medico-Jahresbericht 2022

Page 20

20

Nordostsyrien

Unter Beschuss

Seit zehn Jahren kämpft das selbstverwaltete Rojava um Sicherheit und Perspektive. Doch dem demokratischen Experiment wird die dringend nötige internationale Anerkennung weiterhin verwehrt. Und es bleibt Angriffen ausgesetzt. 2022 hat die Türkei diese noch intensiviert. Von Anita Starosta

Seit nunmehr einer Dekade existiert die selbstverwaltete Region Rojava in Nordostsyrien. Zu Beginn sprachen wir bei medico über die dortigen Entwicklungen als „demokratisches Experiment“, das von den syrischen Kurd:innen im Norden des Landes ausgegangen ist. Heute ist es viel mehr als das. Die Selbstverwaltung umfasst inzwischen ein Drittel des syrischen Territoriums und fußt auf der Beteiligung aller hier lebenden ethnischen Minderheiten. Trotz permanenter Bedrohung durch die Türkei, internationaler Missachtung und der Bürde Zehntausender IS-Kämpfer, die inhaftiert und versorgt werden müssen, geben die Menschen in Rojava nicht auf und halten an einem demokratischen Syrien fest. So auch unsere langjährigen Partnerorganisationen vor Ort. Fast seit Beginn begleitet medico lokale Aktivist:innen und Helfer:innen und unterstützt so den Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens. Dazu gehörte in den ersten Jahren zusammen mit dem Kurdischen Roten Halbmond besonders die Nothilfe für Kriegsvertriebene. Wir haben bei der Bereitstellung einer Blutbank für das belagerte Kobanê geholfen, bei der Errichtung von Flüchtlingslagern unterstützt und die Notversorgung gefördert, sei es für verfolgte Jesid:innen aus dem Shengal-Gebirge oder für Flüchtende aus dem türkisch besetzten Afrin. Allen Bedrohungen und Schwierigkeiten zum Trotz gelang es, eine selbstverwaltete Verwaltungsstruktur zu bilden, die das Leben von knapp fünf Millionen Menschen organisiert und sie versorgt – unter ihnen 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge. Doch die Bedingungen sind auch nach zehn Jahren nicht einfach, im Gegenteil: Die konstanten völkerrechtswidrigen Angriffe durch das türkische Militär hinterlassen inzwischen deutliche Spuren in Infrastruktur und Psychen. 2022 fanden insgesamt 130 Drohnenangriffe statt, bei denen 87 Menschen starben und 150 verletzt wurden. In Deutschland

wird darüber fast nie berichtet. Vor Ort aber sind sie für die Bevölkerung als alltägliche psychische Belastung allgegenwärtig: Zu jedem Zeitpunkt kann überall eine Drohne einschlagen. Es gibt keine Möglichkeit, sich davor zu schützen. Meist sind Personen in relevanten Positionen in Militär oder Selbstverwaltung Ziel solcher Angriffe. Ende September 2022 traf es auch zwei medico-Partner:innen. Zeyneb Sarokhan und Yilmaz Şero fuhren in einem Auto, als sie mit einer türkischen Bayraktar-Drohne getötet wurden. Beide waren Vorsitzende der Verwaltungsabteilung Justizreform für die Region Cizîrê der Autonomen Selbstverwaltung Nordostsyrien und an diesem Tag unterwegs, um Gefängnisse in der Region zu besuchen.

Auch medico-Partner:innen wurden getötet Zeyneb war uns gut bekannt aus der Unterstützung eines Waisenhauses, in dem verstoßene Kinder jesidischer Mütter, die von IS-Angehörigen vergewaltigt worden waren, Zuflucht finden. Als Leiterin der Frauenkommission setzte sich Zeyneb besonders für eine Zusammenführung der Mütter mit ihren Kindern ein, gegen die Widerstände einer patriarchalen Abstammungsordnung. Später übernahm sie die Leitung der Gefängnisse, in denen IS-Kämpfer inhaftiert sind, ebenfalls eine sehr sensible Aufgabe. Personen wie Zeyneb werden gezielt getötet, um die zivile Selbstverwaltung zu schwächen; ersetzbar sind sie nicht. Bei unseren Partner:innen in der Region hat die Tötung zu großer Wut und extremer Unsicherheit geführt, denn sie war ein weiterer Beleg, dass ziviles Engagement und der Einsatz für eine bessere Gesellschaft mit dem Leben bezahlt werden können. In Deutschland ist es kaum gelungen, mit dieser Meldung durchzudrin-


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.