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Die IPPNW in Russland Ein Gespräch mit Sergej Kolesnikov

Die IPPNW in Russland

Ein Gespräch mit Sergej Kolesnikov

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30 Jahre deutsche Wiedervereinigung – Grund genug, einen Blick zurück in die Geschichte zu werfen, auch die der IPPNW, die so eng mit dem Kalten Krieg verknüpft ist. Wie begann das gleich noch mal? Wenn man diese Frage stellt, fallen immer sofort zwei Namen: Bernard Lown und Evgenij Chazov, ein amerikanischer und ein russischer Kardiologe, die sich 1980 in Genf trafen, um die Gründung einer Organisation von Ärzt*innen zu besprechen, die sich für die Verhütung eines Atomkriegs einsetzen sollte. Ein Wunder: Dass diese beiden Menschen, geprägt von gegensätzlichsten politischen Ideologien, in ihrer gemeinsamen Profession doch eine Basis fanden, um für ein gemeinsames, höheres Gut zu kämpfen: Die Abwendung der Bedrohung der gesamten Menschheit durch Atomwaff en. Für dieses Aufeinander-Zugehen trotz aller Widerstände bekam die IPPNW 1985 den Friedensnobelpreis. Ende gut, alles gut? Halt, da fehlt doch noch was! Was geschah eigentlich nach dem Kalten Krieg? Dass die amerikanische Sektion „Physicians for Social Responsibility“ weiterhin eine der größten ist, wissen viele. Aber was passierte mit der IPPNW in den Ländern des ehemaligen Ostblocks? Diese Frage beschäftigte mich, seit ich im letzten Jahr ein Krankenhauspraktikum in Wladimir, Russland, absolvierte. Dort schien die IPPNW nahezu unbekannt zu sein … Umso mehr freute ich mich, als sich im Frühjahr diesen Jahres Sergej Kolesnikov, der ehemalige Vize-Präsident der IPPNW und noch stets aktives Mitglied der russischen Sektion, zu einem Skype-Gespräch mit mir bereit erklärte. Vorweg sei bemerkt: Natürlich ist seine Sicht der Dinge nicht repräsentativ für alle Sektionen der ehemaligen Ostblock-Länder. Aber das Gespräch mit ihm hat mir klargemacht, was für diverse Perspektiven wir innerhalb der IPPNW noch immer haben, dass unsere Sichtweisen auf die Welt weiter unterschiedlich und oft kontrovers sind – und dass wir gerade deswegen umso mehr den Dialog suchen sollten. Aber von vorne:

Die IPPNW in den Ländern des Ostblocks wurde von Beginn an von staatlicher Seite unterstützt und gefördert, das sowjetische Gesundheitsministerium stellte Mittel bereit und die IPPNW war auch personell eng verknüpft mit der Regierung – so wurde Evgenij Chazov als berühmtes Beispiel später sowjetischer Gesundheitsminister. Diese Aufstellung führte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu einer großen fi nanziellen, aber auch ideologischen Krise:

Sergej Kolesnikov: „Zu dem Zeitpunkt, als die Sowjetunion auseinanderbrach, gab es Mitgliedsorganisationen der IPPNW in allen 15 Mitgliedsländern der Sowjetunion, sowie in den Mitgliedsländern des Warschauer Paktes. Nachdem die Sowjetunion verschwunden war, schlussfolgerten viele, dass der Kalte Krieg nun vorüber sei und dass man daher unserer Bewegung keine Aufmerksamkeit mehr schenken müsse. Daher hörte 1991 auch die Unterstützung durch die russische Regierung auf. […] Da die staatlichen Unterstützungen auch in den anderen ehemaligen Mitgliedsländern der Sowjetunion und des Warschauer Pakts wegfielen, fiel die Bewegung in den meisten dieser Länder in sich zusammen, verschwand einfach so. Weil die Menschen genug damit zu tun hatten, ihr eigenes Leben zu retten: Sie versuchten, Arbeit zu finden und gesellschaftliches Engagement brauchte niemand mehr, so ohne Unterstützung. Diese Situation besteht auch heute noch in ähnlicher Weise in den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks fort. Viele sehen die IPPNW als Überbleibsel der kommunistischen Staatsordnung an, weil sie durch die sowjetische Regierung gestützt wurde. Deswegen meinen sie, man solle nicht mitmachen, das Ganze vergessen. Unabhängig von der Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit von Atomwaffen meinen sie, ihre Länder sollten sich der NATO anschließen und damit auch der Meinung, dass Atomwaffen sie schützen können vor dem ‚schrecklichen, giftigen Russland‘ “.

Was im letzten Satz dieses Zitats schon anklingt, erwies sich während unseres Gesprächs als prägender Teil der Selbstwahrnehmung vieler Russ*innen laut Sergej Kolesnikov: Das Gefühl, im Westen ungerechtfertigterweise weiterhin als „Macht des Bösen“ dämonisiert und durch die NATO drangsaliert zu werden. Diese Wahrnehmung prägt auch die Rolle der IPPNW in Russland:

Kolesnikov: „Die Bevölkerung findet, dass das aggressive Handeln des Westens es nicht erlaubt, über Maßnahmen zur atomaren Abrüstung nachzudenken. Das ist offensichtlich, verständlich. Aber ich erzählte Ihnen ja schon über die NATO, diese geschilderte Situation setzt sich weiter so fort. Also darum ist die Friedensbewegung in unserem Land leider nicht sehr populär, Pazifismus wird unserem Land nicht als patriotisch angesehen. Deswegen gibt es sehr wenige Anhänger dieser Sichtweise. Sie finden sich u. a. in Gruppen, die gegen die Regierung arbeiten, aber der Großteil der Bevölkerung unterstützt die Regierung. Und wir in unserer russischen Sektion der IPPNW sehen uns selber nicht als Pazifisten. Wir sind Patrioten, die Sicherheit für ihr Land möchten und darum treten wir dafür ein, dass Atomwaffen früher oder später verschwinden. Also, wir sind keine Pazifisten – wir sind Patrioten, wir sind für unser Land, aber gegen Atomwaffen“.

Gesa Baum im Skype-Gespräch mit Sergej Kolesnikov von der IPPNW Russland.

Gesa Baum im Skype-Gespräch mit Sergej Kolesnikov von der IPPNW Russland.

Ich war sehr erstaunt über diese Sichtweise – ich persönlich habe die IPPNW immer als Teil der Friedensbewegung und damit per se auch als pazifistisch verstanden. Dass Pazifismus einem bedrohlich erscheint, weil man das Gefühl hat, das eigene Land damit fremden Mächten freizugeben – dieser Gedanke ist mir fremd. Als ich Sergej Kolesnikov fragte, ob es nicht möglich sei, gleichzeitig Patriot und Pazifist zu sein, kamen wir ausgerechnet auf den dunkelsten Teil russisch-deutscher Geschichte zu sprechen.

Kolesnikov: „Warum ist Russland immer ,Aggressor‘ genannt worden? Es ist ein sehr interessantes Konzept, ein leidendes Land Aggressor zu nennen. Dieses Konzept dominiert im Westen […] Mein Vater ist im Krieg von Stalingrad nach Berlin gegangen, er war Feldscher beim Militär. Ich weiß also über die Geschichte auch sehr gut Bescheid, in unserer Familie hat sich das auch gespiegelt. Darum ist das alles noch lebendig und wenn man sagt, Russland müsse sich nicht verteidigen, es bedrohe uns doch niemand, dann ist das leider nicht wahr, auch wenn wir gerne hätten, dass es so ist. Und es regt uns natürlich auf, wenn man versucht, die Geschichte genau andersherum darzustellen, wenn man also die Sowjetunion beschuldigt, in Europa eingefallen zu sein. Das ist Schwachsinn […] Aber wenn man das der ehemaligen sowjetischen, heutigen russischen Bevölkerung erzählt, so ruft das nichts außer Staunen hervor, Verärgerung nicht. Wenn ein Volk 27 Millionen Leben verloren hat, um das eigene Territorium zu verteidigen [...] als die sowjetische Armee dann darauf reagiert hat, hart reagiert hat darauf, dass sie Menschen auf unserem Territorium vernichtet haben, friedliche Menschen, nicht nur Streitkräfte, friedliche Menschen. Soll das etwa ein Zeichen der Humanität, der Zivilisation sein? Es ist nicht wichtig, ob das Kommunisten waren oder Baptisten oder Katholiken oder Orthodoxe. Für sie [das nationalsozialistische Heer, Anm. d. Red.] waren es Tiere, „Untermenschen“. Darum ist diese Erinnerung natürlich lebendig und das geht so weiter: Der Westen findet, die Russen seien Untermenschen. Mit denen man von oben herab

sprechen kann, denen gegenüber man sich Beleidigungen erlauben kann. Das ruft natürlich Verärgerung und Bedenken hervor, dass das sogar zu physischen Handlungen führen könnte, als ob wir Untermenschen für die westliche Welt wären.“

Auch wenn ich Sergej Kolesnikovs Einschätzungen definitiv nicht in jeder Hinsicht teilen kann, ging mir dieser Teil des Gesprächs sehr nahe. Mein eigener Großvater war als Soldat im Zweiten Weltkrieg in Russland. Ich lebte nach dem Abitur als Freiwillige der „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ ein Jahr lang in Minsk und lernte erst dort nach und nach darüber, mit was für einem unvorstellbaren Ausmaß an Verachtung die nationalsozialistische Politik Menschen in Osteuropa behandelte. Dass diese Erfahrungen tiefe Spuren hinterlassen haben, darf eigentlich niemanden wundern. Vielleicht sollten wir uns daran heutzutage hin und wieder erinnern?

Doch nun zurück zur aktuellen Arbeit der IPPNW in Russland. Auch wenn die IPPNW dort heutzutage eine NGO ist, bleibt der Draht zur Regierung anscheinend weiterhin sehr viel kürzer, als man es von der deutschen Sektion gewohnt ist:

Kolesnikov: „Wir treffen uns z. B. regelmäßig mit Vertretern des Außenministeriums; dort gibt es einen Ausschuss, der sich mit Massenvernichtungswaffen beschäftigt und darin wiederum einen gesellschaftlichen Beirat. In diesem Beirat treffen wir uns einmal im Jahr mit dem Stellvertreter des Außenministers und besprechen das Problem der Bedrohung durch Atomwaffen, was unsere Rolle ist, was wir der Regierung vorschlagen, zu tun. Hin und wieder kamen Vertreter von IPPNW-Sektionen aus anderen Ländern; der letzte Besuch war vor anderthalb Jahren. Damals trafen wir uns ebenfalls mit Vertretern des Außenministeriums, veranstalteten ein großes Symposium. Und in der letzten Zeit arbeiten wir auch eng mit der Pugwash-Bewegung1 zusammen. Unser Pugwash-Komitee ist Teil der Akademie der Wissenschaften, von dort erhält es ein wenig finanzielle Unterstützung und wir von der IPPNW arbeiten damit zusammen, auch mit den internationalen Pugwash-Komitees. Ich selber bin schon drei Mal bei den internationalen Pugwash-Konferenzen als Vertreter der IPPNW aufgetreten – wir sind also sehr aktiv dabei, ich bin einer der Leiter des russischen Pugwash-Komitees. Und logischerweise arbeiten wir auch mit dem russischen Gesundheitsministerium zusammen. Vor Generalversammlungen treffen wir uns und wir vermitteln unsere Sicht der Dinge. […] Mich kränkt es natürlich ein wenig, dass unsere Bewegung weniger stark geworden ist […].

Am Ende unseres Gesprächs kamen wir noch auf die Zusammenarbeit innerhalb der internationalen IPPNW zu sprechen: Kolesnikov: „[W]ir haben immer gestritten, aber sind trotzdem Freunde geblieben. Unsere Bewegung ist eine sehr gute, freundschaftliche, sogar familiäre Bewegung, wie eine große Familie. Und die Leiter heute sind super, sie sind sehr aktiv: Tilman Ruff, Ira, auch in Schweden, in Norwegen… Sie sind starke ,Propagandisten‘, wie ich sie mit dem alten Begriff bezeichnen würde. Sie veröffentlichen viel, das ist sehr gut. Ich bin ihnen einfach dankbar, ich kann jetzt schon nicht mehr so aktiv an der Bewegung mitwirken, aber ich bin ihnen sehr dankbar dafür, dass sie den Status und die Bedeutung unserer Bewegung aufrechterhalten. Ich folge aufmerksam ihren Publikationen, Interviews, Erklärungen. Also wo ich mithelfen kann, helfe ich mit, aber langsam ist es auch an der Zeit, dass die Jugend sich damit beschäftigt.“

Mir ist in diesem Gespräch deutlich geworden, dass das Denken in den Kategorien des Kalten Krieges auch dreißig Jahre später noch lange nicht verschwunden ist. Wenn wir die Chancen auf einen nachhaltigen Frieden ernsthaft vergrößern wollen, müssen wir weiterhin einen ernsthaften „Ost-West-Dialog“ suchen, auch wenn dieser häufig unbequem und konfliktreich ist. Nur so kann es gelingen, Ängste auf beiden Seiten zu vermindern und Vertrauen aufzubauen. Aber hey – wenn nicht in der IPPNW, wo dann?

Fußnote:

1 Im Jahr 1957 organisierte und finanzierte Cyrus S. Eaton, angeregt vom Russell-Einstein-Manifest (1955), die erste Pugwash Conference on Science and World Affairs. Seither kamen dort einflussreiche internationale Wissenschaftler zu Sitzungen und Workshops zusammen, um einen Beitrag zu Fragen der atomaren Bedrohung, von bewaffneten Konflikten und Problemen der globalen Sicherheit zu leisten. Inzwischen veranstaltet die Organisation „Pugwash International“ neben Jahrestagungen Workshops zu Themen wie nukleare Abrüstung, biologische und chemische Waffen, regionale Konflikte, der Verbreitung von Waffentechnologien und Verantwortung der Naturwissenschaftler. (Quelle: wikipedia.org/wiki/Pugwash_Conferences_on_Science_and_World_ Affairs, abgerufen am 9.9.2020)

Die Autorin: Gesa Baum, 9. Semester Humanmedizin, Universität Oldenburg.

Titelfoto: Die Basilius-Kathedrale am Roten Platz in Moskau, Russland. Bild: Bearbeitete Version des Orignals von A. Savin (Wikimedia Commons/WikiPhotoSpace), CC BY-SA 3.0