«Der Gaumen erteilte den Augen einen Rüffel»

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FREITAG

Freitag, 18. September 2015

WOCHENENDE 65

richt. 75 Prozent der Bewertungen auf der Plattform fallen positiv aus. «Persönliche Erfahrungsberichte sind aussagekräftiger als Posts wie ‹Das Essen war gut›», sagt Andreas Rainer, der bei Yelp als Community-Manager für die Schweiz verantwortlich ist. Anders als etwa bei der Konkurrentin Tripadvisor, die sich eher an Touristen wendet, spielt der lokale Netzwerk-Gedanke bei Yelp eine grosse Rolle. Für die Bewertungen und Fotos der Lokalitäten können Komplimente verteilt werden, es können wie bei anderen sozialen Netzwerken Freundschaften geschlossen werden – in Wien gibt es schon das erste «Yelp-Baby», das aus einer solchen Bekanntschaft heraus entstand. Weltgewandtheit und guten Geschmack tun auf Yelp keineswegs nur Personen kund, die zu viel Zeit haben: Die meisten Nutzer sind laut Rainer zwischen 18 und 34 und haben einen Hochschulabschluss.

Arztbesuche, Lehrer, Bordelle

Die Profis machen es vor: Die Bewertung chinesischer Weine wird in Peking vor Publikum zelebriert.

JASON LEE / REUTERS

«Der Gaumen erteilte den Augen einen Rüffel»

Wer schreibt eigentlich auf Bewertungsplattformen? Frustrierte? Am erfolgreichsten sind Review-Verfasser, die den Mainstream-Geschmack mit einer Prise Rebellentum aufmischen. VON MELANIE KEIM Da will man eigentlich nur einen Flug buchen, ein Hotel für das Wochenende reservieren oder ein neues Restaurant im Quartier ausfindig machen, und schon steckt man fest in einer detaillierten Beschreibung des Sitzplatzes 31A, inklusive Anzahl servierter Fleischstücke; und liest, wie KÂPeterÂL beim New Yorker Concierge Helikopterflüge buchte; und gleich noch, was ein SemiExperte über Fassone-Rinder weiss. Weil die Wahl Hand und Fuss haben soll, klickt man zur nächsten und übernächsten Bewertung, und selbst wenn der Entscheid schon längst gefallen ist, bleibt man in den belanglosen Geschichten von Unbekannten hängen und fragt sich: Wer schreibt eigentlich all die engagierten Berichte – Reviews – auf den Bewertungsplattformen? «Steven Siedepunkt B» gehört zu den Review-Schreibern, die ihre Konsumerlebnisse gerne ausführlich und persönlich schildern. «Schmeiss ich mich sonn-

tags normalerweise verkatert aufs heimische Sofa, war diesmal Brunch angesagt», liest man auf seinem Profil auf der Bewertungsplattform Yelp. Als PartyAnimal, das an Motto-Partys geht und an Festivals auftritt, lernt man den Nutzer kennen, als Connaisseur und Insider, der selbst Gerichte kennt, die nicht auf der Karte sind.

Das Geburtstagsessen Den Eindruck des Selbstdarstellers weist Steven Busse zurück. «Wenn ich mich profilieren wollte, würde ich das anderswo machen», sagt der 35-jährige Softwareentwickler, der auch als Techno-DJ unterwegs ist. Den Anstoss für seine erste Bewertung gab ein enttäuschendes Geburtstagsessen in einem Zürcher Restaurant. «Nach dieser Erfahrung wollte ich einfach Luft ablassen», erzählt Busse. Seither beschreibt er primär positive kulinarische Erlebnisse, oftmals in fünf

Minuten. Er brauche die Plattform gerne selbst zum Stöbern, sagt Busse. Da sei es sicher nicht verkehrt, wenn er auch ab und zu Bewertungen abgebe. Dass er gerne schreibt, beweist er mit sprachlichen Leckerbissen wie «Die Pasta mit dem Lachs sah in der Auslage zwar lecker aus, der Gaumen erteilte den Augen aber schon nach dem ersten Bissen einen Rüffel.» Bei Yelp ist man froh und äusserst bemüht um ausführliche Berichte. Vorbildliche Nutzer wie Busse werden vom US-Unternehmen als Elite-User ausgezeichnet und zu exklusiven Events eingeladen. Wer zur Elite gehört, entscheidet das sogenannte Elite-Konzil in San Francisco. Nach welchen Regeln ausgewählt wird, ist ebenso Firmengeheimnis wie die Logik des Filters, mit dem auf Yelp angeblich missbräuchliche unlautere Rezensionen ausgeschieden werden. Wegen des Filters stand das Unternehmen in den USA mehrmals vor Ge-

Manuel Nappo findet die Lust am Bewerten wenig erstaunlich. «Schon vor Tripadvisor, Foursquare und Yelp hat man sich durch das Wissen, wo es die beste Bratwurst oder die coolste Musik gibt, abgehoben», sagt der Leiter der Fachstelle Social Media Management an der Hochschule für Wirtschaft Zürich. Nur durchmischten sich die sozialen Schichten auf den Bewertungsplattformen stärker, online äussere auch seine Meinung, wer sich offline nicht traue. Bewertungsportale gibt es inzwischen für alles Erdenkliche – Arztbesuche, Lehrer, Bordelle. Über Essen, Schlafen und Fliegen werde besonders engagiert geschrieben, sagt Nappo. Denn bei diesen Themen kann jeder mitreden, was Distinktion schwieriger, aber auch umso interessanter macht. Erfolg habe, wer mit seinem Geschmack die Masse nicht vor den Kopf stosse und doch etwas rebellisch sei, so Nappo. Wer seine Meinung also wie ein farbiges Cupcake-Topping auf den Mainstream obenauf klatscht, dessen Bewertungen werden gerne gelesen. Nappo bezeichnet Anerkennung als wichtigen Treiber für die Online-Partizipation. Diese erhält man auch ohne Rückmeldungen auf die Beiträge. So beweist etwa der Vielflieger schon alleine mit seinen Ausführungen zu Beinfreiheit und Armlehnen auf der TripadvisorTochterplattform Seatguru, dass er sich mit Flugzeugen auskennt – ein gutes Gefühl. Reziprozität und Einflussnahme nennt Nappo als weitere Beweggründe. «Viele Leute, die sich für einen Review Mühe geben, wollen tatsächlich etwas verbessern», so ist er überzeugt. Dabei wird nicht nur aus Frust ausführlich geschrieben. Für manche User mögen die Plattformen eine Art Tagebuch darstellen, durch das das Erlebte bedeutsamer erscheint. Nappo ist selbst nicht ReviewSchreiber, aber froh um deren Berichte. Hätte er die Bewertungsseiten für Hotelzimmer schon vor seiner Hochzeitsreise gekannt, wären er und seine Frau in San Francisco bestimmt nicht im Zimmer neben der Lüftung gelandet.

MEIN DING

Handyhülle, Modell Eule, Gummi Wenn mir vor einigen Jahren jemand gesagt hätte, dass ich einmal zärtliche Gefühle für ein technisches Gerät haben würde, dann hätte ich mich wohl geschämt. Aber es kam anders. Vor drei Jahren kaufte ich mir in New York ein Smartphone. Es war mein erstes, und um es zu schonen, wollte ich auch gleich eine Hülle kaufen. Ich fand sie bei einem Strassenhändler in Manhattan. Zwischen vielen anderen Handyschalen sah mich diese Eule an. Mit ihren Füssen schien sie sich auf einem Ast festzuhalten. Ihre Augen: zwei schwarze Knöpfe, ihr Federbauch: weisse Lamellen, ihr Schnabel: ein brauner Knubbel. Das Gummi der Hülle war weich und fest zugleich und lag gut in der Hand. Die Eule kostete nur etwa zehn Dollar, weshalb ich mir zur Sicherheit gleich zwei kaufte. Natürlich bin ich nicht die Einzige mit einem Faible für Eulen. Seitdem sie

Verbindung zur Welt.

GORAN BASIC / NZZ

Eisbären und Pinguine als Trend-Tiere abgelöst haben, sind Deko-Eulen Mainstream. Harry Potter hat die Eule mit seiner Begleiterin und Posteule Hedwig gar zum echten Haustier geadelt. Klar, es ist weit gegriffen, wegen einer Gummihülle, nur weil sie Augen hat, für ein Telefon fast innige Gefühle zu hegen. Dennoch: Die Eule blickt mich an, wo auch immer mein Handy liegt. Die Eule ist eine Rarität, nicht so eine Allerweltshülle wie etwa ein Freitag-Etui. Sie wirkt auch nicht so nostalgisch wie die Hüllen im Gameboy- oder Kassetten-Look, deren Besitzer doch immer den achtziger und neunziger Jahren hinterherzutrauern scheinen, und sie verströmt auch keinen fröhlichen Patriotismus wie eine Hülle mit Flaggenmotiv. Selbstredend werde ich oft auf die Eule angesprochen. Als Handyhülle wird auch sie zur Posteule. Sie symbolisiert meine Verbindung zur Welt. Mitunter nenne ich mein

Handy denn auch «das Eulofon» oder einfach nur: «die Eule». Im Herbst 2013 stahlen Diebe meine Tasche aus dem Velokorb. Zwar wurde meine Tasche wiedergefunden, aber was natürlich fehlte, waren Bargeld und Handy – und damit auch die Eule. Es ging mir nicht um das Gerät: Letztlich ist das Handy ja nur ein Gebrauchsgegenstand. Was aber die Eule betraf, so schien es mir fast, als hätte man mir auch einen Freund gestohlen. Mich ärgerte die Vorstellung, dass jemand die Eule einfach vom Telefon abziehen und in den Müll werfen würde. Aber schliesslich ist jeder ersetzbar – und ich hatte Glück: Ich hatte ja noch meine zweite Eule. Dennoch sind auch die Tage dieser Eule gezählt. Das Handy, das ich mir irgendwann kaufen werde, ist schlanker, und meine Eule wird dafür zu breit sein. Dann also heisst es Abschied nehmen. KATHRIN KLETTE

AUF DER ZUNGE

Magische Worte Von Urs Bühler «Gnotschi!», schmettert der beleibte Tourist durch die Trattoria, derweil er die Karte vergeblich nach Gnocchi durchforstet. Schliesslich bestellt er lauthals «Pizza ai Funtschi Porkini!» Und in der Gelateria, in der er seinen Diätplan definitiv sprengt, posaunt er wenig später heraus: «Strakiatella, subito!» Ach, so reich die italienische Kultur mit kulinarischen Verheissungen gesegnet ist, so zahlreich sind die Tücken, was die Aussprache betrifft. Gegen diese Fallstricke ist auch der Kolumnist nicht gefeit, der den in der Heimat abhandengekommenen Sommer gerade in Apulien verlängert. Erspart man sich und seinem Umfeld also nicht besser die Peinlichkeit von Anfängerfehlern, indem man beim Bestellen auf die oft mitgelieferte Übersetzung ausweicht? Drei Gründe sprechen klar dagegen. Erstens: Zu den besten Trouvaillen zählen Ristoranti, deren Karte nur in Italienisch gehalten ist (in diese Kategorie fallen einige Entdeckungen, die wir dem tollen Slow-Food-Führer «Osterie d’Italia» verdanken). Zweitens: Während Franzosen sofort mit blasierter Miene auf Englisch umstellen, sobald sie den Anflug eines fremdsprachigen Akzents wahrnehmen, verfahren Italiener geduldiger mit Aussprache-Sündern. Sie schätzen noch, dass sich jemand um ihre Lingua bemüht, sei es noch so ringend und radebrechend. So darf man sich unbefangen äussern, ohne Prüfungsangst (aber gerne in moderaterer Lautstärke als der erwähnte Tourist). Und drittens: Nur der poetische Klangteppich der Originalsprache bereitet die Zunge adäquat auf die Gaben vor, die in Lokalen mit magischen Namen wie «Osteria del tempo perso» aufgetragen werden: «Spaghetti alla vongole» statt «Spaghetti with clams», «Pescato del giorno» statt «Catch of the day», «Seppie alla griglia» statt «Grilled Cuttlefish». Und da wir gerade der apulischen Tradition frönen, Meeresgetier roh zu essen, bestellen wir als Antipasto «Il Crudo» und ignorieren die notdürftige Übersetzung auf der Karte («Starter uncooked»). Heissen die ungekocht gereichten Muscheln dann auch noch «Tartufi di Mare», ist die Harmonie von Mund und Magen perfekt. Wie das wohl Goethe handhabte, der dieses Land, wo die Zitronen blühn, als Arkadien pries? Nun, seine als «Italienische Reise» publizierten Tagebücher offenbaren mehr Interesse für Steine, Bäume, Bauten – Angaben zur Küche erschöpfen sich in der Ankündigung, der Geliebten «Brokkolisamen» und Kaffeebohnen zu schicken. Seither aber hat die Cucina Italiana ihren Siegeszug um den Globus angetreten, und das heisst: In der Originalsprache bestellen ist Kür bei der Pizzeria zu Hause um die Ecke, aber Pflicht im Ticino und im südlichen Nachbarland (man darf vorher durchaus ein paar Ausspracheregeln büffeln). Wie aber steht es mit all den asiatischen Lokalen bei uns? Ist dem thailändischen, chinesischen, vietnamesischen Personal unser Gestammel von Lautketten wie «Pla Pad Khen Chay» oder «Gai Pad Med Ma Muang» zuzumuten, das in seinen Ohren wohl noch mehr schmerzt als in unseren das «i» im «Züricher Geschnetzelten» aus deutschen Mündern? Nun, nicht umsonst ist die Speisekarte beim Asiaten hierzulande meistens durchnummeriert: Da ist’s wohl doch völlig in Ordnung, faul und feige die Zahl des gewünschten Gerichts zu nennen.


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