Pflichtlektüre 06/2015

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pflichtlekt端re Studentenmagazin f端r Dortmund

Manchmal macht man EBEN keine Liebe

Pornos im H旦rsaal

062015

Panisch Angst vor dem Drittversuch

Zerrissen Ein Besuch in Kiew

Hungrig Extraw端nsche in der Mensa


Aus der redaktion W

eihnachtsplätzchen backen, Kommode restaurieren, Kicker bauen: Für unsere Redaktions-Großeltern Liesel und Werner alles kein Problem. In den vergangenen acht Ausgaben haben sie uns ihre besten Handwerks- und Haushaltstricks verraten. Nun wollen wir die beiden ihrem wohl verdienten Ruhestand überlassen und bedanken uns ganz herzlich für die vielen lustigen Treffen. Eins ist dabei ganz besonders in Erinnerung geblieben: Wir wollten von Oma Liesel wissen, wie man Obst einkocht – prompt servierte sie selbstgemachten Pflaumenwein statt Kaffee zum Kuchen. Leicht beschwipst taumelten unsere Autorinnen danach in die Redaktion. Denn der Pflaumenwein unserer Redaktionsoma ist wirklich vorzüglich. Svenja Kloos

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ür uns im Fotoressort besteht der Job nicht nur aus dem Ablichten von Personen/Landschaften/Gegenständen. Nein, auch die hohe Kunst von Photoshop gehört dazu. Unsere liebste Disziplin ist der Freisteller. Dafür müssen wir ein Element aus dem Foto herausschnibbeln, um dieses dann solo in den Text einzufügen. Dabei klebt man mit der Nase am Bildschirm, um mit Hilfe von Punkten eine Linie um besagtes Element zu ziehen – schön ordentlich natürlich. Ein Rechtsklick und zack! Element extrahiert. Blöd ist nur, wenn bei der Apple-Maus kein Rechtsklick eingestellt ist, dann verschwindet die Linie nämlich einfach. Das führt bisweilen zu Verwirrung. Hier gilt: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Manchmal muss dann doch die gute alte USB-Maus ran. Daniela Arndt

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risch im Layoutressort angekommen, habe ich die Arbeit unterschätzt. Während der ersten Wochenendschicht stellte ich Geldscheine frei, schnitt um einen Stoppelkopf herum, experimentierte mit Gradationskurven – das war alles kein Problem. Mich überforderte das Chaos, das sich schleichend während der vorigen Wochen ausbreitete. Fünf Mäuse an einem Computer, Stapel voller Zeitschriften, Papier hier, Papier da, leere Kaffeebecher und zerknittertes Schokopapier. Mich als alles-rechteckigausrichtende Pedantin stresst dieses Chaos. Meine Aufgabe, jetzt, da das Heft fertig ist: Aufräumen! Naima Fischer


8der sCHein trÜGt

Ein Besuch in Kiew zwei Jahre nach den Majdan-Protesten

inHALt 04 MACH‘S KURZ! 06 HINGEGANGEN 07 GEGEN PROPAGANDA 13 SCHNITZELFREIE MENSA 14 BARGELDLOS BEZAHLEN 18 ALLES KANN, NICHTS MUSS 20 SPECIAL OPS 25 STILLES STUDIUM 26 SAG MAL PROF 29 4 THESEN ZU TTIP 30 1, 2 ODER 3 32 HINGESCHAUT 37 ABGEFAHREN 38 MOMENTE

Kerzen, Kitsch und Katastrophen

Ein Interview mit Peter Neururer

EINS VORAB Als wir unsere Redaktions-Großeltern in den Ruhestand entlassen haben, war schnell klar: Eine neue Rubrik muss her. Über ein Konzept konnten wir Autoren uns schnell einigen: Wir suchen einen interessanten, bestenfalls bekannten Menschen, der früher mal studiert hat und den wir vorstellen möchten. Diesem werden zehn Satzanfänge vorgegeben – jeweils fünf zum Uni-Alltag und fünf zu seiner Person – die er dann vervollständigt. Unklar war jedoch, wie das Kind denn heißen soll. Immer wieder haben wir Vorschläge in Frage gestellt und verworfen. Wir haben Einfälle in die Runde geschmissen, sie verteidigt und gelobt. Schließlich müssen bei uns gut 30 Meinungen unter einen Hut. Nach unzähligen E-Mails und Diskussionen, als alle nur noch genervt auf ihre Uhren schauten, warf unser Autor Henrik plötzlich ganz locker ein: „Und wie wäre es mit ,Mach‘s kurz...’?“ Stille. Blicke wurden ausgetauscht, ein anerkennendes Raunen ging durch den Raum. Konnte es denn so einfach sein? Die Redaktion stimmte eindeutig dafür. Und da war sie geboren: Unsere neue Rubrik.

Kulturtipps im Ruhrgebiet und drumherum VON CAROLIN WEST

Dann galt es nur noch, jemanden zu finden, der zuerst antworten sollte. Ihr könnt es euch vorstellen: Auch hier dauerte es seine Zeit, bis wir uns einig wurden. „Mach‘s kurz...“ zog sich anfangs ziemlich lang hin. Fündig geworden sind wir trotzdem. Eine Ruhrpott-Legende, die gar nicht so leicht zu erreichen war. Mal ging die Mailbox ran, mal stand unser Protagonist auf dem Golfplatz: „Hier darf man nicht so laut sprechen, wir telefonieren später nochmal!“ Dieses Versprechen hat er gehalten. Wer es ist? Wird nicht verraten! Lest selbst. Viel Spaß dabei wünscht

Die NGO StopFake deckt Falschmeldungen auf

Ohne Fleisch kein Preis?

Idee einer Utopie oder Dystopie

Pornografie im Hörsaal

Prezident zwischen Hörsaal und Whiskeyrap

Nix hören im Hörsaal

Warum machen Chips süchtig?

Berechtigte Angst oder Panikmache?

Letzte Chance vorbei

Ein Blick in die Tim-Burton-Ausstellung

Weihnachtlich wird‘s im Krippenmuseum


ICONSPaul Diaconu (www.iconfinder.com/inspiredrive) & Momentum Design Lab (www.momentumdesignlab.com)


ALLE JAHRE WIEDER… ... zieht Weihnachten in die Straßen ein. Menschen klettern auf ihre Dächer und verlegen kilometerlange Lichterketten, um an Heiligabend auch nicht vom Weihnachtsmann übersehen zu werden. Wir haben uns auf die Suche nach den schönsten Häusern in der Umgebung gemacht und kleine dicke Weihnachtsmänner und leuchtende Rentiere gefunden. FOTOSJULIA SCHINDLER


MACH’S KURZ! Vom Studium der Sportwissenschaften in Köln über den FC Schalke 04 bis hin zum VfL Bochum: Seit über 30 Jahren ist er Fußball-Trainer. Um unsere Satzanfänge zu vervollständigen, hatte er nicht so viel Zeit: Peter Neururer mal kurz und knapp. TEXTCAROLIN WEST FOTOSPASCAL AMOS REST & VFL BOCHUM

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Als Student war ich ein... ...vielseitig Inte ressierter und le ider oftmals Abg ich viel Zeit für elenkter. Desha meinen Abschlu lb habe ss gebraucht.

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Mein peinlichs tes Erlebnis an ...als mich ein ju der Uni war... nger Kommilito ne kurz vor der arbeit fragte: „W Abgabe meiner issen Sie, wo di Diplome Bibliothek ist? natürlich nicht. “ Als Sportler w In dem Momen usste ich das t wurde mir jedo siezt, wird es hö ch klar: Wenn m chste Zeit, fertig ich jemand zu werden.

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Wenn ich ein Se minar erfinden ...totale Bereits müsste, hieße chaft und Respe es... kt anderen gege nüber.

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Zu diesem Sem inar bin ich im ...zu keinem, de mer zu spät ge nn ich war scho kommen... n immer Profi.

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Wenn ich noch einmal einen Ta ...mich voll auf g lang Student die Sache konzen wäre, würde ic trieren und mic h... tig beschäftigen h nicht mit 20 . Dingen gleichze i-

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Ich bin aktuel l Fan von diesem ...von keinem. Fußballverein. Eingetragenes M .. itglied bin ich je wenn man das doch beim FC in Dortmund ni Schalke 04 – au cht gerne hört. ch

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Meine Zeit beim VfL Bochum w ...für mich die ar... Emotionalste üb erhaupt – in

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positiver und ne gativer

Mein Vorbild al s Trainer ist... ...niemand. Mei n einziges Vorbi ld ist mein Papa .

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Hinsicht.

Ich wohne gern e in Gelsenkirch ...ich gebürtig au en Buer, weil.. s Marl komme . und ein absolut bin. Auf Kohle überzeugtes Kin geboren quasi. d des Ruhrgebie tes

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Im kommende n Jahr werde ic ...hoffentlich w h... ieder in dem Jo b arbeiten, den XX ich so liebe. ressort


HINGEGANGEN Weihnachten – the same procedure as every year? Nicht unbedingt. Unsere Veranstaltungstipps zeigen, dass man auch fern von Tannenbaum und Spekulatius auf dem Sofa gut in Weihnachtsstimmung kommen kann. Also Schal und Handschuhe an und „hingegangen“. TEXTMARLON SCHULTE FOTOSDAVID ARNSPERGER/BETTINA STÖSS

GESCHICHTE MIT TRADITION: DER NUSSKNACKER

INTERNATIONALER WEIHNACHTSMARKT ESSEN Was? Über 250 Stände mit Markthändlern aus 20 Ländern – auf dem Essener Weihnachtsmarkt steht die kulturelle Vielfalt seit Jahren im Vordergrund. In diesem Jahr sind unter anderem Köche aus Peru, „X-Mas-Presents“ aus Amerika oder Schmuck aus Indien mit dabei. Es gibt aber auch nationale Spezialitäten: Glühwein, Liebesäpfel und gebrannte Mandeln. Wo? Verteilt in der Essener Innenstadt Wann? bis zum 23. Dezember, So.-Do. 11-21 Uhr, Fr.-Sa. 11-22 Uhr Web: weihnachtsmarkt.essen.de

Was? Ein Kindermärchen – inszeniert für Jedermann. Clara bekommt zu Weihnachten einen Nussknacker geschenkt. In ihrem Traum kämpft der Nussknacker gegen den Mäusekönig und wird zum Prinzen. Die Geschichte endet im Paradies, dem Reich der Zuckerfee. Die Inszenierung vom „Black Swan“-Choreograph Benjamin Millepied, die Musik von Peter Tschaikowsky. Wo? Dortmunder Oper, Theaterkarree 1-3 Wann? 20. Dezember (2x), 26. Dezember, 10. Januar (2x), 23. und 28. Januar, 17. Februar Wie teuer? Mit etwas Glück in der Theaterflatrate für Studenten der FH und TU Dortmund enthalten und kostenlos; ansonsten Karten ab 8 Euro Web: theaterdo.de

EIN SCHÖNES WEIHNACHTSGESCHENK? DAS WOHL BEKANNTESTE PHANTOM DER OPER

LITERARISCH UND LAUT: AKTE X-MAS

Was? Die Pariser Oper kommt ins Metronom Theater Oberhausen. Das Phantom verliebt sich in die Sängerin Christine und somit beginnt der Kampf um Liebe und Erfolg. Mit über 140 Millionen Besuchern weltweit und über 50 Auszeichnungen zählt das Musical zu den erfolgreichsten der Welt. Mit einer farbenfrohen, maskenreichen Inszenierung und der Musik von Andrew Lloyd Webber feiert die Show ihren 25. Deutschen Geburtstag in Oberhausen. Ziemlich teuer, taugt aber vielleicht als Weihnachtsgeschenk für dich selbst oder deine Eltern. Wo? Stage Metronom Theater, Musikweg 1, 46047 Oberhausen Wann? Tägliche Shows, an manchen Tagen auch zwei, bis Ende 2016 Wie teuer? 54,90 Euro Web: stage-entertainment.de

Was? „Das wird keine stille Nacht!“, verspricht das elfköpfige Ensemble der Poetry-MusikWeihnachts-Crasher-Show. Es wird laut, literarisch, musikalisch und gnadenlos aufgedeckt. Bei der Premiere 2011 haben sich die Beteiligten das Ziel gesetzt, die Wahrheit über den Weihnachtswahnsinn ans Licht zu bringen. Moderiert von Thomas Koch, gefüllt von Andy Strauß, Katinka Buddenkotte, Torsten Sträter, Charlotte Brandi u.a. Wo und Wann? 17.12. ab 20 Uhr in der Lindenbrauerei Unna; 21.12. ab 20 Uhr im Phanteon in Bonn; 22.12. ab 20 Uhr im Comedia in Köln Wie teuer? Unna: 25 Euro zzgl. VVK-Gebühr; Bonn: 18 Euro für Studenten; Köln: 15,40 Euro für Studenten Web: akte-xmas.de 07

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EINE STADT, DIE NICHT ZUR RUHE KOMMT

Kiew ist vielen deutschen Studenten wohl nur durch Medienberichte 端ber die gewaltsamen Proteste vor zwei Jahren bekannt. Wie geht es den Menschen 2015 in der Hauptstadt der Ukraine? Sp端rt man den Krieg im Osten des Landes? pflichtlekt端re-Autorin Stella Venohr war in Kiew und hat geschaut, wie die Menschen dort leben. TEXT&FOTOSSTELLA VENOHR

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In Kiew wird an vielen Stellen den Opfern der Proteste vor zwei Jahren gedacht. Links: Mit Fotos und Kerzen. Oben: Mit Steckbriefen, im Hintergrund der Majdan.

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ange dunkle Haare, ein Strickkleid und ein schwarzer Mantel: Wie die meisten jungen Frauen in Kiew ist Anna Mosyuzenko modern und feminin gekleidet. Die 20-Jährige studiert Literaturwissenschaften, im Nebenjob bietet sie Stadtführungen an. Gerade steht die Studentin auf dem Majdan, dem zentralen Platz der ukrainischen Hauptstadt. Der Himmel ist strahlend blau, gestreift von weißen Wölkchen. Auf einem Sockel thront über dem Platz eine Statue: Berehynja. „Dieses Denkmal ist der Unabhängigkeit unseres Landes gewidmet“, sagt Anna. „Sie trägt typisch ukrainische Kleider und auch der Kalinazweig in der Hand ist landestypisch.“ Trotz des Sonnenscheins ist es kalt, drei Grad über dem Gefrierpunkt. Unter Berehynja versammeln sich Menschen, manche von ihnen tragen Flaggen, Blau-Gelb, die Nationalfarben der Ukraine, Musik ist zu

hören. Normalerweise wird der Majdan durch eine Schnellstraße in zwei Hälften geteilt. Heute fährt dort kein Auto. Es ist Defenders Day. Ein Feiertag, der 2014 eingeführt wurde. Der 14. Oktober erinnert an die gewaltsamen Proteste, die im November 2013 und Februar 2014 auf dem Majdan tobten.

Kiew ist zerrissen zwischen Europa und Russland Vor zwei Jahren protestierten Zehntausende Menschen in der Ukraine zunächst friedlich in Kiew, die meisten waren jünger als 30 Jahre. Grund für die Demonstrationen war, dass die Regierung unter dem pro-russischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch ein Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnen wollte. Die Demonstranten wollten Janukowitsch und sein Regime stürzen. In der Nacht zum 30. November wurden 09

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die Studentenproteste von der Polizei gewaltsam beendet. Im Verlauf der Demonstrationen gab es Hunderte Verletzte und viele Tote, die meisten Quellen sprechen von mehr als 100 getöteten Menschen. Daraufhin gingen noch mehr Ukrainer auf die Straße. Im Februar 2014 wurde Janukowitsch von der Regierung abgesetzt und floh nach Russland. Wenig später wurde das Parlament neu gewählt, aber auch die Halbinsel Krim von Russland annektiert. Seitdem herrscht im Osten der Ukraine Krieg. Im Süden des Platzes erstreckt sich das riesige Hotel Ukraine, früher hieß es Hotel Moskau. Am Defenders Day treffen sich die Menschen hier, um friedlich der Opfer zu gedenken. Es sind skurrile Bilder. Uniformierte Ukrainer marschieren beflaggt über den Platz. Gleichzeitig versuchen junge Männer Touristen mit


weißen Tauben anzulocken und selbst die gelben Minions aus der westlichen Filmwelt stehen zu Werbezwecken auf dem Platz. Trotz des Gedenktages herrscht also das alltägliche Treiben.

Der Krieg tobt im Osten Der Krieg der Ukraine ist nicht mehr in Kiew, er tobt im Osten des Landes: in der Donbass-Region, wo sich pro-russische Separatisten und die ukrainische Armee Gefechte liefern. Es geht um die Abspaltung des Ostens – die Rebellen fühlen sich Russland zugehörig. Im Westen ist es relativ ruhig. Hier erinnern die Menschen sich an die Ereignisse vor zwei Jahren. Es gibt Stellwände mit Fotos der auf dem Majdan verstorbenen Personen. Richtung Parlament stehen 200 Kerzen, dazu Bilder – von jungen Menschen. „Jahrgang 1990 bis 2013“ ist dort zu lesen. Es zeigt, wie jung die meisten Demonstranten waren. Während sich in Deutschland Studenten über Hausarbeiten oder

Oben: Stadtführerin Anna Mosyuzenko spricht vor dem Parlament über die Opfer der Proteste vor zwei Jahren. Unten links: Die Statue des Erzengels Gabriel; für die Kiewer symbolisiert er das Böse.

Praktika den Kopf zerbrechen, haben Studenten in Kiew ihr Leben für die Unabhängigkeit verloren. Studentin Anna Mosyuzenko steht jetzt auf der nördlichen Seite des Majdans unter einem goldenen Tor. Dort wacht die Statue des Schutzpatrons Kiews, der Erzengel Gabriel. Für die Menschen hier ist er inzwischen keine friedvolle Gestalt mehr, sondern erinnert sie an Luzifer. „Die Figur des Gabriels ist schwarz und Engel sind nicht schwarz“, erklärt Anna. „Manche Menschen hier glauben, dass all die schlimmen Sachen auf dem Majdan passiert sind, weil Luzifer und Berehynja sich gegenüber stehen.“ Als Studentin hat Anna es nicht leicht, in Kiew den Alltag zu bewältigen. Zweimal am Tag bietet sie eine dreistün10

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dige Stadtführung an, kostenlos. Sie lebt vom Trinkgeld, pro Monat sind das etwa 250 Euro. In der Ukraine ist es schwer, genug zu verdienen. Die Währung des Landes, die Hrywnja, ist so gut wie nichts mehr wert. Oft sind die Lebenshaltungskosten in der Ukraine zwar niedriger als beispielsweise in Deutschland. Das gilt jedoch nicht für alle Bereiche. „Kleidung ist genauso teuer wie im Westen“, sagt Anna. „Große Modeketten wie Zara oder H&M bieten ihre Produkte hier nicht billiger an.“ Ein weiteres Problem sei auch, wie unbeständig die Währung ist. „Du weißt nie, wie viel Wert dein Geld am nächsten Tag noch hat, musst aber trotzdem deine Miete zahlen. Auch wenn du weniger Geld aus dem Bankautomaten bekommst als im vorigen Monat.“

Viele Studenten möchten nach Deutschland Die wirtschaftlichen Probleme der Ukraine zeigen sich besonders in den kalten Monaten. Die Heizung wird für das ganze Land jedes Jahr erst am 15. Oktober von Präsident Petro Poroschenko freigegeben. Vorher wird es in keinem Haus warm. In der Ukraine ist die Energieversorgung mit einem Fernwärmesystem zentral geregelt.


Am Tag nach dem Defenders Day feiert auch die Universität von Kiew – ihr 400-jähriges Jubiläum. Die Uni ist grau und hat Risse in den Fassaden. Die Fenster sind teilweise gesprungen. Man kann sich kaum vorstellen, dass hier tatsächlich täglich Menschen arbeiten. Trotzdem ist sie eine der berühmtesten Hochschulen des Landes. Im Innenhof tummeln sich Studenten. Der Duft von Pfannkuchen liegt in der Luft, eine Spezialität in Kiew. Langsam wird es dunkel. Es herrscht großer Andrang, denn Präsident Poroschenko hat sich angekündigt. 3.000 Studenten dürfen ihn live auf der Bühne sehen und drängeln sich schon lange vor Beginn der Rede am Eingang. Immer wieder buhen sie den Präsidenten aus. Einzig bei seinen Ausrufen „Slawa Ukraini, Slawa Academia“ – „Gelobt sei die Ukraine, gelobt sei die Universität“ – ist kurzer Jubel zu hören.

Präsident Poroschenko ist nicht beliebt Über Politik spricht der Präsident nicht, eher über die Geschichte der Universität. Petro Poroschenko weiß, dass er nicht sehr beliebt ist bei vielen Studenten, die sich nach einer Annäherung an den Westen sehnen. „Er ist eben ein Wirtschaftsmensch und hat dadurch einen engen Draht zu den Oligarchen“, sagt Dariya Orlova, Dozentin an der Mohyla Journalistenschule in Kiew. Die ukrainischen Wirtschaftsbosse haben laut Dariya noch immer einen großen Einfluss auf die Politik. So müsse sich auch Poroschenko gut mit ihnen stellen und sei deshalb nicht beliebt bei den Studenten.

solle endlich unabhängig von Russland werden. Dazu gehöre auch sprachlich nicht mehr mit der Sowjetunion in Verbindung gebracht zu werden. „Wir möchten nicht ,die Ukraine‘ genannt werden. Denn ein Artikel vor dem Staatsnamen suggeriert, dass das Land aus mehren Staaten besteht.“ Und die Ukraine gehört eben nicht mehr zur Sowjetunion. Kleinigkeiten wie diese lassen überall in der Hauptstadt spüren: Die Mehrheit der Bevölkerung steht Russland kritisch gegenüber – und ist für einen engeren Austausch mit dem Westen. In den Straßen Kiews gibt es eine Schokoladenmanufaktur: Hinter Glas stehen kleine Figuren aus Schokolade. Sie stellen Putin dar, die vorderste ist geköpft. In der nächsten Gasse kann man inmitten von kitschigen Häkeldeckchen und ukrainischem Wodka Toilettenpapier kaufen, das mit einem Foto von Wladimir Putin bedruckt ist.

Dariya Orlova führt durch die Journalistenschule, an der sie als Dozentin über den Wandel in der Ukraine spricht.

Vor zwei Jahren sah es in Kiew nicht so friedlich aus wie auf diesem Bild: Blick von der Sophienkathedrale.

„Das Problem dieses Landes und vor allem auch Poroschenkos: Es gibt zu viele Oligarchen. Sie haben hier in verschiedenen Regionen jeweils unterschiedlich viel Einfluss“, sagt Dariya Orlova. Auch sie wünscht sich eine Annäherung an Europa. Die Ukraine 11

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„In ländlichen Gebieten der Ukraine ist es anders, besonders im Osten sind die Menschen pro-russisch geprägt“, sagt Dariya Orlova. Viele junge Leute in Kiew wollen vor allem eins: weg. Einige lernen Deutsch, sie wollen zum Studieren nach Deutschland. „Ich höre deutsche Musik, Unheilig und Ich+Ich“, erzählt Olga Nowikowa, eine Studentin der Journalistenschule. Sie und ihre Freundinnen sind neugierig auf Deutschland. Besonders wichtig ist ihnen, dass die westlichen Europäer ein gutes Bild von ihnen haben. „Es interessiert sich doch sonst keiner für uns“, sagt Olga. „Ich wünsche mir, dass die Leute sehen, wie schön unser Land eigentlich ist.“ Was also bleibt zwei Jahre nach den Protesten auf dem Majdan? Kiew wirkt einerseits gefangen in Lethargie – gleichzeitig kommt die Stadt nicht zur Ruhe. Die Ukraine ist geprägt von Konflikten. Mit der Orangenen Revolution 2004 gab es schon einmal einen Umbruch im Land. Damals protestierten die Kiewer gegen Betrug bei den Präsidentschafts-

wahlen und verhalfen schließlich ihrem Kandidaten Wiktor Juschtschenko ins Amt – unblutig und ohne Tote. Trotzdem gibt es Parallelen zu den Konflikten vor zwei Jahren. Beide Male gingen die Menschen gegen die Allmacht der Regierung auf die Straße. Welche Wünsche der russlandkritischen Ukrainer konnten umgesetzt werden? Janukowitsch ist weg, die Annäherung an den Westen ist trotzdem ins Stocken geraten. Das Land scheint zerrissen zwischen Russland und Europa. Es ist ein Zerren der Politiker, aber auch eines innerhalb der Bevölkerung. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die die Armut im Land sehen und sich durch Russland Wirtschaftswachstum und Sicherheit erhoffen. Auf der anderen Seite die, die eine unabhängige Ukraine wollen und nicht an das alte System glauben. Menschen wie Stadtführerin Anna: „Vielleicht können wir irgendwann ja doch noch etwas bewegen“, sagt sie. „Dann hätten sich die Proteste im Nachhinein doch gelohnt.“

Ukrainische Geschenkartikel zeigen, wie stark der Wunsch nach Unabhängigkeit ist. Von rechts nach links: Toiletten-papier mit dem Foto von Putin, ein geköpfter Putin aus Schokolade und Teigtaschen in den ukrainischen Nationalfarben, gefüllt mit Kartoffeln oder Käse.

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APROPOS... KRIEGSPROPAGANDA Das Online-Portal Stop Fake aus der Ukraine deckt täglich Falschmeldungen von ukrainischen und russischen Medien auf. Wer steckt dahinter? Die pflichtlektüre hat den Faktenchecker Artem Babak getroffen, der Kriegspropaganda entlarvt. TEXTSTELLA VENOHR FOTOSTOP FAKE

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ussische und ukrainische Medien berichteten in den vergangenen Wochen falsch über einen neuen Gesetzesentwurf. Angeblich soll es Gefängnisstrafen für diejenigen geben, die die ukrainische Regierung kritisieren - ein Fake. Die Kommunalwahlen 2015 in der Ukraine haben eine Rekordzahl an gewalttätigen Ausschreitungen nach sich gezogen, berichteten russische Medien. Auch das: Eine Falschmeldung. Um solchen Manipulationen entgegenzuwirken, haben Studenten 2014 das Online-Portal Stop Fake gegründet. Auf der Internetseite können die Nutzer aktiv werden und mögliche Falschmeldungen an das Team schicken, das sich durch Crowdfunding finanziert. Der Ukrainer Artem Babak ist seit Frühling 2015 Faktenchecker bei Stop Fake, vorher hat er als Journalist gearbeitet. Der 27-Jährige erzählt von dem Informationskrieg in der Region und warum er hofft, dass es die Plattform bald nicht mehr geben muss. Warum wurde Stop Fake gegründet? Anlass war, dass Russland Anfang 2014 die Krim annektiert hat. Damals haben russische und ukrainische Medien begonnen, Lügen über die Ereignisse zu verbreiten. Uns hat sich dann die Frage gestellt, was wir tun können, um solche Propagandalügen aufzudecken.

Warum ist die Plattform so wichtig für die Ukraine? Was bewegt Sie, dafür zu arbeiten? Ich persönlich arbeite für Stop Fake, weil es mir Spaß macht, nach Informationen zu suchen und ich ein Problem damit habe, wenn Journalisten nicht ehrlich arbeiten. Bei diesem Job lerne ich eine Menge, zum Beispiel, Informationen zu verifizieren. Stop Fake nutzt keine Propagandamedien als Nachweis, wie etwa Russia Today oder den ukrainischen Sender STB. Wir arbeiten nur mit belegbaren Quellen, um Falschmeldungen zu entlarven und stellen nur Fakten dar und keine Meinungen. Damit sind wir auch recht erfolgreich: Innerhalb der ersten 18 Monate haben wir mehr als 400 Falschmeldungen aufgedeckt. Was ist die Herausforderung dabei? Es ist nicht immer sofort offensichtlich, ob eine Meldung eine Lüge ist. Manchmal verwendet man eine Menge Zeit darauf, Informationen zu überprüfen und am Ende stellen sie sich doch als wahr heraus. Brauchen wir eine Organisation wie Stop Fake auch in Deutschland? In Deutschland gibt es eine lange Tradition für die Ausbildung von Journalisten und

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den täglichen Umgang mit Medien. Die Qualität dort ist höher und die Medien sind deutlich unabhängiger als die ukrainischen. Fakten zu checken ist ein Handwerk, das jeder Journalist beherrschen sollte. Gibt es Reaktionen auf die Arbeit? In 99 Prozent der Fälle gibt es leider keine Reaktionen von anderen Medien. Nur ganz wenige löschen ihre Falschmeldungen nach unserer Aufdeckung, aber das war es dann auch schon. Wie sieht die Zukunft von Stop Fake aus? Ich hoffe, dass Stop Fake in ein paar Jahren in seiner heutigen Form nicht mehr benötigt wird, weil es dann keine Falschmeldungen mehr von russischen und ukrainischen Medien geben wird. Sobald der Informationskrieg vorbei ist, könnte Stop Fake einfach ein Projekt sein, um Fakten zu checken und Menschen zu zeigen, wie man mit Informationsquellen in den Medien umgeht.


SCHNITZELFREIE ZONE

Drei Unis, drei Studentinnen, drei Ernährungsweisen. Freiwilliger und unfreiwilliger Verzicht. Ob vegetarisch, vegan oder mit Allergien: Wie sich die Unis auf spezielle Ernährungsformen einstellen und was diejenigen davon halten, die darauf angewiesen sind. TEXTCarolin West FotosDaniela Arndt/Christiane Reinert/Carolin WEst/Privat

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chnitzel muss sein – oder? Das gilt nicht für jeden und die fleischlose Ernährung scheint immer beliebter zu werden. Der Vegetarierbund Deutschland geht von etwa 7,8 Millionen Vegetariern und 900.000 Veganern deutschlandweit aus – Tendenz steigend. Diese Entwicklung stellen auch die Unis im Ruhrgebiet fest. „Wir sehen da einen echten Trend zu einer Ernährung mit weniger Fleisch“, sagt Petra Mikolajetz vom Studierendenwerk Dortmund. Sandra

Neumann vom Hochschul-Sozialwerk Wuppertal bestätigt: „In den vorigen zehn Jahren ist die Nachfrage an vegetarischen Gerichten um etwas über 30 Prozent gestiegen.“ Sie vermutet, dass der leicht angestiegene Frauenanteil an der Universität ein Grund dafür sein könnte. Die Studentinnen bevorzugen eher fleischlose Gerichte. Trotzdem überwiegen die Fleischesser weiterhin: „Die Forderung nach einem 14

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größeren veganen und vegetarischen Angebot werden zwar stets energisch vorgetragen. Die Realität an unserer 'Aktionstheke' ist jedoch diese: Bei einem fleischhaltigen Angebot verkaufen wir dort 1200 Mahlzeiten täglich, bei fleischlosen Speisen sind es nur 300 bis 400“, sagt Peter van Dyk vom Akademischen Förderungswerk in Bochum. Trotzdem: Die Unis stellen ihren Speiseplan hinsichtlich der veränderten Essgewohnheiten um.


„AUCH MEINE KLEIDUNG IST VEGAN.“ Einige Nachzügler holen sich noch ihr Mittagessen in der Mensa am Campus Nord in Dortmund. Vor der Theke mit dem veganen und vegetarischen Menü ist alles leer. Emily Messing wählt die Grünkern-Gemüsepfanne mit Tomatensoße. Besonders ansprechend sieht das Gericht nicht aus. „Aber ich hatte Sorge, der Couscous könnte zu matschig sein“, sagt die 21-Jährige lachend, denn das wäre die Alternative gewesen. Die Studentin der Angewandten Literatur- und Kulturwissenschaften ernährt sich seit sechs Jahren vegan.

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mily, du bist nicht direkt von heute auf morgen auf vegane Ernährung umgestiegen? Nein, zunächst habe ich mich fünf Jahre lang vegetarisch ernährt. Als ich mich dann aber ein bisschen mit Tierschutz auseinander gesetzt habe, war vegane Ernährung für mich die logische Konsequenz. Du bist auch bei einer Tierschutzorganisation Mitglied. Richtig. Im Rahmen von Peta2, der Jugendkampagne von Peta, leite ich ein Street-Team in Münster, wo ich wohne, und organisiere verschiedene Aktionen, die Menschen auf das Thema Tierschutz aufmerksam machen sollen. Also ernährst du dich aus ethischen Gründen vegan? Ja, mit Gesundheit hat das gar nichts zu tun. Ein Wollpullover wäre somit auch nichts für dich? Auf keinen Fall, Schafe werden beim Scheren häufig verletzt und immer ganz nackt geschoren, nicht einmal ein bisschen Wolle bleibt dran, das ist gerade im Winter schädlich für die Tiere. Ich trage kein Leder oder andere tierische Produkte. Auch mein Make-up wurde tierversuchsfrei hergestellt. Musst du Nahrungsergänzungsmittel zu dir nehmen? Nur Vitamin B12-Tabletten, weil das das Einzige ist, was man wirklich nur durch tierische Fette bekommt. Vielen veganen Produkten sind auch Nährstoffe beigefügt, sodass man diese dem Körper gar nicht auf andere Weise zuführen muss. Wie ist das Angebot für Veganer an der Uni?

Es gibt viel Auswahl: Brötchen, Nudeln, vegane Pizza und sogar den Burger in der Galerie kann man sich so bauen, dass er vegan ist. An das Salatbüffet traue ich mich nicht so ran, weil das wirklich teuer werden kann. Das ist schade, weil es sehr lecker ist. Musst du häufig nachfragen, ob etwas vegan ist? Nein, die Gerichte sind sehr gut gekennzeichnet, wenn man im Internet oder in der App auf den Speiseplan guckt. Wenn irgendwo die kleine blaue Kugel mit dem Baum drin ist, weiß ich sofort, dass es vegan ist. Wenn du könntest, was würdest du am Mensaessen verbessern? Im Allgemeinen ist die Auswahl echt super. Leider gibt es aber nur ein veganes Wochengericht – für jemanden, der das jeden Tag essen muss, stelle ich mir das ganz schön ätzend vor. Wenn man Glück hat, ist das Veggi Menü aber auch vegan. Leider ist das vegane Essen häufig schlecht gewürzt und der Nachtisch besteht nur aus Dosenobst, da könnte man echt mehr machen. Leidet dein Geldbeutel unter deiner Ernährungsweise? Das kommt auf die eigenen Standards an. Ich kaufe zum Beispiel viel Biogemüse und Obst, weil mir das wichtig ist. Das ist preislich in Ordnung. Wer viele Ersatzprodukte und Fertiggerichte kauft, kommt nicht unbedingt billiger davon, denn die sind häufig teurer als frische Produkte. Ich mache vieles selbst und backe auch sehr gern. 15

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Kaufst du denn Fleischersatzprodukte? Ab und an. Sie sind recht teuer, aber schnell zuzubereiten und schmecken gut. Ich finde Leute albern, die predigen, dass man das nicht essen dürfe. Ich esse kein Fleisch, weil ich es nicht möchte – nicht weil ich es nicht mag. Deshalb finde ich, dass ich getrost etwas essen kann, was mich daran erinnert – ohne dass ein Tier dafür leiden oder sterben musste.

Das bietet die TU Dortmund : • ein täglich wechselndes veg etarisches Menü („Veggi Menü“) in der Hauptm ensa • ein veganes Wochenangeb ot • vegetarische und vegane Spe isen am Salat-, Pasta- und Gemüsebuffet • vegane und vegetarische Pas ta-Gerichte und Pizza in der Food Fakultät • vegetarische und vegane Ang ebote in allen weiteren gastronomischen Ein richtungen auf dem Campus Nachfrage: „Rund zehn bis 15 Prozent der Studenten nehmen das Angebot in Anspruch. Wobei nicht alle dieser Gäste sich zu 100 Prozent vegetarisch oder vegan ernähren. Das Stichwort lautet hierbei: Flexitarier“, sagt Petra Mikolajetz, Sprecherin des Studierendenwerks Dortmund.


„IMMER NUR REISWAFFELN KNABBERN MACHT KEINEN SPAß.“

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ia, wie wurden deine Unverträglichkeiten festgestellt? Nachdem ich vier Wochen mit extremen Bauchschmerzen im Krankenhaus war, bin ich zu meinem Hausarzt gegangen. Der hat bei einem Bluttest einen ziemlich hohen Histaminwert festgestellt. Ich hatte Glück, denn nicht alle Ärzte testen darauf. Ein Magen-Darm-Spezialist stellte daraufhin auch die anderen Unverträglichkeiten fest. Eine Darmkrankheit ist aber auch nicht ausgeschlossen.

Pia Nuyken studiert Lebensmittelchemie in Wuppertal und verträgt selbst kaum ein Lebensmittel: Die 21-Jährige leidet unter verschiedenen Unverträglichkeiten, die jedoch erst vor drei Jahren aufgetreten sind. Pia verträgt keinen Milchzucker (Laktose), keinen Fruchtzucker (Fruktose), kein Sorbit (ein Süßungs- und Feuchthaltemittel der Nahrungsindustrie) und keine Histamine, die sich je nach Lagerung, Reifegrad und Alter der Lebensmittel bilden.

Was darfst du alles nicht essen? Frag lieber, was ich überhaupt essen dürfte. Und was wäre das? Vom Arzt her dürfte ich nur Gurke, Brokkoli, Zucchini, Reis, Nudeln und Kartoffeln essen. Außerdem noch laktosefreie Produkte. Trinken dürfte ich nur Wasser. An Gewürzen vertrage ich eigentlich nur Salz. Mehl geht nur, wenn es kein Roggenmehl ist. Öl zum Braten geht auch. An Obst sind Blaubeeren und Brombeeren ganz okay. Kein Brot, kein Aufschnitt... Nein, nicht einmal Brot darf ich essen. Da hat man dann irgendwann auch keine Lust mehr. Immer nur Reis- und Maiswaffeln knabbern macht keinen Spaß. An Aufschnitt kann ich nur Mortadella essen, wenn sie nicht zu lange an der Luft steht, denn dann bilden sich ganz schnell Histamine. Außerdem darf ich Putenbrust und laktosefreien Käse essen. Was dürftest du auf keinen Fall essen? Fisch ist ganz schlimm. Ansonsten halte ich mich aber nicht wirklich daran. Bis vor drei Jahren konnte ich ja problemlos alles ganz normal essen. Was passiert, wenn du etwas „Normales“ isst? Dass etwas im Essen war, das ich nicht vertrage, merke ich daran, dass ich Bauchschmerzen, manchmal richtige Krämpfe, Kopfschmerzen und eine verstopfte Nase bekomme. Wenn es ganz schlimm ist, kann ich mich kaum bewegen.

Kann man irgendetwas dagegen tun? Es gibt Tabletten, die aber sehr teuer sind. Medikamente gegen Fruktose-Intoleranz gibt es sogar nur im Ausland zu kaufen. Ich habe welche. Aber wegen des Preises nehme ich sie nur, wenn ich zum Beispiel weiß, dass es auf einer Geburtstagsfeier etwas zu essen gibt. Kannst du überhaupt in der Mensa essen? Ich bin dazu gezwungen, von montags bis mittwochs in der Mensa zu essen, weil ich so lange Uni habe. Etwas mitbringen kann ich mir leider nicht, weil sich auf dem Essen Histamine bilden. Wenn es wirklich gar nichts gibt, was ich vertrage, esse ich an der Nudelbar oder hole mir in Das bietet die Bergische Universität Wuppertal: • seit drei Jahren jeden Donnerstag vegane Gerichte in der Mensa • vegane Nudeln und Tomatensoße an der Nudelbar • vegetarische Gerichte täglich außer donnerstags in der Mensa sowie der Cafeteria ME03 und der Kneipe ME04 • Salate in verschiedenen gastronomischen Einrichtungen auf dem Campus Nachfrage: „Die Nachfrage für vegetarische und vegane Gerichte liegt bei 25 bis 33 Prozent“, sagt Fritz Berger, Geschäftsführer des Hochschul-Sozialwerks Wuppertal.

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der Cafeteria ein Brötchen. Und was isst du dann in der Uni? Das, was ich am ehesten vertrage, zum Beispiel Nudeln – meist ohne Soße. Könnte sich die Uni mehr an Allergiker anpassen? Ich denke schon, dass es zum Beispiel mehr laktosefreie Produkte geben könnte. Ich glaube, momentan sind das nur die Kondensmilch und der Joghurt in der Cafeteria. Aber weil im Joghurt Früchte sind, kann ich das auch gleich wieder vergessen. Frische Soßen mit weniger Geschmacksverstärkern wären gut, nicht aus der Dose. Aber viel kann man, glaube ich, nicht machen. Ich kann ja nicht erwarten, dass jetzt in allem nur noch Traubenzucker drin ist, nur weil ich auch keinen Zucker vertrage.


„WER TROTZDEM FISCH ISST, IST KEIN VEGETARIER.“

Gefällt dir das Angebot für Vegetarier? Das Angebot ist sehr gut, ich als Vegetarierin muss jedenfalls nicht verhungern und finde immer etwas Essbares. Sojageschnetzeltes mit Spätzle ist mein Lieblingsgericht in der Mensa. Ansonsten sind aber auch die vegetarischen Pizzen und Nudeln gut. Nur das Sojagyros geht gar nicht. Man muss eben auch schauen, dass man an Nährstoffen alles bekommt, was man so braucht. Heute bringen zum Beispiel die Bohnen die Vitamine, wobei diese hier sehr ölig sind.

Die Essensausgabe der Hauptmensa der Universität Essen ist wie leer gefegt. Alexandra Bünck verzieht das Gesicht, als sie auf der digitalen Anzeige das vegetarische Angebot liest: Maultaschen, fleischlos. „Das ist nun wirklich überhaupt nicht mein Fall“, sagt die 24-Jährige und steuert die Salattheke an. Zum Salat gesellen sich Bohnen und Kartoffeln. Alexandra studiert Philosophie und französische Sprache und Kultur. Seit fünf Jahren ernährt sie sich vegetarisch.

Das bietet die Universität Essen: • mindestens ein vegetarisches und ein veganes Gericht in der Hauptmensa (in den kleineren Mensen ein vegetarisches Gericht, das manchmal auch vegan ist) • vegetarische Pizza- und Pasta-Theke in der Hauptmensa • veganer Nachtisch • Salatbuffets in allen Mensen • vegane Brotaufstriche und asiatische Nudelboxen in den Cafeterien Außerdem wurde die Hauptmensa der Universität Essen im vergangenen Jahr von der Tierschutzorganisation Peta mit einem Peta-Stern als „veganfreundlich“ ausgezeichnet. Nachfrage: „Etwa 30.000 Essen pro Woche, also 20 Prozent der täglich ausgegebenen Gerichte, sind vegan. Daran merken wir, dass die Nachfrage groß ist und passen uns daran an“, sagt Johanne Peito, Sprecherin des Studierendenwerks Essen-Duisburg.

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lexandra, wie kam es zu deiner Ernährungsumstellung? Ich habe immer schon wenig Fleisch gegessen, weil es mir nie so richtig geschmeckt hat – aber wenn, dann qualitativ hochwertiges Fleisch. Mir wurde immer gesagt: „Komm, das Fleisch war so teuer, jetzt musst du auch etwas davon essen.“ Irgendwann habe ich trotzdem bewusst auf vegetarische Ernährung umgestellt. Isst du auch keinen Fisch? Nein, bei Fisch ist ja die Ausrede mancher Vegetarier, dass diese ein geringeres Schmerzempfinden haben. Das sehe ich nicht so. Ich finde, das ist geheuchelt – das sind keine Vegetarier.

Schmeckt das Essen denn? Der Geschmack ist häufig neutral, immerhin muss man hier viele verschiedene Menschen zufriedenstellen. Deshalb stehen beim Besteck auch Salz und Pfeffer zum Nachwürzen. Vielleicht bin ich geschmacklich auch einfach ein bisschen verwöhnt. Ich habe fünf Monate lang bei meinem Onkel gejobbt, der Koch ist. Was würdest du am Essen in der Uni verändern? Oh, es gibt nicht viel zu meckern. Wenn man kleinlich ist könnte man sagen, dass es in der Cafeteria nur vorne ein Schild mit der Preisübersicht gibt. An den einzelnen Gerichten steht aber nichts, sodass man manchmal blind kauft, wenn man das Schild vorne nicht richtig gelesen hat. Außerdem gibt es Crêpes und Waffeln, die, soweit ich weiß, nicht vegan sind. Das ist für die, die sich so ernähren, sehr schade.

Wie sieht es mit Fleischersatzprodukten aus? Die esse ich, weil ich denke, dass da zumindest ansatzweise die Stoffe enthalten sind, die mir sonst fehlen würden. Es gibt zum Beispiel Pseudo-Fleischwurst, die sogar superlecker schmeckt. Isst du häufig in der Uni? Unter der Woche esse ich durchschnittlich zwei Mal in der Mensa. Ansonsten auch gerne einen vegetarischen Döner mit Salat und Schafskäse gefüllt im Café Rosso auf dem Campus. Es kommt häufig darauf an, wie viel Zeit ich habe.

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Wie es Vegetariern in der Mensa der Ruhr-Uni ergeht, erzählt euch Sarah aus Bochum auf unserem Onlineauftritt. Außerdem testet unsere Autorin Caro vegetarische Ersatzprodukte. Hier klicken: pflichtektuere.com/wie-gedruckt


BARGELDLOS DURCH DEN TAG Mit der Währungsreform 2019 wurde das Bargeld abgeschafft, sämtlicher Geldverkehr findet digital statt. Sämtlicher Geldverkehr? Nein: Einige teils illegale Aktivitäten wurden auf eine Parallelwährung verlagert. Ein satirischer Ausblick ins Jahr 2020. TEXTTILL DÖRKEN COLLAGEJULIA SCHINDLER

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arc packt sein Portemonnaie ein. Er hat noch genau einen Schein – seine Erinnerung an das abgeschaffte Bargeld. Nachdem er geduscht und gefrühstückt hat, macht er sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Dort warten bereits drei andere Leute. Als der Bus ankommt, steigen alle ein und halten ihre EC-Karte oder ihr Smartphone vor das Lesegerät. Nur wenige Stationen später verlässt der Erste den Bus wieder. Erneut hält er seine Karte vor das Gerät, welches Ein- und Ausstieg miteinander vergleicht und den entsprechenden Preis automatisch vom Konto abbucht. Wirklich überprüfen

kann der Fahrgast das nicht – aber deutlich gemütlicher als Fahrkarten zu kaufen und dem Kontrolleur zu zeigen, ist es allemal. Das reicht den meisten.

Jeder Kauf kann überwacht werden Nachdem Marc am Hauptbahnhof ausgestiegen ist, eilt er zum Gleis. Unterwegs kommt er an einem Bettler vorbei. „Kannst du mir’n bisschen Kleingeld fürs Frühstück überweisen?“, fragt der. „Keine Zeit, sorry“, sagt Marc, winkt ab und hastet weiter. 18 job

Als er an seinem Gleis ankommt, sieht er auf der anderen Seite zwei Polizisten, die einen Mann durchsuchen. Nach und nach holen sie aus seiner Jacke immer mehr kleine Karten heraus – Gutscheine. Die Polizisten nehmen ihn mit auf die Wache. Die Gutscheine hatten sich nach der Abschaffung des Bargeldes als Alternative zur Kartenzahlung durchgesetzt, waren jedoch schnell für illegal erklärt worden. Offizieller Grund dafür war, dass sich diese zu einfach fälschen ließen. Es hält sich jedoch hartnäckig das Gerücht, dass die Regierung die fehlende Überwachung verhindern wollte.


Marc braucht noch Zigaretten. Beim Automaten am Bahnsteig wählt er eine große Packung und bezahlt mit seiner Karte sechs Euro. Kaum ist das Geld überwiesen, vibriert sein Handy. Er runzelt die Stirn und guckt aufs Display: „Sehr geehrter Kunde! Mit Bedauern teilen wir Ihnen mit, dass wir Ihren Krankenkassenbeitrag erhöhen mussten, da Sie am Donnerstag, 6. Juni 2020, um 10:27 Uhr Zigaretten gekauft haben. Diese gehören offiziell zu den gesundheitsschädlichen…“ Er hört auf zu lesen. In den vergangenen Jahren war die Menge der Daten, die die Krankenkassen erhielten, immer schlimmer geworden. Aber seit das Bargeld abgeschafft wurde, wird nahezu alles überwacht, was man sich kauft.

das umständliche Zusammensuchen von Münzen und Scheinen, sodass Marc der Alltag ohne Bargeld doch deutlich entspannter vorkommt.

Gutscheine als Parallelwährung

Nach der letzten Vorlesung kommt Marius auf ihn zu: „Ey, gehen wir noch inne Kneipe?“ Marc nickt und mit Lena und Maike machen sie sich auf den Weg ins Spunk. Bei jeder Runde, die bestellt wird, vibrieren am Tisch mehrere Handys. „Ja, ja, die Krankenkasse“, sagt Marc. Alle lachen. Mittendrin fragt Marius: „Sagt mal Kinder, hat jemand von euch zufällig noch irgendwas dabei, was ich gegen Weed tauschen kann?“ Der Drogenhandel läuft seit der Reform nur noch auf Tauschbasis, da es zu riskant wäre, Geld zu überweisen. Zu groß die Gefahr, dass die Polizei die Datenspuren verfolgt. Meist wird gegen Dienstleistungen getauscht – oder, wer hat, Edelmetalle.

Auf der Zugfahrt fährt Marc an vielen Werbeplakaten vorbei, die die Vorteile der digitalen Zahlungsmöglichkeiten anpreisen: Zahlungen übers Handy, Zahlungen über die Karte, Zahlungen über die Digitaluhr – die Möglichkeiten seien schnell, einfach und schlicht unbegrenzt. In der ersten Vorlesung funktioniert – wie immer – der Beamer nicht. Marc döst etwas. Als die Vorlesung vorbei ist, wird er von seinen Freunden geweckt und zusammen gehen sie in die Mensa. Ohne Vertreter der Kategorie: „Warten Sie, ich hab die 87 Cent klein“ kommt man ruckzuck an der Kasse vorbei. Oft schon hat Marc sich gefragt, ob das wirklich alles besser ist. Denn die gesammelten Daten können von Jedermann bei den Banken erworben werden. Marc wurde schon mehrfach von seiner Mutter angepfiffen, weil er in der Mensa zu viele Fleischgerichte esse. Aber das Bezahlen mit Karte geht einfach viel schneller als

Danach geht er in die Cafeteria und holt sich einen Kaffee für die Vorlesung. Er bezahlt und die Kasse zeigt den Restbetrag auf seinem Konto an. Viel ist nicht mehr drauf. Zwar arbeitet er neben dem Studium schwarz in einer Restaurantküche, allerdings kann ihm sein Chef den Lohn ohne Bargeld nicht auszahlen, ohne aufzufallen. Stattdessen erhält Marc nach jeder Schicht einige Gutscheine für das Restaurant. Davon kann er zwar dort essen – aber das Geld fehlt auf dem Konto. Immerhin reicht das bisschen Bafög, das er erhält, zum Überleben aus.

Um kurz nach halb zwei schließt die Kneipe. Marc und Marius fahren mit dem Taxi nach Hause. Am nächsten Morgen werden die beiden von Marcs klingelndem Handy geweckt. Verschlafen nimmt er den Anruf an.

Bald schon Realität? Was hier als satirisches Zukunftsszenario dargestellt wird, deutet sich in Schweden immer mehr an. Unter dem Slogan: „Bargeld braucht nur deine Oma und der Bankräuber“ machen sich einige Ökonomen für die Abschaffung des Bargeldes stark. Damit soll der Markt für Drogen sowie Schwarzarbeit lahmgelegt werden, zusätzlich die Anfälligkeit gegenüber Banküberfallen reduziert werden. Nahezu alles kann man in Skandinavien mittlerweile mit Karte zahlen: vom Bier in der Kneipe bis hin zur Obdachlosenzeitung auf der Straße. Andere Ökonomen fürchten hingegen zunehmende Überwachung, ansteigende Inflation und ein nicht zu überblickendes Chaos, in dem Fremdund Parallelwährungen Einzug ins Land halten. Zentralbanken könnten große Verluste machen und die Inflation stark ansteigen, da die Geldmenge sich nicht begrenzen lassen würde.

Es meldet sich ein Mann. „Polizeikommissariat hier, Neumann mein Name. Gestern Nacht wurde nahe der Uni eine junge Dame überfallen und wir haben bemerkt, dass Sie etwa zur selben Zeit dort in ein Taxi gestiegen sind. Haben Sie dabei irgendetwas Auffälliges bemerkt?“ Marc verneint. „Wir müssen Sie dennoch bitten, auf die Wache zu kommen, damit das Opfer Sie als Täter ausschließen kann. Putzen Sie sich die Zähne, der Kollege wartet vor der Tür.“ Genervt guckt Marc seinen Kumpel an. Auch dessen Handy klingelt, er erhält den gleichen Anruf. Auf der Wache entlastet die Überfallene beide. Als sie eine knappe Stunde später wieder zu Hause sind, guckt Marc seinen Kumpel an: „Teilweise ist das ja echt unheimlich, was die alles wissen, oder? Wenn das nicht alles so bequem und einfach wäre.“

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angegafft und ausgestellt Pornografie ist allgegenw채rtig, aber f체r viele immer noch ein Tabu. Anglistik-Dozent Christian Lenz will das 채ndern. Er holt erotische Literatur in den Seminarraum. Im Interview spricht er 체ber den Zweck und die Zukunft des Pornos. TEXTLara Mertens FotosJulia Schindler

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err Lenz, in der Uni setzen Sie sich wissenschaftlich mit Pornos auseinander. Die meisten Menschen reagieren ungläubig, wenn sie von Ihren Seminaren hören. Ich habe mich im Zuge meiner Dissertation mit Liebesbeziehungen beschäftigt und festgestellt, dass die Beziehung zwischen Liebe und Sex in unserer Gesellschaft zunehmend verklärt wird. Gerade durch Erfindungen wie Tinder wird Liebe sehr stark vom Körperlichen getrennt.

Liebe ist das, was wir fühlen, aber unser Körper funktioniert eigenständig. Dann habe ich im Seminar „A History of Pleasure and Perversion“ mit den Studenten darüber gesprochen, was für uns schön ist im sexuellen Bereich und was wir als pervers betrachten würden. Und allein dieser Kurs hat schon sehr viel Anklang gefunden. Sex ist ein wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft. Erotische Literatur gehört zur Allgemeinbildung dazu, ich finde das wichtig. Es sollte keine Tabus 21

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geben in der Universität. Nichts sollte nicht gelehrt werden dürfen. Gilt das auch für Sprache? Sollte man in der Uni Begriffe verwenden dürfen wie „fucking“ oder „pussy“? Aufgeklärt sollte man alles machen dürfen. Und wenn man der Meinung ist, dass „fucking“ in dem Moment der richtige Begriff ist, kann man das natürlich auch sagen. Manchmal macht man eben keine „Liebe“.


Aufschrei: „Oh, das ist ja ganz was Neues mit Sado-Maso-Praktiken.“ Die sind schon Jahrhunderte bekannt, und der Marquis de Sade hat es um 1800 noch viel weiter getrieben, aber trotzdem hat E. L. James mit ihrem Buch überrascht. Was mich wiederum überrascht hat. Man möchte sich nicht zugestehen, dass man mehr kennt, und das führt dann zu Aufschreien. Ist das Schockierende an Fifty Shades nicht, dass es von so vielen gelesen wird? Schockierend war es tatsächlich nur für die Leute, die das Internet nicht ausführlich durchforsten, weil Fifty Shades komplett im Internet entstanden ist. Damals hat E. L. James ihre Leser gefragt: Was möchtet ihr lesen? Die Leute konnten partizipieren an der Geschichte von Anastasia. Die, die nur gedruckte Bücher lesen, waren schockiert, dass so etwas auf einmal im Laden auftaucht, während der Rest von uns mit Technik aufgewachsenen Menschen wusste: Ja, das ist da. Für mich war dieser Schock, der durch die Literaturbranche und durchs Feuilleton gegangen ist, ein Zeichen dafür, dass dort mehr über den eigenen Tellerrand geschaut werden muss.

Sie sagen, Pornografie ist allgegenwärtig. Welchen Einfluss hat es auf die Gesellschaft, was wir in Pornos zeigen? Man kann sehr stark sehen, wie Pornos ein gewisses Schönheitsideal zeigen, auch weil sie vornehmlich aus Amerika kommen: Großbusige Frauen, durchtrainierte Männer mit einem riesigen Penis, haarlose, fast schon kindlich anmutende Vaginen. Man sieht auch, dass wir dem Folge leisten. Wenn Jugendliche das sehen und nicht darüber gesprochen wird, gehen sie davon aus, dass ihr Körper so aussehen muss. Was definitiv zu psychologischen

Problemen führen kann. Abgesehen von Schönheitsidealen: Mittlerweile gibt es so viele Unterkategorien. Es gibt den Gonzoporno, es gibt den Amateurporno, viele Leute möchten sich zeigen. Das ist ein neuer Exhibitionismus, der im Porno stark vertreten ist, den wir auch bei Facebook haben. Gerade im Internet ist die Maxime zu beobachten: Ich möchte dafür bewundert werden, was ich mache. Gibt es überhaupt noch Tabus? Als 2011 der Roman Fifty Shades of Grey herauskam, gab es auf einmal einen 22

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Warum sind Gewalt und Machtverhältnisse so zentrale Motive in der Pornografie? Sex muss immer in beidseitigem Einverständnis passieren. In pornografischen Texten und Filmen entsteht dennoch meist ein Machtgefälle, was mit den intendierten Zuschauern zu tun hat. Die Frau wird sehr oft als vom Mann dominiert gezeigt, weil sich der Porno zu einem sehr hohen Maß an männliche Zuschauer richtet. Sind diese Geschlechterverhältnisse denn realistisch? Ein schönes Beispiel ist da die Stripperin. Wir würden immer sagen, dass die Stripperin objektifiziert wird, sie wird angegafft, ausgestellt. Aber letzten Endes obliegt es der Stripperin, ob sie sich auszieht. Und dadurch ist sie in einer Machtposition. Ich verstehe durchaus, wenn Frauen sagen, dass ihr Geschlecht im Porno objektifiziert wird. Das ist definitiv der Fall. Ich finde allerdings, das ist


zu einfach. Wie verhält es sich dann zum Beispiel bei lesbischer Pornografie? Schockiert Sie noch irgendetwas? Ja, tatsächlich. Es gibt einen Roman aus dem viktorianischen Zeitalter in England, der in seiner Darstellung von Vergewaltigung und Frauenfeindlichkeit bisher das Extremste war, das ich gelesen habe. Darin wird eine Frau von zwei Männern vergewaltigt, und das nur, um ihr zu zeigen, dass sie nichts wert ist. Die Vergewaltigungen ziehen sich teilweise über mehrere Tage und sind sehr grafisch geschildert. Das hat mich geschockt, und darüber war ich wiederum selbst überrascht. Aber vielleicht ist es gut, dass wir noch geschockt werden können, dass wir noch erkennen: Wir haben Grenzen. Das macht uns ja schließlich menschlich.

Was sagen Sie Leuten, die Pornografie für gefährlich halten? Wenn die Moralhüter sagen, dass Pornografie unsere Gesellschaft zerstört, ist das einfach falsch. Noch sind wir alle da. Noch haben wir ein Konstrukt, das man

durchaus Gesellschaft nennen kann. Was ich auch festgestellt habe: Unsere Suche nach Liebe ist wesentlich stärker geworden, weil wir immer nur den sexuellen Akt gezeigt bekommen. Wir haben ein starkes Bedürfnis nach Zwischenmensch-

CHRistian lenZ ist Dozent für Britische Literatur- und Kulturwissenschaften und forscht seit 2008 zu den Themen Liebe, Postmoderne Literatur und Horrorliteratur. Seit einem Jahr bietet der 32-jährige außerdem Seminare zum Thema Pornografie und erotische Literatur an. Die Studenten besprechen und analysieren pornografische Literatur und Filme und schreiben selbst. So heißt ein Themenblock zum Beispiel „Creative Writing: Hard Core Porn“. Teilnehmen kann, wer Englisch oder Angewandte Literatur- und Kulturwissenschaften studiert. Dieses Semester gibt es sogar zwei Termine für „Spilling Ink“ – eine Warteliste gibt es trotzdem.


Lexikon Marquis de Sade: Französischer Romanautor des 18./19. Jahrhunderts, auf den der Begriff des „Sadismus“ zurückgeht. In seinen Werken verband er pornografische und philosophische Elemente, sie wurden deshalb immer wieder zensiert.

lichkeit. Die kann durch Sex natürlich gestärkt werden, aber wir wollen tatsächlich mehr den Menschen, nicht nur den Körper. Ein dänischer Forscher hat vor einiger Zeit gefordert, dass man Pornos schon in der Schule auf den Lehrplan setzen sollte. Würden Sie das unterschreiben? Es sollte viel mehr Aufklärung betrieben werden, um dem Porno auch dieses glorifizierte Sexuelle zu nehmen. Dieses Perfekte-Körper-Haben, perfekter Sex, der perfekt lange dauert, und alle kommen – das passiert so nicht. Was ist für Sie Sinn und Zweck von Pornografie? Ich denke, dass Pornografie uns andere Seiten zeigen kann. Im Sinne von dem, was vielleicht in uns schlummert, ohne dass wir es wissen. Dass wir in uns Gelüste haben, die wir vielleicht gar nicht formulieren können. Pornografie kann uns helfen, diese zu identifizieren. Bei lesbischer und schwuler Pornografie zum Beispiel: Man weiß vielleicht, dass man tief in sich drin nichts mit Heterosexualität anfangen kann. Und gerade solche Pornos schaffen dann, sowohl geschrieben als auch gefilmt, Normalität. Man sieht: „Diese Leute, die so sind wie ich, haben Spaß, sie werden nicht vom Blitz getroffen und zeigen eine Sexualität, die genauso schön und natürlich ist, wie jede andere Art.“ Das gilt auch für den SM-Bereich. Schmerzen können auch ein Ausdruck von Körpergefühl sein, können

eine bestimmte Lust hervorrufen. Man sollte es allen zugestehen, diese Lust zu empfinden, und Pornografie kann in diesem Moment befreiend sein. Selbst wenn ich mir eine kleine Subkultur suchen muss, in der ich meine Gelüste auslebe. Aber diese Filme und Bücher zeigen: Es gibt sie. Da hat sich jemand anders schon Gedanken drüber gemacht. Das ist wichtig. Was sagen Pornos über unsere Zeit aus? Pornografie hat immer schon einen gewissen Stellenwert in unserer Gesellschaft gehabt. Manchmal stellt man fest, dass sie zu präsent ist und fährt sie dann wieder herunter. Das ist immer eine Aufund Ab-Bewegung, aber konstant ist die Tatsache, dass Pornografie bleibt. Und wo befinden wir uns gerade in dieser Bewegung? Das kann man tatsächlich immer erst rückwirkend sagen, wenn sich wieder eine starke Gegenbewegung entwickelt hat. Aber wir sind schon recht pornografisiert. Durch Internetplattformen haben wir sehr viel und sehr schnell Zugang zu Pornografie. Wir lernen so aber auch mehr das Zwischenmenschliche zu schätzen. Pornografie von Liebe zu trennen, ist natürlich einerseits richtig, weil es zwei verschiedene Dinge sind: Das eine ist der Lust geschuldet, das andere der Emotion. Aber auf der anderen Seite zeigt uns Pornografie auch, wie wichtig Liebe ist: Wir können nicht nur allein der Lust nachgehen. 24

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E. L. James: Autorin der 2011 erschienenen Erotik-Roman-Trilogie Shades of Grey, deren erster Teil 2015 in die Kinos kam. Das Besondere an der Reihe sind die Schilderungen von BDSM-Sex zwischen der Studentin Anastasia und dem Unternehmer Christian Grey. Bei den Kritikern kam das Buch eher schlecht weg, bei den Lesern dagegen umso besser: Die Bücher führten in mehreren Ländern die Bestsellerlisten an. Gonzo-Porno: Pornofilm-Genre, bei dem der Zuschauer sich ins Geschehen hineinversetzt fühlen soll. Dafür sorgen zum Beispiel Nahaufnahmen der Genitalien, außerdem nimmt der Kameramann oft am Geschehen teil. Plot und Dialoge sind, wenn überhaupt vorhanden, eher nebensächlich.

Was glauben Sie: Wie werden Pornos in 30 Jahren aussehen? Ich glaube, es ist drei Jahre her, da gab es den ersten 3D-Porno, der komplett ausverkauft war. Ich glaube, dass sich das weiterentwickeln wird. Es gibt jetzt schon Vorrichtungen, in die man den Penis einführt und sich damit selbst befriedigt. Das soll sich dann anfühlen wie eine menschliche Körperöffnung. Die kann man unter Tablets montieren und sich dann einen Porno angucken, der aus der Ich-Perspektive gefilmt ist. Die Technologie wird viel mehr mit unserem Körper verschmelzen. Das wird auch den Porno sehr beeinflussen. Irgendwann werden wir uns selbst in Pornos implementieren können. Aber das ist futuristisch, utopisch vielleicht.


WHISKEYRAP UND STUDIUM Wenn Viktor Bertermann nicht gerade als Prezident durch Deutschland tourt, studiert er Germanistik und Geschichte auf Lehramt. Beides unter einen Hut zu bringen, ist kein leichtes Unterfangen. TEXTTILL DÖRKEN FOTOVIKTOR BERTERMANN

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rezident bietet Anhängern seiner Musik seit rund zehn Jahren „die letzte Ölung aus dem Tetrapack“. Was er selbst als Whiskeyrap bezeichnet, ist Rap, gespickt mit Referenzen zu Charles Bukowski, Marquis de Sade und Michel Foucault; alkoholgetränkt, misanthropisch und dargeboten über düsteren Produktionen. In einem seiner Tracks beschreibt er seine Art zu rappen mit: „Texte schreiben wie Adorno, aber reden wie Ömmes“. Gestatten? Viktor Bertermann.

Den Abschluss seines Studiums behält er trotzdem im Blick: „Ich hoffe, dass ich nächsten Sommer mit dem Studium fertig bin.“ Sein Plan dürfte jedoch mit dem kollidieren, den er für sein Alter Ego Prezident hat: Während der Klausurphase tourt er durch Deutschland, im Gepäck sein 2016 erscheinendes Album „Limbus“. „Da muss ich dann mal gucken, wie ich beides deichsle’. Die Klausuren sind schon machbar, aber ich muss halt da in der Uni sein.“

Zum Rap kam der Wuppertaler als 13-Jähriger. Mittlerweile ist er 30 und schließt sein 2005 begonnenes Germanistik- und Geschichtsstudium auf Lehramt ab an der Bergischen Universität Wuppertal. Ein paar Klausuren und die Diplomarbeit stehen noch aus. „Als ich damals das Studium angefangen hab’, hab’ ich mir natürlich vorgestellt, dass das alles schneller geht“, sagt er.

Obwohl er dank seiner Musik über die Runden kommt: Viktor fällt als Rapper nach wie vor in die Kategorie „Geheimtipp“. Ärgern tut ihn das nicht. „Großer Durchbruch ist ja eh relativ“, sagt er. „Ich guck da eher, was realistisch ist und orientiere mich daran. Mit Künstlern wie Cro vergleich’ ich mich gar nicht.“

Dass dem nicht so ist, verdankt Viktor seinem früheren Job als Kneipenkoch und seiner Musik, die er bis 2013 kostenfrei auf seiner Webseite www.whiskeyrap. de vertrieb. Mittlerweile kocht Viktor nur noch privat und verdingt sich als Rapper. Von Artwork über Booking, Merchandise und Vertrieb kümmert er sich um alles selbst. Teilweise muss er wegen der Bestellungen über seinen Online-Shop zwei Mal täglich zur Post. Während der Stoßzeiten, etwa nach einem Albumrelease, kommt es mitunter zu drei- bis vierhundert Bestellungen an zwei Tagen. „Das ist dann schon gut Arbeit.“

Sein Maßstab sind Rapper wie der Münchener Fatoni, der mit seinem Album „Yo, Picasso“ Ende November in den Top 30 der Charts gelandet ist. Wie es für Viktor nach der Uni weitergeht, weiß er noch nicht. „Als verbeamteter Lehrer würde ich auf lange Sicht natürlich besser verdienen als im Rap.“

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Anders sieht das mit einem Job im geisteswissenschaftlichen Bereich an der Uni aus: „Da wäre es lustigerweise rein geldtechnisch vernünftiger, mich voll auf Rap zu konzentrieren.“ Mal abwarten.


stilles stUdiUm Der Anteil von gehörlosen Studenten an deutschen Unis liegt bei weit unter einem Prozent. Einer dieser Studenten ist Alex Claußen. Ein mobiler Dolmetscher hilft ihm in seinem Uni-Alltag. Ohne den würde er in den Vorlesungen kaum etwas verstehen. TEXTSVENJA KLOOS FOTOSRAMESH KIANI

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uten Morgen zusammen. Bevor wir starten, will ich noch ein paar Zahlen an die Tafel schreiben, damit wir verstehen, warum die Dinosaurier gestorben sind.“ Grinsend schiebt Alex mir einen kleinen Zettel zu. „Er fängt immer mit Physik an, dann erst Mathe“, steht da. Währenddessen setzt der Dozent seine Ausführungen über Meteoriten, Uran und TNT an der Tafel fort. Dabei spricht er in ein kleines Mikrofon, das an seinem Hemd befestigt ist. Jedoch nicht, damit die Studenten ihn besser hören können – dafür ist der Hörsaal an der Fachhochschule Bochum klein genug. Sondern für Alex. Über das Mikro und mithilfe des Internets wird das Gesagte an einen Dolmetscher übertragen, der nicht vor Ort ist. Fast zeitgleich fertigt dieser eine Mitschrift an, die in rasender Geschwindigkeit auf dem Display von Alex‘ Smartphone erscheint. So kann

der 22-Jährige, der seit seiner Geburt an Taubheit grenzend schwerhörig ist, die Vorlesung verstehen. Wenn ich etwas von ihm wissen möchte, kritzle ich meine Frage auf ein Blatt Papier. Er schreibt die Antwort darunter, denn das Sprechen fällt ihm schwer. Schließlich kann Alex nicht hören, wie Laute klingen. Und ich beherrsche keine Gebärdensprache. Mittlerweile ist der Dozent beim eigentlichen Thema der Sitzung angekommen: Differentialrechnung. Immer wieder dreht er sich zur Tafel um und schreibt etwas an – auf dem Bildschirm des Smartphones steht nun „(rechnet…)“. „Anfangs hatte ich keinen Dolmetscher, deshalb habe ich eine Menge Infos verpasst“, schreibt Alex, der im fünften Semester Geoinformatik an der FH Bochum studiert, nach der Vorlesung. Wir sind von Zettel und Stift auf meinen Laptop umgestiegen. „Ich habe versucht, von den Lippen abzulesen, das hat aber meist nur für zehn Minuten geklappt. Danach war es

zu anstrengend und ich habe nicht mehr zugehört.“ Denn selbst wenn er von den Lippen liest, heißt das nicht, dass er alles versteht. Meistens bekommt er nur jedes fünfte Wort mit und schätzt den Inhalt dann aus dem Zusammenhang sowie der Mimik und der Körpersprache seines Gegenübers. Oft habe er Kommilitonen gefragt, ob sie ihm die fehlenden Informationen geben oder ihm ihre Mitschriften schicken könnten. „Meine Mitstudenten hatten Verständnis und darüber war ich sehr froh. Aber es hat trotzdem nicht gereicht. Später bin ich dann gar nicht mehr zu Vorlesungen gegangen.“ Für ihn sei es sinnlos gewesen, einfach dort zu sitzen und über 90 Prozent nicht mitzubekommen.

„In den Pausen schreibe ich den anderen bei WhatsApp.“ Das hat sich Mitte des zweiten Semesters geändert: Seitdem nutzt Alex das Angebot eines Unternehmens, das Ferndolmetscher an Gehörlose vermittelt. Bereits im Sommer 2011 ist er bei einem Jugendfestival für Hörgeschädigte in Berlin darauf aufmerksam geworden. Den Flyer, den er damals mitgenommen hat, hat er allerdings erst knapp drei Jahre später in einem Ordner wiedergefunden. Während der Vorlesung gibt es für Alex seitdem zwei Möglichkeiten: Er kann entweder ein Gebärdensprach-Video auf seinem Smartphone oder Tablet sehen oder eine Live-Mitschrift bekommen. „Das Problem bei einem Gebärdensprachdolmetscher

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ten Mitarbeiter, aber das ging trotzdem.“ Denn wenn nur eine Person langsam mit Alex spricht, kann er verstehen, was sie sagt und ihr in Lautsprache antworten. Vor allem, weil er im Laufe der Zeit gelernt hat, seine Kollegen einzuschätzen und ihre Mimik und Gestik besser einordnen konnte.

ist, dass ich ihm die ganze Zeit zuschauen müsste und nicht gleichzeitig von der Tafel abschreiben kann. Außerdem gebärdet jeder Dolmetscher etwas anders.“ Deshalb bucht Alex ausschließlich Schriftdolmetscher.

den mobilen Dolmetscher nur hin und wieder verwendet. „Meistens arbeite ich mit einem anderen Studenten zusammen. Wir schreiben dann einfach am PC, statt zu sprechen“, erzählt er mir, indem er auf der Tastatur meines Laptops tippt.

Nach Absprache kann er die Mitschriften behalten. So kann er später nachlesen, was besprochen wurde. Auch während der Vorlesung scrollt Alex immer wieder hoch, schaut nach, was er so schnell nicht mitbekommen hat. Nur wenn ein Kommilitone etwas sagt, kann Alex nicht mitlesen. Dann erscheint auf dem Bildschirm „(Teilnehmer spricht…)“. Das Mikrofon, das der Dozent an seinem Hemd befestigt hat, ist nicht so sensibel, dass es Stimmen aus dem ganzen Hörsaal aufnehmen kann. Neben den Vorlesungen stehen Pflichtpraktika und Übungen auf seinem Stundenplan, in denen er

Schulen auf Gehörlose ausgerichtet Inzwischen hat Alex sich an das Uni-Leben gewöhnt. Zu Beginn seines Studiums fiel es ihm jedoch nicht leicht, sich an der FH zurechtzufinden. Er ist in der Nähe von Bremen aufgewachsen und auf eine Schule für Hörgeschädigte gegangen, an der er seinen Realschulabschluss gemacht hat. Während seiner Ausbildung zum Bauzeichner hatte er anfangs einige Kommunikationsprobleme. Diese haben sich jedoch schnell gelegt. „In der Firma gab es zwar keine anderen hörgeschädig27

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Die zwei siebenwöchigen Schulblöcke während der Ausbildung absolvierte er am Rheinisch-Westfälischen Berufskolleg Essen, das auf gehörlose Azubis eingestellt ist. Dort hat Alex im Anschluss auch sein Fachabitur gemacht – in einer Klasse mit nur acht gehörlosen Abiturienten. Mit ihnen konnte er die ganze Zeit gebärden. Damit war an der FH Schluss. „Plötzlich musste ich mit hörenden Leuten zurechtkommen. Es war nicht leicht für mich. Gerade, wenn viele durcheinander sprechen, kann ich der Kommunikation nicht folgen. Damit es schneller geht, schreibe ich mit Mitstudenten in den Pausen bei WhatsApp“, tippt Alex. Auf ein Studium zu verzichten, kam für ihn nicht in Frage. „Nach dem Fachabi hatte ich einfach Lust, neue Erfahrungen zu sammeln und zu sehen, wie weit ich komme. Nach zwei Semestern habe ich mich entschieden, weiter zu studieren.“ Alex hat die gleichen Leistungsanforderungen wie seine Kommilitonen. Lediglich einen Nachteilsausgleich kann er in Anspruch nehmen, sodass er für


Klausuren mehr Zeit bekommt und mündliche Prüfungen schriftlich ablegen darf. Einmal hat er anstelle einer mündlichen Prüfung eine Hausarbeit über die Einschränkungen und Herausforderungen gehörloser Studenten verfasst. „Da ich einige Klausuren aus den ersten zwei Semestern nachholen muss, werde ich allerdings nicht nach sieben, sondern wohl erst nach neun Semestern fertig sein“, schreibt er.

Über 3.000 Euro im Monat für einen Ferndolmetscher Das bedeutet auch zwei Semester mehr, in denen Alex den Ferndolmetschdienst brauchen wird. Die Kosten für das Angebot übernehmen häufig Sozialleistungsträger oder das Integrationsamt. Im Fall von Alex wäre das der Landschaftsverband Rheinland (LVR). Das Problem: Er hat schon eine abgeschlossene Ausbildung und seine Familie ist recht vermögend. Die Chancen, dass der Antrag angenommen würde, stehen also sehr schlecht.

Deshalb haben er und sein Vater entschieden, es gar nicht erst zu versuchen. Die Gebühren für den mobilen Dolmetscher werden für jeden Nutzer individuell berechnet, je nachdem, welche Leistungen er bucht. Alex zahlt 42,50 Euro pro 45 Minuten Schriftdolmetscher, plus 15 Euro monatlich für die Software und eine geringe Ausleihgebühr für die Geräte. Dazu zählen das Mikrofon und ein Empfängergerät, das er an sein Smartphone oder sein Tablet anschließt. Bei durchschnittlich neun Einheiten pro Woche, in denen er einen Ferndolmetscher braucht, sind das über 3000 Euro im Monat. „Das ist immer noch günstiger als ein Gebärdensprachdolmetscher vor Ort, der jedes Mal extra kommen müsste“, schreibt Alex. Die Fachhochschule selbst stellt keinen Gebärdensprachdolmetscher, da zu hohe Kosten entstehen würden. Für zukünftige gehörlose Studenten in Deutschland wünscht Alex sich deshalb eine Uni, die speziell auf ihre Behinderung ausgerichtet ist. Denn bislang ist die Gallaudet University in Washington D.C. die einzige Hochschule, die alle Kurse in Gebärdensprache anbietet. Er selbst würde nach dem Studium gerne ein Jahr lang durch Neuseeland oder ein anderes englischsprachiges Land reisen und arbeiten. Um sich dort mit Gehörlosen zu verständigen, muss er die internationale Gebärdensprache können. Teilweise beherrscht er sie schon, einige Gebärden muss er aber noch dazulernen. Englisch hatte er ab der fünften Klasse in der Schule, sodass Lesen und Schreiben der Sprache kein Problem sind. Als der Mathe-Dozent im Hörsaal der Fachhochschule Bochum das Kapitel über Differentialrechnung abschließt und die Vorlesung beendet, schreibt Alex seiner Dolmetscherin – heute war es Ingrid – im Chat eine kurze Nachricht. „Dozent ist fertig.“ – „Alles klar, dann bis bald.“ – „Bis bald und danke .“

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Was diese Dolmetscher alles können müssen Das Ferndolmetsch-Unternehmen, das Alex nutzt, heißt VerbaVoice. Deutschlandweit ist es das einzige, das die Auswahl zwischen einem GebärdensprachVideo und einer Live-Mitschrift auf einer Plattform anbietet. Aktuell arbeiten etwa 200 Gebärdensprach- und Schriftdolmetscher für VerbaVoice. Die Mitarbeiter versuchen bei der Einteilung der Dolmetscher darauf zu achten, dass diese sich in dem Fach, das sie übersetzen sollen, ein wenig auskennen. Ist das nicht möglich, wird geguckt, wer Zeit hat. Geht es um das Übersetzen im Fremdsprachenunterricht, sind Vorkenntnisse zwingend erforderlich. Wer selbst dolmetschen möchte, muss bestimmte Kriterien erfüllen: Ein Gebärdensprachdolmetscher muss eine staatliche Prüfung abgelegt haben; ein Schriftdolmetscher eine gewisse Zeichenzahl pro Minute tippen, Aussagen zusammenfassen und Wörter sinnvoll abkürzen können. In Zusammenarbeit mit dem Sprachenund Dolmetscherinstitut München (SDI) und dem GIB (Gesellschaft.Inklusion. Bildung) Nürnberg bildet VerbaVoice Schriftdolmetscher auch selbst aus – die Ausbildung müssen die Teilnehmer allerdings selbst finanzieren. Mehr Informationen über die Ausbildung zum Schriftdolmetscher gibt es hier: verbavoice.de/dolmetschervermittlung/ ausbildung-schriftdolmetschen

Lust auf mehr: Wie eine gehörlose Studentin an der Uni zurecht kommt, lest ihr hier: pflichtlektuere.com/wie-gedruckt


SAG MAL, PROF Warum machen Kartoffelchips so süchtig? TEXTLARA MERTENS FOTOJULIAN BEYER ILLUSTRATIONALINA FUHRMANN

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in gemütlicher Abend vor dem Fernseher, das Abendessen ist gerade mal eine halbe Stunde her, und trotzdem ist die Chipstüte spätestens in der zweiten Werbepause leer. Das ist bestimmt jedem schon passiert. Ernährungswissenschaftler Prof. Dr. Guido Ritter von der Fachhochschule Münster weiß, warum Kartoffelchips so süchtig machen: „Das liegt einfach an der perfekten Rezeptur.“

Denn der Geschmack setzt sich zusammen aus einer süßen, einer salzigen und einer würzigen Komponente – letztere wird als UmamiGeschmack bezeichnet und findet sich unter anderem in Lebensmitteln wie Parmesan oder Maggi. Alle drei Geschmacksrichtungen sind im menschlichen Gehirn positiv belegt, da sie jeweils eine Kohlenhydrat-, Mineralstoff- oder Eiweißzufuhr signalisieren: Stoffe, die der Körper benötigt, erklärt Ritter. Hinzu kommt dann noch der hohe Anteil an Fett, der ebenfalls positive Reaktionen auslöst. „Und wenn man das in der richtigen Kombination zusammenbringt, dann ist es so verführerisch, dass wir gar nicht anders können, als zuzugreifen“, sagt Ritter. Hat man das getan, werden im Gehirn Endorphine ausgeschüttet. Bei Chips kommt außerdem die sehr knusprige Konsistenz, das sogenannte Mundgefühl, hinzu: „Dieses Beißen weckt bei mir sozusagen im Belohnungssystem die Reaktion: Aha, da ist also was, was mir sehr viele Nährstoffe bringt“, sagt Ritter. Bei einer solchen Wirkung auf

das Gehirn stellt sich die Frage: Ist das noch ein Genuss- oder schon ein Rauschmittel? Der Ernährungswissenschaftler meint: „Es ist so, dass wir hier unser Belohnungssystem so stark anwerfen, dass es einer Droge fast gleichkommt.“ In Versuchen mit Ratten sind diese tatsächlich so süchtig nach Fastfood geworden, dass sie wie im Rausch reagierten und fettleibig wurden. Auf den Menschen ist das aber Ritter zufolge nicht unbedingt zu übertragen. Die Industrie macht sich diesen Effekt jedoch zunutze und optimiert Kartoffelchips gezielt dahingehend, dass sie in großen Mengen konsumiert werden. Zum Einen werden dafür Langzeitstudien gemacht. Dabei wird nicht nur getestet, ob den Konsumenten das Produkt einmalig schmeckt, sondern auch, wie süchtig es sie macht. Zum anderen werden Chips auch oft in XXL-Packungen oder als „2 für 1“-Angebote verkauft. „Das sind dann Angebote, bei denen ich sagen muss, das sollte eigentlich dann so nicht auf dem Markt erscheinen, weil es über das Maß des Genusses hinausgeht“, sagt Ritter. Auch für das Phänomen, dass man sich nach einer halben Tüte Chips gar nicht so satt fühlt wie nach einer Mahlzeit, hat der Ernährungswissenschaftler eine Erklärung: Chips haben eine sehr hohe Energiedichte, also viele Kalorien bei geringem Volumen – deswegen setzt im Magen erst spät ein Druckgefühl ein. So merkt man gar nicht, wie viel Energie man schon zu sich genommen hat. Für alle, die trotz Suchtgefahr weiter Chips essen wollen, hat Ritter einen einfachen Tipp: nicht die ganze Tüte auf den Tisch legen, sondern lieber kleinere Portionen in Schüsseln abfüllen und die Tüte außer Reichweite bringen. Und: Chips einfach mal selbst zu Hause herstellen. „Damit man so ein bisschen das Gefühl dafür wiederbekommt, was das eigentlich für Produkte sind und was das Besondere ausmacht.“ Wer jetzt Lust auf selbstgemachte Chips bekommen hat, findet im Netz das passende Rezept von Prof. Ritter unter: pflichtlektuere.com/wie-gedruckt Prof. Dr. Guido Ritter ist Ernährungswissenschaftler am Fachbereich für Oecotrophologie an der Fachhochschule Münster.


TTip. Thesen? Temperamente!

Wird das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA den Bildungssektor negativ beeinflussen? Kritiker befürchten das; Befürworter betonen die Vorteile. Dabei bestimmen vor allem Gefühle und Meinungen die Diskussion – Fakten gibt es wenige. Die pflichtlektüre hat vier Thesen zu TTIP untersucht. TEXTRichard Brandt IllustrationenLisa seidel

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TIP ist die Abkürzung für das geplante Freihandelsabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union. Der volle Name des Abkommens lautet „Transatlantic Trade and Investment Partnership“. Es zielt ab auf eine stärkere Öffnung der Märkte. Dabei geht es darum, Zollschranken und andere Handelsbarrieren zwischen der EU und den USA abzubauen. Da über das Abkommen aktuell noch verhandelt wird, ist offen, wie tiefgreifend TTIP die Wirtschaftsbeziehungen verändern wird. Gegner des Abkommens monieren, dass die Verhandlungen nicht transparent geführt werden. Das wiederum biete Anlass für Spekulationen und Panikmache. Der Bildungssektor wäre auf besondere Weise betroffen, da zwischen der EU und den USA gerade in diesem Bereich ein großer kultureller Unterschied besteht: Während Bildung in den USA ein Dienstleistungssektor wie Handel oder das Bankengewerbe ist, ist sie in Deutschland in öffentlicher Hand. Jeder hat hierzulande das Recht auf Bildung.

These 1: Private Hochschulen aus den USA gefährden die staatliche Förderung der Hochschulen in Deutschland. Der deutsche Bildungsmarkt ist bereits für ausländische Anbieter geöffnet. So betreibt etwa der private US-amerikanische Bildungskonzern „Laureate

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Group“ in Berlin Hochschulen. Diese sind allerdings nicht gleichberechtigt im Hinblick auf Unterstützung vom deutschen Staat. Grund dafür ist der Subventionsvorbehalt. Der Staat darf deutsche Hochschulen – egal ob staatlich oder privat – finanziell unterstützen, ohne dass dies als Wettbewerbsverzerrung gilt. Ausländische Universitäten, darunter auch die amerikanischen, werden bisher nicht unterstützt. Durch TTIP sollen Hochschulanbieter gleichberechtigt werden. Staatliche Subventionen bevorzugten, falls sie so fortgeführt würden wie jetzt, die deutschen Universitäten gegenüber den privaten amerikanischen. US-Anbieter hätten damit die Möglichkeit, vor Schiedsgerichten zu klagen.

These 2: TTIP sorgt dafür, dass Studiengebühren wieder eingeführt werden. Sollte der Fall eintreten, dass die Subventionen für deutsche Universitäten infolge von TTIP wegbrechen, bräuchten sie andere Einnahmequellen. Eine Möglichkeit wäre, sich stärker auf die Wirtschaft einzulassen und mehr Drittmittel einzuholen – das könnte die unabhängige Lehre gefährden. Eine andere Überlegung wäre, Studiengebühren wieder einzuführen – für die meisten Studenten ein Graus. Peter J. Weber, der Vizepräsident der Karlshochschule International University, beschäftigt sich in seiner Lehre hauptsächlich mit internationalem Marketing und europäischer Bildungspolitik. Er sagt: „Der öffentliche Hochschulsektor wird immer staatlich gefördert bleiben.“ Ein größeres Problem bekämen hingegen die in Deutschland bereits vorhandenen privaten Hochschulen. Dort waren im Jahr 2013 circa 138.000 Studenten eingeschrieben. Sie hätten in einem offenen Markt aber weder die Erfahrung noch die finanziellen Mittel, um mit amerikanischen Anbietern in den Wettbewerb zu treten, sagt Weber. Das könnte dazu führen, dass die deutschen Anbieter die Studiengebühren erhöhen.

These 3: TTIP schränkt die Suche nach Literatur und die Verwendung von Lehrmaterialien ein. In den USA gibt es Anbieter wie Journal STORage („JSTOR“), die kostenpflichtig Literaturdatenbanken anbieten. Große amerikanische Hochschulen gewähren ihren Studenten Zugang auf die teuren Datenbanken. Notwendig ist das, weil in den USA schärfere Urheberrechte für Bücher und wissenschaftliche Artikel gelten als in der Europäischen Union. Durch TTIP, so befürchten Kritiker, würde die Literaturrecherche auch hier bald kostenpflichtig, da amerikanische Anbieter die Gleichbehandlung einklagen könnten. Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), die die Interessen der Hochschulen öffentlich vertritt, teilt diese Befürchtung nicht. Gerhard Duda, Referatsleiter für Europäische Forschungsangelegenheiten, sagt: „Eine Verschärfung des Urheberrechts durch TTIP können wir zurzeit nicht absehen.“

These 4: In Zukunft werden amerikanische Universitäten vermehrt Zweigstellen in Europa und Deutschland aufmachen und heimische Anbieter vom Markt verdrängen. Aus dem Report „Erziehung und Unterricht 2014“ geht hervor, dass der private deutsche Bildungsmarkt 2015 schätzungsweise 10,75 Milliarden Euro umsetzen wird. 2018 steigt der Betrag vermutlich auf 11,54 Milliarden Euro. Yale, Princeton und andere amerikanische Hochschulen könnten schon bald hierzulande eigene Einrichtungen aufbauen. TTIP-Kritiker befürchten, dass dann mehr profitorientierte, private Anbieter aus den USA in den deutschen Bildungssektor strömen. Deutsche Anbieter haben allerdings ebenso ein Interesse am amerikanischen Markt: So versucht Bertelsmann etwa mit E-Learning-Angeboten bereits in den USA Fuß zu fassen.

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Trotzdem: Die Angst vor Wettbewerb mit der US-amerikanischen Konkurrenz ist groß. Sind diese Befürchtungen begründet? Die Bundesregierung schreibt in der Antwort auf eine Anfrage der Partei „Die Linke“, sie habe ein Interesse an einem vielfältigen Bildungsangebot in Deutschland. Problematisch werde es nur dann, wenn die Qualität der Bildung zu wünschen übrig lasse oder einem Großteil der Bevölkerung der Zugang verwehrt bliebe. „Es könnte sich durchaus als Bereicherung erweisen, wenn amerikanische Spitzenuniversitäten hier Filialen eröffneten“, sagt HRK-Referatsleiter Duda. Schützen sollte sich der Hochschulsektor jedoch vor Einrichtungen, die nur aus Profitgründen in den deutschen Bildungsmarkt strömten.

Fazit: Die Ängste vor TTIP im Bildungsbereich scheinen überzogen. Zwar wird das Freihandelsabkommen die Bildungslandschaft verändern, doch das muss nicht zwangsläufig negativ sein. TTIP könnte durchaus Vorteile bringen – etwa vielfältigere und internationalere Angebote für deutsche Studenten. Trotzdem bleibt abzuwarten, ob die Kritiker zum Teil nicht doch Recht hatten mit ihren Befürchtungen: Werden deutsche Universitäten im Wettbewerb mit USAnbietern bestehen? Wird das deutsche Studium weiterhin subventioniert? Antworten auf diese Fragen wird es erst nach Abschluss der Verhandlungen geben.


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WENN ALLER GUTEN DINGE NICHT 3 SIND Der Gedanke an den Drittversuch weckt in den meisten Studenten blanke Panik. Wer versagt, muss fast immer sein Studium abbrechen. Wie es sich tatsächlich anfühlt in diesem letzten Versuch zu landen: Drei Erfahrungsberichte. TEXT&FOTOSDANIELA ARNDT

„ICH KONNTE VERDRÄNGEN, DASS ES DER DRITTVERSUCH IST.“ Eins… Sophie* hatte die Klausur in Höhere Mathematik 1 auf die leichte Schulter genommen und zu wenig gelernt. Als die Prüfungsergebnisse veröffentlicht wurden, war das Dilemma groß – Sophie war durchgefallen. „Aus der Schule kannte ich das Gefühl, wirklich irgendwo durchzufallen, einfach nicht“, erklärt sie. Besonders schlimm für sie: Die meisten ihrer Freunde haben bestanden. Zwei… Direkt im zweiten Semester wollte Sophie beweisen, dass sie es auch kann – ohne die Vorlesung und die Übungen. Diese fanden nur im Wintersemester statt. Die Warnungen ihrer Freunde ignorierte sie.

Zusätzlich zu Höhere Mathematik 1 belegte Sophie in diesem Semester auch HöMa 2. „Schließlich baut HöMa 2 ein bisschen auf HöMa 1 auf“, sagt sie. Sie schrieb beide Klausuren am gleichen Tag - mit einer Stunde Pause. Ihr Gefühl sagte ihr, dass HöMa 1 auf jeden Fall besser gelaufen war. HöMa 2 bestand sie, doch für HöMa 1 reichte es wieder nicht. Ihr fehlten nur drei Punkte. Drei! Nach dem erneuten Rückschlag baute sich bei Sophie mehr und mehr Druck auf: „Ich hatte einfach Angst, dass ich noch mal durchfalle und dann nichts mehr machen kann“, sagt sie. Eine heikle Situation: Sophie hatte keinen Plan B. Den Gedanken daran schob sie jedoch gleichzeitig von sich. Dieses Mal musste es einfach klappen. Deshalb besuchte sie alle Vorlesungen und Übungen zu Hö-

Sophies Tipps: eites Mal • Die Vorlesungen ein zw überall besuchen. Es ist einfacher, sich auf die mitzukommen, weil man , bei denen es Stellen konzentrieren kann Probleme gibt. beiten und • Schon im Semester mitar nacharbeiten. nehmen. • Professionelle Nachhilfe sten rech• Nicht mit dem Schlimm f die Klausur nen, sondern sich ganz au mit der Einstelfokussieren. Sophie ging irgendwann lung daran, dass man alles schaffen kann. 33

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herer Mathematik 1 erneut und arbeitete bereits im Semester den Stoff nach. Um nichts dem Zufall zu überlassen, nahm sie sich drei Monate vor der Klausur professionelle Nachhilfe. „Ich habe mich sicher gefühlt und hatte irgendwann das Gefühl, alles zu können. Gleichzeitig hatte ich Angst, zu wenig gemacht zu haben.“ Dann war er da, der entscheidende Tag. Sophie war völlig entspannt. Ihr war in dem Moment sogar fast alles egal. „Ich konnte in der Klausur vollkommen verdrängen, dass es der Drittversuch ist.“ Was sie am Anfang wohl kaum erwartet hätte: Je mehr Aufgaben sie gut lösen konnte, desto mehr Spaß machte ihr die Klausur. Als Sophie die Klausur abgab, hatte sie ein gutes Gefühl. Doch was dann kam, überraschte selbst sie: Bestanden, mit 1,7!


„DIE ANGST WAR SO GROß, ICH DACHTE, ICH MUSS MICH ÜBERGEBEN.“ Eins… Anders als bei Sophie begann Alicias* Leidensgeschichte erst im dritten Semester. Die Studentin für Grundschullehramt scheiterte das erste Mal an Elementargeometrie. Schon während der Klausur wurde ihr klar, dass es nicht reichen würde. Das Problem: Sie kam mit der Zeit nicht aus und konnte einige Fragen nicht beantworten. Die Nachricht, dass sie nicht bestanden hatte, überraschte sie nicht. Allzu große Sorgen um den zweiten Versuch machte sie sich nicht. „Ich dachte halt, dass ich das noch mit lernen aufholen könnte.“

Drei… Trotz des Ärgers musste Alicia im vierten Semester der Wahrheit ins Auge blicken: Sie stand im Drittversuch in Elementargeometrie. Und das machte sie immer nervöser. Sie fürchtete sich viel mehr als vor den beiden vorherigen Klausuren. „Die Angst zu versagen war so groß, das war echt krass. Ich saß da und dachte, ich muss mich gleich übergeben.“ Um der Angst entgegenzuwirken, nahm Alicia zu Anfang des Semesters an einem Prüfungscoaching teil. Doch der Erfolg blieb aus. Die Dozenten beim Coaching rieten ihr, sich schon einmal Gedanken über Studien-Alternative zu machen. Doch Alicia wollte stattdessen „alles in meiner Macht stehende tun, um zu bestehen“.

Zwei… Den Zweitversuch ging Alicia noch im selben Semester an. Sie fühlte sich trotz des Misserfolgs in der ersten Klausur gut vorbereitet. Dieses Mal war sie sogar in der Klausur sicher, dass es geklappt hatte. Ein Irrtum – sie fiel durch. Ihr fehlten gerade einmal anderthalb Punkte.

Parallel zu dem Kurs suchte sie sich fachliche Nachhilfe. Sie bekam jemanden von der Fachschaft Mathematik vermittelt. „Mit dem habe ich anderthalb Monate zusammengearbeitet, das hat richtig gut geklappt“, sagt sie. Kurz vor der Klausur wollte sie es von ihrem Nachhilfelehrer genau wissen: Konnte sie es schaffen? Er glaubte an sie. „Ohne seine Zustimmung wäre ich nie in diese Klausur gegangen.“

Bei der Klausureinsicht zählte Alicia verzweifelt nach. Doch der Dozent blieb hart. „Nachher habe ich dann erfahren, dass Leute teilweise am Ende noch vier Punkte rausholen konnten. Da war ich schon sauer“, sagt sie.

Am Abend vor der Prüfung hatte Alicia einen heftigen Streit mit ihrem Freund. Das wühlte sie auf. Trotzdem schrieb sie mit. Nachdem sie abgegeben hatte, war sie extrem fertig. Dann fing sie an, durchzurechnen, wie viele Punkte sie

haben müsste. „Ich bin dabei wirklich immer auf das Ergebnis gekommen, dass es geklappt hat“, erklärt sie. Noch am selben Abend wurde sie eines besseren belehrt: erneut durchgefallen. Eine unerträgliche Situation. „Ich konnte einfach gar nichts mehr.“ Schließlich ging sie zu ihrem Dozenten, um ihm ihre Lage zu schildern. Sie fragte nach einem vierten Versuch, einer mündlichen Prüfung. Doch die wird in Mathematik nicht angeboten. Die Konsequenz war unausweichlich: Alicia musste ihren Studiengang wechseln. Zuerst gestand sie es ihren Eltern. „Sie haben toll reagiert und gesagt, ich solle gucken, was ich machen kann und vor allem, was ich machen will“, erzählt sie. Bis dato hatte sie noch keinen Plan B. Alicia bewarb sich für einen anderen Studiengang; einen, der ihrem alten sehr ähnlich ist. Sie machte Praktika und suchte nach Ausbildungen. Schließlich kam die gute Nachricht: Sie konnte den Studiengang wechseln. „Als die Zusage kam, war ich sehr erleichtert – was ich vorher gar nicht gedacht hätte.“ Heute studiert Alicia Sonderpädagogik. Das Auslandssemester in England, das sie seit Beginn des Jahres plant und das eigentlich noch zu ihrem alten Studiengang gehört, macht sie trotzdem. „Im Endeffekt hat sich nur mein Ziel ein bisschen verschoben.“

Alicias Tipps: • Mit anderen L euten sprechen hilft, besonders, wen n diese in derse lben Situation sind. Dafür ist auch d as Prüfungscoachin g eine gute Anla ufstelle. • Streit und Pro bleme mit Fam ilie oder Freunden sollte man unb ed ingt vor der Klausur vermeiden – un d auch sonst alles, was einen ablen kt.

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„DAMALS DACHTE ICH NOCH, ZWEI VERSUCHE SOLLTEN AUSREICHEN.“ Eins… Dominic* blickt auf eine längere Geschichte zurück. Er hat es in Informatik auf drei Drittversuche gebracht. Einen davon hat er schon bestanden. Die anderen beiden hat er bis zum Schluss aufgeschoben – aus verschiedenen Gründen. Die erste wichtige Klausur hat Dominic direkt im zweiten Semester um ein Jahr geschoben - „weil ich da schon unsicher war und wusste, dass ich die nicht bestehen würde.“ Den ersten Versuch „verbrannte“ er im vierten Semester, damit er seine Studienleistung erhalten konnte. Diese wäre sonst verfallen, und er hätte die Seminare noch einmal besuchen müssen. Also ging er zur Klausur und gab sie so wieder ab, wie er sie bekommen hatte. „Damals dachte ich noch, zwei Versuche sollten ausreichen.“ Zwei… Nachdem die Studienleistung gesichert war, begann das Schieben. Laut Dominic hatte das praktische Gründe und lag nicht an der Angst vor der Klausur. „Wie das eben ist beim Schieben; da gibt’s noch andere Klausuren.“ Und die hatten für ihn Vorrang. Semesterlang schrieb er zunächst die aktuellen Klausuren und holte erst hinterher nach, was er geschoben hatte. „Ich habe das Modul zwar auch immer weiter verfolgt, aber nie mit der Absicht, die Klausur in dem Semester auch zu schreiben.“ Im achten Semester war es dann soweit. Wie für andere Klausuren auch begann Dominic noch im Semester zu lernen. Er nutzte sein Hintergrundwissen aus anderen Modulen, und „über die Jahre hat man dann ja auch Übungsblätter gesammelt“, sagt er grinsend. In der Klausur selbst lief es gut. Auch sein Gefühl danach war positiv. Trotzdem scheiterte er knapp. Nur zwei Punkte fehlten zur 4,0.

*vollständiger Name der Redaktion bekannt

Dominics Tipp s:

Drei? Da er noch in der Materie war, schrieb Dominic den dritten Versuch nur drei Wochen später. „In der Klausur war es dann nicht so rosig“, erinnert er sich. Die ersten zwei Aufgaben liefen gut, aber ab der dritten – eine Aufgabe, zu der es kein Übungsblatt und auch kaum Folien im Skript gab – kamen die Zweifel. „Wenn man dann weiter macht, verunsichert das natürlich. Das war der Fehler, mit dem ich mir selbst alles kaputt gemacht habe.“ Dominic ahnte daher schon, was ihn erwartet. „Ich bin aus der Klausur rausgegangen und wusste: Kannst dich anmelden zur Vierten.“ Dieser vierte Versuch ist eine mündliche Prüfung, bei der es am Ende nur heißt: 4,0 oder 5,0 – bestanden oder raus.

• Alle Erfahrun g mitnehmen, d ie man kriegen kan n. Die vorigen Semester rekap itulieren und m it Tutoren sprech en, die kennen den Aufbau der Kla usur meist gut. • Immer im erst en Termin schre iben, der ist mei st einfacher. • Vor der Klausu r ruhig bleiben. Am besten am Tag davor Sport machen, damit man ausgepower t ist und gut schla fen kann. • Nicht verrück t machen. Den n dann schafft m an es erst recht nicht.

Doch diesen letzten Versuch schiebt Dominic; genau wie einen weiteren Drittversuch, eine Klausur, die eigentlich im vierten Semester geschrieben wird. „Mein Ziel war es, dieses Semester mit dem Studium fertig zu werden“, erzählt er. Doch das ist in weite Ferne gerückt. Im Moment überlegt er, die Uni zu wechseln und an der Fachhochschule Dortmund

zu Ende zu studieren. Dort kann er möglicherweise auch ohne die fehlende Prüfungsleistung seinen Bachelor machen. Dies geht aber nur, solange noch keines seiner Module als „endgültig nicht bestanden“ gilt.

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Wenn der Stress an dir nagt Ein Drittversuch bedeutet Stress pur. Dr. Julia Brailovskaia und Pia Schönfeld arbeiten am Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit der Ruhr-Universität Bochum. Sie sagen: Stress ist eine natürliche Reaktion auf Überforderung. TEXTSILAS SCHEFERS FOTOJULIA SCHINDLER

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wei Klausuren verhauen und jetzt die letzte Chance. Ich bin im Stress. Wie gehe ich damit um? Pia Schönfeld: Der Drittversuch löst Stressreaktionen aus, ganz klar. Um sich auf diese Situation psychisch vorzubereiten, kann man eigentlich nur sagen: Man sollte nicht an die negativen Konsequenzen denken. Wenn ich daran glaube, dass der Drittversuch zu schaffen ist, reduziert das den Stress. Wir sprechen von Selbstwirksamkeit. Laut Ihren Forschungen, den „Bochumer Optimism and Mental Health Studies“, in denen Sie auch die psychische Gesundheit von Studenten untersuchen, sind neben Selbstwirksamkeit auch andere Faktoren wichtig. Schönfeld: Die Faktoren Optimismus, Resilienz, Selbstwirksamkeit und Kohärenzsinn schützen uns davor, krank zu werden – es sind so genannte „protektive“ Faktoren. Resilienz beschreibt dabei die psychische Widerstandsfähigkeit, die man sich selbst zutraut. Beim Kohärenzsinn geht es um die Sinnhaftigkeit des Lebens, also die Frage: Weiß ich, wofür ich lebe? Auch soziale Unterstützung ist ein Schutzfaktor. Dr. Julia Brailovskaia: Es gibt sogar Dinge, die ich an mir selbst beachten kann, um meine Psyche widerstandsfähiger zu machen. Zeitmanagement gehört dazu, aber auch die Fähigkeiten, Prioritäten zu setzen, Aufgaben zu verteilen oder rechtzeitig nach Alternativen zu suchen. Der Appell lautet: Stress-Prävention. Die Studenten sollten sich, was diese protektiven Faktoren angeht, in Ihrer Befragung selbst einschätzen. Was sind die Schlüsse daraus?

Schönfeld: Vor allem, dass es kleine, alltägliche Stress-Faktoren sind, die die psychische Gesundheit der Studenten negativ beeinflussen. Probleme im sozialen Umfeld haben beispielsweise einen sehr schlechten Einfluss. Die protektiven Faktoren sind dafür ein Puffer. Weil diese Faktoren unterschiedlich stark ausgeprägt sind, reagieren Menschen auch unterschiedlich auf Stress. Wie ist er denn, der gestresste Student an der RUB – können Sie ihn typisieren? Schönfeld: Wir sehen, dass sich weibliche Studenten eher als gestresst bezeichnen als männliche. Studenten der Ostasienwissenschaft schätzen sich eher zufrieden ein, Naturwissenschaftler liegen im Mittelfeld. Die Medizin- und Psychologie-Studenten sehen sich selbst als sehr gestresst.

„Stress“ – was heißt das für Sie denn genau? Schönfeld: Wir sprechen von Stress, wenn die äußeren Anforderungen die eigenen Möglichkeiten übersteigen. Er kann sich durch Anspannung, Konzentrationsschwächen, Ungeduld oder weitere Symptome äußern. Stress ist eine angeborene Reaktion auf Überforderung, die sich übrigens auch am Körper messen lässt – zum Beispiel durch den Herzschlag, den Puls oder das Schwitzen. Stress ist also eine subjektive Empfindung. Und was sagen die Zahlen? Fühlen sich immer mehr Studenten gestresst? Brailovskaia: Ja, die Stressbelastung für Studenten hat zugenommen, wenn auch nur verhältnismäßig gering. Das liegt wahrscheinlich an den veränderten Umständen. Immer mehr fangen sehr jung an zu studieren – das fordert eben viel Selbstdisziplin. Stressig wird es außerdem vom Wechsel aus dem Bachelor- in den Master-Studiengang. Die Bologna-Reform – mit der Umstellung auf Bachelor und Master – als Stress-Ursache also. Brailovskaia: Das können wir nicht eindeutig sagen, aber das Studium ist heute verschulter als früher, gewährt weniger Freiräume. Man sollte die BolognaReform nicht grundsätzlich verteufeln. Immerhin hat man heute viel mehr Möglichkeiten.

Forschen zum Stress bei Studenten: Pia Schönfeld (links) und Dr. Julia Brailovskaia (rechts).

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Etwa zu viele Möglichkeiten? Brailovskaia: Das ist durchaus denkbar: Es könnte ein gewisser Entscheidungsdruck entstehen – und so wiederum Stress.


Hingeschaut Fantasievoll, düster und skurril sind die Filme des amerikanischen Regisseurs Tim Burton. Die wirklich abgedrehten Figuren Burtons sind aber nicht auf der großen Leinwand zu sehen, sondern auf Papier in einer Ausstellung in Brühl. TEXTLUKAS ARNDT Foto2015, Tim Burton

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lice im Wunderland“, „Charlie und die Schokoladenfabrik“, „Mars Attacks“ – das sind Tim Burtons bekannteste Filme. Wahrscheinlich sind sie es deswegen, weil sie noch am ehesten dem Mainstream entsprechen. Wer die auf Papier festgehaltenen, surrealen Ideen des 57-jährigen Kaliforniers sehen will, kann das im Max Ernst Museum Brühl des Landschaftsverbands Rheinland tun. Fische mit mehreren Mäulern, sich gegenseitig verspeisende Menschen oder Kreaturen mit mehr Klauen, Rüsseln und Zähnen, als die Natur sie jemals hervorbringen könnte: Die Bilder geben mit ihrem unwirklichen Rausch aus unnatürlichen Formen und abgründigem Verhalten einen Einblick in Burtons einzigartige Fantasie.

Was? Wo? Wann? Wie teuer? Was? „The World of Tim Burton“ Wo? Comesstraße 42, Max-Ernst-Allee 1, 50321 Brühl (Rheinland) Wann? bis zum 3. Januar, von Dienstag bis Sonntag, 11-18 Uhr. Anfahrt? Mit der S1 Richtung Solingen bis Duisburg Hbf, dann mit dem RE 10529 Richtung Koblenz Hbf nach Brühl, Museum ist dann ausgeschildert Wie teuer? 5,50 für Studenten Weitere Infos: www.maxernstmuseum.lvr.de

Insgesamt werden die Bilder durch die Ausstellung aber kaum in einen größeren Kontext eingeordnet. Warum und vor welchem Hintergrund Burton die Werke gemalt hat, wird nicht klar. Abgesehen von einer Biografie auf einer großen Infotafel und einem weder besonders umfangreichen noch interessanten Begleitheft erfährt der Besucher nur wenig über den Künstler, seine Werke stehen im Vordergrund.

Auf Polaroids sägen sich zusammengenähte Puppen Körperteile ab oder hämmern Nägel in ihre Kinder. Auf wenigen großen Leinwänden sieht man dreiäugige, wahnsinnig grinsende Clowns. Vor allem sind in Brühl aber kleine Kritzeleien zu finden, mit Kugelschreiber oder Tusche auf unscheinbare Zettel gezeichnet. Drei dieser Tusche-Zeichnungen zeigen ein unbekanntes Pärchen. Auf dem ersten Bild stoßen die beiden mit einem Getränk an. Sie befinden sich offenbar auf einer Feier, er trägt ein Partyhütchen. Auf dem zweiten Bild scheinen die beiden sich von den Füßen an zu verflüssigen. Sie stehen mit den Knien in einer Pfütze ihrer eigenen Füße und Waden. Im vorherigen Bild waren ihre Haare noch aufwendig zurechtgemacht, nun sind sie zerzaust und stehen wirr vom Kopf ab. Die Augen sind starr und von unbändiger Verzweiflung erfüllt. Das Pärchen umklammert sich, er hält ihre Hüfte, die

über seine Hand auf den Boden fließt. Im letzten Bild ist von beiden nur noch eine große Pfütze übrig, auf der ihre Haare und Augen schwimmen. Lediglich das Partyhütchen steht unversehrt daneben. Zwar wird auch eine Vielzahl von Servietten ausgestellt, die Burton in seiner Jugend mit seinen fantasievollen Bildern schmückte. 37

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Am Ende ist die Tim Burton-Ausstellung genau das: eine Ausstellung. Wer bereit ist, den weiten Weg nach Brühl zu fahren, um Burtons Bilder in hübscher Aufmachung zu sehen und auf sich wirken zu lassen, der ist mit dem Max Ernst Museum gut beraten. Wer aber mehr über den Künstler Tim Burton selbst erfahren will, der kann das einfacher und billiger haben, indem er sich den WikipediaEintrag über Burton durchliest oder einen seiner Filme anschaut.


ABGEFAHREN ABGEFAHREN Ihr wollt Kultur, Action und Abenteuer? Wir gehen mit dem NRW-Ticket bis ans Limit und nehmen euch mit auf eine Reise durch das Ruhrgebiet und darüber hinaus. Diesmal: Krippenmuseum in Bochum. TEXTSOPHIE SCHÄDEL FOTOMANFRED LIPIENSKI

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ch lasse die Ausstellungsstücke sprechen“, sagt Manfred Lipienski. In seinem Krippenmuseum zeigt er 250 Exponate. Ungefähr 70 davon hat er selbst geschnitzt, die anderen aus über 50 Ländern gesammelt. Die Führung durch das Museum beginnt an einer Szenerie, die die Heilige Familie in einem Ruderboot auf See zeigt. So stellt er die aktuelle Flüchtlingskrise dar und will daran erinnern, dass niemand Joseph und seine schwangere Frau aufnehmen wollte. Für Lipienski spielt Religion nur eine Nebenrolle. Er will gesellschaftliche und historische Botschaften vermitteln. Manfred Lipienskis außergewöhnliche Leidenschaft begann vor 25 Jahren. Er baute seiner Frau Rosemarie Lipienski zu Weihnachten eine Krippe. Immer mehr Freunde wünschten sich daraufhin eine und so entdeckte er seine Liebe zu dieser Schnitzarbeit. Rosemarie Lipienski meldete ihn heimlich zu einem Krippenbauerlehrgang in Tirol an. Dort wurde ihr Mann Krippenbaumeister. In dieser Zeit bekam er als Geschenk aus Ecuador eine Krippe, die er nicht verstand. Es war eine Kalebasse, ein Gefäß aus einem ausgehöhlten Flaschenkürbis. Mit bunten Farben ist dort ein Kolibri aufgemalt. Erst wenn man genau hinschaut, sieht man am Bauch des Vogels zwei kleine Türchen. Dahinter verbirgt sich eine winzige Darstellung der Heiligen Familie im Stall. In Ecuador gilt der Kolibri als Fruchtbarkeitssymbol.

Deshalb beten viele Ecuadorianer, die auf Nachwuchs hoffen, über das Jahr zu solch bemalten Gefäßen. Zur Weihnachtszeit öffnen sie die Türchen, um Weihnachten und damit das Leben zu feiern. Mit diesem Werk wurde Lipienski klar: „Krippen müssen erklärt werden.“ Darum eröffnete er vor 22 Jahren sein Museum, dessen Träger der ebenfalls von ihm gegründete Bochumer Krippenverein ist. „Jeder Krippenbauer steckt Liebe und Geschick in seine Werke und hat eine eigene Handschrift. So werden Krippen zu Kunstwerken.“ Da auch viele Kinder in sein Museum kommen, sind einige Krippen auf sie ausgerichtet. In einer sind Maria, Joseph und ihr Kind Teddybären, umringt von Plüsch-Schafen und -Ochsen. Lipienski erzählt, dass ihm wegen dieser Krippe schon einmal eine Besucherin Blasphemie vorgeworfen habe. Zwischen Kunst und Kitsch sei eben nur ein schmaler Grat. Trotzdem: „Wir wollen hier doch Spaß haben! Wir feiern schließlich einen Geburtstag“, ruft er lachend. Und schließlich sei ein Teddy als Vertrauter und Freund der Kinder ein gutes Sinnbild für Jesus. Seine langjährige Erfahrung als Krippenbauer und Sammler macht Lipienski zum Experten für Krippen. Immer wieder bekommt er Anrufe aus dem In- und Ausland von Menschen, die Werke besitzen und etwas über ihre Färbung oder Herkunft erfahren wollen. Außer38

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dem restauriert er Stücke, manche von ihnen über hundert Jahre alt. Durch das Museum und den Krippenverein beschäftigt sich der Sammler das ganze Jahr über mit Weihnachten. Wenn dann Ende November das Museum öffnet, hat er viel zu tun. Für ihn sei das jedoch ein angenehmer Stress, weil er so viele Menschen kennenlernt und sich freut, dass einige Besucher traditionell seit Jahrzehnten immer wieder auftauchen. Sogar ein amtierender König einer kleinen Region in Zentralghana war vor neun Jahren zu Besuch. „Ich habe vorher ein Protokoll bekommen. Da hieß es, der König würde nur 20 Minuten bleiben.“ Am Ende, sagt Lipienski, habe der Monarch drei Stunden im Museum verbracht.

Wo? Wann? Wie teuer? Wo? Krippenmuseum Bochum, Eiberger Straße 60 Wann? 7. November bis 22. Dezember, Termine nach Absprache, Einzelanfragen werden zu Gruppenterminen zusammengefasst Anfahrt? Mit RE oder S-Bahn nach Bochum Hbf, STR 308 zur Station „Am Röderschacht“, mit Bus 358 bis „Eiberger Straße“ Weitere Infos: bochumer-krippenmuseum.de


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