Pflichtlektüre 05 2015

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pflichtlektüre 052015

Studentenmagazin für Dortmund

Und ab geht’s! Sportlich ins neue Semester starten

Transgender

Im falschen Körper geboren

Polyamorie Zwei sind einer zu wenig

Flüchtlinge

Studenten helfen im Alltag


Aus der redaktion S

port treiben? Nee ... Ich habe keine Zeit. Ich bin zu müde. Mir ist gerade ein Fingernagel eingerissen, mich jetzt zu bewegen, wäre mir wirklich zu riskant. Nix da! In fünf Tagen habe ich fünf Sportarten getestet. Alles für die Story, alles für die Pflichtlektüre! Statt der Klassiker habe ich die besonderen Angebote des Hochschulsports gewählt, ordentlich Kalorien verbrannt und außerdem meine Fotografinnen um den letzten Nerv gebracht, weil sie um mich herum springen mussten. Speckröllchen adé – Muskelkater, ich komme! Aber trotz Gliederschmerzen: Ich kann‘s nur empfehlen. Carolin West

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ich ein Bild von jemandem machen“– eine Redensart, die für mich eine neue Bedeutung bekommen hat. Denn noch bevor ich so richtig wusste, wie mir geschah, war ich schon dabei, meine ersten Portraitfotos zu machen. Fotos von meinen Kommilitonen, mit denen ich in der pflichtlektüre arbeite. Eigentlich bin ich für das Ressort „Leben“ als Autorin zuständig und habe bis auf Smartphone-Knipsereien keine Fotografie-Erfahrung. Die Arbeit für das Fotoressort hat sich mittlerweile zu einer Leidenschaft entwickelt. Das zeigt, wie vielfältig die Arbeit in der Redaktion sein kann. Ich mache mir gerne ein Bild von den Menschen, egal, ob mit einer Kamera oder einem Stift. Melissa Pfeiffer

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ickende Technik oder ein rauer Umgangston – unser Ressort kommt bei den Kollegen manchmal schlechter weg als es verdient. Im Layout sitzen wir wirklich gerne. Auch sonntags: Während alle anderen im Freibad planschen, sind wir auch dann in der Redaktion und basteln an der nächsten Ausgabe. Für Freude sorgen dabei oft die rotierenden Musikwünsche. Ob 90’s Trash, Hip Hop oder Yoga-Mukke: Experimente sind erlaubt, werden aber auch immer kritisch angehört. Wenn sich dann eine ominöse „Lagerfeuer-Playlist“ auf Spotify als Glücksgriff entpuppt oder wir uns von den 90’s zu Schabernack inspirieren lassen, ist das keine Arbeit mehr, sondern purer Spaß. Anneke Niehues


18 BACH iM deLtA

Ist er wirklich echt? Im Teilchenbeschleuniger geprüft

inHALt 04 DIE QUINTATHLETIN 06 DOLYMPIA 2024 12 SAG MAL, DOC 15 8,50 EURO DIE STUNDE 16 MIT UND OHNE RÜCKHALT 20 WAS FÜR EIN THEATER?! 26 OMAS ERKÄLTUNGSTIPPS 28 WO TUT‘S DENN WEH? 29 SPRECHSTUNDE 30 POLYAMORIE 33 HINGEGANGEN 36 HINGESCHAUT 37 ABGEFAHREN 38 MOMENTE

Wir war‘n da wo die U-Bahn wendet

An fünf Tagen fünf verrückte Sportarten

EINS VORAB M

al ehrlich: Mit dem Studentenjob als Kellner, Barkeeper oder Hundefriseur ging es uns finanziell schon mal deutlich schlechter, oder? Das Zauberwort heißt Mindestlohn und der gilt in Deutschland seit gut zehn Monaten. Eine Stunde Gläser schleppen? 8,5 Euro! Eine Stunde Bier zapfen? 8,5 Euro! Eine Stunde Pudel striegeln? 8,5 Euro! Doch ist dieser Studenten-Traum wirklich zu Ende gedacht? Möglicherweise überlegen sich die Arbeitgeber ab jetzt zweimal, ob sie sich die Aushilfe noch leisten können oder wollen. Unser Reporter Richard Brandt hat sich auf die Suche gemacht und sowohl „Opfer“ als auch „Profiteure“ des neuen Gesetzes gefunden. Pia Platzbecker bekommt für ihre Arbeit keinen Cent – will sie auch gar nicht! Die Jurastudentin an der Uni Bochum hilft seit März ehrenamtlich Flüchtlingen über die Hürden der deutschen Bürokratie. Wer den langen beschwerlichen Weg aus seinem Heimatland nach Deutschland geschafft hat, auf den warten hierzulande an jeder Ecke neue Stolperfallen – egal, ob es Probleme mit dem Ausweis sind, Handyrechnungen oder das Lernen der neuen Sprache.

Was wäre wenn und vor allem wo? VON HENRIK WITTENBORN

Was macht Menschen kreativ?

Einer, der die „Studentische Flüchtlingshilfe“ dringend braucht, ist Karim. Aus seiner Heimat musste er fliehen, weil er zum Christentum konvertierte, erzählt er. Pia hilft ihm nicht nur bei der Vorbereitung auf komplizierte Behördengänge. Sie setzt in Zeiten von brennenden Asylbewerberheimen und überfüllten Erstaufnahmeeinrichtungen vor allem ein deutliches Zeichen. Ein Zeichen gegen Hass und Fremdenfeindlichkeit und für die Menschlichkeit. Zeichen setzen gilt übrigens auch für euch: Also, pflichtlektüre lesen! Viel Spaß dabei wünscht

Hilft der Mindestlohn Studenten wirklich?

Die Umwandlung vom Mann zur Frau

Wie gut die Theater-Flatrate angenommen wird

Garantiert ohne Risiken und Nebenwirkungen

Ari hat jeden Tag eine andere Krankheit

Studenten helfen Flüchtlingen

Wie Liebe zu dritt funktionieren kann

Kulturtipps im Ruhrgebiet und drumherum

Halloween ins Gruselkabinett nach Bottrop

Brauereibesichtigung bei Fiege in Bochum


DER ZUG IST ABGEFAHREN … BRECHTEN

Als Studenten sind wir regelmäßig mit einer der acht U-Bahn-Linien in Dortmund unterwegs. Aber wer fährt schon bis zu den Vororten durch? Wir haben 13 Endstellen angefahren und die U-Bahn-Türen auch außerhalb der Innenstadt geöffnet. FOTOSDANIELA ARNDT&STELLA VENOHR

DORSTFELD BETRIEBSHOF

APLERBECK HACHENEY

MARTEN/WALBERTSTRASSE

WESTERFILDE


CLARENBERG

GROTENBACHSTRASSE

WICKEDE

GREVEL

BRUNNENSTRASSE

WESTFALENHÜTTE WESTFALENHALLEN


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T&JANA FISCHER&CHRISTIANE REIN

TEXTCAROLIN WEST FOTOSDANIELA ARND


Montag: Let´s rock´n´roll

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ie wohl sportlichste Tanzform“, verspricht die Kursbeschreibung. Und tatsächlich: Die Teilnehmer erscheinen nicht in Röckchen oder Anzug, sondern in Sportkleidung. Puh, zum Glück habe ich das richtige Outfit gewählt. Nach und nach kommen die Tanzpaare in die Halle. Kursleiter Kai Lowack steht schon neben der Musikanlage bereit. „Viele haben sich angewöhnt die 'akademische Viertelstunde' zu spät zu erscheinen, um nicht so viel vom Aufwärmen mitmachen zu müssen“, erzählt er mir lachend. „Wir fangen deshalb einfach später an.“ Aufwärmen? In den Tanzschulkursen, die ich besucht habe, bedeutete das eine Runde Discofox. Hier jedoch: warm laufen, Arme kreisen, Beine hoch und dehnen. Mir schwant, warum die Kursteilnehmer Sportkleidung tragen. Ich bekomme ein Personal Training bei Kai – denn die anderen haben einen großen Vorsprung. „Meist nehmen wir uns für den Grundschritt sogar mehrere Trainingseinheiten Zeit. Die Herren sind häufig etwas träge“, meint er grinsend. Zum Glück fängt Kai langsam an. Der Grundschritt ist ein Sprungschritt. Knie heben, Bein nach vorne strecken, Knie wieder heranziehen und absetzen. „Man macht natürlich nicht nur einen Kick. Als Dame zwei Mal rechts, einmal links und als Herr genau umgekehrt, damit man sich nicht in die Quere kommt.“ Okay, dann mal los. Zwei Mal rechts: Knie heben, Bein nach vorne, Knie zurück, absetzen. Dann einmal links. Schon etwas schwieriger, aber noch geht es. Bei den anderen sieht es deutlich komplizierter aus. „Unser Ziel ist es, dass jedes Paar eine eigene Choreographie bekommt – spätes-

tens im Fortgeschrittenenkurs“, sagt Kai, als er meinen beeindruckten Blick bemerkt. Dann kommen die Sprünge hinzu. Ich fühle mich wie ein Flummi, während ich versuche Sprünge und Kicks zu koordinieren. Gar nicht so leicht, aber mit etwas Konzentration klappt es. Schließlich folgt der sogenannte Ball Change zwischen den beiden Rechtskicks. „Stell dir vor, du machst Seilspringen“, rät Kai mir. „Erst mit dem einen Fuß über das Seil und dann mit dem anderen.“ Ein Fußwechsel also. Uff, jetzt wird es kritisch. Und dabei auch noch springen! Kick rechts, Kick rechts, … Ach nein, Ball Change dazwischen. Kick rechts, Ball Change, absetzen, … Mist, das darf doch nicht wahr sein! Dritter Versuch. Und plötzlich klappt es – ein Erfolgserlebnis! r nicht euer Ding? Ih Fazit: Standard ist cht sportlich genug? meint tanzen ist ni einen Partner und Dann schnappt euch Spaß und Schweiß ab zum Rock‘n‘Roll! inklusive.

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Dienstag: flagge zeigen

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ootball! Ich mit meinen 1,61m beim Football. Mein Glück: Beim Flag Football ist Rempeln verboten. Die Spieler tragen Gürtel mit sogenannten Ploppflaggen – Flaggen ziehen statt schubsen wie beim American Football, sehr beruhigend.

versucht, meine Flagge zu ziehen – und schafft es auch. Ich war so glücklich, den Ball überhaupt gefangen zu haben, dass ich gar nicht mehr an die Flagge gedacht habe. Okay, Konzentration. Beim nächsten Mal fange ich den Ball erst gar nicht. Vielleicht ist die Defense ja eher etwas für mich. Nun muss ich versuchen, die Flagge meines Gegners zu ziehen. Kurz die Angst ausblenden, umgerannt zu werden – denn das ist hier nicht erlaubt – und los geht es. Mist, fast hätte ich die Flagge gehabt. Trotzdem fühle ich mich in der Defense deutlich wohler – hier fällt mein Defizit im Werfen und Fangen nicht auf. Zum Schluss spielen wir Fünf gegen Fünf, wie im echten Spiel – zum Vergleich: Beim American Football spielt man Elf gegen Elf. Bei den Zahlen- und Nummerncodes für die Spielzüge verste-

Ballsportarten sind nicht meine Stärke. In Werfen und Fangen war ich noch nie besonders begabt – keine guten Voraussetzungen. Doch bei den „Dortmund Devils“ ist das kein Problem, ich fühle mich sofort willkommen. „Eine Runde Ultimate zum Aufwärmen“, ruft Fabian Pawlowski, der das Team mit Joshua Grodotzki leitet. Ich habe keine Ahnung, was das ist. Fabian erklärt mir, dass es zwei Endzonen gibt, in die der Ball – ohne vorher den Boden zu berühren – gebracht werden soll. Der „Ball“ ist dieses eierförmige Ding, das ich aus amerikanischen Filmen kenne. „Wenn du den Football fängst, musst du aus Zeigefingern und Daumen ein Dreieck bilden, da kommt die Spitze rein. Mit den übrigen Fingern kannst du dann den Ball umschließen.“ Das sagt Fabian so leicht. Zwei Mannschaften werden gebildet. Die Leute meines Teams rufen mir zu, was zu tun ist. Ab und an fange ich sogar den Ball und schaffe es irgendwie, ihn an einen Mitspieler weiterzugeben. Nach mehreren Fitnessübungen folgt der Hauptteil des Trainings. Es wird in Defense (Verteidigung) und Offense (Angriff ) unterteilt. Zunächst wird eins gegen eins gespielt. Ich bin in der Offense. Ein Spieler wirft mir den Ball zu. Mein Gegenspieler 08

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he ich nur Bahnhof. Glücklicherweise erklären mir die anderen die Bedeutungen. „Wir haben sehr viele erfahrene Spieler, das ist gut, wenn neue hinzustoßen. Alle greifen den Anfängern unter die Arme“, sagt Fabian. Und jedes Mal, wenn trotzdem noch ein großes Fragezeichen in meinem Gesicht steht, versucht jemand, es noch einmal einfacher zu erklären. Am Ende kommen alle zu einem sogenannten „Huddle“ zusammen. Wir stellen uns im Kreis auf, die Hände in die Mitte. Fabian brüllt: „Eins, zwei, drei“ und dann alle: „Devils Bam!“ ormalen“ BallFazit: Genug von „n amgeist sucht, ist sportarten? Wer Te genau richtig. Ob beim Flag Football lein, klein oder Männlein oder Weib er ihre Position. groß – alle finden hi


Mittwoch: Durchboxen

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uropean Tae Bo (ETB) beinhaltet Elemente aus dem Kickboxen – „gekämpft“ wird allerdings nur gegen imaginäre Gegner. Aber auch die können es ganz schön in sich haben. Huch, nur Frauen hier? Ich bin überrascht, schließlich war in der Beschreibung von Kampfsportelementen die Rede. Ich lerne aber: Hier geht es nicht darum, einen Gegner zu besiegen. „Wir haben hier eine Philosophie: Get the first place by your own“, erklärt Trainer Daniel Kirstein, der einzige Mann in der Halle. „Jeder sollte und muss hier an seine eigenen Grenzen gehen, an diesem Punkt aber auch eine kurze Pause machen.“ Bei der heutigen Einführungsstunde liegt der Fokus auf der Erläuterung und richtigen Ausführung der Techniken. In einer Powerstunde kann man sich 60 Minuten lang nonstop auslassen. In der Regel finden die Stunden im Wechsel statt. Nach dem schweißtreibenden Aufwärmen erklärt Daniel die drei Schrittpositionen: hüftbreit, etwas breiter und mit abgeklappten Fingerspitzen abschließend (Arme ausgebreitet).

sicherlich nicht schlecht, Erfahrungen im Kampfsportbereich zu haben. Trotzdem hat durch die Intro-Stunden jeder die Möglichkeit, die Techniken von Grund auf zu erlernen“, sagt Daniel. Ganz sicher fühle ich mich noch nicht, aber das individuelle Feedback ist hilfreich. Zum Schluss bekomme ich einen Einblick, wie eine Powerstunde aussehen könnte. Fünf Minuten lang werden zu lauter Musik alle Schritte wiederholt. Ganz schön anstren-

Dann geht es an die Technik. Daniel erklärt die Schlagtechnik und geht herum, während wir versuchen, sie auszuführen. Er bleibt bei mir stehen „Du musst dahin sehen, wo dein Gegner stehen würde, nicht nach vorn“, bemerkt er. „Und etwas fester schlagen.“ Er hält mir seine Hand hin, damit ich dagegen boxen kann. Ein leises Klatschen ist zu hören, als meine Faust auf seine Hand knallt. „Ruhig noch etwas fester“, fordert er. Na gut, ich nehme meine Kräfte zusammen. Klatsch. „Und jetzt schneller!“ Ausholen und boxen. Ausholen, klatsch. „Besser“, lobt er. Ha, mein imaginärer Gegner soll sich vorsehen! Auch Kicks lernen wir. Knie hoch und Kick, Hände auf den Oberschenkel des Standbeines und Kick nach hinten. Gar nicht so leicht zu koordinieren. Die Kicks werden immer schneller, jetzt nur nicht das Gleichgewicht verlieren. „Für ein gewisses Körpergefühl ist es 09

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gend! Aber auch befreiend. Nach dem Stretching zu entspannter Musik legen alle zum Abschied die rechte Faust in die linke Handfläche. lernen, KoordinaFazit: Techniken er Auspowern in eition verbessern und n, die Kampfsport nem. Für diejenige aining verbinden mit Herzkreislauftr im ETB vorbei. möchten: Schaut be


Donnerstag: ass welcome to my cl

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hao Lei unterrichtet Combat Fitness auf Englisch – Drill Camp light. Mein „harmloser“ Eindruck des Trainers verflüchtigt sich sofort, als der Kurs beginnt. Er ist vielleicht kein Muskelprotz, aber drahtig allemal. „This is real training“, sagt er. Auch wenn hier nur Schattenboxen angesagt ist: Bei dem bunten Kampfsportmix fühle ich mich, als könnte ich jeden Gegner spielend erledigen. Bei manchen Schlägen und Kicks, die schon ganz gut funktionieren, denke ich mir: So könnte ich auch in einem Actionfilm auftreten und müsste mich nicht hinter Milla Jovovich und Co verstecken. Ein Blick in den Spiegel zerstört meine Illusion: Im Gegensatz zu den immer perfekt gestylten Hollywood-Sternchen sehe ich ziemlich abgekämpft aus mit meinen roten Wangen und dem angestrengten Gesichtsausdruck. Aber ich bin ja auch nicht hier, um einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen. Und auch die anderen Teilnehmer powern sich ganz schön aus. Obwohl Zhao Lei ein hartes Training durchzieht, wirkt er freundlich und ermutigend auf mich. Nach einer kurzen Technikerklärung folgen fünf bis zehn Minuten Power – und die haben es in sich. Schläge, Kicks und kleine Sprünge im Wechsel, alles um den imaginären Gegner auszuschalten. „Power!“ Ein lauter Appell des Trainers reißt mich aus meinen Gedanken. „Yeah“, brüllt er. Warum auch immer wirkt das motivierender auf mich als bloß ein deutsches „Na los!“. Ich strenge mich an, obwohl meine Arme vom Boxen schon ziemlich wehtun. Außerdem macht sich langsam der Muskelkater vom ETB bemerkbar. Wobei mir dieser Kurs mehr liegt, weil es weniger um die Erläuterung der Techniken als um die Praxis geht. Kniebeugen und Ausfallschritte: Eine kurze Pause für meine lädierten Arme. Wobei Po und Beine sich

schon nach kurzer Zeit melden: „Wir möchten das nicht, das tut weh!“ Egal, weiter geht es. Noch ein bisschen tiefer in die Knie. „Listen to the music“, schreit Zhao Lei. Und tatsächlich, jeder einzelne Takt ist auf die Bewegungen, Schläge und Kicks abgepasst. Eine unheimlich große Hilfe beim Ausführen der Techniken. „Where is the music?“ Weiß ich nicht, mir tun die Arme weh. Aber mein Körper scheint es zu wissen und bewegt sich im Takt der Musik. Meine Lehre des Kurses: 10

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Ich muss eindeutig meine Arme trainieren. Autsch. ch gerne auspowert Fazit: Wenn ihr eu tion fehlt, gibt es und euch die Motiva f zum Combat Fitnur eine Lösung: Au Nullkommanichts ness und ihr seid im und um gefühlt drei wieder auf Zack – Kilo leichter.


Freitag: Wie bei den maori

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roha? Noch nie gehört! Inspiriert vom Kriegstanz der Ureinwohner Neuseelands, entwickelt von einem Fitnesstrainer aus Berlin, gibt es Aroha dank Kursleiterin Henrike Eicker auch beim Hochschulsport. Schuhe aus und hinein in eine andere Welt: Die langsame Musik beim Aufwärmen lässt mich das feuchtwarme Klima des Regenwaldes quasi auf meiner Haut spüren. Ich habe sofort ein Bild von bunten exotischen Pflanzen vor Augen. Tief ein- und ausatmen. Henrike Eicker erklärt die beiden Grundschritte. Beim Basic geht man mit einem Fuß zur Seite und leicht in die Knie. Füße wieder zusammen und zur anderen Seite. Beim Offense geht man mit einem Fuß nach vorn und wieder zurück zum Platz, dann das Gleiche mit der anderen Seite. „Ich habe einen Kurs bei dem Erfinder von Aroha und zwei Fortbildungen gemacht“, erzählt Henrike begeistert. Sie habe den Eindruck, dass ihr Kurs nicht so gut ankommt. In der Regel kommen zehn bis zwölf Teilnehmer, heute beispielsweise nur sieben. „Ich glaube, die Leute möchten sich auspowern und denken, das sei hier nicht möglich. Allerdings kann man selbst bestimmen, mit welcher Kraft und Intensität man die Bewegungen ausführt – für manche ist es entspannt, für andere eine Powersportart“, sagt Henrike. In jeder Stunde werden sechs Blöcke erlernt, die am Ende zu einer Choreographie zusammengefügt werden. „Alle Bewegungen sind tatsächlichen

Bewegungen aus dem Alltag der Maori oder Naturbewegungen nachempfunden“, erklärt Henrike. Wir beginnen mit dem Schutzschild. Basic zur Seite und den Arm vor den Körper – als würde man einen Schild halten. Durch die ArohaMusik fühle ich mich tatsächlich, als könne jeden Moment ein Maori um die Ecke kommen. Bei einem Schritt schlagen wir uns auf die Oberschenkel und rufen laut: „Ha“, woraufhin wir die Arme nach oben bewegen, als wollten wir die aufgehende Sonne begrüßen. Aber nicht nur diese der Natur nachempfundenen Bewegungen prägen das Bild des Kurses, sondern auch kämpferische Bewegungen wie Kicks, Boxen und Tritte. Am besten gefällt mir ein Schritt, der der Bewegung einer Raubkatze ähnelt. Wir springen zu einer Seite, stehen auf einem Bein und legen den Fuß des anderen Beines an das Standbein. Beide Arme im 90 GradWinkel zur Seite. Dann zur anderen Seite springen, den Fuß ans Knie und die Arme vor dem Körper kreuzen. Natürlich mit Tempo, wir sind ja keine schleichenden Raubkatzen. zeige? Von wegen! Fazit: Power Fehlan gungen beim Die kraftvollen Bewe genauso an eure Aroha können euch e andere Sportarten Grenzen bringen wi eheimtipp! auch. Ein echter G

Die Woche Danach

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nnerhalb von fünf Tagen habe ich nicht nur fünf neue Sportarten kennengelernt, sondern auch einige Muskelgruppen meines Körpers, von deren Existenz ich bis dahin nichts ahnte. Wofür gehe ich denn zwei Mal die Woche ins Fitnessstudio und gebe zusätzlich selbst Sportkurse? Obwohl ich dachte, ich sei einigermaßen sportlich, hat mir diese Woche Mal kein kleines Muskelkätzchen sondern einen ausgewachsenen Muskelkater beschert. Meine Arme! Ich wünschte, ich könnte sie noch anheben. Sobald das wieder möglich ist, werde ich mich doch einmal an die Foltermaschinen im Fitnessstudio begeben, die Bizeps und Co auf Vordermann bringen. Trotzdem hatte ich natürlich viel Spaß: bei cooler Rock'n'Roll Musik, beim Versuch den Ball zu fangen, beim Kampf gegen die Luft, beim Auspowern mit Schattenboxen und beim Tanz der Maori. Mein Fazit: Ich persönlich würde mich im nächsten Semester beim Combat Fitness und Aroha anmelden. Warum? Weil ich mich in beiden Kursen auf unterschiedliche Art und Weise auspowern kann. Probiert es aus und entscheidet selbst.

g Auf zur Anmeldun

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owohl für die Klassiker als auch für die besonderen Kurse des Hochschulsports startet die Online-Anmeldung am 19. Oktober ab 9 Uhr. Bei unseren SportExoten bekommt ihr sicher auch später noch einen Platz. Schnupperwochen laufen vom 26. Oktober bis zum 6. November. Bei manchen Kursen gelten andere Bestimmungen. Auf der Internetseite des Hochschulsports könnt ihr euch über das Programm für das Wintersemester 2015/16 informieren: www.hs.tu-dortmund.de.

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FEUER UND FLAMME FÜR

DOLYMPIA 2024 Berlin ist raus. Hamburg soll die Olympischen Spiele 2024 in Deutschland ausrichten. Doch heimlich schleicht sich noch ein neuer Bewerber ein: Dortmund. Eine nicht ganz ernst gemeinte Vision für die Spiele zum Sparpreis. TEXTHENRIK WITTENBORN ILLUSTRATIONENPIERRE PAUMA | WWW.CARICACTUS.CANALBLOG.COM

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uf fünf Milliarden Euro hat das Hamburger Bewerbungskomitee die Kosten für drei Wochen Spaß geschätzt, Zahlen, die auch bis ins Ruhrgebiet durchdringen und für große Augen sorgen. Fünf Milliarden? Euro? Schon bald schwebt die Parole durchs Dortmunder Rathaus: „Das können wir billiger als die Fischköppe!“ Kleinkarierte Sachbearbeiter aus der Buchhaltung nörgeln und verweisen auf die leere Stadtkasse mit mehr als zwei Milliarden Euro Schulden. Da war doch was: Dortmund steckt im Nothaushalt! Na und? Dortmund kann Olympia, Dortmund will Olympia, Dortmund holt Olympia 2024! Über Nacht entwirft die Task Force „DOlympia“ die Spiele für den schmalen Geldbeutel. Schon am nächsten Tag beginnen die Arbeiten. Die Dortmunder staunen nicht schlecht, als Bauarbeiter das „U“ Stück für Stück in seine Einzelteile zerlegen und aus dem Unionviertel schaffen. Für die olympischen Ringe fehlt das Geld. Das „U“ wird kurzerhand zum neuen Logo umfunktioniert und wird in 1909 Fahrten zum Olympiastadion „Rote Erde transportiert. Olympia ohne Ringe: Dortmund schreibt schon Geschichte, bevor das Feuer entzündet ist. Der olympische Geist bleibt aber unantastbar. Naja, fast: Sportler aus Gelsenkirchen werden von allen Wettbewerben ausgeschlossen.

Maskottchen Uli – Der Star der Spiele Das Athletendorf steht in Barop. Alle Sportler ziehen in die Studentenwohnheime und müssen sich die Zimmer mit den Bewohnern teilen – ohne Ausnahme! Basketballstar LeBron James bietet ein Jahresgehalt für ein Hotelzimmer, doch Regeln sind nun einmal Regeln. Weil sein Mitbewohner Jörg „CPU“ Koslowski, Informatik-Student im 31. Semester, keine Kompromisse kennt, bleibt dem Megastar nur der Schlafplatz auf dem Fußboden. Für James letzten Endes unerheblich, denn nach nur drei Spielen ist für die Amis ohnehin Schluss. Das mittwöchliche Bier-Schnaps-Ritual der Studenten in der Kneipe „Spunk“ wird ihnen zum Verhängnis.

Im Zeichen des Bieres steht das Maskottchen: Bierbüchse „Uli“ trägt das olympische U auf seinem Trikot stolz durch die Innenstadt und wird zum (un)heimlichen Star der Spiele. Kinderschützer bemängeln wie schon beim WM-Maskottchen Goleo von 2006, dass Uli trotz mehr-

facher Aufforderung noch immer keine Hose trägt. Und dann ist er da, der große Tag. Wegen Sicherheitsbedenken wird der Einmarsch aller Nationen durch Dortmund-Dorstfeld kurzfristig abgesagt. Der


nächste peinliche Fauxpas: Als BVB-Idol Leonardo Dede das olympische Feuer auf der Zeche Phoenix-West entzündet, fällt den Organisatoren auf, dass sie sich bisher nicht um die Medaillen gekümmert haben. Professionelle Kupferdiebe erklären sich nach zähen Verhandlungen bereit, die Edelmetalle zu schmieden. Kleiner Wermutstropfen: Das Dortmunder „U“ muss ab sofort ohne Dachrinnen auskommen.

wie sperrige „U“ blockiert den Kugelstoßring, die Wettbewerbe müssen kurzfristig in den Vorgarten von Oberbürgermeister Ullrich Sierau verlegt werden. Ungläubig steht dieser am Fenster und zuckt zusammen, als Olga Povopotov aus Russland die Kugel zielsicher im Rosenbeet seiner Frau versenkt.

Anschließend beginnen die Wettkämpfe: Usain Bolt, mittlerweile für Katar aktiv, pulverisiert den 100-Meter-Weltrekord in der Roten Erde („Die beste Bahn zwischen Panama und Peking!“) und verjubelt seine Siegprämie bei Wirtin Christel in der Stadionkneipe.

Statt den üblichen 17 Wettkampftagen braucht Dortmund ganze 40. Der Stadt fehlen die Sportstätten. Weil im Westfalenstadion ein Rugby-Turnier läuft, wird das Fußballturnier auf den Ascheplatz im Hoeschpark verlegt. Andere Disziplinen muss das Olympische Komitee mehrfach

Das DOlympische Modell geht um die Welt

Bolts Siegerehrung verkommt zur Farce. Die Zeremonie auf dem Borsigplatz dauert gerade einmal zwei Minuten. Stadtbahnen haben auch weiterhin Vorfahrt. Im Olympiastadion „Rote Erde“ treten derweil Probleme auf. Das doch irgend-

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verschieben. Der Marathon über die A40 beispielsweise fällt zweimal aus, weil sich neue Sanierungsarbeiten an der Schnettkerbrücke immer wieder verzögern. Zum Glück: Dortmund schreibt plötzlich schwarze Zahlen. Die Stadtkämmerer der Task Force knöpfen den Sponsoren der Spiele doppelt Kohle ab. Das DOlympische Low-Budget-Modell geht erfolgreich um die Welt: Für die nächsten Spiele gelten Bukarest, Windhoek und Cottbus als heißeste Bewerber.


SAG MAL,, PROF Was macht Menschen kreativ? TEXTLARA MERTENS FOTOCHRISTIANE REINERT ILLUSTRATIONALINA FUHRMANN

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b in Projektarbeiten oder bei der Bewerbung: Ständig sollen wir kreativ sein. Kann man das lernen? Dr. Tobias Haertel vom Zentrum für Hochschulbildung an der TU Dortmund verrät, ob und wie sich Kreativität trainieren lässt. Denn genau das versucht Haertel in Seminaren Studenten und Lehrenden beizubringen. Dabei stellt sich zunächst die Frage, was Kreativität überhaupt ist – und die ist Haertel zufolge gar nicht so leicht zu beantworten: „Es gibt viele Definitionen, die alle richtig sind, die sich aber teilweise auch widersprechen.“ Im Uni-Kontext hat er zusammen mit seinem Forschungsteam sechs Facetten von Kreativität ausgemacht. Demnach werden Studenten vor allem dann als kreativ wahrgenommen, wenn sie reflektierend denken, wenn sie eigenverantwortlich lernen, begeistert sind, etwas kreieren, vielperspektivisch denken und wenn sie etwas „Originelles“ tun. Der Experte meint: Kreativität helfe in der Uni weiter, vor allem aber fördere sie die Persönlichkeitsentwicklung. „Für mich bedeutet Kreativität eben, ein Stück aus den gängigen Denkmustern rauszugehen und von Außen auf das zu gucken, was um mich herum passiert.“ Und das könne jeder zu einem gewissen Grad lernen. Haertel beschreibt es so: Die originellen Ideen, die wir oft gern hätten, werden gar nicht von uns selbst generiert, sondern schweben im Raum – wir können sie nur empfangen. „Alles, was man dann tun kann, ist, die Empfangsleistung zu stärken, also die eigenen Antennen irgendwie stärker machen.“ An diesem Ansatz setzen auch die

Übungstechniken an, die Haertel in seinen Seminaren anwendet. Eine davon ist ein Gedankenspiel, bei dem Fragen erörtert werden, die eigentlich absurd klingen: „Was würde dafür sprechen, dass alle Autos gelb sind?“ oder „Was wäre, wenn Studenten für die Anwesenheit in der Uni bezahlt würden?“ Das fördere das Denken abseits der gängigen Normen, sagt Haertel. Manchmal helfe es auch, für ein Problem oder eine Fragestellung mehr als nur zwei oder drei Lösungen zu suchen. Der Sozialwissenschaftler fordert seine Studenten meist dazu auf, bis zu 50 Ideen aufzuschreiben. Habe man sich einmal aus den üblichen Denkmustern befreit, sei das problemlos möglich. Auch Auslandsaufenthalte könnten die Kreativität fördern. Denn wer sich in einer anderen Kultur bewege, müsse sich in unbekannten Normengerüsten zurechtfinden und Probleme aus neuen Perspektiven betrachten, sagt Haertel. Vor allem aber brauche es Mut, denn „die kreative Idee ist etwas Neues und im Prinzip immer eine Herausforderung für das Bestehende. Und dann begeben Sie sich automatisch in das Feld der Unsicherheit. Sie wissen nicht: Wie kommt das an?“ Aber auch den Mut, eine außergewöhnliche Idee zuzulassen, könne man lernen. Haertel empfiehlt, einfach mal etwas Ungewöhnliches zu tun: barfuß U-Bahn fahren, im Schlafanzug einkaufen oder auch nur einen Fremden grüßen – je nachdem, womit man sich normalerweise schwertut. Wer sich einmal überwunden habe, traue sich langfristig auch mehr zu. Und wer Mut zeige, sei auch eher in der Lage kreativ zu denken.

Dr. Tobias Haertel arbeitet am Zentrum für Hochschulbildung der TU Dortmund.


MEHR GELD: MEHR CHANCEN? Seit zehn Monaten gilt der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro in Deutschland. Für das Deutsche Studentenwerk ist das ein „positives Signal auch für Studenten“. Doch wie sieht die Lage tatsächlich aus? TEXTRICHARD BRANDT RECHERCHELARA MERTENS ILLUSTRATIONMARTIN SCHMITZ

Von einem Monat Arbeit mit 40 Stunden Mindestlohn in der Woche kann man ...

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Kästen Dortmunder Kronen trinken.

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mal das Lehrbuch „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“ kaufen.

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sich Kleinwagen leisten.

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sich Clubbesuche leisten.

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ie Umstellung auf den gesetzlichen Mindestlohn hat Jonas Fehling, Journalistik-Student an der TU Dortmund, deutlich auf seinem Konto bemerkt. Er absolvierte ein sechsmonatiges Praktikum beim OnlinePortal „Motorsport-Magazin.com“. Vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns verdiente er 400 Euro im Monat. Von Januar bis März lag sein Gehalt dann monatlich bei 1.500 Euro. „Ich fühlte mich mehr wertgeschätzt“, sagt Jonas. Die Umstellung auf den Mindestlohn sei bei ihm, nachdem er seinen Arbeitgeber gefragt habe, problemlos vonstattengegangen.

Manche Jobber profitieren von der Neuregelung, manche nicht Die Commerzbank zahlt seit Januar für Praktika den Mindestlohn, egal wie lang sie sind – und sie sucht weiterhin Bewerber für diese Stellen. Die Bank habe nämlich „fortlaufend Bedarf an qualifizierten und engagierten Nachwuchskräften“, sagt Andreas Doppler, Leiter des Bereiches Recruiting bei der Commerzbank. Wolfram Richter bewertet das als Ausnahme. Der Professor für Volkswirtschaftslehre an der TU Dortmund befürchtet, dass die meisten Unternehmen nur noch Kurzpraktika anbieten. Für Studenten könnte es also schwieriger werden, längere Praktika über mehr als drei Monate zu finden. „Vielen Unternehmen sind solche Praktika in Zukunft wahrscheinlich zu teuer“, sagt Richter. Denn Arbeitgeber müssten nun tiefer in die Tasche greifen, um 16 job

junge Bewerber anzustellen. Im Fall von Jonas Fehling ganze 1.100 Euro monatlich mehr. Obwohl der Mindestlohn die Studenten vor Ausbeutung schütze, hält Richter ihn deshalb nicht für vorteilhaft. Chiara Bloemberg, die an der TU Wirtschaftswissenschaften studiert, hat nur positive Erfahrungen mit dem Mindestlohn gemacht. Sie jobbt neben ihrem Studium im „Pfannkuchenhof“ in Witten als Kellnerin. Chiara ist vom Mindestlohn begeistert: „Mit dem Mindestlohn lohnen sich für mich auch kürzere Schichten, denn man bekommt einfach mehr Geld.“ Sebastian Knost, Germanistik- und Geschichts-Student an der Universität Flensburg, indes hat durch die Einführung des Mindestlohns ein Problem. Er arbeitet neben seinem Studium als Redakteur für das „Motorsport-Magazin. com“, bei dem Jonas sein Praktikum absolvierte. Sein Arbeitgeber würde ihm die üblichen 1.500 Euro bezahlen. Allerdings bezieht Sebastian Waisenrente. Falls er über den monatlichen Steuerfreibetrag von 450 Euro kommt, hat er keinen Anspruch mehr auf diese Rente. Er kann somit keine Vollzeit-Jobs annehmen, da er die Grenze durch den erhöhten Stundenlohn sofort überschreiten würde. Sebastian möchte jedoch gern mehr arbeiten. Für ihn bedeutet die Arbeit nicht nur Geldverdienen sondern auch große Wertschätzung. Er sagt dazu: „Grundsätzlich bin ich für den Mindestlohn und gegen Lohndumping beziehungsweise Ausbeutung in allen Berufssparten. Allerdings sollten die Rahmenrichtlinien


Wichtige Begriffe rund um den Mindestlohn Abgaben: Je nach Art von „Mini-Job“ muss der Arbeitgeber unterschiedliche pauschale Abgaben an die „Minijob-Zentrale“ der Deutschen Rentenversicherung KnappschaftBahn-See entrichten. Eine Übersicht zu den genauen Bestimmungen für die jeweilige Beschäftigungsart findet ihr auf der Internetseite der „Minijob-Zentrale“ (www.minijobzentrale.de). Erfahrung: Laut Professor Wolfram Richter, Professor für Volkswirtschaftslehre an der TU Dortmund, fehlt Deutschland die Erfahrung mit dem Mindestlohn. Dessen Höhe von 8,5 Euro sei sehr mutig und riskant. Als Einstiegssumme nennt er die Spanne von 6,5 bis 7 Euro, die er für angemessener hält. Mini-Job: Auch im Mini-Job bekommen Arbeitnehmer den Mindestlohn. Wer bis zu 450 Euro in seinem Nebenjob verdient, muss allerdings zwei Aspekte beachten: Wenn das monatliche Einkommen gleich bleiben soll, dürfen Studenten nur noch 52,9 Stunden im Monat arbeiten. Das ist die maximale Stundenzahl von Mini-Jobs. Fordert der Ar-

beitgeber längere Arbeitszeiten, muss er auch mehr zahlen. Midi-Job: Arbeitnehmer haben einen MidiJob, wenn sie durch eine Gehaltserhöhung über dem Steuerfreibetrag von 450 Euro liegen. Im Gegensatz zu einem Mini-Job befinden sie sich dann in einem regulären sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis. Praktika: Viele Praktika müssen nicht entlohnt werden. Darunter fallen alle Praktika, die während des Studiums verpflichtend gemacht werden, unabhängig davon, wie lange sie dauern. Außerdem müssen freiwillige Praktika, die drei Monate oder weniger dauern, nicht bezahlt werden. Reguläres sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis: Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer müssen Steuern und Versicherungsbeiträge zahlen, wenn der Arbeitnehmer über dem Steuerfreibetrag liegt.

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mal das iPhone 6 kaufen.

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mal Pizza Hawaii bestellen.

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Tickets für das Hurricane Festival kaufen.

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mal das Tagesgericht in der Mensa essen.

in bestimmten Fällen wie meinem etwas differenzierter gesteckt werden.“ Sebastian ist ein Sonderfall. Zur allgemeinen Lage der Studenten sagt Klaus Boeckmann von der Sozialforschungsstelle der TU Dortmund: „Früheren Untersuchungen des „Instituts Arbeit und Qualifikation“ (IAQ) zufolge lag der Durchschnittslohn von Studenten bei den Minijobs über dem Durchschnitt aller Minijobber.“ Er geht deshalb davon aus, dass Studenten insgesamt kaum negative Auswirkungen des Mindestlohns zu spüren bekommen.

zwar einen Rückgang der Beschäftigung im Niedriglohnbereich festgestellt, jedoch seien in den meisten Fällen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse daraus entstanden. Es habe somit eine Umverteilung stattgefunden. Für die Arbeitgeber seien solche regulären Verhältnisse durch die Neuregelung sogar günstiger geworden. Während Arbeitgeber bei einem regulären Beschäftigungsverhältnis 20 Prozent Sozialabgaben zahlen müssen, zahlen sie bei Minijobs bis zu 30 Prozent Pauschalabgaben an die „Minijob-Zentrale“. Für Jonas jedenfalls hat sich die Umstellung definitiv gelohnt.

Dass der gesetzliche Mindestlohn Jobs zerstört, kann Boeckmann ebenfalls nicht bestätigen. Die „Minijob-Zentrale“ habe

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mal das Spa Mainküre Paket im Kosmetikstudio Julia in Anspruch nehmen.

Mit Christina Joswig habe ich mir ein Duell zum Mindestlohn geliefert. Welche Vorteile hat er, welche möglichen Nachteile bringt er mit sich? Entscheidet, wer das Duell gewinnt. Hier geht’s zum Schlagabtausch.


Musiker im Teilchenbeschleuniger Mit Teilchenbeschleunigern werden meist Dinge erforscht, die kleiner sind als ein Atom und komplexer als ein Physikstudium. Dass man mit ihnen aber auch ganz lebensnahe Dinge zeigen kann, macht der Scan eines besonderen Gemäldes an der TU Dortmund deutlich. TEXT&Fotos Lukas Arndt

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on Johann Sebastian Bach gibt es bislang nur ein Bild, von dem bekannt ist, das es sowohl zu seinen Lebzeiten entstanden ist und auch wirklich den Künstler zeigt. Im vergangenen Jahr sind zwei weitere Bilder aufgetaucht, auf die diese beiden Eigenschaften zutreffen könnten. Zwar lässt sich die Echtheit nicht hundertprozentig nachweisen. Mit einer Reihe von Tests kann aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Werke erst in jüngerer Zeit gemalt worden sind, immer weiter eingeschränkt werden. Eines der Gemälde, das Bach in seinen früheren Jahren zeigen könnte, gehört Wolf-Dietrich Köster, einem 70-jährigen Dortmunder. Kunstexperten haben seinen auf Pergament gemalten Bach im Laufe des vorigen Jahres schon auf Linienführung und Farbgebung untersucht. Bisher deutet nichts daraufhin, dass das Portrait erst nach seinem Tod 1750 gemalt wurde. Eine Inschrift auf dem Holz-

rahmen des Bildes weist auf 1737 als Entstehungsdatum hin. Nun soll ein Test mit einem Röntgenfluoreszenz-Detektor an der Dortmunder ElektronenspeicherringAnlage (DELTA) zeigen, ob die Pigmente in den Farben des Bildes tatsächlich aus diesem Jahr stammen könnten.

Altersnachweis per Röntgenstrahlung Neben Wissenschaftlern der TU ist auch Dr. Alex von Bohlen vom LeibnizInstitut für Analytische Wissenschaften an den kommenden Messungen beteiligt. Er erklärt die Herangehensweise bei der Untersuchung: „Mit der Röntgenstrahlung der Speicherringanlage können Elektronen aus den Schalen der Atome, aus denen die Farbpigmente bestehen, herausgelöst werden. An deren Platz rücken dann Elektronen aus den Schalen weiter außen nach. Das führt zu einer Energiedifferenz, die mit dem Fluores18

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zenz-Detektor gemessen werden kann.“ Da den Wissenschaftlern bekannt ist, welches Element welche Energiedifferenzen bei der Bestrahlung zur Folge hat, können sie so Rückschlüsse auf die Pigmente in der Farbe ziehen. „Bei der Farbe Weiß gibt es da zwei Indikatoren: Das ist einmal Bleiweiß, das hat es schon immer gegeben, wird aber nicht mehr verwendet, weil es giftig ist. Und es gibt Titanweiß. Wenn man das findet, dann weiß man, dass das Bild um 1930 entstanden ist“, sagt von Bohlen. Bevor es losgehen kann, muss der Fluoreszenz-Detektor kalibriert werden. „Die Elektronik der kleinen Detektoren driftet etwas. Deswegen muss die Messskala „eingenordet“ werden, damit man sie hinterher gut mit den Tabellenwerten vergleichen kann“, erläutert von Bohlen. Zur Kalibrierung benutzen die Physiker ein Stück Kupfer, dessen Energiewerte ih-


nen bekannt sind. Alle weiteren Ergebnisse werden auf dieser Messung aufbauen. Anschließend bestimmen die Wissenschaftler die genaue Stelle, auf die der Röntgenstrahl trifft. „Wichtig ist, das man weiß, dass der Strahl da auftrifft, wo man ihn haben möchte. Sonst ist man vielleicht auf der Nase vom Bach und untersucht stattdessen die Krawatte“, sagt von Bohlen. In dem Raum steht eine Kamera, die ein Livebild an einen der Monitore außerhalb überträgt. Doch auf diesem ist zunächst nichts zu sehen. Eine weibliche Stimme ertönt, die sich so anhört, als habe sie schon in vielen Science-Fiction-Filmen die Selbstzerstörung etlicher Raumstationen vorhergesagt: „Achtung, BeamShutter in Beamline elf öffnet“ – die Röntgenstrahlung wird freigegeben. Die Wissenschaftler schauen auf den Monitor. Es passiert nichts. In diesem Moment biegt Köster um die Ecke. Sein Gemälde, von dem ein ungewohnt junger Bach aufschaut, hält er lässig herabhängend mit einem weißen Handschuh. Endlich ist auf dem Röhrenbildschirm ein kleiner Punkt zu sehen. Schnell wird er von Dr. Michael Paulus vom Zentrum für Synchrotronstrahlung an der TU mit einem Kugelschreiber eingekreist. Alle Vorbereitungen für die eigentliche Untersuchung sind abgeschlossen. Köster reicht das Bild nach vorne, Paulus legt es mit gespitzten Fingern unter den Detektor, die Tür wird geschlossen, die

Science-Fiction-Stimme ertönt. Ein Physiker blättert eifrig in einem Heft, in dem die Energiewerte der Elemente aufgelistet sind. Der Raum wird wieder geöffnet, das Bild gedreht, nun taucht Bachs Lockenpracht auf dem Monitor auf. Nach dem Saum von Bachs Gewand werden nun auch die Farbwerte in den Haaren überprüft.

Ein Schnäppchen von unschätzbarem Wert? Köster hatte das Bild im vorigen Jahr in dem Katalog eines Aktionshauses entdeckt. Startgebot: 150 Euro. „Der Preis war so niedrig, dass die Bachforschung nicht darauf aufmerksam geworden ist“, erklärt er. „Aber ich wusste: Das Bild ist ein Exot.“ Der Dortmunder ersteigerte das Bild – für 4500 Euro. Mit der Zeit erhärtete sich der Verdacht, dass das Bild tatsächlich zu Lebzeiten Bachs entstanden sein könnte. Köster gibt sich gelassen: „Für mich hängt da nichts dran. Selbst wenn das Bild echt ist, würde ich es nicht verkaufen. Es bleibt am selben Ort hängen und ich werde mich weiterhin jedes Mal freuen, wenn ich es sehe.“ Auf dem Laptop sind mittlerweile mehrere Türme eines Säulendiagramms zu sehen, die die in den Farben enthaltenen Elemente anzeigen. Dann dreht sich von Bohlen zu Köster um; der Moment der Wahrheit ist gekommen. „Wir haben kein Titan gefunden, in den Haaren ist auch nur Blei.“ Damit besteht die Farbe nur aus Zutaten, die in die richtige Zeit passen könnten. „Ein deutlich jüngeres

Gemälde konnte nicht nachgewiesen werden, was aber nicht ausschließt, dass ein modernes Bild mit alten Materialien gemalt worden ist“, erklärt von Bohlen. Wolf-Dietrich Köster weiß, dass das endgültige Ergebnis der Untersuchung jetzt noch niemand kennt. „Die Menschen hätten natürlich gern so ein Bild von Bach“, meint er abschließend, „weil er darauf jünger ist und viel freundlicher guckt.“ Etwa zwei Wochen braucht von Bohlen, bis er alle Daten ausgewertet hat. Das Ergebnis sorgt für eine Ernüchterung Kösters. Zwar wurde kein Titan in der Farbe gefunden, wohl aber Spuren von Barium und Zink. „Dies könnte auf sogenanntes Lithopone hinweisen, das man aber erst ab 1850 verwendet hat“, erklärt Professor Metin Tolan, Vorstandsvorsitzender der Elektronen-Speicherringanlage. Lithopone ist ein weißes Farbpigment, das aus den chemischen Verbindungen Bariumsulfat und Zinksulfid hergestellt wird. Um diese zu finden, sind weitere Untersuchungen im November geplant. Selbst wenn Lithopone gefunden wird, besteht immer noch Hoffnung für Köster, dass das Bild aus dem Jahr 1737 ist. Lassen sich die Spuren der verräterischen Elemente nämlich beim kompletten Abrastern des Bildes nur punktuell finden, könnte dieses mit der modernen Farbe nur nachgebessert worden sein.

Auf dem Laufenden bleiben Du willst wissen, wie es mit dem Bild von Wolf-Dietrich Köster weitergeht und was die zukünftigen Untersuchungen ergeben? Unter www. tu-dortmund.de/uni/Uni/aktuelles veröffentlicht die TU Dortmund regelmäßig Berichte über aktuelle Ereignisse und die Ergebnisse ihrer Forschungen. 19

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i d n ’ l l o s Was a s n r a b h c na Transgender fühlen sich wie im falschen Körper geboren. Was kommt nach dem Outing, zurück im alten Umfeld? Silas Schefers hat zwei Frauen getroffen, deren Erfahrungen unterschiedlicher nicht sein könnten. TEXTSILAS SCHEFERS FOTOSDANIELA ARNDT&SILAS SCHEFERS

Protagonistin Helen Kirchhoff beschreibt bei pflichtlektüre Online persönlich ihre Erfahrungen, illustriert mit vielen Fotos. Zur Audioslide-Show bitte den QR-Code einscannen. 20

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elen Kirchhoff sitzt auf ihrem blauen Sofa. Im ganzen Wohnzimmer sind Bilder auf einer dunklen Holz-Schrankwand verteilt. Bilder von ihr, das erste Passbild, mit Perücke und starker Schminke, Bilder von ihrer Ex-Frau. Und Bilder von Helens früherem Ich, von Hendrik, mit kurzen Haaren, lässig ans Motorrad gelehnt. „Hendrik war ein schwaches Weichei, das seine Ängste im Alkohol ertränkt hat“, sagt sie. Ein Mann, der gar kein Mann war – und sich versteckte. Helen sei stark. „Ich habe schon von einigen im Dorf gehört: ‚Die hat mehr Eier in der Hose als so manch anderer‘“, sagt Helen und lacht. Heute engagiert sich die 55-Jährige als Lektorin in der katholischen Kirche, gibt Putzpartys in ihrem konservativen Heimatdorf im Sauerland und verdient damit ihr Geld. „Ich fühle mich integriert“, sagt sie. Schon mit elf Jahren merkt Hendrik, dass er anders ist als andere Jungs seines Alters. Er zieht immer wieder Mädchensachen an, lebt nach außen die Rolle des Jungen, wird Werkzeugmacher, heiratet – und trinkt. Irgendwann findet seine

Frau auf der Suche nach den geheimen Alkoholvorräten ihres Mannes dessen Frauenkleidung und verlässt ihn nach 25 Jahren Ehe. Als Hendrik mit dem Auto den Pfeiler zur Einfahrt rammt, kommt er ins Nachdenken, macht einen Selbstentzug durch – und bekennt sich in einer Therapie zu seinem Wunsch als Frau zu leben. „Zurück im Dorf dachte ich: Jetzt musst du gehen. Zieh nach Köln.“ Aber Helen bleibt, denn ihr Outing wird akzeptiert. Sie öffnet sich direkt, bekennt sich dazu, „und so habe ich den Menschen den Wind aus den Segeln genommen“. Helen geht zur Zeitung, ihr Geheimnis wird zur Schlagzeile. Es gibt nichts zu tuscheln, es gibt nur Fakten: Hendrik will jetzt als Helen leben. Fertig. Andreas Kuhr kennt diese Geschichten. Aber auch die anderen Geschichten, die von Diskriminierung. Der psychologische Psychotherapeut aus Dortmund beschäftigt sich seit etwa 20 Jahren mit dem Thema Transgender. Zwei Drittel seiner Patienten

„Hendrik war ein schwaches Weichei. Als Helen bin ich stark.“

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sind Transgender-Frauen und Männer – alle mit einer eigenen Geschichte. „Ob Betroffene nach dem Outing im alten Umfeld wieder aufgenommen werden, hängt auch davon ab, wie es vorher war“, sagt Kuhr. Es ginge um Gewöhnungsprozesse – nicht ohne Grund wird das Outing zwei Jahre therapeutisch begleitet. Kuhr konstruiert ein Beispiel: „Wenn ich als Mann lebe und zwar so, wie es die Gesellschaft um mich herum erwartet, kann ich nicht von einem auf den anderen Tag im Kleid auf die Straße gehen. Das gibt Theater.“ Ohnehin seien Transgender selten Teil der Mitte der Gesellschaft.


„Und d ann so mich a llte ic ls mäd h chen f ühlen “

Jenny schaut in die Kaffeetasse. Auch die 48-Jährige outete sich in einem Zeitungsartikel in ihrer Heimat, einer größeren Stadt in Ruhrgebietsnähe. Aus Jan wurde Jenny – ganz öffentlich. Die Folge: „Meine Firma ging pleite“, erinnert sich Jenny und spielt mit einer Hand an ihrer Kette. Auch sie fühlt den Wunsch als Frau zu leben schon lange, „aber als Kind kannst du das alles irgendwie nicht einordnen“. Eiskunstläuferinnen findet Jan damals schön, spielt mit Barbies, aber auch Fußball mit den anderen Jungs.

Die Wäsche der Schwester wird ihr zum Verhängnis Erst als Jan vergisst, die Wäsche seiner Schwester vor dem Sportunterricht in der Schule auszuziehen, erfahren die Schulkameraden von seinem Geheimnis. Mit 11 Jahren wird er zum Opfer. „Und dann sollte ich mich als Mädchen fühlen. Ich wurde von drei Schulkameraden vergewaltigt“, offenbart Jenny, „das kriegst du nicht mehr aus dem Kopf.“ Also habe Jan den Mann gespielt: Hochzeit, Kinder, das alles passe in die Gesellschaft, in die er geboren wurde. Deborah Reinert, Vorsitzende des Ortsverbandes Köln des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD), weiß um diese Problematik. Nicht nur, weil sie als Rechtsanwältin die Rechte von Transgendern vertritt oder weil sie

im LSVD die Transgender-Problematik betreut. Auch weil sie selbst Transgender ist. „Oft steigern sich Betroffene in ihre Rolle rein“, sagt Reinert, „Männer, die sich eigentlich als Frau fühlen, betreiben dann extremen Kraftsport – gemäß dem Motto: ‚Es muss doch irgendwie gehen, als Mann zu leben!‘“

Auch Deborah Reinert meint: Wie das Umfeld auf das Outing reagiert, hänge vor allem von der Stellung in der Gesellschaft ab, die die betroffene Person habe. Und von der familiären Situation. „Wenn Kinder im Spiel sind, ist ein Outing weitaus schwieriger“, sagt Reinert. Jans Ehe geht in die Brüche, es folgt eine neue Partnerschaft. „Aber irgendwann konnte ich die Rolle nicht mehr spielen und habe mich zunehmend von meiner Freundin abgekapselt.“ Es folgt das Outing. Ihre Freundin akzeptiert das – zumindest erst einmal. „Sie machte mit mir Schminkkurse, kaufte mit mir ein“, sagt Jenny, „erst als es ernst wurde, die Rede von einer geschlechtsangleichenden Operation aufkam, brach der Rückhalt weg.“ Es sei eben keine Phase, sagt Jenny. Es sei schon immer da gewesen. Im Moment

gehe die Beziehung in die Brüche, sie suche nach einer neuen Wohnung.

Helen hat zu ihrer Ex-Frau ein gutes Verhältnis diese habe akzeptiert, dass sie eine Freundin hinzugewonnen hat. Helens Mutter, die im selben Haus wohnt, erfährt spät von Helens Outing, erst als ihr Vater schon lange gestorben ist. „Irgendwann wurde es brenzlig – da musste ich es ihr sagen. Die erste Reaktion war: ‚Hau ab, verschwinde! Was sollen denn die Nachbarn sagen?‘“ Das Verhältnis habe sich langsam entspannt. Helens Mutter nenne sie zwar immer noch Hendrik, aber: „Sie schenkt mir inzwischen sogar Frauensachen zu Weihnachten – das war früher unmöglich!“, sagt Helen.

Die Partner wissen meist von der Transsexualität „Unüblich ist ein tolerantes Umfeld nach dem Outing nicht mehr unbedingt“, sagt Psychotherapeut Andreas Kuhr. Ebenfalls ein großes Thema nach dem Outing: die Beziehungen. Denn: „Oft kommt es

Jenny versuchte als Mann zu leben, war verheiratet und bekam Kinder. Seit ihrem Outing kämpft sie gegen Intoleranz.

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zu Trennungen – egal ob vor oder nach dem Outing.“ Vor dem Outing lässt sich das einfach begründen: „Man muss sich vorstellen: Man liegt jeden Abend im Bett neben jemandem und ekelt sich. Nicht vor dem Partner, sondern vor dem eigenen Körper“, sagt Kuhr. Oftmals wüssten die Partner jedoch von der Transsexualität und versuchten, das Ganze mitzutragen. „Wenn das nicht klappt, kommt es oft zu Trennungen“. Bei den Betroffenen überwiegt nach dem Outing die Erleichterung. „Man muss sich immer vorstellen: Diese Menschen

haben ein Leben lang hinter einer Mauer gelebt. Und plötzlich können sie so leben, wie sie sind.“

Vorbehalte bei der Arbeitssuche Beim Thema Job wird Jenny merklich wütend. Die studierte Betriebswirtin war vor ihrem Outing in einer leitenden Funktion im Vertrieb tätig. Heute arbeitet sie selbstständig und nebenbei im Büro, bekommt staatliche Unterstützungen, um über die Runden zu kommen. „Es ist schwer, einen Job zu bekommen“,

sagt Jenny. Die Vorbehalte sind groß. Bei einem Vorstellungsgespräch sieht sie im Augenwinkel, wie einer der Gesprächspartner googelt – und den Artikel öffnet, in dem sie sich öffentlich als Transgender geoutet hatte. „Und dann muss man sich Fragen gefallen lassen, wie: ‚Welche Dusche benutzen Sie denn dann?‘ – Na, bestimmt nicht die der Männer“, sagt Jenny und schüttelt den Kopf. Helen hat das anders erlebt. Nach ihrem Bekenntnis, zurück im Heimatdorf, lief ihre Autopflege-Werkstatt immer besser, mit der sie sich bereits vorher selbstständig gemacht hatte. Ohne Probleme sei sie als

Als seine Frau mitbekommt, dass Hendrik eigentlich Helen ist, verlässt sie ihn – nach 25 Jahren Ehe. Heute sind sie Freundinnen.

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Frau akzeptiert worden. „Was ich anpacke, gelingt – heute zumindest“, sagt Helen. Als Vertriebspartnerin einer Hygienefirma bestreitet sie die andere Hälfte ihres Einkommens. Die Erfahrung zeigt jedoch: Oftmals seien Transgender deutlich schwieriger auf dem Arbeitsmarkt zu vermitteln, sagt Deborah Reinert vom LSVD, „die Energie nach dem Outing, das Leben neu anzupacken, wird dadurch oft gedämpft“. Auch hier sei aber wichtig: Viele derjenigen, die sich outen, seien auch vorher schon arbeitslos gemeldet.

Änderung im Ausweis ist viel zu teuer Und von Behördenseiten? „Mir werden nur Steine in den Weg gelegt“, sagt Jenny. Sie befinde sich in einer Art Teufelskreis: Ohne Personenstandsänderung, also der Änderung ihres Geschlechts und ihres Namens in den Papieren, gebe es keine Unterstützung von der Krankenkasse. Das gleiche gilt andersherum – ohne Unterstützung der Krankenkasse ist eine Personenstandsänderung unerschwinglich. Momentan kann sich Jenny diesen Schritt nicht leisten. Ohnehin sei sie unvermittel-

bar, wie ihr eine Mitarbeiterin im Arbeitsamt einmal gesagt habe. Auch Deborah Reinert kennt den Ärger mit den Behörden: „Transgender müssten von Anfang an mitbedacht werden“, sagt Reinert, „das fängt bei den Badeordnungen an und hört bei Verwaltungsvorschriften auf. Die Gesellschaft entwickelt sich dahingehend sehr langsam.“ Ob die Integration der Betroffenen dabei eher im städtischen Raum oder auf dem Land funktioniert, ist nicht klar auszumachen. Andreas Kuhr sagt: „Grundsätzlich gibt es hier keine Unterschiede. Aber die Akzeptanz ist in städtischen Gebieten etwas größer.“ Auch Deborah Reinert sieht die Gefahr der Diskriminierung überall – egal ob in der Stadt oder auf dem Dorf. „Aber ich glaube, dass das Diskriminierungspotential in der Stadt sogar etwas größer ist als auf dem Land.“ Einig sind sich die beiden Experten, wenn es um den Umzug nach dem Outing geht. „Wenn ich in eine andere Stadt ziehe, ein anderes Leben beginne, holt mich die Vergangenheit trotzdem irgendwann ein“, sagt Andreas Kuhr. Weglaufen sei keine Lösung.

nicht unterkriegen.“ Sie wolle weiterkämpfen – auch, wenn diese Gesellschaft noch nicht so tolerant sei, wie sie tut. „Ein Vermieter sagte mal zu mir, er habe kein Problem damit, dass ich transsexuell bin. Immerhin sei er auch zu Tieren lieb.“ Damit genau solchen Denkweisen vorgebeugt wird, helfe nur Aufklärungsarbeit, sagt Deborah Reinert. Sonst kommt es zu Diskriminierung, denn: „In den Köpfen vieler sind Transgender schrille, bunte Vögel. In Wirklichkeit sind es ganz normale Menschen, die einfach nur ihr Leben leben wollen.“ Ihr Leben leben, glücklich sein – das wollen auch Helen und Jenny. „Ich bin glücklich. Ich bin trocken, habe Freunde und bin eine selbstständige Frau“, sagt Helen. Auch Jenny bereut ihr Outing nicht. „Es musste ohnehin raus“, sagt sie. Trotzdem hat Jenny erst einmal andere Prioritäten: „Seit meinem Outing bin ich jeden Tag dabei zu überleben.“

Auch für Jenny nicht. „Ich gebe doch nicht auf“, sagt die 48-Jährige. „Ich lasse mich

„Welc benut he Dus zen sie che denn e igentl ich?“ Du suchst Hilfe? Anlaufstellen für Betroffene: TransBekannt: Der Dortmunder Verein bietet Beratung und Begleitung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Bei psychischen Problemen vermittelt die Vorsitzende Mandy Walczak Hilfe. Ihr erreicht sie über die Beratungshotline 0231 / 985388 61 oder per E-Mail unter mandy@transbekannt.de. Informationen unter: www.transbekannt.de.

Lili Marlene: Als Lebenshilfe-Einrichtung bietet Lili Marlene Selbsthilfe, Beratung und Begleitung auf dem Weg in den anderen Körper. Kinder, Jugendliche, Erwachsene, aber auch Eltern finden hier Hilfe. Mehr Informationen unter: www.lilimarlenedortmund.wordpress.com.

Gendertreff: Neben vielen Informationen und Kontaktmöglichkeiten werden auf www.gendertreff.de Selbsthilfetreffen zum Thema Transgender in Düsseldorf, Leverkusen und Iserlohn angeboten.


Was für ein Theater?! Seit dem Wintersemester 2014/15 ist im Semesterbeitrag die „Theater-Flatrate“ enthalten. Studenten dürfen ohne weitere Kosten ins Schauspielhaus, in die Oper und zum Ballett. Trotzdem ist das Angebot längst nicht allen bekannt und nur wenige nutzen es. TEXTTill Dörken & Richard Brandt Fotos © Birgit Hupfeld/Theater Dortmund

Bettina Lieder, Andreas Beck, Frank Genser und Merle Wasmuth inszenieren das Stück „Die Möglichkeit einer Insel“ im Theater Dortmund. Das Stück ist eine fiktionale, in der Zukunft spielende Erzählung nach dem Roman „LA POSSIBILITE D’UNE ILE“ von Michel Houellebecq. Das Besondere: Es wird live gespielt, animiert und geschnitten, direkt vor den Augen der Zuschauer, mit handgemachten Zeichnungen und Miniaturen.


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eit etwa einem Jahr zahlt jeder Student der Technischen Universität Dortmund 1,50 Euro pro Semesterbeitrag mehr und erhält dafür gegen Vorlage des Studentenausweises Theaterkarten. Die TU und das Theater Dortmund haben sich auf einen ZweiJahresvertrag für das Projekt geeinigt. Wer an der Fachhochschule eingeschrieben ist, erhält bereits seit dem Wintersemester 2013/14 Tickets für Vorstellungen. Der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) sagt, dass die Studenten 3446 Karten in Anspruch genommen haben, seitdem die Flatrate eingeführt wurde. Durchschnittlich hat also nur jeder zehnte Student das Angebot in Anspruch genommen. Bis Ende des Jahres erwartet Stefan Kriegl, Marketingleiter des Theater Dortmunds, rund 10.000 Besuche von TU und Fachhochschule. Auf die Nachfrage, ob das nicht ein wenig übertrieben sei, sagt er: „Unsere Prognosen zeigen, dass dieses Ergebnis realistisch ist.“

Eine neue Werbestrategie Die Rückmeldung, die das Theater direkt vom AStA erhält, ist positiv. Deswegen soll der Vertrag, der nach dem Sommersemester 2016 auslaufen soll, laut Kriegl verlängert werden. Für die Zukunft sind neben einer engeren Zusammenarbeit größere Projekte geplant. Kriegl konnte dazu noch keine genauen Angaben machen, da sich Theater und TU momentan in der Planungsphase befänden. Sicher ist jedoch, dass das Theater auf dem UniCampus präsenter werden soll. Deshalb wird in Zukunft mehr in Werbung investiert. Das Angebot der Spielstätte soll über die Dekanate und die Hochschulleitung an die Studenten weitergegeben werden. Außerdem wünscht sich das Theater mehr Berichterstattung in den Campusmedien. Deshalb ist auch der AStA zuversichtlich. Auch an anderen Universitäten und Fachhochschulen seien die Nutzerzahlen zu Beginn gering gewesen, erzählt Ihno Malzkuhn vom Finanzreferat. Mit der Zeit seien diese aber kontinuierlich gestiegen.

ng (2014)

Zahlen zur Nutzu

gesamt: 3.446 Karten TU-Ticket 1.461 Davon Opernhaus: oderne MusikJunge Oper (das m Kinder und theater mit und für Jugendliche): 1 171 Schauspielhaus: 1. 18 Orchesterzentrum:

Bereits die neuen Erstsemester kommen in Berührung mit dem Theater, denn dieses organisiert die Begrüßung aller TU-Studenten im Dortmunder Westfalenstadion. „Viele vergessen nach der Veranstaltung in der ganzen Aufregung jedoch schnell wieder, dass es das Theater überhaupt gibt“, berichtet Kriegl. Das zeigt auch die Mini-Umfrage der pflichtlektüre auf dem Campus. Von fünf befragten Studenten nutzt bisher nur einer die Theater-Flatrate. Robert Poensgen studiert Wirtschaftsingenieurwesen an der TU Dortmund. Er sagt: „Vor der Einführung der TheaterFlatrate war ich schon ein paar Mal dort. Seit man kostenlos in Vorführungen kommt, jedoch nur ein Mal. Warum genau, weiß ich selber nicht.“ Sein Kommilitone Franz Müller fügt hinzu: „Ich weiß von der Theaterflatrate, habe es aber bisher noch nicht genutzt. Ich finde, dass die Studenten zu wenig angeworben werden und das Theater mehr Wert auf die Präsentation seiner Angebote legen sollte.“

theater: 25 Kinder- und Jugend , Vernissage, Matineen (Konzert aufführung): 3 Theater- oder Film Studio: 376 Institut: 22 Konzerthaus: 369

Für Kriegl trägt das Theater eine doppelte Verantwortung: „Das Theater hat keinen reinen Unterhaltungscharakter, sondern stellt auch ein intellektuelles Gut dar. Wir reden hier schließlich von einem Vertrag zwischen zwei Bildungsinstitutionen.“ Neben Karten bietet das Theater Studenten eigene kostenlose Seminare und Einblicke in mögliche Berufsfelder. Die Betreiber haben aber auch ein wirtschaftliches Interesse an der Nutzung der Flatrate, denn sie bringt zusätzliche Einnahmen: Für jede Karte erhält das Theater Subventionen von der Stadt Dortmund. Die Flatrate bietet also für beide Seiten Vorteile.

Informationen zum kartenerwerb Seit dem Wintersemester 2013/14 erhalten Studenten der FH zwei Karten pro Inszenierung. An der TU ist dies seit dem Wintersemester 2014/15 möglich, hier gibt es ein Ticket pro Vorstellung. Die Karten können mit Erscheinen des Monatsspielplans für bis zu 14 Tage reserviert wreden. Ausgenommen hiervon sind 27

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Premieren, Gastspiele und Sonderveranstaltungen: Hier bekommen Studenten die Tickets nur an der Abendkasse ab einer Stunde vor Vorstellungsbeginn. Weitere Infos gibt es an der Theaterkasse im Opernfoyer und über die Tickethotline 0231/50 27 222.


Was tun bei einer Erkältung?

OMAS GESUNDHEITSTIPPS

Herbstzeit ist Erkältungszeit. Mit sinkenden Temperaturen erwarten uns Husten, Schnupfen & Co. Wie ihr eure Erkältung ganz ohne Tabletten loswerdet, verrät unsere Redaktionsoma Liesel. Garantiert ohne Risiken und Nebenwirkungen. TEXTSVENJA KLOOS FOTODANIELA ARNDT

Wenn der Hals kratzt, … kocht sich unsere Redaktionsoma eine Heiße Zitrone. „Die enthält Vitamin C und stärkt das Immunsystem. Einfach eine Zitrone auspressen, den Saft in ein Glas geben, mit Wasser aufgießen und mit Honig süßen.“ Vitamin C ist sehr hitzeempfindlich, sodass es durch hohe Temperaturen schnell zerstört wird. Deshalb den Zitronensaft lieber mit lauwarmem statt mit heißem Wasser mischen. Ein weiteres Hausmittel gegen Halsschmerzen sind Quarkwickel. Oma Liesel erklärt, wie’s geht: „Man streicht normalen Speisequark fingerdick auf ein Tuch. Das legt man sich anschließend mit der Quarkseite um den Hals und wickelt einen Schal darum. Der Quark kühlt und lindert Probleme beim Schlucken. Er sollte solange einwirken, bis er getrocknet ist.“

Wenn die Ohren schmerzen,

Wenn im Herbst die Nase juckt,

… helfen Zwiebeln ebenfalls. „Schon früher als Kinder haben wir Zwiebelsäckchen auf die Ohren gelegt bekommen. Dafür muss wieder eine Zwiebel kleingehackt werden. Die Stückchen werden kurz erwärmt, zum Beispiel in der Mikrowelle. Anschließend wickelt man sie in ein Stofftaschentuch oder ein Küchenpapier. Mit einem Stirnband kann man das Säckchen gut am Ohr fixieren.“

… kündigt sich meistens eine Erkältung an. Ist der Schnupfen erst da, empfiehlt Oma Liesel ein Dampfbad. „Dazu viel Kamillentee kochen und in eine Schüssel geben. Den Kopf möglichst nah über den heißen Tee beugen und zusätzlich ein Handtuch darüber legen, damit der Dampf nicht entweicht. Am besten atmet man abwechselnd durch Mund und Nase ein und aus. Nach zehn Minuten Inhalation wasche ich das Gesicht mit lauwarmem Wasser ab.“

Unsere Redaktionsoma Liesel wohnt mit ihrem Mann Werner in Witten-Stockum. Sie ist glücklicherweise nur selten krank. Vorbeugend geht sie regelmäßig in die Sauna, um ihr Immunsystem zu stärken. Aufgüsse aus ätherischen Ölen mag sie besonders gerne.

Wenn der Husten hartnäckig ist, … greift Oma Liesel auf Zwiebelsirup zurück. „Dafür schneide ich eine Zwiebel klein und bestreue sie gut mit Zucker. Danach lasse ich sie ein bis zwei Stunden zugedeckt stehen. Den Saft, der sich nach dieser Zeit gebildet hat, kann man wie Hustensaft einnehmen, ruhig mehrmals am Tag. Alternativ ist es möglich, die Zwiebelwürfel mit Honig zu vermengen. Der entzieht ihnen die Flüssigkeit nämlich auch.“

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WO TUT’S DENN WEH? Heute Migräne, morgen Asthma: Jeden Tag hat Ari Nadkarni (25) eine andere Krankheit, wenn er in seinem Krankenbett liegt. Ari spielt die Schmerzen nur. Er arbeitet als professioneller Simulant. TEXTRICHARD BRANDT FOTOCHRISTIANE REINERT

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ie geht es uns denn heute?“, fragt die Ärztin, während sie das Krankenzimmer betritt. „Mir ist schwindelig, ich fühle mich nicht so gut“, entgegnet Ari. Heute spielt er einen Patienten, der mit genau diesen Symptomen zu kämpfen hat. Im Studienhospital Münster ist es normal, Krankheiten zu simulieren. Hier werden professionell ausgebildete Schauspieler eingesetzt, um Medizinstudenten an den Alltag als Ärzte heranzuführen. „Wie äußert sich das denn?“, fragt die Studentin ihren Patienten weiter. Ari richtet sich auf. „Wenn ich sitze, dreht sich alles und dann wird mir schwindelig“, klagt er und legt sich wieder hin. Seit Ari 15 Jahre alt ist, spielt er Theater und hat bereits bei vielen Produktionen des „Cactus Junges Theater“ in Münster mitgewirkt.

Er brach sein Studium der Soziologie und Ökonomik ab und absolvierte eine einjährige Ausbildung zum Schauspieler. „Durch eine Produktion mit dem Leiter des Studienhospitals, Franz Bernhard Schrewe, bin ich dann auf die Arbeit hier aufmerksam geworden“, sagt er. Schrewe war damals Co-Regisseur eines Stückes, in dem Ari mitgewirkt hat. „Seitdem bin ich professioneller Simulant.“ Einer, den die angehende Ärztin jetzt abhört, um den Herzrhythmus zu prüfen. „Alles in Ordnung“, sagt die Studentin nach eingehender Untersuchung. Heute hat Ari eine Krankheit, die leichter zu spielen ist. Denn neben harmloseren muss Ari oft auch schwere Krankheiten simulieren, die er in seiner Rolle manchmal nicht überlebt. Das Reagieren auf tragische Nachrichten wie die über den eigenen baldigen Tod gehöre für ihn zu

den anspruchsvollsten Einsätzen, sagt Ari. Wenn er vorgeben muss, Krankheiten wie Aids oder Krebs zu haben. „Die Studenten agieren sehr unterschiedlich in solchen Situationen. Oft sind sie neutral. Aber es gibt auch Studenten, die emotional werden. Dann ist es schwer, in seiner Rolle zu bleiben“, erklärt Ari. „Besonders komplex zu spielen ist die anschließende Palliativbehandlung“, also die Behandlung vor dem Tod, da auch dies ein sensibles Thema sei. An seinem Job gefällt Ari besonders, mit unterschiedlichen Menschen zusammenzuarbeiten, sowohl im Studienhospital als auch im Theater. Zudem verdient er als Simulant gut: acht Euro pro Stunde für ein einfaches Patientengespräch, 17 Euro pro Stunde im Studienhospital.


Ruhrpott Refugees

Fehler im Ausweis, zu hohe Handyrechnungen, der Wunsch, Gitarre zu spielen: Anliegen, die Flüchtlinge in Deutschland oft nicht allein lösen können. Seit März werden sie deshalb von Studenten der Uni Bochum unterstützt – eine Arbeit, die immer wichtiger wird. TEXTSvenja Kloos FotosDANIELA ARNDT/ Projekt Ankommen E.V.

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on A wie „Allgemeine Elektrotechnik“ bis Z wie „Zusatzkurs Lehrerberuf“: Auf der OnlinePlattform Moodle finden Studenten der Uni Bochum Informationen zu ihren Kursen. Seit einigen Monaten taucht unter S der Eintrag „Studentische Flüchtlingshilfe“ auf. Ein normales Seminar? Nicht ganz. Hier kann sich jeder vom Informatiker bis zum Germanisten anmelden. Denn hinter dem Begriff steckt ein Projekt, das Ende 2014 an der juristischen Fakultät der Ruhr-Universität ins Leben gerufen wurde. Nach einigen Monaten Planungszeit ging es im März richtig los. Tausende Flüchtlinge kamen in den vergangenen Wochen im Ruhrgebiet an und werden seitdem auf verschiedene Städte verteilt. Dort angekommen, helfen ihnen Menschen wie Pia.

Wie funktioniert die Studentische Flüchtlingshilfe? Jurastudentin Pia Platzbecker ist seit Anfang des Jahres dabei. Sie gibt Sprechstunden im Flüchtlingsheim an der Wohlfahrtstraße in Bochum. „Wir beraten die Flüchtlinge in ganz verschiedenen Dingen, von dringenden Lebensfragen bis hin zur Freizeitgestaltung“, erzählt die 22-Jährige auf dem Weg zum Flüchtlingsheim. Dort wird sie schon erwartet. Die Kinder winken ihr zu, die Erwachsenen schütteln ihr die Hand. Im Büro holt Pia sich einen Schlüssel und schließt einen kleinen Raum auf, der, wie sie sagt, „eigentlich für alles herhalten muss.“

Jurastudentin Pia Platzbecker betreut seit zehn Monaten Flüchtlinge.

Was sie damit meint, wird klar, als sie sich auf einen Stuhl setzt, der zwischen Tafel, Küchenzeile und einem Regal mit Brettspielen steht. Aus ihrer Tasche holt sie Block und Stift, um sich während der Gespräche mit den Flüchtlingen Notizen machen zu können. Mit manchen spricht Pia Deutsch, meistens jedoch Englisch. Es ist fünf vor vier, in wenigen Minuten beginnt die Sprechstunde. Da schaut Karim durch die Tür. Er ist einer der ersten, denen Pia geholfen hat. Heute möchte er sie nur schnell begrüßen. Karim ist Anfang 20 und musste aus seinem Land fliehen, weil er zum christlichen Glauben konvertierte. In Deutschland bekam er einen neuen Ausweis mit falsch geschriebenem Vornamen. Das zu 31

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ändern ist nicht einfach, die Korrektur muss beantragt werden. Deswegen kam Karim zu Pia in die Sprechstunde. Er bat sie, ihn einige Tage später ins Ausländerbüro zu begleiten. Sie sollte ihm helfen, den Antrag auszufüllen. „Da wir alle nötigen Formulare wie den Originalausweis und den Aufenthaltstitel dabei hatten, ging die Sache bei der Behörde recht schnell. Normalerweise kann eine Änderung des Ausweises für Flüchtlinge Monate dauern“, erzählt Pia. Obwohl die Formalie längst geklärt ist, treffen sich die beiden regelmäßig. Karim ist froh, dass Pia sich um ihn kümmert. „Vorher wusste ich nicht, wem ich mich anvertrauen kann“, sagt er langsam auf Deutsch. Er bemüht sich sehr, die Sprache zu lernen, um in Deutschland studieren zu können. „Es ist gut, dass Studenten uns helfen. Sie sind sehr offen“, meint er. Die Projektidee stammt von Michael Klüter, dem Leiter der Rechtsabteilung der Stadtsparkasse Witten und ehemaligem Jurastudenten. Er engagiert sich ehrenamtlich im Flüchtlingsheim an der Wohlfahrtstraße in Bochum und schlug vor, dass Studenten Flüchtlinge rechtlich beraten könnten. Das Problem dabei: Die Teilnehmer müssten von einem Volljuristen betreut werden und an der Ruhr-Uni gibt es keinen Lehrstuhl des Asyl- und Ausländerrechts.

Wie ist das Projekt entstanden? Sarah Mätzig und Konrad Dabrowski, wissenschaftliche Mitarbeiter an der juristischen Fakultät, griffen die Idee dennoch auf. Als Koordinatoren entschieden sie, das Projekt anders umzusetzen: In Absprache mit den Sozialarbeitern bieten Studenten seit März zwei Mal in der Woche die Sprechstunde an der Wohlfahrtstraße an. Daneben organisieren einige Projektteilnehmer Deutschkurse vor Prüfungen oder einen Lauftreff. „Manchmal ist die einfache Hilfe eben besser“, sagt Konrad. „Außerdem beziehen wir auf diesem Weg Studenten aller Fachrichtungen mit ein.“ Karim wird sich mit Pias Unterstützung auf das Asylbewerberinterview vorbereiten, das er nach seinem Antrag führen


muss. „Das Schwierige daran ist nicht die Sprache, denn ein Übersetzer wird bei dem Interview dabei sein. Aber die Flüchtlinge werden nach ihrem Schicksal gefragt und damit kann nicht jeder umgehen“, sagt Pia. Viele Flüchtlinge litten an einer posttraumatischen Belastungsstörung, könnten es nicht ertragen, ihre Erlebnisse Revue passieren zu lassen. „Ich versuche, mit Karim die Fragen so gut es geht zu simulieren.“

Wobei helfen die Studenten noch? Als Karim sich verabschiedet, kommt Judith Boll herein. Sie studiert Linguistik, Kulturindividuum und Gesellschaft und gibt ebenfalls Sprechstunden im Flüchtlingsheim. „Wir sind immer zu zweit hier“, sagt sie und setzt sich neben Pia. „Wenn wir auch gemeinsam nicht weiterkommen, können wir Sarah und Konrad jederzeit erreichen.“ An Judith wandte sich einmal ein Flüchtling, der Unsummen für eine Handyrechnung zahlen sollte, weil er einen falschen Vertrag abgeschlossen hatte. Nach Rücksprache mit den Koordinatoren kümmern sich nun Anwälte darum. In den meisten Fällen werden die Studenten gefragt, ob sie bei einem Arzttermin

übersetzen oder die Flüchtlinge zu Behörden begleiten könnten. Wenn die Studis, die die Sprechstunde halten, die Aufgabe nicht übernehmen können, posten sie die Anfrage in einer Facebook-Gruppe. Wer an dem Termin Zeit hat, meldet sich darauf. „Manchmal geht es auch um persönliche Interessen. Ein Mädchen wollte zum Beispiel gerne Gitarre spielen, sodass wir einen Musiklehrer und eine Übersetzerin gesucht haben. Jetzt üben sie zu dritt“, sagt Pia. Da viele Flüchtlinge das Angebot der Studenten an der Wohlfahrtstraße in Anspruch nehmen, finden seit einiger Zeit auch Sprechstunden im Flüchtlingsheim am Harpener Hellweg und seit August in der Flüchtlingsunterkunft „Zum Schebbruch“ in Bochum statt.

Wie viele Studenten helfen und warum? „Die Flüchtlinge sind unglaublich dankbar für die Unterstützung. Von Studenten bekommen wir auch immer wieder positives Feedback. Sie machen Erfahrungen, die nicht alltäglich sind und haben ganz andere Einblicke in ein Thema, das in den Medien stark vertreten ist“, sagt Sarah. Die Helfer konnten sich zudem den Vortrag einer Anwältin über das Asylver-

fahren anhören. Dadurch können sie die Flüchtlinge nun noch gezielter beraten. Auch Pia hat aus dem Projekt einiges mitgenommen. „Man trifft so viele spannende Leute und freut sich immer, wenn man sie unterstützen kann. Meine Erfahrungen mit den Flüchtlingen sind durchweg positiv. Sie arbeiten mit, wenn man ihnen etwas beibringt, und sind sehr zuverlässig.“ Sarah zufolge sind zurzeit etwa 370 Helfer für den Kurs „Studentische Flüchtlingshilfe“ auf der Online-Plattform Moodle angemeldet, 100 regelmäßig aktiv. Denn wer sich registriert, muss nicht automatisch eine Sprechstunde übernehmen. Die Teilnehmer können selbst entscheiden, ob und wie sie sich einbringen. Einige sprechen Arabisch, Albanisch oder Serbisch, sodass sie in die Muttersprachen der Flüchtlinge übersetzen können – ein Muss ist das jedoch nicht. Wie in Pias Fall helfen Englisch und Französisch meist auch schon. Die Koordinatoren betonen: „Jeder der mitmachen möchte, ist willkommen.“

so hilfst du mit Wer sich an dem Projekt beteiligen möchte, kann sich unter dem folgenden Link zunächst bei Moodle und dort für den Kurs „Studentische Flüchtlingshilfe“ anmelden: https://moodle.ruhr-uni-bochum.de/ login/index.php In Dortmund hilft das „Projekt Ankommen“ Flüchtlingen bei dem Auszug aus Notunterkünften. Der Verein organisiert Paten, die etwa bei Behördengängen helfen. Jeden dritten Montag im Monat gibt es einen Stammtisch: www. projekt-ankommen.de Flüchtlinge, die in Dortmund ankamen, wurden im Dietrich-Keuning-Haus erstversorgt.

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Tanja* führt zwei Beziehungen zugleich. Sie lebt polyamor. Das bedeutet, dass sie mehrere Menschen liebt, aber nicht fremdgeht. Alle Beteiligten müssen sich miteinander arrangieren. Ein Gespräch über ein Wagnis und die nötige Portion Ehrlichkeit. TEXTSOPHIE SCHÄDEL ILLUSTRATIONENALINA FUHRMANN

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chreib nur nicht, dass ich das mache, weil ich es geil finde, mit zwei Typen zu schlafen“, sagt Tanja. Auf die Nachfrage „Aber ist es das nicht?“, lacht sie. „Die Anzahl der Personen ist mir egal, es geht jeweils um den Menschen.“ Tanja ist 22, studiert an einer Uni im Ruhrgebiet und lebt polyamor. Sie hat zwei Beziehungen gleichzeitig. Die beiden Partner wissen voneinander und sind einverstanden mit dem Modell. „Ich bin mit beiden zusammen. Sowohl Julian* als auch Riccardo* bezeichnen mich als ihre Freundin, und ich nenne beide meinen Freund.“ Seit zwei Jahren ist die Brünette mit dem 23-jährigen Julian in einer Beziehung. Auch früher hatte Tanja manchmal mehrere Liebschaften zur selben Zeit. Aber Julian und sie haben nie daran gedacht, dass irgendwann noch jemand dazukommen könnte, in den Tanja sich verliebt. Von mono zu poly: Eine neue Liebe kommt und die alte soll bleiben. Vor einem halben Jahr lernte Tanja Riccardo (20) kennen. Die beiden mochten sich

sofort und verbrachten immer mehr Zeit miteinander. Julian wusste von Anfang an davon. „Damit hatte er kein Problem: Ich lag mit Riccardo nackt im Bett. Julian kam rein und meinte nur ganz locker: ‚Ich habe Frühstück mitgebracht‘.“ Damals verstanden sich Julian und Riccardo sehr gut. Nach und nach änderte sich das Verhältnis zwischen Tanja und Riccardo von einer Affäre zu einer echten Beziehung. „Ich habe Julian am Anfang im Wochentakt ein Update gegeben. Das war schwierig für ihn, jede Woche etwas Neues zu verdauen.“ Tanja konnte nicht anders, als die Beziehung aufs Spiel zu setzen.

Sich zu trennen, ohne es versucht zu haben, wäre doof. Sie liebt Julian genauso wie zuvor. Mit ihm Schluss zu machen, kam für sie nicht in Frage. Auf eine Beziehung zu Riccardo zu verzichten, hätte wenig Sinn gehabt. Es ist nicht auszuschließen, dass sich Tanja nach Riccardo noch einmal in einen Anderen verliebt. Dann würden sie und Julian wieder vor demselben Problem stehen, sagt die Studentin. Für Tanja ist das Wagnis auch die Bewahrung ihrer Beziehung zu Julian: Als ein früherer Partner ihr keinen Raum für eine Liebschaft ließ, veränderte das

ihre Beziehung so sehr, dass bald Schluss war. Für Julian war immer wichtig, Tanja nicht einzuschränken. Es blieb also nur der Versuch, die Dreiecks-Beziehung zu wagen und zu sehen, ob Julian damit klar kommen würde. „Trennen kann man sich immer. Aber sich zu trennen, ohne es versucht zu haben, wäre ja total doof.“ Auch für Tanja war es nicht einfach. Zwar hatte sie sich schon vorher mit Polyamorie beschäftigt und hatte manchmal mehrere Affären zugleich. Es ist jedoch das erste Mal, dass sie zwei Menschen ernsthaft liebt. „Ich hatte ein total schlechtes Gewissen. Ich musste ausbaden, dass es Julian meinetwegen schlecht ging. Wie kann ich eine Person lieben und sie dem aussetzen?“ Doch die Wunsch, Polyamorie zu wagen, ist zu essenziell in ihrem Leben, als dass sie ihn unterdrücken könnte: „Das ist quasi ein Teil von mir. Ich muss dazu stehen, selbst, wenn es nur ein Ausprobieren ist. Auch mit dem Risiko, dass es die Beziehung mit Julian kaputtmacht.“

„Ich stöhne doch nicht den Namen des Anderen.“ Für Julian war die neue Situation zu Beginn nur schwer zu ertragen. Für ihn veränderte sich seine Beziehung sehr. Die Sicherheit, dass Tanja nur ihn liebt, ist verschwunden. Er lebt nicht polyamor, muss sich aber jetzt damit arrangieren, dass seine Freundin einen Anderen hat. Riccardo hingegen wusste von Anfang an, worauf er sich einlässt. Als zweitem Partner war ihm sofort klar, dass er Tanja teilen würde. Außerdem führte er damals Liebschaften mit zwei anderen Frauen,


war also schon erfahren mit Polyamorie. Trotzdem fühlte er sich nicht wohl bei dem Gedanken, die Ursache für die Krise zwischen Julian und Tanja zu sein. Riccardo mag Julian sehr, erzählt Tanja. Aktuell läuft es sehr gut. Tanja ist glücklich, den Schritt gewagt zu haben. Schwierig könnte es werden, wenn eine der beiden Beziehungen kriselt und die andere intakt ist. „Ich muss es dann schaffen, die Probleme der einen Beziehung nicht in die andere zu tragen, sondern strikt zu trennen.“ Ob sie nicht manchmal durcheinander kommt bei all dem Chaos? „Die beiden fühlen sich sehr unterschiedlich an. Ich stöhne doch nicht den Namen des Anderen.“

Management für die Liebe Für die Doppelbeziehung ist Organisationstalent vonnöten: Tanja hat durch ihr Studium samt Masterarbeit, Hobbys und einem Job wenig Zeit, die sie auf zwei Partner aufteilen muss. „Eigentlich wollen wir uns jeden Tag sehen, aber dem

kann ich nicht mehr gerecht werden. Manchmal wünsche ich mir wirklich einen Beziehungsratgeber für Polyamore“, sagt sie und kichert. Ein Abend zu dritt kommt für niemanden in Frage. „Schließlich will ich mich an einem Pärchenabend jemandem komplett widmen.“ Wenn Tanja mit Julian feiern geht und zufällig Riccardo trifft, achtet sie darauf, den Abend trotzdem mit Julian zu verbringen. Ein Begrüßungskuss mit Riccardo muss trotzdem sein. Schließlich will sie ihre Liebe zu ihm nicht leugnen, nur weil Julian gerade zusieht. „Das würde Riccardo auch sehr kränken“, sagt Tanja. All diese Wünsche und Ängste müssen bedacht und geklärt werden. Bisher hat Tanja zwischen den beiden Jungs vermittelt. Seit Neuestem treffen die sich auch zu zweit, um zu besprechen, wie sie sich die Beziehungen in Zukunft vorstellen können. „Der nächste Schritt ist, dass wir uns zu dritt zusammensetzen.“ Tanja will mit ihrer Polyamorie offen umgehen. Sie erzählte ihren Freunden 34

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davon, später auch ihrer Familie. Das war ein großer Schritt für sie. „So ähnlich muss sich ein homosexueller Mensch vor seinem Coming Out fühlen“, erinnert sich Tanja. Als sie ihrem Vater erzählte, dass sie jetzt zwei Männer hat, war die erste Reaktion: „Das kannst du doch nicht machen.“ Dann dachte er darüber nach. „Mach, was du meinst. Wenn dich das glücklich macht…“ So richtig verstehen kann er es bis heute nicht. „Er sieht das als eine pubertäre Phase.“ Dieses „das musst du wissen“ ist die häufigste Reaktion, wenn Tanja von ihren Beziehungen erzählt. „Diesen Satz kann ich nicht mehr hören“, sagt Tanja. „Ich hätte gerne mehr ehrliches Feedback.“ Sie hätte bei vielen mehr Redebedarf erwartet und traut der Diplomatie nicht. „Mir würde es im Umgang mit den Leuten helfen, zu wissen, was sie wirklich darüber denken.“ Dass Polyamorie nicht für alle die richtige Beziehungsform ist, versteht Tanja. Oft hat sie das Gefühl, dass man sie nicht kränken will. Aber wer ihr nicht ehrlich die Meinung sage, nehme ihr die


Chance, zu diskutieren oder Fragen zu beantworten. Nur einmal bekam Tanja positives Feedback von einer Freundin, die Polyamorie auch für sich in Erwägung zieht. Es gebe ihr Mut zu sehen, dass es bei Tanja funktionieren kann. Richtige Ablehnung hat Tanja noch nie erfahren. „Ich gehe damit aber auch nicht hausieren.“ Wenn sie keine Lust auf Diskussionen hat, verschweigt sie manchmal ihre DoppelBeziehung. „Dann fühle ich mich, als würde ich nicht zu Julian und Riccardo stehen. Irgendwann soll das so selbstverständlich in meinem Alltag sein, dass ich den Mumm dazu habe, damit immer offen umzugehen.“

einer polyamoren Beziehung oder nicht.“ Das bedeutet für sie, ihren Jungs immer zu sagen, wenn sie einem anderen Menschen nahe ist.

Bleibt es, wie es ist? Spielt Eifersucht denn keine Rolle? „Eifersucht und Besitzdenken in Bezug auf Partner schließt Polyamorie eigentlich aus.“ Tanja war auch nicht eifersüchtig auf die Affären, die Riccardo zum Beginn ihrer Partnerschaft noch hatte. Wenn er eine weitere Liebesbeziehung eingehen sollte, ist sie sich nicht ganz so sicher, ob nicht doch Eifersucht aufkommen würde. Wie sie damit umgehen würden, weiß sie jetzt noch nicht.

Julian lebt nicht polyamor und hat das auch nicht vor. „Aber Riccardo ist sich ziemlich sicher, dass ich auf Dauer nicht seine einzige Freundin sein werde.“ Und Tanja? „Lockere Liebschaften werden sehr abgewertet durch das, was ich jetzt mit den beiden habe. Aber ob ich mich in noch jemanden verliebe, kann ich jetzt noch nicht sagen.“ Tanja, Julian und Riccardo wollen nicht so weit in die Zukunft blicken. Sie genießen, dass es aktuell so gut funktioniert. Pläne mit Kindern oder einer gemeinsamen Wohnung schmieden die drei nicht – schließlich ist es so schon kompliziert, aber auch schön genug. * Echter Name der Redaktion bekannt

Riccardo geht mit seiner Polyamorie völlig offen um, auch wenn er zurzeit nur mit Tanja fest zusammen ist. Bei Julian stellt sich die Frage nicht, schließlich führt er nur eine Beziehung.

Keine Spur von Eifersucht? Könnte Polyamorie die Lösung für Beziehungen sein, die eigentlich monogam geführt und durch Fremdgehen zerstört werden? „Wenn in einer Beziehung eine andere verschwiegen wird, ist das Problem ein ganz anderes, nämlich Unehrlichkeit“, sagt Tanja überzeugt. Fremdgehen würde sie nie. „Ehrlichkeit ist für mich das Wichtigste überhaupt, egal ob in

DAS BEDEUTET POLYAMORIE Polyamorie setzt sich zusammen aus dem griechischen „polys“ für viel, mehrere, und dem lateinischen „amor“ für Liebe. Sie ist ein Beziehungskonzept, bei dem mehrere Menschen miteinander Liebesbeziehungen führen – und das im allseitigen Einverständnis. Polyamor lebende Menschen sind überzeugt, dass Liebe auch zwischen mehr als nur zwei Menschen entstehen kann. Der Begriff entstand in den 1990ern, als sich Polyamore in Online-Foren austauschten. Allerdings hatte das Konzept mit Voltaire schon im 18. Jahrhundert seinen ersten bekannten

Anhänger. Die Bewegung für die freie Liebe rund 100 Jahre später machte es bekannter. So ließen sich zum Beispiel JeanPaul Sartre und Simone de Beauvoir gegenseitig den Raum, neben ihrer Beziehung noch Andere zu lieben. Auch Bertolt Brechts Liebesleben kann als polyamor bezeichnet werden, genauso wie das von Rainer Maria Rilke oder Voltaire. In den 68ern erlebte Polyamorie eine Hochphase. Heute tauschen sich Menschen, die so leben, im Internet aus und organisieren sich bei großen Vernetzungstreffen oder Vereinen. Wie viele sie sind, ist nicht bekannt.

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INN

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Ihr habt das Semesterticket wieder gewählt und könnt es richtig ausgiebig nutzen. Die pflichtlektüre sagt euch, wohin ihr damit fahren könnt, um richtig gute Musik, Vorträge und Theaterstücke zu erleben. TEXTSOPHIE SCHÄDEL FOTOS © OLIVER BERG, THEATER MÜNSTER/FZW DORTMUND/ GROOVE SYMPHONY 2014 © ANNELIESE SCHÜRER

GROOVEN ZU DVORÁK

PUNK VON ANTI-FLAG

Was? Bei der „Groove Symphony“ schallt Klassik gemischt mit Elektro durch das Konzerthaus. Die Dortmunder Philharmoniker spielen Antonin Dvoráks Sinfonie „Aus der neuen Welt“. Alec Tronic und Gabriel Vitel remixen das Stück und ergänzen es um wummernde HouseBeats und rhythmisch außergewöhnliche Variationen. Wo? Im Dortmunder Konzerthaus in der Brückstraße 21 Wann? 26. Oktober um 19 Uhr Wie teuer? 9 Euro Net: www.konzerthaus-dortmund.de

Was? Anti-Flag toben sich mit ihrem neuen Album „American Spring“ im Dortmunder FZW aus. Ihren Polit-Punk begleiten Trophy Eyes, eine Punk-Band aus dem australischen Newcastle, und der Homeless Gospel Choir, ein Ein-MannProjekt mit Gitarre. Wo? Im Dortmunder FZW in der Ritterstraße 20 Wann? Einlass ist am Freitag, 6. November, um 18.30 Uhr. Musik gibt es ab 19 Uhr. Wie teuer? 20 Euro Net: www.fzw.de Ihr wollt zum Konzert gehen? Dann schreibt uns bis zum 30. Oktober eine PN an unsere Facebook-Seite, ihr landet im Lostopf und könnt ein Mal zwei Karten gewinnen. Viel Glück!

EUROPÄISCHER RECHTSRUCK

DIE BLECHTROMMEL

Was? In vielen Ländern Europas gibt es rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien. Welche Gefahren das mit sich bringt, zeigt der Historiker und gegen Rechts engagierte Referent Dr. Ulrich Schneider an Beispielen aus Ungarn, Frankreich, Griechenland und dem Baltikum. Außerdem berichtet er über die Folgen des Rechtsrucks für die europäische Gemeinschaft und über Möglichkeiten des politischen Widerstands. Wo? Essener Volkshochschule am Burgplatz 1 Wann? Der kostenlose Vortrag beginnt am Mittwoch, 21. Oktober um 19 Uhr. Net: www.vhs-essen.de

Was? „An seinem 3. Geburtstage stürzte Oskarchen eine Treppe hinunter und wollte von da an nicht mehr wachsen – nicht ein Zentimeterchen.“ Der kleine Oskar schreit, bis Glas zerspringt, und trommelt gegen den Nationalsozialismus. Wo? Im kleinen Haus des Theaters Münster in der Neubrückenstraße 36 Wann? Günter Grass’ wohl bekanntestes Werk von 1959 seht ihr zwischen dem 30. Oktober und dem 3. Februar in zahlreichen Vorstellungen. Das Stück beginnt jeweils um 15 Uhr. Wie teuer? 15 Euro Net: www.theater-muenster.de

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Hingeschaut Nur noch wenige Tage bis Halloween und immer die gleichen Fragen: Als was verkleide ich mich? Wo verbringe ich den Abend des 31. Oktober? In NRW gibt es eine neue Attraktion – das Grusellabyrinth in Bottrop. Die pflichtlektuere hat genauer hingeschaut. TEXTMARLON SCHULTE FotoGrusellabyrinth NRW

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m 1830 herum feierten die Iren am Abend vor Allerheiligen erstmals Halloween. Daraus wurde ein Volksbrauch, den irische Auswanderer nach Amerika mitnahmen. Von dort aus kam er Anfang der 90er Jahre zurück nach Europa. Hier steht der Brauch heute für volle Süßigkeiten-Tüten, blutverschmierte Vampire und leuchtende Grusel-Kürbisse. Über all dem schwebt die Angst vor Streichen – zum Beispiel vor rohen Eiern an der Haustür. In NRW ziehen jährlich immer wieder Hexen und Gespenster in Bettlaken los, um den Tag zu feiern. Manche Clubs locken mit Verkleidungs-Partys, woanders wiederum feiern die Leute den 31. Oktober im privaten Kreis. Das Grusellabyrinth in Bottrop verspricht Abwechslung: Seit zwölf Jahren verbreitet das Labyrinth Furcht und Spannung in Deutschland. Derzeit macht es in Bottrop Halt und verspricht eine GruselShow zum Mitmachen.

Alle zehn Minuten werden Gruppen in ein virtuelles Gemälde geführt. Dahinter beginnt die 100-minütige Show. Die verlorene Tochter der Familie Rosenthal, durch deren Villa man während der Show läuft, soll von den Besuchern aus der Albtraumwelt gerettet werden. Begonnen haben die Macher des Grusellabyrinths im Dachgeschoss einer alten Villa in der Nähe von Kiel. Von dort aus wurde das Projekt immer größer.

In den Halloween-Wochen vom 3. Oktober bis 15. November gibt es auf 1000 Quadratmetern eine zusätzliche Attraktion für Besucher ab 16 Jahren – „Totem. Der verfluchte Wald“. Ein Pfad im Tannenwald-Außenbereich, der mit Nebel geflutet und mit vielen zusätzlichen Erschreckern besetzt wird. Für all die, die keine Furcht vorm Fürchten haben, ist das an Halloween also genau das Richtige.

Zusätzliche Attraktionen in der Halloween-Woche

Egal ob mit der Familie, mit Freunden oder ganz allein: Wer dieses Jahr Halloween nicht auf der Club- oder Heimparty feiern will, hat mit dem Grusellabyrinth eine abwechslungsreiche Alternative.

In Bottrop erstreckt es sich auf mehr als 3000 Quadratmetern, so groß wie eine Lagerhalle plus Gelände. Sechzehn verschiedene Show- und LabyrinthAbschnitte sind Teil der Führung. Dazu gehören ein Spiegellabyrinth und eine Zirkusmanege. Effekte wie die großen Neon-Schwarzlicht-Kulissen, Erschrecker und professionelle Schauspieler in aufwendiger Verkleidung sind die Highlights der Show.

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Was? Wo? Wann? Wie teuer? Was? Eine 100-minütige Grusel-Show Wo? Knappenstraße 36, 46238 Bottrop Wann? Mittwoch bis Sonntag; am 31. Oktober von 12 Uhr bis Mitternacht; ansonsten variierende Öffnungszeiten (Informationen auf der Homepage) Anfahrt? RE vom Dortmund Hauptbahnhof nach Essen, Umsteigen in NordWestBahn nach Bottrop HBF, von dort in den Bus bis Haltestelle Malakoffturm Wie teuer? Tickets für den 31. Oktober nur online erhältlich, Erwachsene zahlen 26 Euro; in den HalloweenWochen (+ Zusatzprogramm) 22 Euro Weitere Infos: www.grusellabyrinth.de


ABGEFAHREN ABGEFAHREN Ihr wollt Kultur, Action und Abenteuer? Wir gehen mit dem NRW-Ticket bis ans Limit und nehmen euch mit auf eine Reise durch das Ruhrgebiet und darüber hinaus. Diesmal: Brauerei-Besichtigung bei Fiege in Bochum. TEXTMELISSA PFEIFFER FOTOALEXANDER STRAMMA

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ier – es gibt wenig, für das das Ruhrgebiet bekannter ist. Die FußballKultur kommt nah dran. Wenn es ums Bier geht, hat das Ruhrgebiet einiges zu bieten. Nicht nur, dass NordrheinWestfalen rund ein Viertel des gesamten Bier-Gesamtabsatzes in Deutschland produziert. Vor allem gibt es besonders viele Traditionsbrauereien rund um die RuhrMetropolen – und diesen Titel erhält eine Brauerei nur, wenn sie vor 1985 gegründet wurde. Ein Titel, den auch die Privatbrauerei „Moritz Fiege“ trägt. 1876 erwarb die Familie Fiege die Braurechte von der Stadt Bochum. Der Betrieb befindet sich in Familienhand – heute in der vierten Generation. Grund genug, um sich die Brauerei mal aus der Nähe anzusehen. Dafür bieten die Fiege-Mitarbeiter die „Braukultour“ an: Eine Besichtigung, bei der die Teilnehmer erfahren, wie Bier hergestellt wird und welche Tradition hinter der Braukunst steckt.

Im Fiege-Museum beginnt die Führung. Zum Auftakt gibt es historische Relikte aus einer Zeit zu sehen, in der Bier noch mit der Hand abgefüllt wurde. Und das obligatorische Willkommens-Bier natürlich. Während der Führung bekommt der Besucher die Gelegenheit, das eine oder andere Bier in den verschiedenen Reifephasen zu testen. Eine Gelegenheit um das Zwickelbier zu probieren, das es so nur bei der Besichtigung zu kosten gibt. Da es ungefiltert ist, hat es seinen eigenen Geschmack, kann aber nicht in Flaschen haltbar gemacht werden. Das Unternehmen Fiege hat seit seiner Gründung denselben Standort an der Moritz-Fiege-Straße, die im Jahr 2013 nach der Brauerei benannt wurde. Deshalb gibt es so viele Rudimente aus früheren Zeiten zu bestaunen. Zum Beispiel ein altes Fass, in dem das Bier in einem 13 Meter tiefen Kellergewölbe gelagert wurde. Schließlich endet die Brauereibesichtigung mit einer Bierverkostung, bei der

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alle Sorten probiert werden dürfen. Und dort treffen sich die beiden kulinarischen Besonderheiten des Ruhrgebietes: Bier und Currywurst, die dazu serviert wird. Perfekte Gegenstücke.

Wo? Wann? Wie teuer? Wo? Moritz-Fiege-Straße 1, Bochum (ehemals Scharnhorststraße 21-25) Wann? täglich 18:30 Uhr, freitags schon um 16 Uhr Anfahrt? mit RE oder S-Bahn bis Bochum Hauptbahnhof, von dort neun Minuten Fußweg Wie teuer? 15,85 Euro (inklusive Verzehr), Tickets gibt es online oder unter: 069/4076620 Weitere Infos: www.moritz-fiege.de


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Impressum Herausgeber Institut für Journalistik, TU Dortmund Projektleiter Prof. Dr. Michael Steinbrecher (ViSdP) Redaktionsleiterin Sigrun Rottmann Redaktion Uni-Center, Vogelpothsweg 74, Campus Nord, 44227 Dortmund Tel.: 0231/755-7473, post@pflichtlektuere.com Chefin vom Dienst Julia Knübel Kamerakind und Schrankwart Christian Kleber Textchef Victor Fritzen Fotoredaktion Daniela Arndt, Christiane Reinert Layout & Grafik Mareike Fangmann, Ramesh Kiani, Anneke Niehues, Martin Schmitz, Stella Venohr, Philipp Ziser Redakteure und Reporter Lukas Arndt, Julian Beyer, Richard Brandt, Till Dörken, Jana Fischer, Lucas Gunkel, Rebecca Hameister, Svenja Kloos, Lara Mertens, Melissa Pfeiffer, Sophie Schädel, Silas Schefers, Marlon Schulte, Helene Seidenstücker, Carolin West, Henrik Wittenborn, Martina Zagorski Das Grafikteam dankt ... dem unverwechselbaren Christian Kleber für die langmonatige Mitarbeit und wünscht ihm für den Ruhestand alles Gute; Fritz & Fritz von fritz-kola; Alina für den beinahe unmöglichen Versuch, ein Bild in Rom einzuscannen; Arfan für den unmöglichen Versuch unseren Server zu retten. P.S.: Die Einstellung ist immer Fakt! Druck Hitzegrad Print Medien & Service GmbH Auf dem Brümmer 9 44149 Dortmund

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