Pflichtlektüre 3/2014

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pflichtlekt端re Studentenmagazin f端r Dortmund

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WOLFGANG (53) LERNT LESEN F端nf Jahrzehnte als Analphabet

DROGEN UND WAFFEN Ganz leicht online zu kaufen

EKEL MIT ANTENNE

Kakerlaken fremdgesteuert


Sudoku

Impressum Herausgeber Institut für Journalistik, TU Dortmund Projektleitung Prof. Dr. Michael Steinbrecher (ViSdP) Redaktionsleitung Sigrun Rottmann Redaktion Uni-Center, Vogelpothsweg 74, Campus Nord, 44227 Dortmund Tel.: 0231/755-7473, post@pflichtlektuere.com Redaktionsassistent Nils Bickenbach Textchefs Jonas Gnändiger, Julia Knübel Fotoredaktion Stina Berghaus, Thomas Borgböhmer, Miriam Wendland Illustrationen & Zeichnungen Pierre Pauma, Simon Schmitz Layout & Grafik Sarah Breidenstein, Alina Fuhrmann, Arne Schleef, Martin Schmitz, Philipp Ziser Redakteure und Reporter Timo Baudzus, Lisa Bents, Claudia Brade, Janna Cornelißen, Ricarda Dieckmann, Henrike Fischer, Annika Frank, Kristina Gerstenmaier, Jonas Gnändiger, Alexander Greven, Pierre-Jean Guéno, Rebecca Hameister, Luisa Heß, Johannes Hülstrung, Carolin Imcke, Julia Knübel, Tobias Kreutzer, Stefanie Luthe, Moritz Makulla, Lara Malberger, Katharina Meier, Hendrik Pfeiffer, Philipp Rentsch, Emmanuel Schneider, Alexandra Selzer, Philipp Ziser Die Grafik dankt zerberstend ... ...Prof. Dr. med. Henrik Veldhoen, Diego Simeone, allen Profs und Dozenten der Momente-Seite, Mats und Manu für den Schimmel! P.S.: Vom Salat schrumpft der Bizeps! Druck Hitzegrad Print Medien & Service GmbH Auf dem Brümmer 9 44149 Dortmund Einem Teil dieser Auflage liegt ein Spielplan zur Fußball-Weltmeisterschaft 2014 von nrwision bei.

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Eins vorab

@Simonschmitz.net TEXTMoritz Makulla IllustrationSimon Schmitz | Hello

Die meisten Menschen haben eine natürliche Abneigung gegen Keime. Manche entwickeln sogar eine wahre Hysterie dagegen, andere ignorieren die für uns unsichtbaren Mikroben. Unser Autor hat von beidem ein bisschen und gerät nur in einen Sauberkeitswahn, wenn er Ablenkung braucht.

S

emesterende. Statt die freie Zeit genießen zu können, muss ich die angesammelten Hausarbeiten schreiben. Während ich verzweifelt vor dem Computer sitze, blicke ich mich im Zimmer um und suche nach Ablenkung. Dabei fällt mir auf, wie dreckig die Wohnung doch ist. Plötzlich wird Putzen zur verlockenden Alternative. Statt für die Klausur zu lernen sauge ich erst einmal Staub. Das Bad zum Glänzen zu bringen ist mir dann doch wichtiger als das anstehende Essay. Wenn ich alles vom Schmutz befreit habe, fühle ich mich auch innerlich gereinigt und habe ganz nebenbei mein Gewissen beruhigt: Ich habe ja schon etwas Sichtbares geschafft.

Aber der Schein trügt: Sie sind überall. Sie beherrschen deine Toilette und ergreifen Besitz von deinem Playstation-Controller. Keime bevölkern alles, was du am liebsten anfasst. Und vermehren sich dort rasend, um mit dir eine große Infektionsparty zu feiern. Schimmelpilze erobern die Nahrung, die du nicht rechtzeitig verbraucht hast und können dich krank machen, wenn sie sich an Wänden bilden. Alptraumszenarien machen sich in unseren Köpfen breit bei dem Gedanken an die unsichtbare Bedrohung auf dem Lieblingskuscheltier, das jede Nacht mit uns im Bett schläft. Und wie viele Keime sammeln sich wohl auf der Fernbedienung, die man überall herumliegen lässt?

Wenn es um Hygiene geht, mache ich immer wieder die unterschiedlichsten Erfahrungen mit meinen Mitmenschen: Da gibt es die Freundin, die von sich behauptet, locker mit Schmutz umzugehen, sich aber beinahe stündlich die Hände desinfiziert. Oder den Kollegen, der nicht gerne in fremden Lokalen oder gar Fast-Food-Ketten essen geht. Und dann die WG, die ernsthaft überlegt, eine Putzhilfe einzustellen, um das Chaos einzudämmen.

Unsere Autorin wollte es herausfinden und hat mithilfe von Experten den Test gemacht: Sie hat sich angeschaut, wo sich in der Wohnung eines Kollegen die meisten Bakterien tummeln. Jetzt weiß sie auch, wie sie ihre Bude am besten sauber hält. Wie das geht und warum Keime gar nicht so schlimm sind, lest ihr in der pflichtlektüre. Mit deren Lektüre man sich übrigens auch wunderbar vorm Lernen drücken kann.

Ist keine Klausuren-Zeit, ist mir Putzen nicht so wichtig. Ich halte oberflächlich alles sauber, soweit die Zeit dafür vorhanden ist. Und überhaupt: So schlimm sieht es hier doch gar nicht aus. 03

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INHALT REIN IMPRESSUM Hier gibt‘s Sudokus

EINS VORAB Keimphobie und Sauberkeitsfimmel

MOMENTE Kreatives Chaos

JOB

02 03 06 WISSEN

LEBEN

08 22 14 VORBEREITUNG ZWISCHEN AFFEN SCHABEN 13 AUF BRASILIEN 20 FERNGESTEUERT 32 UND GIRAFFEN DIE ABC-LÜGE

Wolfgang (53) lernt lesen

Jana zeigt euch den Zoo

UNTER DER OBERFLÄCHE

ALL INKLUSIV

Das Dilemma der Inklusion

Lustige Zitate des Fußballs

ABGEFAHREN Mit Augen zu durch Köln

HINGESCHAUT Bochum, Deutschlands Detroit?

HINGEGANGEN Geh mal wieder an die frische Luft!

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inhalt

Drogen und Waffen online kaufen

Darf man das überhaupt?

36 RAUS 37 38


Apropos...WM-quiz TEXTPhilipp Rentsch

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Grup

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Gruppenspiel 3

Welcher dieser BVB-Spieler hat sich mit seinem Heimatland für die WM in Brasilien qualifiziert? a) Henrikh Mkhitaryan b) Sokratis Papastathopoulos c) Robert Lewandowski

Der frühere Bundesligaspieler Reinhold Wosab, der unter anderem für Borussia Dortmund und den VfL Bochum auflief, beliefert seit Jahren den WM-Veranstalter „FIFA“. Doch womit? a) Pokale und Medaillen b) Grillwürstchen c) Schiedsrichter-Pfeifen

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Achtelfinale

Viele Augen richten sich alle vier Jahre auf die WM der Männer. Aber auch die Frauen kicken erfolgreich und vor immer größerem Publikum. In welche Ruhrgebietsstadt zog es die Fußballerinnen 2011 im Rahmen der heimischen WM? a) Bochum b) Duisburg c) Essen

Vierte l

finale

In we l Natio cher Ruhr gebie nalel fv ts 2006 die N or ihren stadt verb a) W W ä c at M-Sp rachte d hte? ielen b) W tenscheid i an in Do e deutsch e c) Ca ne-Eicke rtmu nd l strop -Rau xel

FINALE Der Essener Helmut Rahn schoss Deutschland 1954 zum ersten Titelgewinn bei einer WM. Welcher Fußballer, der derzeit im Ruhrgebiet kickt, ist mit dem Helden von einst verwandt? a) Ilkay Gündogan b) Nuri Sahin c) Kevin-Prince Boateng

Lösung:

G1:a) G2: a) G3: b) AF: a) VF: c) HF: a) F: c)

Halbfinale

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Kreatives CHaos DozentenbĂźros zwischen Ordnung und Anarchie

FotosStina Berghaus, Thomas BorgbĂśhmer & Miriam Wendland


DIe AB C - L ÜG E Wolfgang Kaspari ist Analphabet. Jahrelang merkt das

niemand, nicht mal seine Familie kennt seine Schwäche. Bis er es nicht mehr verkraftet, seinem Umfeld etwas vorzuspielen – und seine Lebenslüge aufdeckt. TEXT & FotosClaudia Brade

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s regnet in Strömen. Über Wolfgang Kaspari hängt eine schwarze Wolkendecke, dicke Tropfen laufen ihm übers Gesicht. Wie betäubt geht er seinen Weg. Sein Handy klingelt, mehrmals. Doch er nimmt es nicht wahr, läuft weiter und weiter. Es ist Mitte des Jahres 2011. Kaspari ist seit einigen Wochen arbeitslos. Vor etwa einer Stunde hatte er einen Autounfall. „Warte hier, ich fahre dich gleich nach Hause“, sagt seine Tochter nach dem Unfall zu ihm. Sie arbeitet neben der Werkstatt, in die Kaspari sein Auto gebracht hat. Aber er wartet nicht. Er steht einfach auf und geht los. Wieder klingelt das Handy. Wolfgang Kaspari schließt gerade seine Haustür auf. Etwa 20 Kilometer hat er an diesem Abend zu Fuß zurückgelegt, einmal von Brühl nach Köln, von der Werkstatt bis zu seiner Haustür. Im strömenden Regen. Kaspari holt das Handy hervor, überrascht von den vielen unbeantworteten Anrufen. 35 Mal hat seine Tochter versucht ihn zu erreichen, bei Versuch Nummer 36 nimmt er ab. „Mir geht’s nicht gut. Wir reden später darüber“, ist alles, was Wolfgang Kaspari sagt. Dann legt er auf.

Vor der Tochter in Tränen ausgebrochen Zehn Minuten später steht seine Tochter vor der Haustür, gemeinsam mit seinem Patenkind. Beide stehen Wolfgang sehr nahe und sind besorgt. In diesem Moment kann Wolfgang Kaspari nicht mehr an sich halten. Zu lange hat er sich niemandem anvertraut, seine Probleme nur mit sich selbst ausgemacht. Er bricht in Tränen aus. Zum ersten Mal spricht Wolfgang über das, was er bis dahin fast fünfzig Jahre mit sich herumgetragen hat. „Ich habe ein riesiges Problem: Ich kann nicht lesen und schreiben.“ Stille im Raum. Kasparis Patenkind traut sich als erste, etwas zu sagen. „Und wo liegt jetzt das Problem?“, fragt sie. „Dann lernst du es eben.“ Wolfgang kann es nicht fassen. Ob sie ihm nicht richtig zugehört habe, fragt er. „Ich kann nicht lesen und schreiben.“

„Das kriegen wir hin“, sagt seine Tochter. Für Wolfgang war dieser Moment der Befreiungsschlag von seiner Lebenslüge. Eine Woche später meldete sich der heute 53-Jährige zum Unterricht in der Volkshochschule Köln an.

„das“. Mehr nicht. „So richtig komplett zusammenhängende Sätze, daran war gar nicht zu denken“, sagt Wolfgang. Der Wendepunkt war ein Nervenzusammenbruch, ausgelöst durch seine Arbeitslosigkeit und den Autounfall.

Es wurde nie nach einer schriftlichen Bewerbung gefragt

7,5 Millionen funktionale Analphabeten gibt es deutschlandweit. So viele Erwachsene „können nur derart eingeschränkt lesen und schreiben, dass sie von voller selbstständiger gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen sind, bzw. häufig auf Unterstützung angewiesen sind“, heißt es in der „leo-Studie“ der Universität Hamburg. Eine erschreckend große Zahl. Das Forschungsprojekt zeigt auf, wie groß die Zahl funktionaler Analphabeten bei deutsch sprechenden Erwachsenen im Alter von 18 bis 64 Jahren ist. Das Unfassbare: Etwa 57% der Analphabeten sind laut „leo-Studie“ berufstätig.

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Seit mittlerweile zweieinhalb Jahren ist Wolfgang dort Lerner in einem Alphabetisierungskurs. Der Schritt der Offenlegung war für Wolfgang nicht leicht. Viele Jahre kam er ohne Lesen und Schreiben zurecht. Er konnte nur seinen Namen buchstabieren und „Stadt Köln“. Noch ein paar kurze Wörter wie „der“, „die“, 10 job

Wie kommt es dazu, dass so viele erwachsene Menschen in Deutschland Analpha-


beten sind und im besten Fall einzelne Wörter lesen können? Bettina Lübs, Vorstandsmitglied im Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung und selbstständige Weiterbildungspädagogin, erklärt: „Man kann nicht sagen, dass es an der Schule liegt, die Ursachen sind oft eine Gemengelage. Manchmal kommen die Betroffenen aus bildungsbenachteiligten Familien, das muss aber nicht immer der Fall sein. Ursachen können auch ein Trauerfall, eine Scheidung oder eine schwere Krankheit sein.“

sagt Bettina Lübs. Zusätzliche Ursache kann eine nicht erkannte Legasthenie, eine sogenannte Lese-RechtschreibSchwäche sein.

Wie das so reibungslos klappen konnte, fragt er sich heute selbst. „Das ist im Nachhinein wirklich komisch, dass die Leute da nie Wert drauf gelegt haben.“

Auch bei Wolfgang Kaspari kamen mehrere Dinge zusammen: „Ich war der Liebling meiner Mutter. Heute sehe ich das als Problem, denn dadurch hat sie mich auf falsche Art und Weise verhätschelt. Wir waren fünf Kinder und ich war der Älteste. Wenn ich keine Lust hatte in die Schule zu gehen, musste ich ihr nur sagen, dass es mir nicht gut geht.“ Hätte sein berufstätiger Vater das häufige Schulschwänzen mitbekommen, hätte das Ärger gegeben. Seiner Mutter macht er aber keine Vorwürfe. „Sie hat es ja nicht schlecht gemeint. Aber es ist aus heutiger Sicht ein Fehler gewesen.“

Wolfgang Kasparis Leben bestand aus Lügen und Tricksereien. Dreimal war er verheiratet und hat zwei Kinder. Seine ersten beiden Ehefrauen und seine Kinder wussten nicht, dass er nicht lesen und schreiben kann. „Meine dritte Frau hat es dann gemerkt. Der konnte ich nicht so leicht was vormachen. Den anderen beiden ist es vielleicht auch aufgefallen, aber sie haben es mich nie merken lassen. Generell wurde es mir sehr leicht gemacht.“ Für einen Außenstehenden scheint das unvorstellbar, doch Analphabeten eignen sich im Laufe der Jahre zahlreiche Tricks an. „Zum Thema SMS schreiben habe ich immer gesagt: Ich habe keine Schreibmaschine, sondern ein Telefon. Ich rufe an. Oder: Die Tasten sind zu klein und das ist immer so ein Gefummel. Ich habe immer dagegen argumentiert und jeder hat das akzeptiert“, erzählt Wolfgang.

Wolfgangs Bildungsweg fängt ganz normal mit dem Besuch der Grundschule an. Danach wechselt er auf die Hilfsschule und schließlich auf die Förderschule, die er aber „nicht komplett beendet“. Einen richtigen Abschluss hat er nicht, auch keine Ausbildung. Nach der Schule steigt er direkt ins Berufsleben ein, zunächst als Gärtner beim Grünflächenamt der Stadt Köln, später arbeitet er bei einem Möbeltransportunternehmen, als Küchenmonteur und in einer Druckerei. Eine Bewerbung hat er nie geschrieben. „Ich habe das immer umgangen und mich persönlich vorgestellt. Es hat nie einer nach einer schriftlichen Bewerbung gefragt. Das war auch immer die größte Befürchtung, die ich hatte.“

Experten sehen unterschiedliche Ursachen Derartige Erlebnisse können den Lernprozess des Lesens und Schreibens beeinflussen, bei dem Kinder dann den Anschluss verlieren. „Wenn man einmal in der Grundschulphase so einen Bruch hat, ist es schwer wieder reinzukommen“, 11 job

Fehlende Brille als Ausrede in der Öffentlichkeit Bei Amtsgängen sagte er, ohne Brille könne er Formulare nicht lesen oder er verstehe sie nicht. So brachte er die Beamten dazu, ihm Anträge laut vorzulesen. Wenn Rechnungen kamen, bezahlte Wolfgang sie, ohne zu wissen, was eigentlich in dem Schreiben stand. Bei Zugfahrten kaufte er die teuersten


den anderen ist die Scham zu groß, erkannt zu werden. Niemand ist zu einem Gespräch bereit. Wenn Wolfgang heute darüber nachdenkt, was er die ganzen Jahre durch den Analphabetismus verloren hat, wünscht er sich, er hätte seine Energien eher in das Lernen investiert als in seine Ausflüchte. „Ich habe mich im Endeffekt ja auch selbst belogen“, sagt er. Rückblickend würde er sich früher zu seiner Schwäche bekennen, wie er es heute bei seiner neuen Arbeitsstelle als Altenbegleiter tut. Dort geht er ganz offen damit um. „Ich habe es verborgen, weil ich Angst hatte, dass die Leute sagen, ich sei dumm. Und das hätte mich extrem angegriffen.“ Tickets, weil er sich so sicher sein konnte, dass er für die Strecke nicht zu wenig bezahlte. Sogar seinen Führerschein machte Wolfgang. In seiner theoretischen Fahrprüfung hatte er nur einen Fehler. Die Antworten hatte er alle auswendig gelernt, indem er sich die Antwortkreuze und Seitenzahlen einprägte. „Analphabeten können sich unheimlich viel merken“, sagt Bettina Lübs, „sie orientieren sich ganz anders, merken sich beispielsweise die Nummern der Autobahnen oder suchen sich andere Anhaltspunkte.“ „Man versucht mit allen Mitteln seine Schwäche zu überspielen und Dinge zu umgehen“, erzählt Wolfgang. Bei seiner Familie nutzte er Ausreden wie „die Mama hat die schönere Schrift“, oder ließ seine Kinder fernsehen, statt ihnen etwas vorzulesen. Als seine dritte Frau ihn schließlich auf sein Problem ansprach, half sie ihm – allerdings bei weiteren Versteckspielen. Musste Wolfgang bei seiner Arbeit in einer Druckerei eine Palette beschriften, rief er seine Frau an und die schickte ihm dem Text anschließend per SMS. „Ich bin dann auf die Toilette und habe den Text dort vom Handy abgeschrieben. Abschreiben konnte ich ja. Es hat zwar alles etwas länger gedauert, aber es ging. Jahrelang ging das so.“ Wenn Kollegen ihm auf der Arbeit eine Zeitung vorlegten und ihn fragten, ob er eine Meldung schon gesehen habe, oder wenn über einen Artikel gelacht wurde, hat Wolfgang sein Verständnis nur vorgespielt. „Dann habe ich auf die Zeitung geschaut und gesagt

‚Ne oder? Das gibt es doch nicht!‘ Ich wusste nicht, was da stand.“ Er half sich, indem er die Reaktionen der anderen spiegelte. „Wenn die empört waren, habe ich auch so reagiert, wenn die gelacht haben, habe ich das auch.“ „Analphabeten leben in der ständigen Angst entdeckt zu werden“, weiß Bettina Lübs, die selbst jahrelang Alphabetisierungskurse an einer Volkshochschule unterrichtete. Die Scham ist groß. „Wichtig ist es, den Betroffenen das Gefühl des Alleinseins zu nehmen. Daher findet der Unterricht auch in Kleingruppen statt. Analphabeten brauchen andere Analphabeten um weiterzukommen.“ Die gegenseitige Motivation und die Geborgenheit der Gemeinschaft sind wichtige Punkte in der Ausbildung. Viele haben kaum Selbstbewusstsein, zweifeln an sich und stellen ihre Intelligenz in Frage. Wolfgang weiß: „Ich habe mich immer gefragt ‚Wieso bist du eigentlich so dumm?‘, statt mich zu fragen, wie ich das Problem lösen kann.“

„Traumhaftes, erhebendes Gefühl“ Der Gang an die Öffentlichkeit sei für Lerner ein wichtiger Schritt, findet Bettina Lübs. So stärken sie ihr Selbstbewusstsein und motivieren andere Lerner. Selbstverständlich ist der offene Umgang aber nicht. In Wolfgangs Kurs ist er der einzige, der offen über seinen Lebensweg spricht. Bei 12 job

Heute ist Wolfgang froh über seine Entscheidung, Lesen und Schreiben zu lernen. Und stolz. Die Zeiten der Lügen sind vorbei. „Es ist ein traumhaftes, erhebendes Gefühl, lesen zu können“, sagt er. „Das kann man gar nicht richtig beschreiben. Man taucht in eine ganz andere Welt ein.“ Auch wenn er noch über einige Wörter stolpert, hat er sein Ziel fest vor Augen: „Egal welchen Text ich mir vornehme, ich möchte ihn flüssig lesen können. Und ich möchte es schaffen, komplette Briefe in Schreibschrift zu verfassen.“ Bis dahin hat Wolfgang noch ein kleines Stück vor sich, doch er arbeitet jeden Tag an sich. Kleine Tricksereien kommen dabei immer noch vor: „Manchmal tippe ich ein Wort ins Handy ein, wenn ich nicht genau weiß, wie man es schreibt.“ Das Schreibprogramm vervollständigt dann das Wort für ihn und er kann es abschreiben. „Ich glaube, das werde ich mir auch nie abgewöhnen, ein bisschen zu tricksen“, lacht Wolfgang. Und falls sich doch mal Fehler einschleichen, hat Wolfgang einen Satz für Besserwisser parat: „Wer Fehler findet, darf sie behalten.“

Selten trifft man Menschen, die einen mit ihrer Geschichte so motivieren wie Wolfgang Kaspari. Autorin Claudia Brade bewundert den Protagonisten für seine Art, durchs Leben zu gehen. Ein Neuanfang ist eben immer möglich.


ZWISCHEN AFFEN UND GIRAFFEN Ein Job zwischen Tieren von allen Kontinenten: Studentin Jana Goseberg arbeitet im Dortmunder Zoo und hat sich dadurch einen besonderen Zukunftstraum in den Kopf gesetzt. TEXTKATHARINA MEIER FOTOSMIRIAM WENDLAND

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alter nimmt eine Decke, zieht sie sich wie ein Kopftuch über und schaut abwartend und ganz entspannt durch die Glasscheiben. Er schält sich eine Banane und verschlingt sie in einem Biss. Genüsslich kratzt er sich am Bauch. Jana findet ihn so süß, dass sie ihn am liebsten auf den Arm nehmen würde. Aber das könnte schwierig werden, denn Walter ist ein 25-Jahre alter Orang-Utan und daher nicht der Leichteste: „Das sind starke und kluge Tiere. Sie faszinieren mich einfach“, sagt Jana. Begonnen hat Janas Job als Zoolotsin vor zwei Jahren. In einer Biovorlesung an der TU Dortmund wurde Werbung dafür gemacht. Die 23-Jährige war sofort begeistert, bewarb sich und wurde genommen. Erst durfte sie die Mitarbeiter bei Führungen nur begleiten, sie wusste noch zu wenig. Während dieser Zeit brachte sie sich alles über die Tiere bei, über ihre „Persönlichkeiten und den Zoo“. Mittlerweile trägt Jana ein Zoolotsen-Schild. Sie hat es geschafft und liebt ihren Job: „Hier kann ich meine Interessen Pädagogik und Biologie verbinden. Die Studentin leitet nun Führungen für Kinder, sehr oft für Schulklassen, aber auch für Erwachsene. Meist sind die Kleinen mutiger als die Älteren. Sie schrecken nicht vor Schlangen zurück und haben sich einmal sogar mit Fischen beworfen, die eigentlich für die Seerobben gedacht waren, erzählt Jana. Auch die Erwachsenen können von der Zoolotsin noch dazulernen. So ist es etwa normal, dass ein Pinguin eine dicke Fettschicht hat - deswegen sieht ein

Pinguinweibchen vielleicht so aus, muss aber nicht gleich schwanger sein. Bei Führungen an Geburtstagen gibt es für die Kinder immer ein besonderes Highlight. Jana bastelt mit ihnen beispielsweise Futterpakete für die Tiere. Die Zoo-Route plant sie dann individuell nach den Lieblingstieren des Geburtstagskindes. „Mädchen lieben meistens die süßen Tiere wie Affen, Giraffen und Robben. Jungs stehen eher auf die wilden und starken Tiere wie Löwen und Tiger“, erzählt sie. Auch die Kinderferienprogramme darf die Studentin mitgestalten. Gemeinsam mit einem anderen Zoolotsen denkt sie sich ein bestimmtes Thema, Führungen und Spiele für eine Woche im Zoo aus. Der Job erfordert viel Kreativität und nicht zuletzt Geduld und starke Nerven. Denn eine wilde Horde von aufgeweckten Kindern unter Kontrolle zu bringen, kann eine echte Herausforderung sein. Doch Jana scheint genau dafür gemacht: Die Kinder lieben und hören auf sie. Durch den Job als Zoolotsin hat die Studentin entdeckt, wie viel Spaß ihr diese Arbeit bereitet. Mittlerweile kann sie sich gut vorstellen, später einmal in einer Zooschule zu arbeiten. 13 job

Wer bald heiraten möchte und keine Idee für einen Junggesellenabschied hat: Für zukünftige Ehefrauen und Ehemänner bieten Zoolotsen und Tierpfleger ebenfalls Führungen und Specials an. Zur Vorbereitung auf ein mögliches, häusliches Chaos darf der oder die Glückliche dann ein Tiergehege säubern. Jana reicht dazu selbstverständlich das Putzzeug.


All inklusiv Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung. Ab Sommer sorgt ein neues Gesetz in NRW für mehr gemeinsames Lernen von behinderten und nicht-behinderten Schülern. Befürworter pochen auf die Menschenrechte, Gegner sehen Gefahren für beide Seiten. TEXTJohannes Hülstrung FotosStina Berghaus

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Wir glauben nicht, dass unsere Schüler an einer Regelschule bestehen können.

olga sitzt im Deutschunterricht und liest die Bild-Zeitung. Er soll sie mit einer regionalen Tageszeitung vergleichen. Fragt man ihn und seine Mitschüler, ist die Boulevardzeitung eindeutiger Favorit. „Da sind mehr Bilder und mehr Sachen über das Leben drin“, sagt Tolga. „Da erfährt man, was im Leben so abgeht.“ Ob ihm die Aufgabe Spaß mache? „Besser als normaler Unterricht.“

Dirk Mautner, Konrektor Hasencleverschule

Pressereferat des Ministeriums auf Anfrage der pflichtlektüre. Aus ihrer Sicht ist Inklusion das ideale Mittel zur Leistungssteigerung förderungsbedürftiger Kinder. „Wissenschaftliche Untersuchungen und Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, dass viele Kinder mit Behinderung erfolgreicher lernen, wenn sie an allgemeinen Schulen unterrichtet werden“, so Stannigel.

Zeitunglesen statt „Ey, Alter!“ Der 16-jährige Tolga geht in die neunte Klasse der Hasencleverschule in Gevelsberg, einer städtischen Förderschule mit dem Förderschwerpunkt „Lernen, Sprache, soziale und emotionale Entwicklung“. Er ist oft müde, hat ständig Kopfschmerzen. An der Hasencleverschule kümmert man sich um ihn – und das nicht nur im Unterricht. „Wir versuchen, unsere Schüler über eine persönliche Bindung zu erreichen und sie so aufzubauen“, sagt Dirk Mautner, der stellvertretende Schulleiter der Schule. Er leitet die neunte Klasse gemeinsam mit Monika Rodriguez. Abgesehen von den Fächern Sport und Werken teilen die beiden den gesamten Unterricht untereinander auf. Mautner konzentriert sich auf Mathematik, Rodriguez übernimmt meistens den Deutschunterricht. Selbstständiges Lernen und der Umgang mit Sprache sind an der Hasencleverschule keine Selbstverständlichkeit, sondern Lernziele. „Die Kinder sollen verstehen, dass Sprache mehr ist als ‚Ey, Alter!’“, sagt Mautner. Darum auch der Zeitungsvergleich: Die Jugendlichen müssen sich einen Artikel aussuchen und ihn mit eigenen Worten schriftlich wiedergeben. Tolga ist heute am schnellsten fertig. In Nordrhein-Westfalen besuchen 90.211 Schüler mit Förderbedarf wie Tolga eine Förderschule. 28.403 andere lernen inklusiv an einer Regelschule, also gemeinsam mit nicht-behinderten Kindern. Der Inklusionsanteil liegt damit laut der aktuellen Studie „Update Inklusion – Datenreport zu den aktuellen Entwicklungen“ der Bertelsmann Stiftung bei 23,9 Prozent. Das ist der

drittniedrigste Wert aller Bundesländer, nur in Niedersachsen und Hessen ist der Anteil noch geringer. Doch diese Verteilung könnte sich bald ändern. Am 1. August 2014 tritt das „Erste Gesetz zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen (9. Schulrechtsänderungsgesetz)“ in NRW in Kraft. Es wurde im Oktober 2013 vom Landtag verabschiedet und wird kurz „Inklusionsgesetz“ genannt. In der neuen Fassung des Schulgesetzes NRW heißt es: „Die Schule fördert die vorurteilsfreie Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderung. In der Schule werden sie in der Regel gemeinsam unterrichtet und erzogen (inklusive Bildung).“ Das Gesetz trägt der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen Rechnung, die Deutschland vor über fünf Jahren ratifiziert hat. Die deutschen Bundesländer sind demnach dazu verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem einzuführen. Doch über die Umsetzung der Konvention wird seit längerem heftig gestritten. Das NRW-Bildungsministerium unter der Leitung der Grünen-Politikerin Sylvia Löhrmann verteidigt das Gesetz. „Dadurch erhalten auch Kinder und Jugendliche mit Behinderungen dieselben Chancen und Möglichkeiten für gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben wie solche ohne Behinderung“, sagt Eva Stannigel vom 15

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„Ein Großteil würde untergehen“ An der Hasencleverschule dagegen ist man unter sich – und das ganz bewusst. „Wir glauben nicht, dass unsere Schüler an einer Regelschule bestehen könnten“, sagt Konrektor Dirk Mautner. Vertretungslehrer Thorsten Pitoll formuliert es drastischer: „Ein Großteil der Schüler hier würde in der Inklusion untergehen.“ Für die Schüler der Hasencleverschule stehen vor allem praxis- und alltagsbezogene Aufgaben auf dem Lehrplan. Sie üben zum Beispiel, ihre eigene Adresse für einen Briefkopf aufzuschreiben. „Wir haben gemerkt, dass die Schüler damit Probleme haben, als sie für das Zeitungs-

Auch Frisieren steht hier auf dem Stundenplan.


projekt Bestellkarten ausfüllen sollten“, sagt Mautner. „Darauf muss man sich einstellen. Wir wollten früher Dinge wie Prozentrechnung unterrichten, haben dann aber schnell die Anforderungen heruntergeschraubt.“ Dass es manchmal der richtige Weg sein kann, einen Schritt zurückzugehen, findet auch Monika Rodriguez. „Als wir die Schüler in der achten Klasse übernommen haben, herrschte oft Chaos auf dem Weg vom Schulhof ins Klassenzimmer“, erzählt sie. „Die haben den Flur auseinandergenommen, eine Uhr mit einem Fußball abgeschossen und die Kleinen gepiesackt. Seitdem holen wir sie morgens vom Schulhof ab – wie in der Grundschule.“ Mittlerweile sei Ruhe in die Klasse eingekehrt. Dazu habe auch eine Klassenfahrt nach Dortmund beigetragen, inklusive Stadtrallye und Führung durch den Signal Iduna Park. „Durch solche Aktionen können wir Lehrer eine persönliche Bindung zu den Kindern aufbauen und unsere Autorität stärken“, sagt Rodriguez. „Außerdem war die Fahrt sehr wichtig für die Gruppenbildung.“

und einer Hauptschule im Gevelsberger Schulzentrum West. Tolga hat also den direkten Vergleich. „Ich finde es gut, dass wir eine Ganztagsschule sind“, sagt er. „Deswegen haben wir keine Hausaufgaben und können nachmittags draußen spielen, anders als die Kinder in den anderen Schulen.“ Doch Tolga hat große Ziele: „Wenn ich gut bin, könnte ich mir vorstellen, auf eine andere Schule zu gehen“, sagt der Jugendliche. Am Ende sind es die Eltern, die entscheiden, ob sie ihr Kind aus der Förderschule nehmen und welche Schulform sie für richtig halten. Seine Klassenkameradin Salwa hat diesen Schritt bereits gewagt. Vor einem Jahr wechselte sie in Schwelm von einer Förder- auf eine Hauptschule. Nun ist sie seit ein paar Monaten in Gevelsberg – Salwas Integration in eine Klasse voller Schüler ohne Lernbehinderung ist gescheitert. An ihre Zeit auf der Hauptschule denkt sie deshalb nicht gerne zurück.

Integrationsversuch gescheitert Tolga bestätigt den guten Klassenzusammenhalt. Er ist zufrieden mit seiner Schulsituation. In Englisch, Deutsch und Biologie liegen seine Stärken, Mathe dagegen bereitet ihm Probleme. „Keiner kann perfekt sein“, sagt Tolga. Die Schule liegt zusammen mit einem Gymnasium

„Am Anfang war alles gut. Ich habe Zweien und Dreien geschrieben“, berichtet Salwa. „Dann haben meine Mitschüler angefangen, mich zu ärgern, und meine Noten wurden schlechter.

Bei einem Referat wollten die anderen nicht mit mir zusammenarbeiten. Im Unterricht haben sie mich mit Papier und Radiergummis beworfen. Nur meine beste Freundin hat zu mir gehalten.“ Salwa schaut zu Boden, während sie erzählt. „Ich hatte keine Lust mehr auf Schule“, sagt die 14-Jährige. Der Wechsel zurück auf eine Förderschule war für sie unvermeidlich, doch ihre alte Schule kam dafür nicht infrage. „An meinem letzten Tag haben mir ein paar ‚Viel Glück’ gewünscht, die anderen haben nur gelacht.“

Optimismus im Ministerium Dass eine förderungsbedürftige Schülerin auf einer Regelschule von Mitschülern gemobbt werden könnte – diese Befürchtung hegen die Gegner des neuen Inklusionsgesetzes. Das Ministerium hingegen hat eine optimistische Haltung: „Gerade in Zeiten

zunehmender Heterogenität in den Schulen ist es wichtig, Verschiedenheit kennenzulernen, sie zu akzeptieren, wertzuschätzen und auf diese Weise ein soziales Miteinander zu erleben“, sagt Eva Stannigel. Und auch das oft angeführte Argument, Schüler ohne Behinderung könnten in ihrem Lerntempo von förderungsbedürftigen Kindern gebremst werden, weist sie zurück. „Schüler, die keine Behinderung haben, werden dadurch in ihren Leistungen nicht beeinträchtigt, im Gegenteil: das soziale Klima in der Schule verbessert sich.“ Was ist besser für das Kind? Das neue Gesetz stellt die Eltern vor eine schwierige Entscheidung. Elke hat mit Lisa und Jana zwei Töchter auf der Hasencleverschule. Doch dem Prinzip der Inklusion steht sie offen gegenüber. „Ich finde die Idee des gemeinsamen Lernens gut“, sagt sie. „Aber man sollte immer abwägen, ob das Kind an einer Regelschule auch ausreichend gefördert wird.“ Elke lässt

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Viele meiner Seminarteilnehmer haben Angst vor der großen Aufgabe ‚Inklusion‘. Dr. Sven Sauter, Vertretungsprofessor am Lehrstuhl für die Theorie der Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung an der TU Dortmund

sich mit der Entscheidung noch Zeit. Die achtjährige Jana kommt nach den Sommerferien in die dritte Klasse. Nach der Grundschulzeit könnte sie auf eine

Regelschule wechseln „Ein Muss ist das aber nicht“, sagt ihre Mutter. Janas 16-jährige Schwester Lisa ist eine Klassenkameradin von Salwa und Tolga. „Bei ihr habe ich das damals auch überlegt. Dann hieß es, dass sie besser auf der Hasencleverschule bleibt. Und hier könnte sie ja auch einen Hauptschulabschluss machen, auch wenn es wahrscheinlich doch ein Förderschulabschluss wird.“ Noch hat Lisa keine Idee, was sie nach dem Abschluss machen möchte. Viele Möglichkeiten hat sie nicht. „Unsere Schüler stehen für den freien Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung“, sagt Dirk Mautner. Gerade deshalb gehen die Lehrer sehr sensibel damit um, den Kindern verschiedene Berufe vorzustellen und ihre individuellen Begabungen zu entdecken. Beim Berufeparcour müssen die Schüler unterschiedliche Aufgaben wie „Geschirrtücher falten“, „Elektroinstallation“ und „Kopfverband anlegen“

meistern. Über eine Vielzahl von Praktika sollen sie Berufe ausprobieren. „Ich wollte mein Praktikum unbedingt in einer Kfz-Werkstatt machen“, sagt Tolga. „Auf mein Drängen war er aber bei einem Friseur“, berichtet Mautner. „Das hat ihm so viel Spaß gemacht, dass er gar nicht mehr weg wollte. Jetzt möchte er sein nächstes Praktikum wieder dort machen.“ Auch wenn das Förderkonzept der Hasencleverschule sehr ausgereift ist, distanziert sich das Kollegium vom Vorwurf der Abschottung lernbehinderter Kinder. „Der Grundgedanke von Inklusion ist fantastisch“, sagt Mautner. „Aber die Rahmenbedingungen gehen gegen Null. Die Gesellschaft ist noch nicht so weit.“ Für ihn ist die Entscheidung klar: An einer Inklusionsschule will er nicht unterrichten. „Zu den momentanen Bedingungen auf keinen Fall. Das Stundenkontingent, das einem Lehrer dort pro Kind zur Verfügung steht, ist mir einfach viel zu gering“, sagt der studierte Sonderpädagoge.

„Angst vor der großen Aufgabe“ Ob sie an einer Inklusions- oder einer Förderschule unterrichten wollen, ist auch für angehende Sonderpädagogen plötzlich ein Thema. „Unsere Meinungen gehen da sehr weit auseinander“, sagt ein Mitglied der Fachschaft Sozialpädagogik Lehramt der TU Dortmund. Deshalb möchte sich die Fachschaft auch nicht offiziell zum Thema Inklusion äußern. „Es wird sich eine ganze Menge ändern, vor allem das Berufsfeld“, sagt Dr. Sven Sauter, Vertretungsprofessor am Lehrstuhl für die Theorie der Rehabilitation und 17

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Pädagogik bei Behinderung an der TU. Er versteht die Unsicherheit der Studenten. „Es ist nicht klar, an welcher Schule die Sonderpädagogen eingesetzt werden. Das kann die Förderschule oder die allgemeinbildende Schule sein. Man braucht auf jeden Fall Unterstützungsleistungen für die Schüler, und zwar von jemandem, der sein Handwerk versteht. Wenn ich die Teilnehmer meiner Seminare frage, ob sie sich auf die Inklusion gut vorbereitet fühlen, sagen die meisten: ‚Nee. Das ist ein ganz schwieriges Geschäft.’ Die haben Angst vor der großen Aufgabe.“ An der Hasencleverschule haben die Lehrer keine Angst vor den Veränderungen. Die Förderschule ist vom neuen Inklusionsgesetz weitgehend unberührt und bleibt bestehen. Andere Förderschulen dagegen werden geschlossen, etwa die Pestalozzischule in Schwelm – Salwas ehemalige Schule. „Einige Kinder dort gehen nach diesem Schuljahr auf eine Inklusionsschule, doch viele Eltern wollen das nicht“, sagt Monika Rodriguez. Die Zwangsschließung der Förderschulen sieht Sven Sauter kritisch. „Je mehr Vielfalt es gibt, desto besser können die Kinder individuell gefördert werden. Denn auch Förderschulen können inklusiv sein.“ Mit „inklusiv“ meint er zwar nicht das gemeinsame Lernen behinderter und nicht-behinderter Kinder. Sauter denkt dabei an die Integration förderungsbedürftiger Schüler in die Gesellschaft – durch eine auf sie zugeschnittene Ausbildung. „Die Chancengleichheit muss gegeben sein.“

Unser Autor Johannes Hülstrung war früher auf einer Grundschule in Schulgemeinschaft mit einer Förderschule. Inklusion hält er für den richtigen Ansatz. Skeptisch ist er trotzdem. Denn ob das neue Gesetz wirklich zum Wohl der Kinder beiträgt, ist auch er sich nicht sicher.

Zusätzliche Informationen bietet ab dem 15. Juni ein do1-Beitrag. Zu finden unter www.do1.tv.


KLINKE GEGEN KEIME Fassen wir Türklinken an, übertragen wir – ohne es zu merken – eine ganze Menge Keime. In WGs ist das manchmal nur eklig, in Krankenhäusern kann es lebensgefährlich sein. Drei Azubis aus Dortmund haben nun eine Türklinke erfunden, die sich selbst desinfiziert. TEXTLARA MALBERGER FOTOMIRIAM WENDLAND

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im Leubecher (20), Kai Musielak (18) und Lukas Latussek (18) machen gerade ihre Ausbildung bei Thyssen Krupp: Tim und Lukas zum Industriemechaniker, Kai zum Elektroniker. Statt dem normalen Betriebsalltag, widmen sich die Drei im Moment allerdings nur einer einzigen Sache: Denn die Jungs haben eine Türklinke erfunden, die sich mithilfe von UV-C Licht selbst reinigt und gefährliche Keime abtötet. Damit treten sie bald im Bundeswettbewerb von „Jugend forscht“ an. Um dahin zu kommen, mussten die drei Dortmunder

Die drei Jungforscher: Kai Musielak, Lukas Latussek und Tim Leubecher (v.l.)

Azubis erst den Landeswettbewerb NRW gewinnen. Dazu mussten sie den Regionalwettbewerb für sich entscheiden – und dafür brauchten sie eine gute Idee. Den Anstoß zu dieser gab ihnen der Hygienefimmel eines Ausbilders. „Uns ist aufgefallen, dass er keine Türklinken anfassen wollte – wegen der Bakterien“, erklärt Tim.

Steuerung durch Mikrocontroller Die Lösung für dieses Problem wirkt wie ein modernes Einrichtungsstück: Eine Edelstahlklinke die von hinten blau angestrahlt

wird. Doch das blaue Licht hat die Lizenz zum Töten – zum Glück hat es nur Keime im Visier. „Wir mussten überlegen, wie sich die ganze Türklinke


desinfizieren lässt“, erklärt Tim Leubecher. Schnell wurden die Drei sich einig, dass die Türklinke sich drehen soll. Wird sie losgelassen, dreht sie sich, angetrieben durch einen Motor einmal um sich selbst. Hinter der Türklinke dringt aus einem länglichen Schlitz das blaue Licht hervor – UV-C Licht. Momentan ist das Ganze noch mit einem großen Kasten verbunden, in dem sich Elektronik und Steuerung befinden. „Ein Ratschlag der Jury war es, diesen Kasten zu verkleinern“, sagt Tim.

Oberflächen verbreiten. Türklinken seien besondere Problemstellen, erklärt Sandra Demberg, Hygienefachkraft am St. Josef Hospital in Bochum: „Sie zählen zu den Handkontaktflächen und werden deshalb mit am meisten berührt.“ In dem Bochumer Krankenhaus werden bisher herkömmliche Reinigungsmethoden angewendet. „Wir setzen auf die chemomechanische Desinfektion“, erklärt Demberg. Das heißt, einmal am Tag werden kritische Flächen mit chemischen Reinigungsmitteln desinfiziert.

Die neue Türklinke für den Bundeswettbewerb soll deshalb von einem Mikrocontroller – einer Art kleinen Computergesteuert werden. Der braucht dann nur noch ein Handyladekabel als Stromquelle. Zum Vergleich: Am Anfang benötigte die Türklinke 230 Volt, bald sollen es nur noch 12 Volt sein.

Erfinder haben schon erste Anfragen vorliegen

Keime können besonders in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zum Problem werden. Ein Beispiel ist das Methicillin-resistente Staphylococcus aureus – kurz MRSA. Das Bakterium ist laut Robert-Koch Institut der häufigste multiresistente Erreger in deutschen Krankenhäusern. Nach Angaben des Europäischen Zentrums für Krankheitskontrolle und Prävention besiedelt es bis zu 30 Prozent aller Menschen, führt bei Gesunden aber nicht zu Problemen. Breitet es sich allerdings übermäßig aus – zum Beispiel weil ein Patient ein schwaches Immunsystem hat – kann es zu schweren Erkrankungen führen. MRSA ist besonders gefährlich, weil es gegen viele Antibiotika resistent ist. Daher auch der Name, denn Methicillin ist ein Antibiotikum. Das MRSA ist aber nicht nur gegen Methicillin resistent sondern gegen sämtliche Penicillinähnlichen Substanzen, sogenannte BetalaktamAntibiotika. Bakterien können sich entweder durch direkten Hautkontakt, aber auch über

Die Türklinke der drei jungen Erfinder desinfiziert sich selbst – ohne Chemie, denn statt Desinfektionsmittel wird UV-C Licht genutzt. „Das UV-C Licht greift die DNS der Bakterien an“, erklärt Tim Leubecher. Die DNS ist Träger der Erbinformationen. Ist sie zerstört, können die Bakterien sich nicht weiter vermehren. UV Licht ist jedoch auch potentiell schädlich für den Menschen. UV-A und UV-B Licht sind die Bereiche des Sonnenlichts, die durch Ozon und Atmosphäre auf die Erde dringen. UV-C Licht kommt normalerweise gar nicht auf der Erde an. Darum ist die Wirkung von UV-C Licht auf den Menschen nicht besonders erforscht. Vermutlich ist das Licht in der geringen Dosis, die man bei Benutzung der Türklinke abkriegen würde, aber nicht gefährlich. Der Vorteil von UV-C Licht gegenüber Desinfektionsmittel? „Erst einmal ist es nicht so eine Schmiererei, außerdem wird Resistenzen vorgebeugt“, sagt Tim Leubecher. Ob ihre Idee am Ende auch praktisch zum Einsatz kommt, wissen die Drei nicht. „Der Preis ist mit 150 Euro pro Stück noch recht hoch“, meint Tim. Das ist zwar im Vergleich mit anderen Krankenhausgeräten nicht teuer, hochgerechnet auf alle Türklinken sieht das aber schon anders aus, erklärt Sandra Demberg. „Wir haben hier 700 Betten, also 350 Türen allein für Patienten. Hinzu kommen noch die ganzen Nebenräume.“ Sandra Demberg vermutet, dass die Türklinke eher in einem kleineren 19

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„JUGEND FORSCHT“ Der Wettbewerb „Jugend forscht“ fördert junge Talente im Bereich der Forschung. Nach amerikanischem Vorbild initiierte die Zeitschrift „Stern“ 1965 den ersten Wettbewerb. In drei Runden treten die Teilnehmer in verschiedenen Kategorien gegeneinander an – pro Kategorie gibt es einen Gewinner. Mehr Infos gibt’s auf: www.jugend-forscht.de Betrieb zum Einsatz kommen könnte. „Wir haben tatsächlich schon erste Anfragen bekommen“, sagt Tim. Mehr ist bisher nicht daraus geworden. Das Für und Wider ihrer Erfindung müssen die Azubis bald in Künzelsau, einer kleinen Stadt in Baden-Württemberg, der Jury vorstellen. Am 29. Mai beginnt der Bundeswettbewerb, am 1. Juni ist die Siegerehrung.

Wenn Autorin Lara Malberger in öffentlichen Toiletten Türklinken anfasst, wünscht sie sich jedes Mal Desinfektionsmittel herbei. Im Krankenhaus kriegt sie es sogar richtig mit der Angst zu tun. Wenn sich die Erfindung der drei Forscher durchsetzt, könnte das bald vorbei sein. Sehr gut, findet Lara.


JEDER SPRUCH EIN TREFFER Sportliche Highlights, kuriose Randgeschichten - beste Steilvorlagen für die Arbeit von Ben Redelings und Oli Hilbring während einer WM. TEXTPHILIPP RENTSCH FOTOANDREAS MOLATTA ILLUSTRATIONENOLI HILBRING

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uch wenn Cartoonist Oli Hilbring mit Frau und Kindern in Bochum lebt, sein fußballerisches Herz schlägt seit jeher für Königsblau. Seit einigen Jahren zeichnet Hilbring professionell Cartoons, vor allem über die Bundesliga. Aber auch zur Weltmeisterschaft wird er wieder aktiv: Für den Sportsender Sky wird er täglich eine neue Zeichnung erstellen. Ständig neue „Knüller-Ideen“ zu entwickeln sei zwar nicht leicht, sagt Hilbring, „aber rund um eine WM passiert so viel, da findet sich immer etwas.“ Bei der deutschen Nationalmannschaft haben es ihm vor allem Mesut Özil und Trainer Joachim Löw angetan – „mit denen lässt sich immer etwas machen.“ Besonderes Erkennungszeichen der HilbringZeichnungen sind die dicken Nasen. Damit schaffte er es schon in die Sportschau und die Bild-Zeitung. Noch mehr Cartoons auf www.oli-hilbring.de/blog

Wenn in ZWEI Jahren die WM ist, bin ich auch wieder ANDERTHALB Jahre älter. Ex-Nationalspieler Mehmet Scholl

Am besten grätschen wir die Brasilianer

schon bei der Hymne weg. Ex-Nationalspieler Torsten Frings 20 leben


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Ich glaube, ich bin reifer geworden. Auch meine Mama sagt das. Rio Ferdinand, englischer Nationalspieler

Wenn Männer FUSSBALL gucken, bleibt die LIEBE auf der Strecke. Bordellbetreiber zum mäßigen Geschäft während einer WM

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en Redelings ist hauptberuflich Fußball-Komiker. Der VfL Bochum-Fan veranstaltet regelmäßig kulturelle Fußballabende und hat schon diverse Bücher mit Anekdoten aus der Fußballwelt veröffentlicht. Aus seinem WM-Album stammen auch die Zitate auf dieser Seite. Mehr Informationen unter www.scudettoblog.de.

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Gerade in: die – kein langes Vorspiel, schnell zur Sache kommen.

Klose-Stellung

B.Z.

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DIE DUNKLE SEITE DES

INTERNETS

Ein unscheinbarer Typ schafft mit der „Silk Road“ einen riesigen Umschlagsplatz für Drogen und dubiose Dienstleistungen im Internet. Zu finden ist diese Seidenstraße im Darknet. Dort tummeln sich jedoch nicht nur Kriminelle, sondern auch Nutzer, die anonym surfen wollen. TEXTREBECCA HAMEISTER ILLUSTRATIONENPIERRE PAUMA | WWW.CARICACTUS.CANALBLOG.COM

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m 27. Januar 2011 beginnt ein Mann unter dem Pseudonym „Altoid“ damit, in Onlineforen seine neue Seite „Silk Road“ zu bewerben. Man könne dort „verschiedenes Zeug“ kaufen, auch Drogen. Alles laufe ohne Namen ab, eine Art anonymes Amazon. Nur eine Spinnerei? Keineswegs: Der Mann, der später als „Der Grausame Pirat Roberts“ bekannt wird, beschreibt den Weg zur neuen Seidenstraße, einem Umschlagsplatz für Waren, deren Erwerb illegal ist. Die „Silk Road“ ist über herkömmliche Browser und Suchmaschinen nicht auffindbar. Sie befindet sich im Darknet, einem schwer zugänglichen Teil des Internets. Als FBI-Agenten Ross William Ulbricht – so lautet der wahre Name des Grausamen Piraten – zweieinhalb Jahre später festnehmen, sitzt er am Laptop in einer öffentlichen Bibliothek in San Francisco. Es ist der 1. Oktober 2013. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die „Silk Road“ knapp 1,2 Milliarden Dollar Umsatz erwirt23

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schaftet. Fast 80 Millionen Dollar steckte Ulbricht als Provision in seine eigene Tasche. Bezahlt wurde er aber nicht in Dollar, sondern in der rein elektronischen Währung Bitcoin.

Mit dem entsprechenden Kleingeld ist vieles möglich Seine drei Mitbewohner sagen später, von alledem hätten sie nichts mitbekommen. Ulbricht hatte sich ein Appartement mit ihnen in San Francisco geteilt. Er habe erzählt, beruflich baue er Internetseiten. Mit Vorliebe habe er Jeans und T-Shirt getragen. Seine Familie beschreibt ihn als schüchtern und einfühlsam. In seiner Freizeit sei er gern wandern gegangen. So berichtet es die „New York Times“. So steht es in den Gerichtsakten. Ulbricht bringt auf den ersten Blick nicht die Eigenschaften mit, die einem Drogenbaron zugeschrieben werden. Die US-Staatsanwaltschaft aber zeichnet von ihm ein anderes Bild: Unter dem


Pseudonym „Dread Pirate Roberts“ soll Ulbricht mit der Webseite „Silk Road“, deren Name sich an dem der historischen Seidenstraße im Mittelmeer anlehnt, einen riesigen digitalen Schwarzmarkt für Drogen und andere illegale Waren aufgebaut und betrieben haben. Wer das entsprechende Kleingeld hatte, bekam dort nicht nur illegale Rauschmittel, sondern konnte auch Dienstleistungen wie das Hacken von Passwörtern oder das Fälschen von Ausweisen in Anspruch nehmen. Die „Silk Road“ war eine der größten Umschlagsplätze für Drogen in den Tiefen des Netzes, eine von unzähligen Seiten im Darknet. Der Weg dorthin ist nur über spezielle Programme möglich. Die einfachste und einsteigerfreundlichste Variante ist das „Tor Browser Bundle“. Hauptbestandteil dieses Software-Pakets ist der Tor Browser – eine modifizierte Version von Mozilla Firefox. Der Browser ist so konfiguriert, dass alle aufgerufenen Seiten über das Tor-Netzwerk geladen werden. Es gibt auch Programme, mit denen man den gesamten Datenverkehr eines Computers durch das Tor-Netzwerk leiten kann. Das ist aber kompliziert und wird von den TorMachern in der Regel nicht empfohlen. Das Akronym Tor steht für „The Onion Router“. Weil mehrere Schichten von Verschlüsselungen um die Daten gelegt werden, haben die Entwickler diesen Namen gewählt. Mit dem Tor-Netzwerk können nicht nur Inhalte eingesehen werden, die über das herkömmliche World Wide Web nicht erreichbar sind. Es ist außerdem möglich, die eigene IPAdresse, den Fingerabdruck im Internet, zu verschleiern. Das geschieht, indem Tor die Anfragen nicht direkt an die Zieladresse im Netz schickt, sondern über

eine Kette von Servern leitet. Jeder Server kennt nur seinen Vorgänger und Nachfolger, aber keiner kennt den ursprünglichen Absender der Anfrage und gleichzeitig den Empfänger.

Verbrecher bleiben im Darknet anonym So hilft Tor auch Menschen in China, dem Iran oder anderen diktatorisch regierten Ländern mit Internetzensur, das Netz uneingeschränkt zu nutzen und anonym miteinander zu kommunizieren. Das jüngste Beispiel stammt aus der Türkei: Im Februar dieses Jahres ließ

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan den Kurznachrichtendienst Twitter und die Videoplattform Youtube für alle in der Türkei lebenden Menschen sperren. Die Türken, die über Tor auf twitter.com oder youtube.com landeten, konnten sich aber weiter Videos anschauen und Nachrichten posten. Denn Tor verbirgt im Gegensatz zu herkömmlichen Browsern die Herkunft der Nutzer. Doch nicht nur Tor half den Menschen in der Türkei. Die Zensur konnten die Nutzer auch umgehen, indem sie über virtuelle private 24

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Netzwerke surften oder Apps nutzten, die es erlauben, sich in Netze außerhalb der Türkei einzuloggen. Seit den Enthüllungen über die Abhöraktivitäten des US-Geheimdienstes NSA und der Internet-Zensur in der Türkei ist die Zahl der Tor-User deutlich angestiegen – wenngleich längst nicht in einem Maß, als dass Tor ein Massenphänomen wäre. Während im August vergangenen Jahres 1,2 Millionen Nutzer den Browser installiert hatten, waren es im Februar dieses Jahres nach Angaben der Betreiber fast drei Millionen. Aufgrund dieser Anonymität gelingt es dem Staat aber nur schwer, gegen Verbrecher im Darknet vorzugehen. Extrem selten können die Täter identifiziert werden. Die Presseabteilung des Bundeskriminalamtes wollte sich in der pflichtlektüre „aus ermittlungstaktischen Gründen“ nicht zum Thema Darknet äußern. Vom Landeskriminalamt NordrheinWestfalen ließ sich Sprecher Frank Scheulen lediglich zu folgender Aussage hinreißen: „Wir wissen, dass es das gibt.“ Hidden Services, zu deutsch versteckte Dienste, listen auf, was das Darknet alles zu bieten hat. Sie sind nur über das TorNetzwerk zu erreichen. IT-Fachjournalist Uli Ries sagt: „Die Zahl der zumindest fragwürdigen Hidden Services dürfte die Zahl der legitimen Seiten im Darknet bei weitem überschreiten.“

Hidden Service ermöglicht Technikhilfen und Pornografie Der wohl bekannteste Hidden Service ist das Hidden Wiki. Etliche Links führen auf legale Seiten. Dort finden sich etwa die anonyme Suchmaschine „DuckDuckGo“ oder digitale Wechselstuben


für Bitcoins. In Foren unterhalten sich die Nutzer über Fotografietechniken und Grafikdesign oder verraten Tipps, wie Computerspiele in Rekordzeit durchgespielt werden können. Auch die Enthüllungsplattform WikiLeaks findet sich dort. Zu den Angeboten im Hidden Wiki gehören auch „Financial Services“: Dort werden Seiten aufgelistet, auf denen gestohlene Paypal-Accounts oder gefälschte Kreditkarten verkauft werden. „Commercial Services“ preisen Waffenläden und gestohlene Waren an. Weiter unten steht der Reiter „Erotica“: „Adults commercial and non commercial“. Nichts Ungewöhnliches, finden sich im herkömmlichen Internet doch etliche pornografische Inhalte. Was dann aber kommt, macht deutlich, dass das Perverse teilweise nur einen einzigen Klick entfernt ist: „Under Age: Hard Candy, Jalibait.“ Erotische Fotos, auf denen die Kinder nicht nur nackt posieren, sondern auch sexuelle Handlungen an sich vornehmen. Hinter „Animal Related“ verbergen sich nicht nur erotische Fantasiegeschichten, sondern auch Erfahrungsberichte über Sex mit Tieren. In der Kategorie „Drugs“

taucht unter anderem jene Seidenstraße auf, dessen Gründer im Oktober 2013 festgenommen wurde. Der Link ist tot. Direkt darunter: die Silk Road 2.0. Eine Neuauflage des Drogenumschlagplatzes. Gerade einmal fünf Wochen, nachdem Ross William Ulbricht vom FBI in Handschellen abgeführt wurde, eröffnete ein Unbekannter die Silk Road 2.0 und übernahm sogar das Pseudonym seines Vorgängers. Auch wenn sich nach dem Verschwinden der Originalplattform eine Reihe ähnlicher Anbieter daran versucht hätten, die Lücke zu schließen, scheine die Silk Road 2.0 den Erfolg des Vorgängers fortzuführen, berichtet die Technologie- und Nachrichtenseite „Ars Technica“. Nicht nur Optik und Logo seien gleichgeblieben, auch eine Reihe der Verkäufer sei altbekannt.

Silkroad 3.0 wäre in 15 Minuten online „Die Neuauflage der Silk Road ist nicht weiter überraschend. Kriminelle wird es immer geben, und sie werden sich auch immer möglichst gut verstecken wollen. Und da sind die Hidden Services

aus Sicht der Illegalen sicherlich keine schlechte Wahl“, sagt IT-Experte Ulrich Ries. Der neue „Grausame Pirat Roberts“ schreibt zumindest in seinem Grußwort auf der Silk Road, dass bei einer weiteren Abschaltung durch die Behörden die nächste Silk Road 3.0 binnen 15 Minuten online wäre. Er selbst sieht großen Bedarf an einem „geprüften und kontrollierten Angebot“ auf einem Online-Marktplatz, über den man eben auch Drogen beziehen könnte. Die Behörden sollten „wieder zu Sinnen kommen und richtige Kriminelle jagen“, schreibt er.

Überrascht hat Autorin Rebecca Hameister, welche Vielfalt an Menschen sich im Darknet tummelt. Da war alles dabei: vom Hanf-Anbauer bis zum Anarchisten, vom Kriminellen, der gestohlene Kreditkarten vertickt, bis zum Philosophen.


Bah, wie ekelhaft Bakterien, Pilze und Viren sind in unserer Umwelt überall zu finden. Sie können Infektionskrankheiten und Allergien auslösen, reizen die Augen oder machen uns müde. Diplom-Biologe Michael Roßburg weiß, wie gefährlich sie wirklich sind. TEXTRebecca Hameister FotosThomas Borgböhmer & Sarah Tober

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o verbergen sich die Keime überhaupt bei uns Zuhause? Und sollte man etwas dagegen tun? Michael Roßburg arbeitet im Bereich Mikrobiologie und Hygiene. Er weiß, was um uns herum alles so lebt – sichtbar oder auch nicht. Fakt ist: Auf allen Oberflächen lassen sich die verschiedensten Bakterien und Schimmelpilzsporen nachweisen. Roßburg warnt jedoch davor, deswegen in Panik auszubrechen. Denn „sie besitzen häufig keine oder nur geringe krankmachende Eigenschaften“. Für gesunde Menschen seien sie oft unbedenklich. „Unser Immunsystem hat den Umgang mit diesen Mikroorganismen gut erlernt“, erklärt der Mikrobiologe. Wie in der gesamten Umwelt finden sich auch auf Pflanzen oder an Gemüse Spo-

ren von Schimmelpilzen. „Das ist aber kein Grund, Pflanzen aus der Wohnung zu werfen und nie mehr Gemüse zu essen“, sagt Roßburg. „Denn ob Schimmel gefährlich ist, hängt von der Art und der Konzentration in der Umgebungsluft ab.“ In einigen Fällen reicht bei sichtbarem Schimmelbefall an Lebensmitteln sogar die einfache Entfernung der betroffenen Stellen, sagt der Experte. Etwa bei Marmelade oder Käse. Schimmeliges Obst und Gemüse sollte jedoch schnellstmöglich aussortiert werden, um die Ausbreitung zu verhindern. Befallenes Gebäck müsse komplett entsorgt werden, da Brot meist schon komplett mit dem Schimmelpilzgeflecht durchzogen sei. Komplexer beurteilt Roßburg den Schimmelbefall an feuchten Wänden oder Fensterstürzen. Hier rät er drin-

Im Kühlschrank sollte absolute Hygiene herrschen, denn dort werden Lebensmittel gelagert. Aber weit gefehlt – dort herrscht Hygienenotstand. Die Bakterien dürften vom unverpackten Obst und Gemüse stammen, das dort aufbewahrt wird. Mindestens alle paar Wochen reinigen und Temperaturen unter sieben Grad Celsius halten die Keimschleuder in Schach.

gend die Ursache zu ermitteln und diese zu beheben. „Denn schimmelbefallene Wände können durch ständige Abgabe von großen Sporenmengen sehr wohl die Gesundheit angreifen und ernsthafte Erkrankungen insbesondere der Atemwege verursachen.“ Auch Bakterien finden sich in der gesamten menschlichen Umgebung. Dass sich die meisten davon in oder auf der Toilette befinden, ist jedoch ein Irrtum. „Auf Oberflächen, die wir häufig anfassen, ist erfahrungsgemäß sehr viel mehr los“, sagt Roßburg. Auf Lichtschaltern, an den Tür- und Fenstergriffen, am Schalter der Kaffeemaschine und auf dem PlaystationController tummeln sich Bakterien, die wir vorher mit den Händen aus der Umgebung aufgenommen haben. Darunter

Immerhin sind die WG-Bewohner beim Ausschenken von Schnaps vorsichtig. Wäre Alkohol an der Flasche herunter gelaufen, hätte dieser die Oberfläche desinfiziert. Da dies aber nicht geschehen ist, lauern dort entsprechend viele Bakterien.

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Toilettendeckel und -rand scheinen seit längerer Zeit nicht mehr geputzt worden zu sein. Das ist vor allem deshalb gefährlich, weil sich dort auch Darmkeime tummeln, die Krankheiten übertragen können. Händewaschen ist nach jedem Toilettengang obligatorisch!

Den Vorsatz, den Kühlschrank von nun an regemäßig mit Essig auszuwaschen, hat Autorin Rebecca Hameister. Vielleicht wird sie ihn mangels Zeit aber nicht umsetzen und sich denken: Dreck reinigt den Magen!

finden sich laut Experte normale Hautbakterien. „Die können als Bestandteil der körpereigenen Bakterienflora einen gesunden Menschen sogar schützen, da sie dort mit den krankmachenden Bakterien um Nährstoffe konkurrieren.“

Die Badezimmerarmatur ist relativ sauber. Dort tummeln sich die gleichen Bakterien wie auf der Toilette, allerdings in wesentlich geringerer Anzahl.

Kritischer sind hingegen die Darm- und Feuchtkeime, die man genau an den Gegenständen in hoher Zahl nachweisen kann, mit denen wir eigentlich versuchen unsere Wohnung sauber zu halten. Alte Hand- und Spültücher, Nagelbürsten und die wohl schlimmsten Kandidaten: Spüllappen und -schwämme. In diesen vermehren sich die schädlichen Keime sehr schnell, da sie die feuchtwarme Umgebung lieben. Putzt man damit dann die Arbeitsfläche, kann es passieren, dass man Bakterien darauf überträgt und verteilt.

...IM BAD

hieR laUeRN Die BakteRieN... Spüllappen, Bürste und Trockentuch sind Top-Ekelkandidaten im Haushalt. Bakterien überleben darauf wegen der rauen Oberfläche, auf der sie sich gut halten können, und weil sie so schön warm und feucht sind. Beim Saubermachen mit dem Lappen verteilen sich die Keime weiter in der Wohnung. Hier hilft nur konsequentes Waschen bei mindestens 60 Grad oder Wegschmeißen.

...IN DER KÜCHE ...IM WOHNZIMMER 27

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Der Couchtisch ist auffällig sauber. Er scheint öfter geputzt zu werden. Auch aufgrund der glatten Oberfläche haben es Bakterien dort schwer, sich anzusammeln.

Die Fenster dürften in dieser WG nicht so oft geputzt werden – wie ein genauer Blick auf den Fenstergriff zeigt. Nachholbedarf!

Die Person, die dieses Taschentuch benutzt hat, war nicht stark erkältet. Das Objekt weist die wenigsten Bakterien in der WG auf. Generell gilt: um andere nicht anzustecken, in die Armbeuge niesen oder den Mund mit einem Taschentuch bedecken.

Der Autoschlüssel ist ein typischer Kandidat der Kategorie „1000 Mal berührt, leider nie gereinigt“. Etliche Bakterien lauern darauf.

experten-tipps

In dieser WG ist der Playstation-Controller der Ekel-König! Dort lauern die allermeisten Bakterien. Viele verschiedene Menschen benutzen das Gerät und hinterlassen so ihre Spuren.

Spülschwämme und Putzlappen sollten regelmäßig gewechselt werden, damit sich die kritischen Feuchtkeime nicht ausbreiten können. Das Händewaschen nach dem Toilettengang ist obligatorisch. Beim Niesen und Husten sollten Hände möglichst keimfrei bleiben – am besten in die Armbeuge oder in ein Papiertaschentuch.

Fernbedienungen sind neben Lichtschaltern in der Regel die fiesesten Bakterienschleudern. Der Grund: Diese Dinge werden oft benutzt und angefasst, aber nur selten gereinigt.

Ist eine Person im Haushalt erkrankt, können die Mitbewohner das Ansteckungsrisiko verringern, indem sie ihre Hände desinfizieren. „Jedoch rate ich davon ab, häufig und ungezielt Desinfektionsmittel im Haushalt zu gebrauchen“, sagt Roßburg. „Der Alkohol trocknet die Haut aus und kann langwierige Hautprobleme verursachen.“ Außerdem sollte man unserem Immunsystem die Möglichkeit geben, sich mit der normalen belebten Umwelt auseinanderzusetzen und so zu stärken.

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SAG MAL, PROF Warum fallen uns die Haare aus? TEXTHENDRIK PFEIFFER FOTOTHOMAS BORGBÖHMER

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eniger ist mehr, heißt es in einem alten Sprichwort. Menschen mir Haarausfall sehen das wohl nicht so. Viele versuchen verzweifelt, ihre lichten Stellen zu kaschieren, andere finden sich früher oder später damit ab. Selbst auf den Campus der Universitäten sind Geheimratsecken und Ansätze einer Halbglatze keine Seltenheit – und das keineswegs nur bei den Professoren. Warum fallen uns die Haare aus und das manchmal schon mit Anfang 20?

auf, als in Deutschland, während Asiaten fast gar keinen Haarausfall haben“, so Altmeyer. Der klassische Haarausfall kann auch Frauen treffen. „Im Vergleich zum Mann trifft es sie aber eher in höherem Alter“, sagt der Professor. „Wenn Frauen jahrelang die Pille genommen haben und sie dann abrupt absetzen, können sie aber auch schon relativ früh Probleme mit dem männlichen Haarausfall bekommen.“ Der Grund: Die Pille beeinflusst den Hormonspiegel. In anderen Fällen kann unter anderem auch Stress zum Haarausfall führen, da er das Autoimmunsystem stört. „Man spricht dann vom kreisrunden Haarausfall“, sagt Altmeyer. „Er breitet sich wie ein Pilz in alle Richtungen aus, meistens auf dem Kopf, kann aber auch am Bart oder den Augenbrauen auftreten.“

„Beim klassischen männlichen Haarausfall ist das genetisch bedingt“, sagt Professor Dr. Peter Altmeyer, Direktor der dermatologischen Klinik an der Ruhr-Uni Bochum. Der Auslöser bei dieser Form des Haarausfalls ist das männliche Sexualhormon Testosteron, das erst nach der Pubertät gebildet wird. „Deswegen gibt es den Haarausfall nie vorher“, betont Altmeyer. „Das Testosteron bestimmt den Generationenrhythmus der Haare“, sagt er. Während Hunde ein spärliches Sommer- und ein dickes Winterfell bekommen, verlieren Menschen ihre Haare eher im Herbst und regenerieren sie im Frühjahr. „Diese Rhythmen sind zeitlich definiert und physiologisch völlig normal.“ Durch das Testosteron werden die Phasen ungünstig verkürzt. „Das heißt, dass das Haar nun schneller ausfällt und langsamer nachwächst, was zu einer allmählichen Ausdünnung führt“, sagt er.

Viele Betroffene suchen verzweifelt nach Gegenmitteln, um den klassischen Haarverlust zu bekämpfen, etwa indem sie die Hormonproduktion bremsen. Professor Altmeyer rät von derartigen Maßnahmen ab: „Es gibt zwar Möglichkeiten, den männlichen Haarausfall zu behandeln, aber nicht ohne gehörige Nebenwirkungen“. Auch von modernen Werbeangeboten wie Koffeinshampoos und Nahrungsergänzungsmitteln hält der Dermatologe wenig. „Slogans, wie ‚Doping für die Haare‘ sind meiner Meinung nach reine Werbemacherei und zusätzliche Nährstoffe haben höchstens eine marginale Bedeutung“, sagt er. „Vielleicht wird ein perfektes Gegenmittel nie gefunden, wir können das Genetikprinzip eines Menschen ja nicht grundlegend ändern“. Rosige Aussichten also für die Toupetindustrie.

Die Testosteronproduktion allein reicht für den männlichen Haarausfall aber nicht aus. „Nicht jeder Mann, der Testosteron bildet, verliert auch automatisch seine Haare“, sagt der Dermatologe. Eine genetische Komponente gehört ebenfalls dazu, die sich in den verschiedenen Völkern mit ihren verschiedenen Genpools stark unterscheidet. In der hellhäutigen nordeuropäischen Bevölkerung ist der männliche Haarausfall viel weiter verbreitet, als beim vergleichsweise dunkleren Typ aus Südeuropa. „Bei Finnen und Schweden, tritt er sogar noch stärker

Lichtes Haar ist auch bei Hendrik Pfeiffer ein wunder Punkt, obwohl er erst 21 Jahre alt ist. Grund genug, sich auf die Suche nach den Ursachen für Haarausfall zu machen.

Professor Dr. Peter Altmeyer ist Direktor der dermatologischen Klinik an der Ruhr-Uni Bochum. 31

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DIE HIGHTECH-KAKERLAKE Per Smartphone-App eine Schabe fernsteuern: Ein Bausatz aus Amerika macht das möglich. Was für die einen eine Forschungsmethode ist, ist für die anderen schlichte Tierquälerei. Unser Autor spricht mit einem Experten darüber, bis wann Tierversuche ethisch noch vertretbar sind. TEXTHENDRIK PFEIFFER FOTOSTINA BERGHAUS ILLUSTRATIONSIMONSCHMITZ | HELLO@SIMONSCHMITZ.NET

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ie Tiere wirken auf den ersten Blick wie aus einem ScienceFiction-Film: Eine Küchenschabe trägt einen futuristisch aussehenden Rucksack und lässt sich durch einen Wisch über den Bildschirm fernsteuern. Hinter diesem skurrilen Anblick verbirgt sich ein Crowdfounding-Projekt der jungen amerikanischen Neurobiologen Greg Gage und Tim Marzullo. Die beiden Wissenschaftler haben einen Bausatz inklusive Bedienungsanleitung entwickelt, mit dem Hobbyforscher eine gewöhnliche Küchenschabe per Operation verdrahten und manipulieren können. Dafür seien praktisch keine neurobiologischen Kenntnisse erforderlich, sagen sie. Ihr Ziel: Menschen den Zugang zur Neurobiologie erleichtern. Besonders der potenzielle Forschungsnachwuchs, wie Schüler und Studenten, soll durch das praxisnahe Projekt für die Neurobiologie begeistert werden. Doch die Operation ist nichts für schwache Nerven: Zuerst werden die Schaben in einem Eisbad betäubt, bevor der Panzer an einigen Stellen mit Schleifpapier abgetragen wird. Danach muss der Operateur an diesen Stellen Löcher bohren und die mitgelieferten Drähte einführen. Zum Schluss werden die Fühler der Schabe gestutzt und die Drähte mit der Elektrode auf dem Rücken verbunden. Per SmartphoneApp lässt sich nun die Schabe fernsteuern, indem die Elektrode bei jedem Richtungsbefehl ein elektrisches Signal in das Nervensystem des Tieres sendet. Ein Tierversuch, der polarisiert. Einerseits werden die Tiere durch die Operation

verstümmelt und allein das Fernsteuern anderer Lebewesen wird ethisch stark kritisiert. Andererseits werde die elektrische Stimulation auch bei der Behandlung der Parkinson-Krankheit genutzt, sodass neue wissenschaftliche Erkenntnisse möglich seien, argumentieren Gage und Marzullo. Je mehr Menschen Interesse an der Neurobiologie hätten und sich mit diesen Ansätzen befassten, desto besser sei dies für den Fortschritt der Wissenschaft. Durch den stark praktischen Ansatz seien Schüler eher motiviert, sich mit dem Thema zu befassen, als wenn sie Neurobiologie theoretisch in den Lehrbüchern behandelten. Die Kernfrage in der öffentlichen Diskussion bleibt aber, ob diese Vorteile den ethisch fragwürdigen Umgang mit anderen Lebewesen aufwiegen können. Im Internet stieß das Projekt auf genügend Interesse, um das Vorhaben von Gage und Marzullo zu realisieren. Auf der Crowdfounding-Seite „Kickstarter.com“ sammelten die beiden Absolventen der University of Michigan 12.339 US-Dollar von 183 Förderern und übertrafen ihr Ziel von 10.000 US-Dollar deutlich. Mit diesem Startkapital gründeten sie die Firma „Backyard Brains“ und bieten die Bausätze seitdem kommerziell an – Neurobiologe spielen für 99,99 US-Dollar pro Box.

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Dr. Andreas Scheib ist Akademischer Rat am Lehrstuhl für philosophisch-theologische Grenzfragen an der Ruhr-Uni Bochum. Die Mitarbeiter des Lehrstuhls befassen sich unter anderem damit, das Verhältnis zwischen Philosophie, Naturwissenschaft, Ingenieurwissenschaft und Theologie in Forschung und Lehre zu klären. Oft überschneiden sich diese Bereiche und prallen mit ihren verschiedenen Interessen aufeinander. Bestes Beispiel für solch eine Grenzfrage sind die Schabenversuche, bei denen naturwissenschaftlicher Nutzen auf ethische Normen und Werte trifft. Herr Scheib, wie stehen Sie zu Tierversuchen? Das ist ein ethisch ganz schwieriges Problem, weil sich dort verschiedene Interessenlagen miteinander in Konflikt begeben. Die Frage, welche Position man zu Tierversuchen einnimmt, hängt davon ab, was man für eine Grundeinstellung hinsichtlich des Status von Tieren hat. Die Ethik kann einem nicht sagen, was man tun soll, sondern nur zeigen, was aus diesen Grundannahmen folgt. Ich bin da gespalten. Wenn ich es theoretisch betrachte, bin ich ein Gegner von Tierversuchen. Nun ist es aber so, dass eine Person, die einem sehr nahe steht, schwer erkranken könnte und es die Möglichkeit gäbe, Medikamente herzustellen, die auf der Basis von Tierversuchen entwickelt wurden. Da gibt es dann große Differenzen zwischen der theoretischen Überlegung und dem wirklichen Handeln. Wir müssen unsere Entscheidung davon abhängig machen, welche Kriterien wir anwenden. Konkret: Welche Gruppen von Tieren wir mit Rechten versehen und

Im Interview: Ethik-Experte Dr. Andreas Scheib

welche nicht. Und hierzu bedarf es einer ganz grundlegenden philosophischen Standortbestimmung. Wann ist für Sie die Grenze des moralisch Vertretbaren erreicht? Der Hintergrund dieser Frage ist, ob wir so etwas wie eine Leidensfähigkeit der betreffenden Tiere annehmen. Ich gehe davon aus, dass kaum ein Mensch Schwierigkeiten damit hätte, wenn Tierversuche beispielsweise mit einer Qualle gemacht würden. Niemand geht davon aus, dass bei Quallen irgendeine Form des Schmerzempfindens oder gar Bewusstseins vorhanden ist. Ich glaube, das ist das Kriterium, welches uns intuitiv am nächsten liegt. In dem Moment, in dem ein Lebewesen weiß, dass mit ihm etwas Unangenehmes geschieht, wird es problematisch. Das

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ist aber wahrscheinlich schon bei wenig entwickelten Lebewesen der Fall. Es gibt bestürzenderweise Forschungen, die annehmen, dass sogar Fische ein Schmerzempfinden oder gar Bewusstsein haben. Wenn sich einige dieser Forschungen bestätigen, müsste unser Umgang mit Tieren radikal verändert werden und so etwas ist immer ein massives Problem. In dem Moment, in dem wir etwas radikal verändern müssen und es für uns unbequem wird, treten ethische Argumente schnell in den Hintergrund. Kommen wir zu unserem Beispiel: Lässt sich das Schabenexperiment in Ihren Augen moralisch rechtfertigen? Ich beantworte die Frage andersherum und fange da an, wo es eindeutig ist. Ich halte beispielsweise das Gerichtsurteil zur Forschung der Bremer Universität für skandalös. Die Wissenschaftler haben


Affen eine Sonde im Gehirn installiert, mit der Hirnströme gemessen wurden. Die zulassende Behörde hatte das wegen Tierquälerei abgelehnt, aber das Bundesverwaltungsgericht hat die Versuche wieder genehmigt, weil die Tiere dort nicht in einem übermäßigen Maße Leid ausgesetzt seien. Ich halte das für ein fatales Signal, weil die Grundstimmung impliziert, Menschen dürfen Tiere jeder Art, auch hochentwickelte, ge- und verbrauchen. Bei Schaben ist das schwieriger. Wir können unser Leben wahrscheinlich nicht führen, ohne bestimmte Gruppen von Lebewesen ständig zu vernichten. Wenn ich jedes Lebewesen schützen wollte, dürfte ich auch nichts mehr gegen Milben in meinem Bett unternehmen oder gegen Flöhe, die meine Katze vielleicht hat. Werden Experimente mit Schaben eher akzeptiert, weil wir sie abstoßend finden und sie als Schädling sowieso bekämpfen? Bei Schaben ist es eine Mischform. Das, was in dem Versuch gelaufen ist, schreckt mich deswegen so ab, weil es ein Lebewesen zu einer Art Marionette degradiert. Da kann ich es auch nicht mehr als Gegner, Schädling oder Feind betrachten, sondern nehme ihm das, was ihm zu einem individuellen Lebewesen macht.

Eine Schabe ist ein Individuum, auch wenn eine Schabe keine Person sein dürfte. Für mich und große Teile der neueren Philosophie können das hochentwickelte Tiere, wie Schweine oder Pferde, durchaus sein. Dass man bei Schaben kaum von Personen sprechen kann, liegt sicherlich auch daran, dass wir nicht mit ihnen kommunizieren können. Das ist einer der Hauptgründe dafür, dass wir uns einem Lebewesen fremd fühlen. Wir haben weniger Hemmungen, mit ihm auf eine Weise zu verfahren, die Vernichtung oder entstellenden Missbrauch impliziert und bringen ihm weniger Empathie entgegen. Trotzdem glaube ich, dass es eine Perversion ist, ein Lebewesen so zu modifizieren, dass ich es wie ein technisches Produkt fernsteuern kann, weil jedes Lebewesen zumindest einen Ansatz von Autonomie in sich trägt. Auf der Basis dieser Ansätze von Autonomie und Kommunikationsfähigkeit können wir eine graduelle Unterscheidung vornehmen und die scharfe Trennung zwischen Mensch und Nicht-Mensch aufheben. So können wir ethische Rechte auch von Tieren praktisch anwenden und Einzelfallentscheidungen vornehmen, das heißt je nach Fall eine Güterabwägung machen. 33

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Die beiden Entwickler des Projekts argumentieren auf ihrer Homepage so, dass die Schabe erstens unter Betäubung verdrahtet werde und zweitens – anders als beim Menschen – sogar die Beine wieder nachwachsen würden. Ich glaube es ist viel einfacher andersherum zu argumentieren, als aus der Sicht der Schabe. Ein vernünftiger Mensch empfindet wahrscheinlich eine Form des Abscheus, wenn er die Behandlung sieht. Auch das hat ethische Relevanz. Es gibt bei Kant das Problem, dass Tiere nicht Träger moralischer Rechte sein können, weil sie für ihn keine Personen sind. Trotzdem verbietet er die Misshandlung von Tieren, weil dadurch eigentlich Mitleid hervorgerufen werden müsste und weil wir in dem Moment, in dem wir ein Lebewesen misshandeln, unsere eigene Würde beschaden. Und da hat der Philosoph Robert Spaemann zu Recht darauf hingewiesen, dass wenn ich durch eine Misshandlung meine Würde beschmutzen kann, das Tier nicht völlig ohne jede Form von Rechten sein kann. Kein Mensch käme auf die Idee, dass ich meine Würde beschädige, wenn ich mein Auto misshandle. Da das so ist, muss dem Tier ein Recht auf Unversehrtheit zugesprochen werden und ich denke, dieser intuitive Ansatz führt auch hier am weitesten.


Würde man die Argumentation der beiden Amerikaner weiter verfolgen, käme vermutlich das Argument, dass mit diesem Ansatz Grundlagen gelegt werden, um neuronale Krankheiten zu heilen. Man weiß zwar nicht, ob ein Ergebnis erzielt wird. Aber Ihrer Argumentation zufolge steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen gerettet werden. Wenn man ganz konsequent davon ausgeht, dass Tiere ein Recht auf Unversehrtheit haben, kann man nicht rechtfertigen, dass jemand durch ihr Leid profitieren würde. Wenn man das so nicht sieht, ist es eine Sache der Gewichtung. Ich habe aber den Verdacht, dass es bei dem Versuch eher darum geht, wirtschaftliche Vorteile daraus zu ziehen, gerade wenn es um Fördermittel geht. In erster Linie ist das Geldmacherei und das finde ich moralisch erst recht bedenklich. Solange es keine konkreten Hinweise darauf gibt, dass wirklich Krankheiten geheilt werden könnten, ist die Argumentation nicht tragfähig. Glauben Sie, dass sich der Trend hin zu Tierversuchen fortsetzen und verstärken könnte? Man sieht ja immer wieder die Nachlässigkeit der öffentlichen Aufmerksamkeit

gegenüber solchen Kontexten. In den meisten Fällen ist es gar keine Befürwortung, sondern eher Desinteresse oder ein Wegschauen. Ich bin mir sicher, dass es ein wesentlich besserer Ansatz wäre, Jugendliche ab einem bestimmten Alter zu verpflichten, sich damit auseinanderzusetzen, zum Beispiel durch Videoaufnahmen. Alles anderes wäre zu theoretisch, denn man soll wissen, was das Thema eigentlich impliziert und was Tierversuche in der Praxis bedeuten. Das ist der Grundgedanke von Ethik und Philosophie, nämlich klarzumachen, was man vertreten muss, um bestimmte Positionen einnehmen zu können. Angenommen, man unterstellt dem Schaben-Projekt kein kommerzielles Interesse. Welche Alternativen würden Sie den beiden Studenten empfehlen, um junge Menschen für die Neurobiologie zu begeistern? Ich würde ihnen dringend empfehlen, nach alternativen Modellen zu suchen. Es gibt beispielsweise Simulationsmodelle oder mechanische Nachbauten, zumal die Technik heute so weit ist, dass Vorgänge in Insekten wunderbar nachgeahmt werden können. Möglicherweise hätte das auch nicht diesen unangenehmen Horror- und

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Ekeleffekt, wenn man die Tiere operiert. So würde vielleicht noch mehr Neugier für technologische Entwicklung geweckt werden, weil so etwas zeigt, wie leistungsfähig Forschung sein kann, indem sie so etwas simuliert und nachbaut.

Als Hendrik Pfeiffer in einem Blog auf einen Bericht über die verdrahteten Schaben stieß, hielt er es erst für einen Scherz. Er merkte aber schnell, dass dies ein ernst gemeintes Angebot war. Für ihn höchste Zeit, das Projekt aus ethischem Blickwinkel zu betrachten.


Drei Tipps zum Thema: Angrillen

OPAS HANDWERKSTIPPS

Unsere Redaktionsoma Gisela habt ihr im vergangenen Heft kennengelernt. Heute stellen wir Redaktionsopa Werner vor. Er gibt euch ab sofort für alle Lebenslagen das nötige Handwerkszeug mit auf den Weg. Zur Gartensaison weiht er uns in die Geheimnisse der Grillkunst ein. TEXTANNIKA FRANK FOTOSTHOMAS BORGBÖHMER

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WERNER SCHMEISST DEN GRILL AN „Grillanzünder oder Spiritus? Das stinkt doch nur. Ich bin ein Freund des Grillstarters: oben Kohle, unten Papier und dann kräftig pusten! Das ist vielleicht nicht die schnellste, aber auf jeden Fall eine sehr umweltfreundliche Methode. Und zum guten Grillen gehört schließlich Warten und Biertrinken.“

LOS GEHT’S! MISSION: PERFEKTE BRATWURST

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„Wenn auf der Kohle eine weiße Schicht zu sehen ist, dann ist die optimale Grilltemperatur erreicht. Jetzt können wir unser Grillgut auflegen. Wenn man richtig fettiges Fleisch grillt, kann es passieren, dass der Grill dafür noch zu heiß ist und hohe Flammen aufsteigen, wenn das Fett in die Glut tropft. Dann den Rost einfach nochmal für einen Moment runternehmen. Man kann auch Bier darüber kippen, um das Ganze zu beschleunigen. Das qualmt aber ohne Ende. Viel zu schade um das gute Bier!“

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NACH DEM GRILLEN IST VOR DEM GRILLEN

„Bei gutem Wetter grillen wir gerne zusammen mit unseren Nachbarn. Dafür muss der Grill natürlich immer einsatzbereit sein. Nach dem gemeinsamen Essen kann man den verschröbelten Grillrost am besten über Nacht in feuchte Küchenrolle einwickeln. Am nächsten Tag geht das Reinigen dann ganz leicht! Putzen muss man allerdings nach jedem Grillen, sonst hilft’s irgendwann nicht mehr!“

DAS IST UNSER REDAKTIONSOPA Redaktionsopa Werner wohnt mit seiner Frau in Witten in einem Haus mit großem Garten. Hier steht auch der Grill, den sie sich gemeinsam mit den Nachbarn teilen. Zusammen ist’s eben geselliger! Werner und seine Frau sind beide in Altersteilzeit, so dass sie sich neben ihrer grünen Gartenoase auch gerne in vielen exotischen Urlaubsländern aufhalten. Alle mit zwei linken Händen können Fragen an unseren Redaktionsopa an die Mailadresse redaktionsopa@gmail.com schicken! 13 leben


ABGEFAHREN Ihr wollt Kultur, Action und Abenteuer? Wir gehen mit dem NRW-Ticket bis ans Limit und nehmen euch mit auf eine Reise durch das Ruhrgebiet und darüber hinaus. TEXTKRISTINA GERSTENMAIER FOTOTHORSTEN SCHNEIDER/BLINDWALK KÖLN

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ie Luft ist erfüllt von starkem Weihrauch, hunderte Menschenstimmen surren um mich herum. „Vorsicht“, sagt Katharina Zerfin, meine Stadtführerin, „wir gehen jetzt durch eine enge Tür wieder nach draußen, unter uns ist Teppichboden.“ Als wir aus dem Kölner Dom wieder ins Freie treten, spüre ich die Sonne außergewöhnlich warm auf meiner Haut. „Was machen die denn da?“, höre ich einen Mann in unmittelbarer Nähe fragen. So laut, dass er wohl denkt, wir seien nicht nur blind, sondern auch noch taub. Denn unsere Augen sind verbunden: Wir befinden uns auf einer Stadtführung vorbei an Kölns wichtigsten Attraktionen – nur sehen können wir Teilnehmer sie nicht. Blindwalk nennt sich die von Axel Rudolph 2011 ins Leben gerufene Stadtführung. Der Akustikdesigner ist Initiator verschiedener Dunkelausstellungen und Gründer des ersten deutschen Dunkelrestaurants. Mit dem Blindwalk will er die Idee des Nicht-Sehens auch ins Freie tragen. Rudolphs Anliegen: Teilnehmern die Welt auf eine neue Weise wahrnehmen zu lassen und damit eine Art Kunstprojekt anzubieten. Treffpunkt ist der Haupteingang des Museum Ludwig in unmittelbarer Nähe zum Dom. Katharina Zerfin verteilt blickdichte Augenbinden. Die Welt um

mich herum wird zappenduster. Ich klammere mich an eine der Stangen, die extra am Rucksack unserer Stadtführerin befestigt sind und uns Teilnehmern ein bisschen Sicherheit geben sollen. „Auf drei gehen wir los, mit dem rechten Fuß zuerst.“Ich hatte befürchtet in Panik zu geraten.

Doch die 26-Jährige hat eine so angenehme und vertrauenerweckende Stimme, dass ich mich sofort auf den blinden Rundgang einlasse. Der führt vom Domvorplatz und einem Abstecher in die Kathedrale zum berühmten Heinzelmännchenbrunnen und zum Brauhaus Früh. Überall sind Menschenmassen unterwegs und ich denke vor allem eins: Komisch, dass mich alle sehen können, ich aber niemanden. Immer wieder beschreibt unsere Stadtführerin die Szenerie, fragt, was wir hören und riechen, weist uns auf Unebenheiten im Boden hin. Alle meine verbleibenden Sinne sind auf vollen Empfang geschaltet. Ich rede nicht viel, sondern versuche, die Eindrücke aufzusaugen. Zerfin führt uns 36

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über eine gepflasterte Straße, vorbei an einer Skulptur, deren unterschiedliche Beschaffenheiten wir ertasten, hoch auf die Hohenzollernbrücke, auf der etwa im 60-Sekunden-Takt Züge an uns vorbeirauschen. Skurill, dass ich weder den Brunnen, noch die Brücke oder die Straße jemals zuvor gesehen habe – ich bin zum ersten Mal in Köln. Umso mehr bin ich auf die Ausführungen der Stadtführerin angewiesen, um mir ein Bild davon zu machen. Als ich die Augenbinde nach über einer Stunde abnehme, blendet mich die Sonne zwar stark, aber ich fühle mich gut. Die Idee ist einfach und großartig zugleich: eine den Meisten bekannte Umgebung auf eine vollkommen neue Weise vorführen. Ich bin fasziniert davon, dass ich alle Hemmungen überwinden konnte und trotz der Blindheit so viel wahrgenommen habe. Eine tolle Erfahrung.

Ort: Haupteingang des Museum Ludwig am Heinrich-Böll-Platz. Anfahrt: RE1 bis Köln Hbf, fährt auch sonntags stündlich. Dann zu Fuß gut fünf Minuten. Blindwalk mit Picknick: Sonntag, 12 Uhr. Dauer: ca. zwei Stunden. Kosten: 35 Euro Blindwalk Kompakt: Sonntag, 15 Uhr. Dauer: ca. eine Stunde. Kosten: 17,50 Euro.


HINGESCHAUT

„This is not Detroit. It’s Bochum!” – unter diesem Motto setzen sich Künstler und Bürger im Rahmen eines Kreativ-Festivals mit der Schließung der Bochumer Opel-Werke auseinander. TEXTPHILIPP RENTSCH FOTOMICHEAL KNEFFEL

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ie geplante Schließung des OpelWerks stellt die Stadt Bochum vor eine große Herausforderung. Mehrere tausend Menschen mitten im Ruhrgebiet werden ihren Arbeitsplatz verlieren. Zudem stehen nach Abriss der Gebäude rund 1,6 Millionen Quadratmeter Fläche zur Neunutzung zur Verfügung. Diese Entwicklung ist die Ausgangssituation für das „Detroit-Projekt“ der Kulturinstitution Urbane Künste Ruhr und des Bochumer Schauspielhauses. Bis zum 5. Juli findet an 20 Orten in ganz Bochum das Sommerfestival des Projektes statt, das den Mittelpunkt der Veranstaltungsreihe bildet. Da Opels Zukunft in Detroit entschieden wurde, lautet das Motto: „This is not Detroit. It’s Bochum“. Ziel der Veranstalter ist es zu zeigen, dass sich Bochum und das Ruhrgebiet keineswegs so entwickeln werden wie Detroit. Die frühere Industriestadt kämpft derzeit nach dem Niedergang der Automobilindustrie gegen Leerstand und Zerfall und ist in dessen Folge insolvent. Sabine Reich ist Mitglied der Projektleitung des Festivals und erklärt, weshalb

Kultur und Politik so eng miteinander verzahnt sind: „Das Theater war schon immer ein Ort des Politischen. Auf der Bühne werden schließlich Fragen der Gemeinschaft verhandelt. Mit dem DetroitProjekt fragen wir nach der Zukunft der Menschen in Bochum.“ Mit regionalen und internationalen Künstlern aus anderen europäischen Opel-Städten haben die Veranstalter ein Programm zusammengestellt, das die Einwohner bewegen soll, die mit der Werks-Schließung verbundene Veränderung der Stadt aktiv mitzugestalten. Dazu zählen zum Beispiel Lichtinstalla tionen an unterschiedlichen Orten oder Fotoausstellungen von Bürgern zum Thema Wandel. So hängen seit Ende April 29 Bilder im Stadtzentrum, die Besonderheiten und Zukunftsperspektiven verdeutlichen sollen. Den Höhepunkt erreicht das Projekt mit einem Zukunftsfest am 29. Juni. An diesem Tag sind die Besucher gefragt. Sie sollen zeigen, wie sich Bochum zur Stadt der Kultur, Wissenschaft und Bildung verändern kann. Chöre und Bands werden auf einer Festplatzbühne auftreten, darüber 37

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hinaus werden die Straßen rund um das Schauspielhaus gesperrt; Gruppen und Initiativen können sich mit ihren Ideen beteiligen. Olaf Kröck, der ebenfalls zu den Verantwortlichen gehört, betont, dass alle künstlerischen Arbeiten eigens für das Detroit-Projekt produziert werden. „Das birgt künstlerische Risiken, aber Innovation entsteht nur durch Bereitschaft zum Risiko. Das sollte, vor allem vor den Hintergründen unseres Projektes, nicht nur für die Kunst gelten.“ Eine klare Botschaft, um die Entwicklungen für die Post-Opel-Ära voranzutreiben und zu gestalten. Das Sommerfestival endet am 5. Juli. Von da an wird es bis Oktober weitere Veranstaltungen geben. Tickets für die zum Teil kostenpflichtigen Termine gibt es im Schauspielhaus Bochum oder online auf www.eventim.de und www.schauspielhausbochum.de. Dort gibt es auch detaillierte Informationen zu den einzelnen Veranstaltungen.


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