abwarten: Ist der Stift oben, sollte wohl oder übel weiter gearbeitet werden. Oder erst einmal angefangen. Ist die Krone oben, ist man Prokrastinations-König und darf die Arbeit aufschieben. Bei der Entscheidung, was in diesem Fall zu tun ist, hilft auch der Beutel, ein weiteres Produkt aus Annas Sortiment. Aus ihm zieht der Spieler Aktivitäten, eingraviert auf Holzstückchen. „Gutes Buch lesen“ oder „Fernsehen“ stehen genauso darauf wie „Spülen“ und „Fenster putzen“. Das darf oder muss gemacht werden. „Es sorgt für ein gutes Gewissen. Man hat es ja nicht selbst entschieden“, erklärt Anna.

richten: „Da bestehen halbe Lebenslügen gegenüber Familie und Freunden, die wie ein Kartenhaus zusammenbrechen, wenn der Druck zu groß wird.“ Um nicht mehr leiden zu müssen, sei es wichtig, das Verhältnis zur Arbeit zu verändern, sagt Malte Leyhausen: „Aufschieber denken immer: ‚Augen zu und durch‘, wollen alles innerhalb einer Nacht durchziehen. Dabei ist es viel besser, in kleinen Schritten zu arbeiten – und sich danach zu belohnen.“ Auf genau diese Idee ist auch die Studentin und Kick-Aufschieberin Anna Sommerer schließlich gekommen.

Spielerisch gegen das Aufschieben

Leyhausen empfiehlt Menschen, die zu ihm kommen, sich bewusst zu machen, was sie machen, wenn sie aufschieben und nicht arbeiten. Eine Hilfe dabei könnte Annas Pflicht- und Kürbrett sein, auf dem einzelne Aktivitäten notiert werden – die einen Pflicht, die anderen Kür. So kann jeder abhaken, was bereits erledigt ist und was zur Belohnung dafür gemacht werden darf. „Pausen sind wichtig“, befindet Malte Leyhausen. Stichwort Einteilung: Ein einfaches Teelicht kann helfen. Das brennt vier Stunden – die optimale Arbeitszeit für Studenten, wie Anna Sommerer im Rahmen ihrer Bachelorarbeit herausgefunden hat. Beim Arbeiten brennt es, während der Pausen bleibt es ausgepustet. Ist das Licht

Sie verarbeitete ihre Erfahrungen in ihrer Bachelorarbeit in Produktdesign. Sie wusste: Am Ende hatte sie ihre Aufgaben immer erledigt, auch unter Zeitdruck. Damit spielt sie, sie bekennt sich dazu, also „Pro“-krastination: „Wenn man weiß, dass es trotzdem geht, muss man kein schlechtes Gewissen haben, wenn man prokrastiniert.“ Nach dem Motto „Wenn schon aufschieben, dann richtig, und sich gut dabei fühlen!“ hat sie Produkte entworfen, mit denen man die Zeit, in der man aufschiebt, positiv nutzt und hin und wieder mal gezwungen wird, zu arbeiten. 28

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Es scheint Bedarf an Abhilfe gegen dieses Phänomen zu geben. Natürlich ist nicht jedes Aufschieben direkt Prokrastination, nicht immer ist es ein Problem. Doch es ist kein Zufall, dass immer mehr Menschen Schwierigkeiten haben, Aufgaben zufriedenstellend, rechtzeitig und vor allem gelassen zu erfüllen. Malte Leyhausen ist sich sicher: „Die Angst vor Bewertung spielt eine große Rolle.“ Aber nicht nur das: „Wir haben immer weniger Zeit, aber immer mehr Arbeit. Und dazu gibt es eine große Erwartungshaltung. Das blockiert.“ Wir leben in einer Zeit, die eine hohe Reaktionsfähigkeit erfordert – sie ist so schnelllebig wie nie. Manche kommen da nicht mehr mit. Sie werden überwältigt von einem Gefühl der Blockade.

heruntergebrannt, ist das Arbeitspensum für den Tag geschafft. Auch die Strategie im Workshop an der TU ist vielseitig: Vor allem geht es um die Organisation der eigenen Aufgaben. „Viele Betroffene haben nur selten über einen längeren Zeitraum organisiert gearbeitet“, berichtet Studienberaterin Bozena Fitzek-Toepsch. In mehreren Sitzungen reflektieren die Teilnehmer ihre Situation. Diese sollen sich ihre Verdrängung bewusst machen und dagegen arbeiten. Und zuletzt soll auch die Frustrationstoleranz erhöht werden: „Am Ende muss die Erkenntnis stehen, dass Tiefschläge zum Leben gehören und nicht direkt das eigene Handeln in Frage stellen dürfen.“ Der Workshop ist mehr als eine Vorlesung, bei der Teilnehmer die Informationen nur passiv aufnehmen. Denn durch theoretischen Input ergeben sich meist ausführliche Diskussionen über die eigenen Erfahrungen: „Generell schätzen Studenten die Augenhöhe mit anderen Betroffenen. Das führt im Laufe des Workshops oft zu einer emotionalen Bruchstelle, ab der es den Teilnehmern leichter fällt, sich gegenüber den anderen zu öffnen“, erklärt Fitzek-Toepsch. Anna betrachtet mit ihren Produkten das Aufschieben mit einem Augenzwinkern und spricht sich ein Stück weit dafür aus. Aber sie ist sich bewusst: „Da ist auch Glück bei. Ich warte immer noch auf den Moment, an dem es mal nicht klappt und ich eine Aufgabe nicht rechtzeitig schaffe.“ Aufschieben sei eben nicht in jeder Lebenslage optimal. Wer eine Aufgabe spät anfängt, muss sich selber gut einschätzen können.

Da scheint es ganz egal zu sein, dass eigentlich der Schreibtisch ruft, auf dem die Bücher für die nächste Hausarbeit liegen. Arbeiten ist dann unmöglich, aufschieben für viele die einzige Lösung. Eine, die dann aber konsequent und bewusst gewählt werden sollte. Verdrängung ist Gift, Auseinandersetzung mit der persönlichen Entscheidung hingegen hilft auf dem Weg zur Besserung.

Beratungsangebote Psychologische Studienberatung bei Prokrastination

Überwältigende Reaktionen Vermarktet und verkauft hat Anna ihre Produkte noch nicht. Sollte sie das tun, wird es an Interesse nicht mangeln. Bereits kurz nach der Fertigstellung ihrer Bachelorarbeit waren die Reaktionen auf die einzelnen Teile überwältigend, erzählt sie: „Ich war echt verblüfft.“ Auf der Internet-Plattform „design-made-in-germany“ lud sie die Arbeit hoch und diese wurde auf Facebook schnell von über 1800 Internet-Usern geteilt. Der Link wurde über eintausend Mal im Internet verbreitet, in Blogs und Magazinen wie dem Dortmunder „Heimatdesign“ wurde über ihr so genanntes „Prokrastinations-Set“ berichtet. 29

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TU Dortmund: Bozena Fitzek-Toepsch, Tel. 0231/755 5050 – Einzelberatung und Workshop „Anfangen statt aufgeben“ (6-8 Sitzungen, Festlegung während des Semesters)

Ruhr-Universität Bochum: Studierendenhaus, Ebene 2, Raum 207 – Mo, Di, Do 10-12 Uhr

Campus Duisburg: Sven Rüter, Geibelstr. 41, Raum SG 082 – Freitag 11-12 Uhr

Campus Essen: Bernd Göhing, Universitätsstr. 2, Raum T02 S00L25 – Dienstag 10-11 Uhr


Ohne Fleiß einen Preis Ein existenzsicherndes Einkommen, bedingungslos ausgezahlt an alle? An den Banker wie an den Arbeitslosen? Diese Idee wird in fast allen Parteien diskutiert und auch im Ruhrgebiet gibt es eine lebendige Bürgerinitiative. Der Versuch einer Annäherung. TextMichael Jochimsen FOTOSFLORIAN HÜCKELHEIM, THOMMY WEISS / PIXELIO.de, MICHAEL JOCHIMSEN

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Stell dir vor, du bekommst jeden Monat genug Geld, um zu leben, einfach so. Es ist kein Darlehen wie etwa das Bafög, es ist an keine Bedürftigkeitsprüfung gebunden. Du allein entscheidest, was du mit dem Geld machst. Was wie eine Utopie klingt, ist zentraler Bestandteil der Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE). Unterstützer sehen diese Idee als Chance, die Stigmatisierung durch Hartz IV aufzuheben und den Menschen eine Möglichkeit auf Selbstverwirklichung zu eröffnen. Die Auswirkungen auf Arbeitsmarkt, Politik und die ganze Gesellschaft wären wohl enorm. Trotzdem – oder vielleicht auch deswegen – wird das Thema in immer weiteren Teilen der Gesellschaft diskutiert. Erst im August 2011 nahm die Piratenpartei die Forderung nach einem BGE in ihr Programm auf. Dabei fordern sie wie viele andere Verfechter dieser Idee auch, dass das BGE vier Kriterien genügt: Es soll existenzsichernd sein und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, einen individuellen Rechtsanspruch darstellen, ohne Bedürftigkeitsprüfung ausgezahlt werden und keinen Zwang zur Arbeit bedeuten. Wie ihr Modell konkret aussehen soll, wissen die Piraten allerdings noch nicht.

beitsplätzen sein, sondern die Bedürfnisbefriedigung der Menschen. Viele Menschen hätten, so der Milliardär Werner, eher einen reinen Einkommensplatz als eine sinnvolle Arbeit. Immer mehr Produkte werden von Maschinen hergestellt, die Arbeitsplätze schwinden. Doch das sehen die Verfechter eines BGE nicht als Problem. Was ist schlecht daran, die einfachen, monotonen, aber dennoch notwendigen Arbeiten von Maschinen verrichten zu lassen? „Arbeitslosigkeit ist kein Zeichen von Armut, sondern ein Ausdruck der Produktivität und des Vermögens unseres Landes“, heißt es auf dem Internetaufritt der Initative „Freiheit statt Vollbeschäftigung“. Eine der Begründerinnen ist Ute Fischer, heute Professorin für Politik- und Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund. Ihr Ausgangspunkt war die Beschäftigung mit dem, was einen Menschen zur Arbeit antreibt. Ist es wirklich nur das Geld? Diesen Punkt hat sie empirisch untersucht. „Wir haben überall eine große Arbeitswilligkeit festgestellt, nicht nur aus finanziellen Gründen“, sagt Fischer. Das Ehrenamt sei ein Beleg für diese These. „Wir unterschätzen chronisch, was alles freiwillig getan wird“. Überall wenden Menschen ihre Zeit und Energie für unbezahlte Arbeit auf. Der Freiwilligensurvey 2009, eine Erhebung zum ehrenamtlichen Engagement in Deutschland, ergab, dass 36 Prozent aller Bürger ab 14 Jahren ehrenamtlich tätig waren. Tendenz steigend.

Überraschung Da ist die „Initiative Grundeinkommen Dortmund“ schon weiter. Seit sechs Jahren trifft sie sich jede Woche, um über die Idee des BGE zu diskutieren, Aktionen und Vorträge zu planen oder über die Bedeutung von Arbeit und Geld zu philosophieren. Horst Angelbeck, einer der Begründer der Initiative, leitet die Treffen. Die Gesprächsatmosphäre ist gut, man lässt sich ausreden, den anderen wird aufmerksam zugehört. „Heutzutage wird der Begriff Arbeit mit Erwerbsarbeit gleichgesetzt“, erklärt Angelbeck. Erwerbsarbeit ist alle Arbeit, die ein Einkommen bringt. Das ist aber ein relativ geringer Anteil an Arbeitsleistung in Deutschland. Schon heute leben mehr als die Hälfte der Menschen von Transfereinkommen, also Einkommen von anderen, so Angelbeck. Dazu zählen Ehepartner, Kinder, Rentner, Arbeitslose und viele mehr. „Als ich das das erste Mal gehört habe, hat mich das total überrascht“, sagt der Rentner Angelbeck. Das Problem an der Sache sei, dass unentgeltliche Arbeit durch den heutigen Blickwinkel entwertet werde. Nur wer etwas für seine Arbeit verdient, arbeitet richtig, so die vorherrschende Meinung.

Verschiedene Modelle Erst wenn die Menschen ein gesichertes Einkommen haben, das von ihrer Arbeit losgelöst ist, könne sich Kreativität und Engagement frei entfalten. Darin sind sich die Befürworter eines Grundeinkommens einig. Trotz des gleichen Grundgedankens gibt es verschiedene konkrete Modelle. Je nach politischer Strömung, Menschenbild oder Pragmatismus variieren sie in der Höhe des Betrages, der staatlichen Finanzierung oder einer Bedürftigkeitsprüfung. Letzteres Modell wäre dadurch nicht mehr bedingungslos. In ihrer Grundannahme, dass jeder Mensch ein Recht auf ein Einkommen hat, sind sie jedoch gleich. Ist ein Grundeinkommen überhaupt bezahlbar? Das BGE soll nicht durch das Drucken von neuem Geld bezahlt werden. Vielmehr geht es um eine Umverteilung des bestehenden Geldes. Der dm-Gründer Götz Werner betont, dass wir nicht vom Geld leben, sondern von den Gütern, die wir produzieren. Niemand werde bestreiten können, dass es heute – zumindest in Deutschland – mehr als genug von allem gibt; es ist nur ungerecht verteilt. Die genaue Finanzierung hängt natürlich auch mit der Höhe des BGE zusammen. Diese wiederum wird selbst von den Befürwortern für flexibel und verhandelbar gehalten,

Götz Werner, Gründer der Drogeriemarktkette dm und prominentester Verfechter eines BGE, erklärt das Ganze so: „Die Wirtschaft hat die Aufgabe, den Menschen von der Arbeit zu befreien.“ Schließlich seien alle Fabriken, alle Maschinen und alle Firmen nicht in erster Linie dazu da, den Menschen eine Beschäftigung zu geben, sondern Güter zu produzieren. Arbeit ist also immer Mittel zum Zweck. Erstes Ziel sollte nicht die Schaffung von Ar31

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„Wenn die Mehrheit der Bevölkerung das Bedingungslose Grundeinkommen will, ist es da.“ Befürworter Horst Angelbeck aus Dortmund in Aktion.

bei den meisten Berechnungen liegt sie um die 1000 Euro. Kinder erhalten in vielen Modellen weniger Geld. Um die Finanzierung gewährleisten zu können, hat jedes Modell eines BGE auch eine mehr oder weniger radikale Umstrukturierung des Steuersystems im Blick.

die Wertschöpfung der Gesellschaft liefern. Der Wirtschaftsphilosoph Gerd Habermann ist ein erklärter Gegner des Grundeinkommens. Die Befürworter eines BGE überböten noch die Sozialisten. Solch eine Idee könne nur auf dem „Sumpfboden des Wohlfahrtsstaates gedeihen“. Die Steuererhöhungen und die Umverteilung würden dazu führen, dass viele Reiche ins Ausland abwandern und gleichzeitig eine Flut von Einwanderern nach sich ziehen.

Eine solch grundlegende Neuordnung der Gesellschaft wird natürlich nicht von jedem unterstützt. Die größte Kritik richtet sich wohl gegen die Annahme, dass jeder Mensch etwas Vernünftiges mit dem ihm gegebenen Geld anfangen wird. Wird er wirklich weiter einen Beitrag zur Gesellschaft leisten, wird er arbeiten wollen? Man muss kein Pessimist sein, um sich einen genügsamen Menschen vorzustellen, der nicht mehr arbeiten will. Realistisch betrachtet wird natürlich nicht die ganze Bevölkerung aufhören zu arbeiten, allerdings stellt sich die Frage, wie groß der Anteil der „Faulpelze“ sein darf, damit unsere Gesellschaft noch funktioniert. Durch das Grundeinkommen hat jeder die Möglichkeit, seine derzeitige Arbeit aufzugeben, schließlich hat er auch so genug zum Leben. Das könnte dazu führen, dass die sogenannte „Drecksarbeit“ von weniger Menschen erledigt wird als heute. Sicher würden nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage die Löhne steigen, was die Jobs wiederum attraktiver machen würde. Allerdings könnten diese dann sehr teuer werden.

Auch die Finanzierung der einzelnen Modelle bewertet Habermann sehr kritisch: „Die Rechnungen, die man uns vorgelegt hat, sind ein vollkommener Schwindel.“ Die dynamische Wirkung, die das neue Modell auslösen würde, ließe sich gar nicht nachvollziehen. Die exakten Auswirkungen auf Arbeitsmarkt, Exportwirtschaft und andere Bereiche lassen sich nicht berechnen.

Auf der Parteien-Agenda Trotz dieser Kritik findet die Idee eines BGE immer größeren Anklang. In den letzten Jahren gründeten sich viele Initiativen und auch fast jede größere Partei beschäftigt sich auf die ein oder andere Weise mit diesem Thema. So sind das Liberale Bürgergeld der FDP, das Solidarische Bürgergeld des ehemaligen thüringischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus (CDU) oder die Grüne Grundsicherung der Grünen Jugend Beispiele für eine Negative Einkommensteuer (siehe Grafik). Die Initiative „Freiheit statt Vollbeschäftigung“ war bei ihrer Gründung 2003 eine der ersten in Deutschland, erzählt

Neben denjenigen, die ein Lotterleben führen, könnte es auch eine zweite Gruppe Menschen geben: Freischaffende Künstler, Gaststudenten oder Weltenbummler. Diese würden so keinen Beitrag für 32

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Das größte Problem sieht Ute Fischer nicht in der Finanzierung oder des genauen Modells eines BGE. „Die Umsetzung findet sich schon.“ Viel wichtiger sei ein fundamentaler Paradigmenwechsel. Dieser sei das große Problem, „die Denkweise ist der Hauptgegner, die Bevölkerung muss bereit für den Solidargedanken sein“, betont sie. Gerade die Menschen, die durch eigenes Bemühen trotz Widrigkeiten reich geworden sind, könnten um ihre Wertschätzung fürchten, wenn jeder „einfach so“ Geld bekommt. Erich Kitzmüller, Wirtschaftsphilosoph aus Klagenfurt, beschreibt diese Denkweise so: „Ich hab mich das ganze Leben abgemüht und jetzt kommen die daher, diese jungen Leute, und denen soll nun Geld gegeben werden? Das ist ein Skandal!“ Dieses Argument sei seiner Meinung nach der eigentliche Grund für die Ablehnung des Grundeinkommens. „Die anderen sollen es auch nicht besser haben, als ich es gehabt habe.“

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befürchtete der Parlamentarische Staatssekretär des Bundesministeriums für Arbeit, Ralf Brauksiepe (CDU), „problematische Auswirkungen auf die Arbeitsanreize“.

Brutto Grafik zur negativen Einkommensteuer

Ute Fischer. Ihren Höhepunkt erreichte die Debatte etwa 2008. „Jetzt sind nur noch die dabei, die die Bedeutung dieser Idee erkennen“, meint Horst Angelbeck. Mittlerweile stehen auch immer mehr Wissenschaftler hinter dieser Idee. Eine breite Diskussion ist natürlich relativ zu verstehen, die meisten Menschen haben noch nie etwas von einem Bedingungslosem Grundeinkommen gehört. „Das ist eine Riesenidee, die eine breite Zustimmung braucht“, sagt Ute Fischer. Das benötige aber auch Zeit. Die Idee der Piratenpartei, in einer Kommission ein Modell zu entwickeln und dieses dann per Volksentscheid zur Abstimmung zu geben, halte sie für schlau. „So etwas geht nicht von jetzt auf gleich.“

Horst Angelbeck ruft zur Geduld auf: „Wir müssen vertrauen, dass die Zeit irgendwann kommt. Wenn die Mehrheit der Bevölkerung das Bedingungslose Grundeinkommen will, ist es da.“ Bis ins letzte Detail lassen sich die Auswirkungen eines Grundeinkommens nicht abschätzen. Für die Diskussion über ein Grundeinkommen bleibt bei allen Rechenspielen und politischer Abwägung eine Frage zentral: Was würdest du tun, wenn für dein Einkommen gesorgt wäre?

Auch den Bundestag beschäftigt dieses Thema. Eine Petition mit 52.973 Unterzeichnern wurde Ende 2010 vor dem Petitionsausschuss des Bundestages besprochen. Zur Zeit befindet sie sich noch „in parlamentarischer Prüfung“. Von der Bundesregierung wurde sie jedoch bereits abgelehnt. Die Begründung lautete, dass es schlichtweg keine Notwendigkeit für eine „völlige Umstrukturierung des Steuer-, Transfer- und Sozialversicherungsystems“ gäbe. Außerdem

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Kulturgebiet

Liebster Platz TextBen Kleine Vennekate FotoFlorian Hückelheim

Ganz besondere Orte sind für mich vor allem die, von denen aus ich viel überblicken kann. Irgendwo ganz weit oben. Mir fällt da die Dachterrasse einer Freundin ein, mitten in der Stadt, oder der über 4500 Meter hohe Berg in den Anden, den ich mal bestiegen habe. Ich mag luftige Orte, egal wo. Mein absoluter Lieblingsplatz befindet sich jedoch in Witten auf dem Hohenstein – eine Naturlandschaft. Ganz einfach. Nicht der Platz am Meer, zu dem ich stundenlang fahren muss, kein Ort in irgendeinem fernen Urlaubsparadies. Ich fühle mich diesem Ort deshalb so verbunden, weil ich ihn so schnell erreiche und weil er dadurch leicht ein Teil meines Lebens geworden ist. Mal eben aus dem Alltag herauskommen, den Kopf wieder frei kriegen, die Gedanken glätten – ich schätze das unheimlich! Der Hohenstein ist für mich auch so besonders, weil da kaum mehr ist, als die Natur. Mir reicht das vollkommen. Ich zwänge mich schon oft genug durch hektische Häuserschluchten und überfüllte Straßen. Manchmal muss ich daraus einfach fliehen. Und man kann es kaum glauben, aber der Fluss dort ist nicht die dreckige Kloake, kein IndustrieAbfall-Kanal, den sich Menschen aus anderen Landesteilen vielleicht vorstellen, wenn sie an die Ruhr denken! Ich finde, dass dieser Ort sinnbildlich für das Geheimnis des ganzen Ruhrgebiets steht: Mittendrin in dieser pulsierenden Metropolregion zu sitzen, und dennoch vom Eindruck beschlichen zu werden, dass viele Stellen kleine Aussichtspunkte auf die große, weite Welt sein können. Wo ist dein liebster Platz im Ruhrgebiet? Sag‘s uns: * liebsterplatz@pflichtlektuere.com 34

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Peinliche Platte

bandschriftlich ProtokollHenrike Fischer FotoGregor Busch

TextSebastian Hetheier FotoFlorian Hückelheim

Männer mit Bärten waren es, die meine frühe Kindheit prägten.

Sie bezeichnen sich selbst als „The Kings of Horrorska“. Mit ihrer Musik wollen Horst and the Heartbreakers wieder Spaß und Rhythmus auf die Bühne bringen – bevorzugt in völlig überfüllten und nach Schweiß riechenden Etablissements. Denn am liebsten spielt die 10 ½-köpfige Band aus Gevelsberg - Maskottchen „Bob“ zählt nur als halber Mann da, wo die Menschen alle Hemmungen über Bord werfen können.

Mein Vater hatte einen Schnäuzer, wahlweise einen Vollbart. Der Kinderherzen beflügelnde Nikolaus trug einen, an dem ich gern zupfte und dann waren da noch die ZZ-Top Platten aus der dunklen Ecke des musikalischen Familienkanons. Stets mit Fotos dreier Texaner von gesichtsfrisierter Coolness. Dann kam er: Peter Steiner. Der Gipfel alles Bärtigen. Nicht der mit dem Theaterstadl, der einzig Wahre. Er vereinte alles, was ich bereits an zur Schau gestellter Männlichkeit bewunderte, welche ich unbedingt auch erlangen wollte. Ich war damals keine fünf.

Unser Musikstil klingt...

Er hatte mir eine Botschaft auf CD mitgebracht: „Aber Vorsicht, it’s cool man!“. Vorgetragen im ecstasy-verdächtigen Hochgeschwindigkeits-Techno und eigentlich als Werbegag für Pfefferminzschokolade gedacht. Ich verstand es als verführerische Ansage auf das Erwachsenwerden: Als bärtiger Almöhi hoch oben in den Bergen wohnen, einen Dialekt sprechen, jodeln wie ein Weltmeister, viel Schokolade essen und mit einer Menge Mädchen tanzen – das war damals das versprochene Paradies für mich.

Wir machen Musik, weil...

Wir wären gerne Vorband von...

Wie schlagfertig und stilsicher er doch wirkte, wenn er sagte „Ah, ein Stadtmensch! Sie glauben wohl auch, dass wir hier oben immer noch ein wenig altmodisch sind!“. Mit dem Ruhrgebiet verbindet uns...

Ja, Peter war Trendsetter und mein Vorbild als frühreifer Fantast. Das hielt lange an, bis mir von meinem Opa breitspurig erklärt wurde, wann der Bartwuchs beim Mann frühestens einsetzen und sich derart weiß färben würde. So lange wollte ich doch gar nicht warten.

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Probehören auf pflichtlektuere.com


Neues vom V-Mann

fOTOWDR

EinsLive Hörsaal Comedy 14. April, Duisburg, Comedy 19 Uhr, Uni, Gebäude SG, Geibelstr. 41 www.einslive.de Mit den Comedians Fee Badenius, Abdelkarim, Maxi Gstettenbauer, David Werker. Am 28.04. auch auf dem Campus Essen und am 11. Mai in der FH Dortmund. Ab 17,80 Euro

Olaf Schubert 16. April, Dortmund, Comedy 20 Uhr, Dietrich-Keuning-Haus Leopldstr. 50-58 www.olaf-schubert.de Der „Betroffenheitslyriker, Mahner und Erinnerer“ zeigt uns Wege, die Welt zu verbessern: im Pullunder und mit Musik. Ab 28,65 Euro

Spiel des Lebens 21. April, Bochum, Theater 19.30 Uhr, Schauspielhaus Königsallee 15 www.boropa.de Zehn Schauspielschüler der Folkwang Universität entwickeln ein Stück auf Basis ihrer eigenen, realen Erlebnisse. Oder spielen sie uns nur etwas vor?

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fOTOBUTTERFAHRTFUENF

Harry Rowohlt

Butterfahrt 5

26. April, Duisburg, Lesung Einlass 19.30 Uhr, Grammatikoff Am Dellplatz 16 A www.grammatikoff.de

3. Mai, Duisburg, Musikcomedy Einlass 19.30 Uhr, Grammatikoff Am Dellplatz 16 A www.grammatikoff.de

„Das Publikum hat ein Anrecht darauf mitzuerleben, wie der Referent sich zugrunde richtet“, sagte der weise Harry. Seine nie enden wollenden Solo-Lese-Abende nennt er dabei „Schausaufen mit Betonung“. Sie versprechen klugen Sprachwitz und kompromisslose Erzählungen. Ein Mann, den man gehört haben muss. VVK 14 Euro zzgl. Gebühr

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Tanz in den Mai

12. Mai, Essen, Poetry Slam 18 Uhr, Weststadthalle, Essen Thea-Leymann-Str. 23 www.weststadt-story.blogspot.com

30. April, Dortmund, Party Ab 21.30 Uhr, Großmarkschänke, Heiliger Weg 60 www.grossmarktschaenke.de

Die Essener Innenstadt hat nun eine amtliche Slamveranstaltung. Offen für alle Jungpoeten, die sich duellieren wollen. Eintritt frei

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Russendisko 16. Mai, Dortmund, Lesung und Party Ab 20 Uhr, HCC Königswall 21 www.hcc-dortmund.de Wladimir Kaminer liest und legt auf. Lesung & Disco: 16,50 Euro Nur Disco: 10 Euro


fOTOSCHALTZENTRALE

fOTOSTATE RADIO

fOTOUNIVERSAL

Kinostart „50/50 – Freunde fürs (Über)Leben“ Start: 3. Mai 2012 Mit 27 gegen den Krebs kämpfen Wie reagiert man, wenn man mit 27 Jahren Wirbelsäulenkrebs diagnostiziert bekommt? Was passiert mit einem, wenn die Chancen 50/50 stehen, wieder gesund zu werden? Für den jungen Radioproduzenten Adam (Joseph Gordon-Levitt) gilt es erst einmal nüchtern mit der unmöglichen Nachricht umzugehen. Sein Umfeld reagiert hingegen hysterisch bis bemitleidend. Da soll nun eine Psychotherapie bei einer völlig unerfahrenen Studentin Adam bei Verstand halten. Gut, dass es da noch Kyle (Seth Rogen) gibt, Adams besten Freund, der ihn auf Schritt und Tritt durch die schwere Zeit begleitet und ihm neuen Lebensmut einhaucht. Denn selbst Adams Freundin schottet sich immer mehr von ihm ab und auch die Chemotherapie hinterlässt Spuren. Eine Geschichte basierend auf den persönlichen Erfahrungen des Drehbuchautors Will Reiser (Da Ali G. Show), der sich der Krebsthematik mit viel Herz und angemessenem Witz nähert.

State Radio 27. Mai, Bochum, Konzert Ab 19.30 Uhr, Zeche Prinz-Regent-Str. 50-60 www.zeche.com Die Band um Chad Urmston macht mit neuen Songs Station in Bochum. Alternative Rock mit Hirn, Herz und Message. VVK 16 Euro zzgl. Gebühren

Open Air Werden 28. Mai, Essen, Festival 13.30 Uhr, ehemaliges Strandbad Im Löwental www.openair-werden.de Das Umsonst-und-draußen-Festival findet nach einem Jahr Pause nun wieder statt. Die Sicherheitsauflagen wurden nach dem Loveparade-Unglück in Duisburg verschärft und ein sicheres und angenehmes Festival wartet nun auf euch. Wir erinnern uns an das Sahne-Lineup von 2010: Bonaparte, Beat!Beat!Beat!, Friska Viljor, Gisbert zu Knyphausen, Soulfly, u.v.m. Eintritt frei

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Komisches Volk Bis zum 24. Mai, Essen, Ausstellung Mo 14.30 – 18.30 Uhr, Mi 10 – 16.30 Uhr, Do 14.30 – 18.30 Uhr, Di / Fr / Sa / So geschlossen Brigittastr. 34 www.institutfrancais.de/essen „Plantu“, bürgerlich Jean Plantureux, ist in Frankreich eine Institution. Seine Karikaturen erscheinen seit 1972 auf der Titelseite der „Le Monde“. Nun zeigt das Institut Francais seine Werke und besonders seine Sicht der deutsch-französischen Beziehungen. Sehenswert! Eintritt frei

Ein Tag Deutschland Bis zum 16. Juni, Gelsenkirchen, Ausstellung Mo bis Fr 8 - 18 Uhr, Sa 8 -17 Uhr, So geschlossen Munscheidstr. 14 www.bildsprachen.de Bild.sprachen zeigt Werke von Fotografen, die 2010, „24 Stunden eines gewöhnlichen Freitags“ an verschiedensten Orten in ganz Deutschland dokumentierten. Ein ungeschliffener Blick auf den deutschen Alltag.


Rätselraten Gewinnspiel: Pause an der Luft

Finde alle sechs Fehler im unteren Bild und maile die Aufzählung bis zum 15.05.2012 an gewinnspiel@pflichtlektuere.com – samt deiner Adresse (für den Fall, dass du gewinnst und deinen Preis nicht abholen kannst; sonst wird sie gelöscht). Zu gewinnen gibt es das Buch „Überleben auf Festivals“ von Oliver Uschmann. Viel Glück! Von der Teilnahme ausgeschlossen sind Mitarbeiter der pflichtlektüre-Redaktion sowie deren jeweilige Angehörige. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

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