IPPNW-Thema: Tragödie Ukrainekrieg

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ippnwthema

Juni 2022 internationale ärzt*innen für die verhütung des atomkrieges – ärzt*innen in sozialer verantwortung

Tragödie Ukrainekrieg: Im

den Friedenskurs halten

Sturm

Eine gemeinsame Sicherheits- und Friedensordnung ist zwingend notwendig!

Vortrag von Andreas Zumach zu den Friedensperspektiven im Ukrainekrieg

Der Jounalist Andreas Zumach hat auf dem IPPNW-Jahreskongress in Hamburg einen Vortrag zu den Friedensperspektiven im Ukrainekrieg gehalten, den wir hier in Auszügen dokumentieren.

Russland wird die Ukraine niemals unter Kontrolle brin gen. Es wird in einem solchen Szenario dauerhaft ge waltfreien, aber auch gewalttätigen Widerstand der Ukrainer*innen geben, denen Putin wirtschaftlich, politisch und demokratiepolitisch nichts anzubieten hat. Es muss deshalb darum gehen, eine für Wladimir Putin gesichtswahrende Exit-Strategie aus diesem Krieg zu finden. Die Chancen dafür sind in den letzten Wochen eher geringer geworden.

Wann im Hinblick auf die Aufrüstung und die Lieferung von kon ventionellen Waffen der Punkt erreicht ist, an dem Wladimir Pu tin eine aktive Kriegsbeteiligung der NATO attestiert, das liegt in seiner Definitionshoheit. US-Präsident Joe Biden hat Mitte April 2022 im Kongress eine weitere Tranche von 31 Milliarden US-Dol lar beantragt, von denen 23 Milliarden für militärische Unterstüt zung für die Ukraine gedacht sind und weitere acht Milliarden für wirtschaftliche Entwicklung. (Anfang Mai hat der Kongress sogar 40 Milliarden US-Dollar für diese Zwecke bewilligt). Die Signale aus Washington werden immer eindeutiger, dass es nicht nur dar um geht, diesen Krieg zu beenden und dann möglicherweise den Abzug der russischen Invasionstruppen zu erzwingen, sondern darum, Russland in die Knie zu zwingen.

Egon Bahr hat vor 50 Jahren gesagt: „Eine europäische Friedens ordnung kann es nur mit der Sowjetunion geben, nicht ohne sie und schon gar nicht gegen die Sowjetunion.“ Dies gilt heute un verändert – natürlich bezogen auf Russland. Das gibt uns allein die geografische Lage auf diesem gemeinsamen eurasischen Kontinent vor. Eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Friedensordnung mit Russland ist nicht nur möglich, sondern zwingend notwendig.

Nun zu dem Begriff „Zeitenwende“ von Olaf Scholz. Der Begriff wurde vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush bereits am 12. September 2001 verwendet, am Tag nach den Terroran schlägen. Er sprach von einer Zeitenwende: Nichts sei jetzt mehr wie vorher und auch bestimmte Regeln würden nicht mehr gelten. Damit meinte er wichtige Bestimmungen des Völkerrechts, die die

USA dann in Folge auch kräftig verletzte. Daraufhin rief er den Krieg gegen den Terrorismus aus, der seit über 20 Jahren geführt wird. Gemessen an den damals erklärten offiziellen Zielen, die Gefahr des islamistisch gerechtfertigten Terrorismus zu überwin den, ist dieser Krieg völlig gescheitert – mit inzwischen Millionen Opfern. Gescheitert in Afghanistan, aber auch im Irak, in Libyen, in Syrien. Und im Moment scheitert er in Mali.

Mit dem Zeitenwende-Begriff soll das größte Aufrüstungspro gramm Deutschlands seit 1945 gerechtfertigt, die 100 Milliarden Sondervermögen sollen grundgesetzlich abgesichert werden so wie eine Steigerung des jährlichen Militärhaushalts auf mindes tens zwei Prozent des Bruttosozialproduktes. Deswegen müssen wir dieser Zeitenwenden-Behauptung widersprechen, um dann auch den angeblich unabweisbaren Folgen zu widersprechen. Der Begriff wird ja dafür benutzt, die Geschichte der letzten 30 Jahre zu entsorgen und vor allem die Verantwortung und Schuld anteile, die die 33 westlichen Staaten der NATO und EU daran haben, dass es zu diesem Konflikt mit Russland gekommen ist. Es geht nicht darum, diesen Krieg zu rechtfertigen, aber wir müssen darauf bestehen: Nicht erst seit der völkerrechtswidrigen Anne xion der Krim 2014, sondern spätestens seit 1997 mit der Ent scheidung, die NATO nach Osten zu erweitern, hat der Westen die Bausteine geliefert für ein sich stetig verschlechterndes Verhältnis zu Russland, in dessen Ergebnis wir jetzt diesen fürchterlichen Krieg haben.

Es wird behauptet, der Ukrainekrieg bestätige die Notwendig keit von Atomwaffen. Umgekehrt: Dieser Krieg ist der aller beste Beweis dafür, dass wir die Atomwaffen aus dieser Welt endlich beseitigen müssen – weil sie eben keine Abschreckungs funktion haben, sondern Krieg ermöglichen. Präsident Putin kann diesen Krieg bisher doch, abgesehen vom Widerstand der ukrai nischen Streitkräfte, weitgehend ungehindert führen, weil er eben mehr oder weniger unmissverständlich mit der Atomwaffe droht. Und weil die NATO damit rechnen muss, dass Russland mögli cherweise Atomwaffen einsetzen könnte und sie dann selbst auch unter den Zwang ihrer eigenen nuklearen Einsatzstrategie gerät. Atomwaffen sind keine erfolgreichen Abschreckungsinstrumente, sie ermöglichen erst das Führen von Kriegen.

In diesem Zusammenhang wird auch behauptet, dass die Ukrai ne nicht überfallen worden wäre, hätte sie nicht auf Atomwaffen verzichtet. Im Budapester Memorandum 1994 haben die Ukrai ne, aber auch Kasachstan und Belarus auf die noch auf ihrem Territorium liegenden sowjetischen Atomwaffen verzichtet. Im Gegenzug dafür haben Russland und die USA und Großbritan

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nien die Souveränität und die Unverletzlichkeit der Grenzen dieser Staaten garantiert. Selenskyj hat in seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar 2022 völlig zu Recht ge sagt, dass Russland dieses Memorandum verletzt hat und hat neue Garantien dafür gefordert. Doch zu behaupten, die Ukraine habe damals auf eine real existierende nukleare Abschreckung als Option verzichtet, ist nicht richtig. Die Waffen lagen zwar auf ihrem Territorium, aber die operative Verfügungsgewalt über sie lag ausschließlich in Moskau.

Nach Ende dieses Krieges brauchen wir Rüstungskontrolle und Abrüstungsverhandlungen auf allen Ebenen, im atoma ren und im konventionellen Bereich, bei der Truppenstärke, bei den Manövern. Die NATO und die USA hatten sich zu den ent sprechenden Vorschlägen und Forderungen Putins von Anfang Dezember 2021 durchaus positiv geäußert. Wenn die NATOStaaten in solche künftige Verhandlungen aber mit der Haltung hineingehen, nur die russischen militärischen Kapazitäten redu zieren zu wollen, die eigenen aber für sakrosankt erklären, sind diese Verhandlungen leider schon heute zum Scheitern verurteilt.

Ein weiterer wichtiger Baustein ist ein wirtschaftlicher. Wenn da von die Rede ist, der Ukraine möglicherweise eine EU-Perspek tive anzubieten, darf nicht dasselbe passieren wie bei den Ver handlungen in den Jahren 2010–2013, wo die EU vom damaligen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch gefordert hat, sich zu ent scheiden zwischen einer Annäherung an die EU oder einer zen tralasiatischen Zollunion mit Kasachstan, Belarus und Russland. Das von einem Land zu verlangen, das traditionell ein Großteil sei nes Wirtschaftsverkehrs mit Russland abwickelt, war verheerend.

Walter Steinmeier hat als Außenminister 2016 in einem Interview gesagt, die Wirtschaftsexpert*innen der EU, Russlands und der Ukraine sollten sich an einen Tisch setzen und darüber reden, wie man die bestehende Zollunion zwischen Russland und der Ukraine kompatibel machen könne. Das ist leider nie passiert.

Noch ein wichtiger Punkt: Wir alle auf unserem eurasischen Kontinent müssten ein primäres Interesse haben, die unheil volle Abhängigkeit Russlands und seiner Wirtschaft von fossilen Energien in den nächsten Jahren schrittweise zu reduzieren. Die russischen Wirtschaft besteht zu 80 Prozent aus fossiler Energiewirtschaft. Wenn das so bleibt, werden wir die Pariser Klimaziele nicht erreichen. Wir müssen mit Russland eine grü ne nachhaltige Energie-Partnerschaft eingehen. Das können wir auch schon beginnen, wenn Putin noch ein paar Jahre im Kreml Herrscher sein sollte. Man könnte in den windreichen Regionen Sibiriens und den sonnenverwöhnten Regionen Südrusslands z. B. grünen Wasserstoff herstellen mit Wind- und Solaranlagen, die wir Russland unter guten Bedingungen schnell zur Verfügung stellen sollten. Das wäre ein konkretes Projekt für eine europäi sche Friedensordnung mit Russland, die diesen Namen wirklich verdient.

Für eine europäische Friedensordnung ist auch erforderlich, dass all die schwärende Wunden, die in den letzten 30 Jahren durch militärische Gewaltmittel geschlagen wurden, auf unserem Kon tinent geheilt werden. Das heißt, für die Krim und die anderen umstrittenen Territorien in der Ukraine muss es ein einvernehm liches Verfahren geben, am besten eine neue Abstimmung von der UNO durchgeführt, z. B. mit der Option einer weitestgehen den Autonomie dieser Gebiete innerhalb der Ukraine. Dasselbe muss passieren für die sezessionistischen Gebiete in Georgien und Moldawien, wo im Moment russische Truppen stehen. Und last but not least: Auch die Wunde, die die NATO 1999 mit ihrem Luftkrieg gegen Serbien mit der nachfolgenden Abspaltung des Kosovo geschlagen hat, muss endlich geheilt werden.

Den Mitschnitt finden Sie auf Youtube: www.youtube.com/c/IPPNWgermany

Andreas Zumach ist Autor und Journalist. ANDREAS ZUMACH AUF DEM IPPNW- JAHRESKONGRESS IN HAMBURG 2022
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Konfliktdynamik und Friedenschancen

Ein Aufruf von Friedrich Glasl

Der Friedens- und Konfliktfor scher Friedrich Glasl formuliert Kernaussagen für Versöhnung, Abrüstung und Frieden in einem Aufruf an Politik und Zivilgesell schaft:

Als erstes muss verhindert werden, dass der Krieg durch Fehlverhalten weiter eskaliert:

1) In Zeiten erhöhter Spannungen dürfen Formen und Kanäle der direkten Kommu nikation niemals verlassen werden. Bei indirekter Kommunikation wird die Eskala tion durch viele Fehlerquellen, Verzerrun gen, Missverständnisse und Unterstellun gen vorangetrieben.

2) Zurzeit befürchten viele Regierungen eine weitere kriegerische Eskalation und reagieren mit Erhöhungen ihrer Vertei digungsetats. Derartige affektgetriebene Rüstungs-Reflexe haben jedoch keinerlei abschreckende oder deeskalierende Wir kung. In den letzten 150 Jahren hat sich gezeigt, dass ein Wettrüsten – entgegen seinem erklärten Zweck – keine Kriege verhindert, sondern diese paradoxerweise sogar provoziert und intensiviert.

3) Wenn Regierungen keine Eskalation wünschen, sollten sie auf Militarisierungen nicht reflexhaft mit Rüstungserhöhungen reagieren. Vielmehr sind Initiativen zu de eskalierenden Aktionen notwendig, um aus dem Teufelskreis des Rüstungs-Re flexes auszubrechen. Zu diesem Zweck stellen sie an die gegnerische Konflikt partei keine neuen Forderungen, sondern beweisen durch ihre deeskalierenden Vor leistungen unmissverständlich, dass sie die entstandenen Spannungen ernsthaft reduzieren wollen.

4) Regierungen demokratischer Länder sollten journalistische Freiheiten niemals einschränken, da sie andernfalls gegen faktenwidrige Berichterstattungen nicht glaubwürdig Stellung beziehen können.

5) Wenn angesehene Persönlichkeiten Deutschlands und Österreichs wichtige Aufsichtsratsfunktionen in russischen Un ternehmen bekleiden, sollten sie ihre Zu gänge zu Entscheidern in Russland nicht abbrechen, sondern intensivieren und die bestehenden Vertrauensbeziehungen nut zen, um auf deeskalierende Entscheidun gen einzuwirken.

6) Menschen aus Russland sollten von kulturellen Events und wissenschaftlichen Kooperationen nicht ausgeschlossen wer den. Bei kulturellen Anlässen ist die Frei heit von Kunst, Religion und Wissenschaft unbedingt zu wahren. Damit soll – entge gen der psychologischen Kriegsführung! – deutlich gezeigt werden, dass nicht die Menschen eines Volkes als Feinde be trachtet werden. Solche Veranstaltungen sind bewusst zu nutzen für Diskurse über Grundwerte und Appelle zu gewaltfreien Konfliktlösungen.

Diese Punkte zu beachten begünstigt Initiativen für Waffenstillstand und Friedensverhandlungen

7) Initiativen von Regierungen neutraler und bündnisfreier Staaten wecken Be wusstsein dafür, welche Schäden eine weitere Eskalation für die ganze Mensch heit bewirkt; diese zu verhindern ist höchste Verantwortung einer jeden poli tischen Führung. Neutrale regen Sofort maßnahmen an zum Beenden kriegeri scher Handlungen, mit der Perspektive einer künftigen neuen Sicherheits- und Friedensordnung.

8) Seit 1990 ist es an der Zeit, mit den seinerzeitigen Partnern der KSE-, SALT-, START-Abkommen etc. und mit bedeu tenden Staaten wie u.a. China, Indien, Iran, Israel etc. auf Initiative der neutralen und bündnisfreien Staaten eine zeitgemä ße globale Sicherheits- und Friedensarchi tektur auszuhandeln. Nur gemeinsam mit den vormals verfeindeten Mächten kann eine neue Ordnung geschaffen werden, die auf Vertrauen und Kooperation baut und dadurch nachhaltige Wirkungen ge währleistet.

9) Produktion und Einsatz von Waffen systemen zerstören immense Ressourcen und wirken sich direkt und indirekt ver heerend auf das Klima aus. Sie binden viele Mittel, die zur Rettung unseres Planeten vor der Klimakatastrophe drin gend benötigt werden. Deshalb sind Ab bau und Limitierung aller Waffensysteme gleichzeitig Maßnahmen zum Abwenden der Klimakatastrophe. Auch wenn solche Versuche nicht sofort erfolgreich waren, sind erneut wieder Initiativen zu wagen! (Quelle: www.trigon.at)

Prof. Friedrich Glasls Vortrag „Konflikt dynamik und Friedenschancen in der Ukraine“ finden Sie unter: youtu.be/qOXmlyY4LAc

Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich Glasl e.h. ist österrei chischer Konflikt-/ Friedensforscher und Mediator.

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UKRAINEKRIEG

IPPNW-STUDIERENDE ORGANISIERTEN EINE BIKETOUR GEGEN ATOMWAFFEN – 25.02.22 IN BERLIN

Keine Sicherheit durch nukleare Abschreckung

Atomwaffen machen den Krieg explosiv

Bis 1994 waren sowjetische Atomwaffen in der Ukraine stati oniert – heute wird argumentiert, Russland hätte die Ukraine nicht angegriffen, wären diese noch immer im Land. Diese Argumentation stimmt nicht, weil die Ukraine zu keinem Zeitpunkt Zu gang zu den sowjetischen Atomwaffen hatte. Sie waren lediglich auf ukrainischem Territorium stationiert.

Also: Welche Rolle spielt nukleare Ab schreckung? Der Besitz von Atomwaffen würde Kriege zwischen den Großmächten verhindern, heißt es oft. Atomwaffen wür den „strategische Stabilität“ bewahren und „Sicherheit schaffen“. Einen Beweis dafür gibt es nicht – lediglich die Korrelation der Existenz von Atomwaffen und der Tatsa che, dass ein Dritter Weltkrieg (noch) nicht stattgefunden hat. Beispiele für Angriffe und Kriege gegen Atommächte hingegen gibt es genug.

Atomwaffen machen den Krieg explosiv

China entsandte 1950 während des Korea kriegs 200.000 Soldaten gegen die Trup pen Südkoreas und der Atommacht USA. Argentinien marschierte 1982 auf den britisch kontrollierten Falkland-Inseln ein, und der Irak feuerte nach der US-ameri kanischen Invasion von 1991 auf die Atom macht Israel. Indien und Pakistan greifen einander in Kaschmir an, obwohl beide Atomwaffen besitzen.

Die Atommächte, allen voran Russland und die USA, haben seit Beginn des Atomzeit alters zahlreiche Stellvertreterkriege ge führt. Rückblickend sehen wir, dass Atom

waffen in Vietnam, Afghanistan oder im Irak nicht zu einem Ende der Gewalt bei getragen haben – im Gegenteil. Anstatt Si cherheit zu schaffen, macht der Besitz von Atomwaffen diesen Krieg über alle Maßen explosiv. Es ist naiv zu erwarten, dass der Einsatz von Atomwaffen verhindert wird, solange an der „nuklearen Abschreckung“ festgehalten wird. Denn die Gefahr von menschlichen oder technischen Fehlern ist extrem hoch. Sollte es zu einem Erstschlag kommen, können Automatismen und eine Eskalation zu einem globalen Atomkrieg führen.

Ukrainekrieg löst Bewaffnungsreflex aus

Ausgelöst durch das unberechenbare Ver halten Russlands erleben wir derzeit einen Bewaffnungsreflex aller direkt und mittel bar beteiligten Staaten. Ein Denk- und Handlungsmuster der Kriegslogik: der My thos der „erlösenden Gewalt“. In der Frie denswissenschaft ist das der erste Schritt zur absoluten Eskalation. Ein Krieg, an dem vier Atomwaffenstaaten beteiligt sind, wür de das Ende unserer Welt bedeuten.

Deshalb muss ein Weg gefunden werden, beidseitig gesichtswahrend zu einem Waf fenstillstand zu gelangen. Dazu müssen alle diplomatischen Möglichkeiten im Rah men der OSZE ausgeschöpft und muss auf vielfältige, gleichzeitig anwendbare Lö sungsansätze gesetzt werden. Im Ukraine krieg könnte der Einsatz von Mediator*in nen wie dem UN-Generalsekretär oder der Generalsekretärin der OSZE, Russland und die USA im ersten Schritt dazu bewegen, die Atomwaffen aus der erhöhten Alarmbe reitschaft zu nehmen. Vertrauensbildende

Maßnahmen wie ein rechtlich bindender Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaf fen durch die NATO und Russland könn ten folgen. Ein neues nukleares Wettrüs ten in Europa hat längst begonnen. Auch Deutschland plant die erste nukleare Auf rüstung seit dem NATO-Doppelbeschluss 1979. So sollen die in Deutschland sta tionierten US-Atomwaffen ab 2023 durch aufgerüstete Bomben ersetzt und neue Kampfjets für deren Einsatz angeschafft werden. Putin hatte bereits 2015 ange kündigt, dass er auf diese Aufrüstung mit Gegenmaßnahmen reagieren würde.

Wie könnte Deutschland deeskalieren?

Deutschland kann zur Deeskalation des Konflikts beitragen. Ein Verzicht auf atoma re Aufrüstung und der Abzug der US-Atom waffen würden Deutschland sogar sicherer machen. Denn die Atomwaffen in Büchel eignen sich nicht zur Abschreckung. Da ihr Standort bekannt ist, wären sie im Kriegs fall eines der ersten Angriffsziele. Ihr Ab zug würde den Weg freimachen für den deutschen Beitritt zum UN-Atomwaffen verbot. Auf lange Sicht ist der Atomwaffen verbotsvertrag die einzige Antwort auf die Doktrin der nuklearen Abschreckung und die einzige Garantie für echte gemeinsame Sicherheit.

Dr. Angelika Claußen ist Vorsitzende der deutschen IPPNW.
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Feindbilder und Kriegslogik

Ein Beitrag zur psychosozialen Dimension

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist erneut Krieg ausgebrochen – diesmal wie der auf europäischem Boden. Je länger der Krieg dauert, desto komple xer werden politische Antworten, ob frie denspolitische oder militärlogische. Zwar ist der Exit aus Afghanistan erst ein drei viertel Jahr her, doch schon wird erneut die Macht der Stärke heraufbeschworen, werden militärische Aufrüstung und Waf fenlieferungen eingefordert.

Dieser Beitrag ist eine Erinnerung an die psychosozialen Funktionen des Krieges, wie sie unter anderem von dem Psycho analytiker Stavros Mentzos (1930–2015) dargelegt wurden.

1. Feindbilder aufbauen:

Zuvorderst werden Feindbilder geschaf fen, Dämonen an die Wand gemalt. Feind bilder werden meist von allen Seiten bedient. Es geht darum, andere zu ent menschlichen, das Antlitz der Anderen auszulöschen, sie als Persönlichkeiten zu negieren. Diese beklemmende Logik finden wir bei allen politischen Verfolgun gen, bei der Ausgrenzung ethnischer oder religiöser Gruppen, aber auch bei inter nationalen Schuldzuweisungen (wie „den Russen“ oder „der Achse des Bösen“).

Beispiele:

» Der deutsche Bundespräsident wird wegen seiner fehlenden Russlandfeind lichkeit selbst zur Zielscheibe – er wird von der Ukraine wieder ausgeladen.

» Ein russischer Patient, der wegen einer schweren Depression in Behandlung ist, fordert von seiner Therapeutin eine klare Positionierung für Russland. Nachdem dies nicht geschieht, beendet der Patient wütend die Therapie, die er aber wegen seiner seelischen Probleme dringend wei ter bräuchte.

» Niemand im Westen will den Krieg. Trotzdem fallen verschiedene Parteien

übereinander her, zum Teil mit verächt lichem Spott und Abwertung. Russische Musiker werden mit einem Auftrittsverbot im Westen belegt.

2. Wash-Out der Werte:

mas Elbert in der SZ vom 09.04.2022). Oder das Resultat ist Traumatisierung. Doch wer will eher Opfer als Täter sein?

3. Heldentum und Katharsis:

George Orwell: Animal Farm

Das grundsätzliche Tötungsverbot findet sich nicht nur in Art. 3 der Allgemeinen Menschenrechte als Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit wieder, sondern ist auch Kernelement allen religiösen Emp findens. Dennoch wird mit Begriffen wie Verteidigung von Demokratie und Frei heit, Sicherung der Handelswege oder Recht auf Selbstbestimmung militärische Gewalt erneut gerechtfertigt, hört man zusätzlich nationalistische Töne. Gemein sam ist den Scharfmachern, dass das Tötungsverbot von anderen Geboten ver drängt wird. „The cause“ kann beliebig gedehnt werden, wie nicht nur die media le Deutungsmacht in Russland bitter zeigt. In der „Schule der Nation“ bedarf es ge zielter Propaganda und einer Synchroni sierung des Gewissens, damit Soldat*in nen bereit sind, in den Krieg zu ziehen. Tötungshemmungen müssen überwun den, das Über-Ich transformiert, biologi sche Versöhnungsmuster gelöscht wer den. Diesen Prozess hat Yishai Sarid in seinem Roman „Siegerin“ beklemmend dargestellt. Werden Kriegsgräuel unmittel bar erlebt, können sie eine Verrohung be wirken, die „wie ein Schuss Heroin“ wirkt und den Rausch für weitere Gräueltaten absichert (so der Neuropsychologe Tho

Stavros Mentzos, Die psychosoziale Dimension des Krieges

Krieg löst Konflikte durch Unterwerfung und Zerstörung. Kompromissbildung und Kreativität sind Kriegsparteien fremd. Krieg ist nicht die Folge von Aggression, sondern Aggression ist das Instrument des Krieges. Menschen, die ungelöste Konflikte in sich tragen, sind anfällig da für, diese Spannung nach außen abzu führen. Besonders kritisch wird es, wenn Freiheit/Selbstbestimmung oder Bindung/ Liebe fehlen, um eine Balance herzustel len. Interessenkonflikte können nicht als sachliche Widersprüche ausgehalten wer den, sondern müssen in der Person des anderen vernichtet werden. Die Verdrän gung von Mitgefühl und Mitleid steht im Vordergrund.

Der Maler Franz Marc (1880–1916) zum Beispiel hat sich noch vor Ausbruch des ersten Weltkrieges zunächst glorifizierend mit einem erlösenden Heldentum ausein andergesetzt. Im Kampf würden alle Kon flikte aufgelöst, Europa gereinigt. Auf dem großformatigen Gemälde „Tierschicksale“ von 1913 zucken rote Blitze wie Artille riefeuer. Im Fokus steht ein blaues Reh, Symbol für die Unschuld der ganzen Tier welt. Als Soldat war Marc bald angewidert von den Gräueltaten, die er erlebte. 1916 fiel er bei Verdun herumfliegenden Gra natsplittern zum Opfer.

4. Ziel von Kriegen sind vorrangig wirtschaftliche Großmachtinteressen.

„No animal shall kill any other animal.“ (Chapter 2)
„No animal shall kill any other animal without a cause.“ (Chapter 8)
„ Krieg ist nicht der Vater aller Dinge, son dern ihr Verhinderer und Vernichter.“
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Die narzisstischen Interessen von Macht habern sind kriegstreibend, nicht ihr Aggressionstrieb. Ökonomische und po litische Vormachtstellung, Kampf um Rohstoffe und egoistisches Gewinnstreben be stimmen die Dynamik. Kriege werden nicht von den Hungrigen, sondern von den Rei chen und Satten initiiert. Der Blick auf die ökonomischen Zusammenhänge droht in der Ukraine verloren zu gehen, stattdessen werden Angriffs-, Verteidigungs- oder Ver nichtungsparadigmen in den Vordergrund gestellt. Nichtsdestotrotz begünstigen gerade patriarchale Gesellschaftsstruk turen die Militarisierung von Konflikten. Die hegemonialen Ansprüche der Macht elite finden Resonanz im „Fußvolk“ und in dessen Minderwertigkeitsgefühlen. Gesunde Schuld- und Schamgefühle wer den um des eigenen Vorteils willen oder zugunsten eines selbstüberhöhenden Nationalbewusstseins verdrängt. Im Krieg wird alles erlaubt, was im Frieden sanktio niert ist: Gier, Neid und Rache; Rauben, Töten und Zerstören. Im Krieg schwingt man sich auf zum Herrn über Leben und Tod – narzisstische und patriarchale All machtsfantasien.

5. Friedenslogik statt Abschrekkungsdoktrin

Erschreckend viele Menschen haben nie gelernt, mit Konflikten, Widersprüchen und gegensätzlichen Interessen konstruktiv umzugehen, das heißt, verhan deln und Kompromisse eingehen zu kön nen. Gewalt ist immer sekundär, Folge von Sprachlosigkeit. Die Sprache der Gewalt trägt die Narben von erlebter Gewalt, von Lieblosigkeit und Hilflosigkeit. Wer Gewalt anwendet, versucht eine passive in eine aktive Erfahrung zu transformieren – Täter statt Opfer zu sein, Identifikation mit dem Aggressor. Hass und Zorn wirken identi tätsstiftend bei selbstunsicheren Men schen.

Um all dem entgegenzuwirken, brauchen wir stabile Institutionen, welche auf humanistischen und demokratischen Werten beruhen. Kompromissbildung und Akzeptanz müssen gelehrt und ge lernt, Friedenslogik schon in der Schule eingeübt werden. Hierbei handelt es sich um langfristig angelegte Prozesse. Ob kurzfristig Waffenlieferungen zur Selbst

Tierschicksale, Franz Marc (1913):

verteidigung oder Milliardenangebote zur anderweitigen Befriedung des Konfliktes geboten sein können, vermag derzeit nie mand mit Gewissheit zu beurteilen. Die Stärke der Friedensbewegung liegt darin, dass sie grundsätzliche Überzeugungen in schwierigen Konfliktlagen nicht einfach über den Haufen wirft. Damit Frieden und Sicherheit lebbar wird, brauchen wir die Orientierung an verlässlichen Werten. Ver lässliche Friedensarbeit wiederum braucht endlich eine hoheitliche Finanzierung. Mil liardeninvestitionen in aktive Friedenspoli tik schaffen mit Sicherheit mehr Frieden als Milliarden in Aufrüstung.

Josef Raab ist IPPNW-Mitglied und aktiv in der Regio nalgruppe München.

IMPRESSUM

Herausgeber: Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atom krieges, Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW), Sektion Deutschland

Redaktion: Ute Watermann (V.i.S.d.P.), Angelika Wilmen, Regine Ratke

Layout: Regine Ratke/Samantha Staudte

Anschrift der Redaktion: IPPNW, Körtestraße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 69 80 740, E-Mail: ippnw@ippnw.de, www.ippnw.de

Bankverbindung: GLS Gemeinschaftsbank IBAN: DE23 4306 0967 1159 3251 01, BIC: GENODEM1GLS

Sämtliche namentlich gezeichnete Artikel entsprechen nicht unbe dingt der Meinung der Redaktion oder des Herausgebers. Nachdru cke bedürfen der schriftlichen Genehmigung. Erscheint viermal im Jahr.

„Die Bäume zeigten ihre Ringe, die Tiere ihre Adern“, so untertitelte der Maler das Bild.
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Atomanlagen im Ukrainekrieg

Mit jedem Kriegstag steigt die Wahrscheinlichkeit einer atomaren Katastrophe

Am 26. April 2022, dem Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl besuchte der Di rektor der IAEO Rafael Mariano Grossi die Anlage des havarierten Kraftwerksblocks, der inzwischen von einem Sarkophag ummantelt ist. Vor 36 Jahren hatte sich der bis dahin größte Reaktor unfall in der Geschichte der Atomenergie ereignet. Durch einen misslungenen Ver such war es zu einer unkontrollierten Ket tenreaktion, dann zu einer Kernschmelze und zu einer Explosion des Reaktordaches gekommen. Das im Reaktor als Moderator befindliche Graphit mitsamt den freige wordenen Radionukliden brannte elf Tage, so dass große Gebiete in der Ukraine, in Belarus und in Russland sowie in Europa radioaktiv kontaminiert wurden. Seit dem Jahr 2000 ist auch der letzte Kraftwerks block von Tschernobyl stillgelegt. Auf dem Gelände werden die abgebrannten Kern brennstäbe der drei stillgelegten Reaktor blöcke in oberirdischen Abklingbecken gelagert und müssen weiter gewartet wer den.

In den Bodenschichten der Sperrzone be finden sich außerdem langlebige Radio nuklide wie Plutonium 239 und Plutonium 240, die durch Truppenbewegungen mit schweren Fahrzeugen oder durch Artille riebeschuss freigesetzt werden können.

Russische Truppen hatten gleich zu Be ginn des Ukrainekrieges die Atomruine von Tschernobyl eingenommen und die Sperrzone besetzt. Satellitenbildern zu folge hatten russische Soldaten ohne jede

Schutzausrüstung in der Sperrzone Schüt zengräben ausgehoben. Eine Verstrahlung der Soldaten wird aufgrund der radioak tiven Bodenbelastung vermutet. Zeitweilig wurden in der Umgebung erhöhte Strah lenwerte gemessen, ein Hinweis auf das Aufwirbeln von radioaktivem Staub durch die Militäraktion.

Die Sicherheitslage infolge der vierwö chigen Besatzung durch die russi schen Truppen war prekär: Der Schichtbe trieb kam zum Erliegen. Die Arbeiter*innen waren fast vier Wochen ununterbrochen im Dienst, wichtige Instandhaltungsarbei ten wurden nicht durchgeführt. Zeitweilig mussten sogar Notstromaggregate an springen, da die Atomruine vom Strom netz abgekoppelt war. In der Zeit der Besatzung gab es über einen Monat kei nen Kontakt zwischen der ukrainischen Aufsichtsbehörde und der IAEO. Dieser konnte jetzt wiederhergestellt werden. Nachdem die russischen Truppen von dort abgezogen waren, reiste Grossi mit seinem Team an, um sich einen Über blick über die Situation zu verschaffen. „Ich weiß nicht, ob wir kurz vor einer Ka tastrophe standen, aber die Situation war absolut anormal und sehr, sehr gefähr lich“, so der IAEO-Direktor.

Das Atomkraftwerk Saporischja in der Ostukraine ist mit seinen sechs Reaktor blöcken und einer Kapazität von 5700 MW das größte Europas und befindet sich seit Anfang März unter Kontrolle des russischen Militärs. Wegen beschädigter Stromversorgungsleitungen sind momen

tan nur zwei Reaktorblöcke im Betrieb. Am 2. März 2022 wurde das AKW bei Kampfhandlungen von russischen Trup pen beschossen. Es kam zum Brand in einem Schulungsgebäude, zu Schäden am Reaktorgebäude 1 und in einem Tro ckenlager für abgebrannte Brennelemen te. Radioaktivität war nicht ausgetreten.

In der Ukraine decken 15 Reaktorblöcke an vier Standorten circa 50 Prozent des Strombedarfs des Landes. Knapp die Hälfte davon sind im Moment in Betrieb.

Gab es schon Angriffe auf Atomkraftwerke?

Krieg in einem Land mit laufenden Atom reaktoren ist ein Novum und ein Tabu bruch. Am 7. Juni 1981 zerstörten israelische Jagdbomber das irakische Atom kraftwerk Osirak. Es war der erste Angriff in der Geschichte auf einen Atomreaktor. Während des iranisch-irakischen Krieges bombardierte der Irak mehrfach den ira nischen Reaktor in Busher. In all diesen Fällen befanden sich die Anlagen noch im Bau und sie enthielten noch kein spaltba res Material. Ein Angriff auf ein im Betrieb befindliches Atomkraftwerk fand bisher noch nie statt, da es auch für einen An greifer unkalkulierbare Risiken birgt.

Wie gefährdet sind Atomanlagen in einem Krieg?

Dennoch warnte Grossi vor Kurzem: „Der militärische Konflikt bringt die Atom kraftwerke der Ukraine und andere Ein

DIE AKW-RUINE VON TSCHERNOBYL (2018)
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UKRAINEKRIEG Foto: Urbex Hungary / CC BY 2.0

richtungen mit radioaktivem Material in eine beispiellose Gefahr“. Selbst ohne militärische Absicht sind Atomanlagen im Krieg durch versehentlichen Be schuss oder durch Brände erheblich gefährdet. Schon im Jahr 2020 drohte ein Waldbrand in der Tschernobylzone das Kraftwerksgelände zu erreichen. Atomkraftwerke sind auch schon dann gefährdet, wenn wegen der Kampfhand lungen oder durch Sabotageakte das ver sorgende Stromnetz lahmgelegt wird. Da durch kann eine Kernschmelze ausgelöst werden. Ebenso sind Cyber-Angriffe eine immense Gefahr. Für die Kühlung sind AKWs auf eine ununterbrochene Strom zufuhr angewiesen. Auch ein abgeschal tetes Atomkraftwerk muss weiter gekühlt werden.

Das gilt insbesondere für die mit Wasser gefüllten Lagerbecken für abgebrann te Kernbrennstäbe, in denen gegenüber einem Atomkraftwerk ein Vielfaches an Radioaktivität gelagert ist. Für das Betrei ben der Notstromaggregate wird Diesel in einer Größenordnung eines Tanklastzuges pro Tag benötigt. In der Regel reichen die Dieselvorräte an den Atomanlagen für 1-3 Tage. Scheitert der Treibstoffnachschub und fällt die Kühlung aus, kommt es zur Kernschmelze.

Eine intakte Infrastruktur ist im Krieg häu fig nicht gewährleistet. In noch stärkerem Maße wäre eine funktionierende Infra struktur für den Umgang mit einer Reak torkatastrophe erforderlich. Befände sich ein Reaktor inmitten einer chaotischen,

umkämpften Zone, gäbe es wahrschein lich noch nicht einmal Ersthelfer*innen, die den radioaktiven Fallout eindämmen könn ten und die aus Angst vor Schüssen und Bombardierungen eher fliehen würden.

Sind Atomkraftwerke in einem Krieg völkerrechtlich geschützt?

Kraftwerke werden in modernen Konflikten häufig zur Zielscheibe, da ihre Zerstörung die Fähigkeit eines Landes beeinträchtigt, den Kampf fortzusetzen. Aber Atomreakto ren sind nicht wie andere Energiequellen. Sie enthalten enorme Mengen an radio aktivem Material, das auf unterschied lichste Weise freigesetzt werden kann. Grundsätzlich fallen Atomkraftwerke nach der Genfer Konvention (Art. 56, Abs. 1, S. 1 des 1. Zusatzprotokolls) unter den be sonderen Schutz „gefährlicher Anlagen“ wie Staudämme, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Da Atomkraftwerke immer auch Dual-use-Objekt sind, die der zivi len und militärischen Nutzung zeitgleich dienen, konnten sich die Vertragsparteien in den 70-er Jahren nicht darauf einigen, Atomkraftwerke grundsätzlich aus Kriegs handlungen herauszunehmen.

Im Art. 56 des 1. Zusatzprotokolls der Genfer Konvention wird in Absatz 2 das Verbot eines Angriffes auf Atomanlagen teilweise wieder eingeschränkt. Es heißt dort: „Wenn sie elektrischen Strom zur regelmäßigen, bedeutenden und unmittel baren Unterstützung von Kriegshandlun gen liefern und wenn ein solcher Angriff das einzige praktisch mögliche Mittel ist,

um diese Unterstützung zu beenden.“ Prof. Dr. Norman Paech schreibt dazu: „Es gibt im Völkerrecht derzeit nur eine Regelung in der Haager Landkriegsord nung und dem ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen, einen Ort als ‚unverteidigt‘ zu erklären. Er muss selbst demilitarisiert sein und darf dann nicht an gegriffen werden.“

Im Völkerrecht gibt es bisher keine kla ren Regelungen, was Abstands- und Sicherheitszonen betrifft. Es ist zu hoffen, dass dieser Krieg Anlass genug ist, diese Lücke im Völkerrecht zu füllen. Dringend notwendig ist, dass sich die russischen Truppen um die Atomanlagen zurückzie hen und diese zum Schutz der Zivilbe völkerung zu vollständig entmilitarisierten Zonen werden. Eine erneute Reaktorkatastrophe wie in Tschernobyl oder Fukushi ma ist jederzeit möglich. Mit jedem Tag, den der Ukrainekrieg andauert, steigt die rein statistische Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer nuklearen Katastrophe kommt.

Weiterlesen: Internationales IPPNWBriefing: „Am Rande einer humanitären Katastrophe“ – ippnw.de/bit/briefing Völkerrechtsblog: „Wie sind Atom kraftwerke im Krieg durch das Recht geschützt?“ – ippnw.de/bit/vb

Ute Rippel-Lau ist Mitglied des Vorstandes der deutschen IPPNW.

Grafik erstellt mit Datawrapper
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Weiterführende Informationen:

• IPPNW-Pressemeldungen, Materialien und Reden zum Ukrainekrieg: ippnw.de/bit/ukraine

• IPPNW-Papier zu Risiken und Nebenwirkun gen von Waffenlieferungen: ippnw.de/bit/waffen

• Vortrag von Andreas Zumach auf Youtube: https://youtu.be/09VmzmTD4u4

• Brandherd NATO-Russland-Krise: Wie kam es dazu? Und was jetzt tun? https://youtu.be/c-7fiz0IL2M

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Die Artikel und Fotos dieses Heftes stammen aus unserem Magazin „IPPNW-Forum“, Ausgabe Nr. 170, Juni 2022. Im Mittelpunkt der Berichterstattung des IPPNW-Forums stehen „unsere“ Themen: Atomwaffen, Friedens politik, Atomenergie, Erneuerbare Energien und soziale Verantwortung in der Medizin. In jedem Heft behandeln wir ein Schwerpunktthema und beleuchten es von verschiedenen Seiten. Darüber hinaus gibt es Berichte über aktuelle Entwicklungen in unseren Themenbereichen, einen Gastkommentar, Nachrichten, Kurzinterviews, Veranstaltungs hinweise und Buchbesprechungen. Das IPPNW-Forum erscheint viermal im Jahr. Sie können es abonnieren oder einzelne Ausgaben in unserem Online-Shop bestellen.

20 Jahre NATO-Krieg in Afghanistan:Eine vorläufige Bilanz ippnwforum das magazin der ippnwnr168 dez2021 3,50€internationale ärzt*innenfür die verhütung desatomkrieges – ärzt*innenin sozialer verantwortung NeinGrenzdrohnen zu Sanktionen!COP26 in Glasgow Greenwashing von Atomkraft: Ein Super-GAU für die Energiewende ippnwforum Foto: Paul Lovis Dorfmann/Campact, CC BY-NC 2.0 - Kein Krieg in Europa! - Elf Jahre Fukushima - Globale Impfgerechtigkeit das magazin der ippnw nr169 märz2022 3,50€ internationale ärzt*innen für die verhütung des atomkrieges – ärzt*innen in sozialer verantwortung ippnwforum das magazin der ippnw nr170 juni2022 3,50€ internationale ärzt*innen für die verhütung des atomkrieges – ärzt*innen in sozialer verantwortung Tragödie Ukrainekrieg: Im Sturm den Friedenskurs halten Foto: © Sebastian Backhaus / Agentur Focus - Klage auf Gesundheitsversorgung - Staatenkonferenz zum Atomwaffenverbot - Und wer spricht noch vom Jemen?
» www.ippnw.de/bit/forum
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