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IPPNW-Thema: Tragödie Ukrainekrieg

Eine gemeinsame Sicherheits- und Friedensordnung ist zwingend notwendig!

Vortrag von Andreas Zumach zu den Friedensperspektiven im Ukrainekrieg

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Der Jounalist Andreas Zumach hat auf dem IPPNW-Jahreskongress in Hamburg einen Vortrag zu den Friedensperspektiven im Ukrainekrieg gehalten, den wir hier in Auszügen dokumentieren.

Russland wird die Ukraine niemals unter Kontrolle bringen. Es wird in einem solchen Szenario dauerhaft gewaltfreien, aber auch gewalttätigen Widerstand der Ukrainer*innen geben, denen Putin wirtschaftlich, politisch und demokratiepolitisch nichts anzubieten hat. Es muss deshalb darum gehen, eine für Wladimir Putin gesichtswahrende Exit-Strategie aus diesem Krieg zu finden. Die Chancen dafür sind in den letzten Wochen eher geringer geworden.

Wann im Hinblick auf die Aufrüstung und die Lieferung von konventionellen Waffen der Punkt erreicht ist, an dem Wladimir Putin eine aktive Kriegsbeteiligung der NATO attestiert, das liegt in seiner Definitionshoheit. US-Präsident Joe Biden hat Mitte April 2022 im Kongress eine weitere Tranche von 31 Milliarden US-Dollar beantragt, von denen 23 Milliarden für militärische Unterstützung für die Ukraine gedacht sind und weitere acht Milliarden für wirtschaftliche Entwicklung. (Anfang Mai hat der Kongress sogar 40 Milliarden US-Dollar für diese Zwecke bewilligt). Die Signale aus Washington werden immer eindeutiger, dass es nicht nur darum geht, diesen Krieg zu beenden und dann möglicherweise den Abzug der russischen Invasionstruppen zu erzwingen, sondern darum, Russland in die Knie zu zwingen.

Egon Bahr hat vor 50 Jahren gesagt: „Eine europäische Friedensordnung kann es nur mit der Sowjetunion geben, nicht ohne sie und schon gar nicht gegen die Sowjetunion.“ Dies gilt heute unverändert – natürlich bezogen auf Russland. Das gibt uns allein die geografische Lage auf diesem gemeinsamen eurasischen Kontinent vor. Eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Friedensordnung mit Russland ist nicht nur möglich, sondern zwingend notwendig.

Nun zu dem Begriff „Zeitenwende“ von Olaf Scholz. Der Begriff wurde vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush bereits am 12. September 2001 verwendet, am Tag nach den Terroranschlägen. Er sprach von einer Zeitenwende: Nichts sei jetzt mehr wie vorher und auch bestimmte Regeln würden nicht mehr gelten. Damit meinte er wichtige Bestimmungen des Völkerrechts, die die

USA dann in Folge auch kräftig verletzte. Daraufhin rief er den Krieg gegen den Terrorismus aus, der seit über 20 Jahren geführt wird. Gemessen an den damals erklärten offiziellen Zielen, die Gefahr des islamistisch gerechtfertigten Terrorismus zu überwinden, ist dieser Krieg völlig gescheitert – mit inzwischen Millionen Opfern. Gescheitert in Afghanistan, aber auch im Irak, in Libyen, in Syrien. Und im Moment scheitert er in Mali.

Mit dem Zeitenwende-Begriff soll das größte Aufrüstungsprogramm Deutschlands seit 1945 gerechtfertigt, die 100 Milliarden Sondervermögen sollen grundgesetzlich abgesichert werden sowie eine Steigerung des jährlichen Militärhaushalts auf mindestens zwei Prozent des Bruttosozialproduktes. Deswegen müssen wir dieser Zeitenwenden-Behauptung widersprechen, um dann auch den angeblich unabweisbaren Folgen zu widersprechen. Der Begriff wird ja dafür benutzt, die Geschichte der letzten 30 Jahre zu entsorgen und vor allem die Verantwortung und Schuldanteile, die die 33 westlichen Staaten der NATO und EU daran haben, dass es zu diesem Konflikt mit Russland gekommen ist. Es geht nicht darum, diesen Krieg zu rechtfertigen, aber wir müssen darauf bestehen: Nicht erst seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014, sondern spätestens seit 1997 mit der Entscheidung, die NATO nach Osten zu erweitern, hat der Westen die Bausteine geliefert für ein sich stetig verschlechterndes Verhältnis zu Russland, in dessen Ergebnis wir jetzt diesen fürchterlichen Krieg haben.

Es wird behauptet, der Ukrainekrieg bestätige die Notwendigkeit von Atomwaffen. Umgekehrt: Dieser Krieg ist der allerbeste Beweis dafür, dass wir die Atomwaffen aus dieser Welt endlich beseitigen müssen – weil sie eben keine Abschreckungsfunktion haben, sondern Krieg ermöglichen. Präsident Putin kann diesen Krieg bisher doch, abgesehen vom Widerstand der ukrainischen Streitkräfte, weitgehend ungehindert führen, weil er eben mehr oder weniger unmissverständlich mit der Atomwaffe droht. Und weil die NATO damit rechnen muss, dass Russland möglicherweise Atomwaffen einsetzen könnte und sie dann selbst auch unter den Zwang ihrer eigenen nuklearen Einsatzstrategie gerät. Atomwaffen sind keine erfolgreichen Abschreckungsinstrumente, sie ermöglichen erst das Führen von Kriegen.

In diesem Zusammenhang wird auch behauptet, dass die Ukraine nicht überfallen worden wäre, hätte sie nicht auf Atomwaffen verzichtet. Im Budapester Memorandum 1994 haben die Ukraine, aber auch Kasachstan und Belarus auf die noch auf ihrem Territorium liegenden sowjetischen Atomwaffen verzichtet. Im Gegenzug dafür haben Russland und die USA und Großbritan-

nien die Souveränität und die Unverletzlichkeit der Grenzen dieser Staaten garantiert. Selenskyj hat in seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar 2022 völlig zu Recht gesagt, dass Russland dieses Memorandum verletzt hat und hat neue Garantien dafür gefordert. Doch zu behaupten, die Ukraine habe damals auf eine real existierende nukleare Abschreckung als Option verzichtet, ist nicht richtig. Die Waffen lagen zwar auf ihrem Territorium, aber die operative Verfügungsgewalt über sie lag ausschließlich in Moskau.

Nach Ende dieses Krieges brauchen wir Rüstungskontrolle und Abrüstungsverhandlungen auf allen Ebenen, im atomaren und im konventionellen Bereich, bei der Truppenstärke, bei den Manövern. Die NATO und die USA hatten sich zu den entsprechenden Vorschlägen und Forderungen Putins von Anfang Dezember 2021 durchaus positiv geäußert. Wenn die NATO- Staaten in solche künftige Verhandlungen aber mit der Haltung hineingehen, nur die russischen militärischen Kapazitäten reduzieren zu wollen, die eigenen aber für sakrosankt erklären, sind diese Verhandlungen leider schon heute zum Scheitern verurteilt.

Ein weiterer wichtiger Baustein ist ein wirtschaftlicher. Wenn davon die Rede ist, der Ukraine möglicherweise eine EU-Perspektive anzubieten, darf nicht dasselbe passieren wie bei den Verhandlungen in den Jahren 2010–2013, wo die EU vom damaligen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch gefordert hat, sich zu entscheiden zwischen einer Annäherung an die EU oder einer zentralasiatischen Zollunion mit Kasachstan, Belarus und Russland. Das von einem Land zu verlangen, das traditionell ein Großteil seines Wirtschaftsverkehrs mit Russland abwickelt, war verheerend.

Walter Steinmeier hat als Außenminister 2016 in einem Interview gesagt, die Wirtschaftsexpert*innen der EU, Russlands und der Ukraine sollten sich an einen Tisch setzen und darüber reden, wie man die bestehende Zollunion zwischen Russland und der Ukraine kompatibel machen könne. Das ist leider nie passiert.

Noch ein wichtiger Punkt: Wir alle auf unserem eurasischen Kontinent müssten ein primäres Interesse haben, die unheilvolle Abhängigkeit Russlands und seiner Wirtschaft von fossilen Energien in den nächsten Jahren schrittweise zu reduzieren. Die russischen Wirtschaft besteht zu 80 Prozent aus fossiler Energiewirtschaft. Wenn das so bleibt, werden wir die Pariser Klimaziele nicht erreichen. Wir müssen mit Russland eine grüne nachhaltige Energie-Partnerschaft eingehen. Das können wir auch schon beginnen, wenn Putin noch ein paar Jahre im Kreml Herrscher sein sollte. Man könnte in den windreichen Regionen Sibiriens und den sonnenverwöhnten Regionen Südrusslands z. B. grünen Wasserstoff herstellen mit Wind- und Solaranlagen, die wir Russland unter guten Bedingungen schnell zur Verfügung stellen sollten. Das wäre ein konkretes Projekt für eine europäische Friedensordnung mit Russland, die diesen Namen wirklich verdient.

Für eine europäische Friedensordnung ist auch erforderlich, dass all die schwärende Wunden, die in den letzten 30 Jahren durch militärische Gewaltmittel geschlagen wurden, auf unserem Kontinent geheilt werden. Das heißt, für die Krim und die anderen umstrittenen Territorien in der Ukraine muss es ein einvernehmliches Verfahren geben, am besten eine neue Abstimmung von der UNO durchgeführt, z. B. mit der Option einer weitestgehenden Autonomie dieser Gebiete innerhalb der Ukraine. Dasselbe muss passieren für die sezessionistischen Gebiete in Georgien und Moldawien, wo im Moment russische Truppen stehen. Und last but not least: Auch die Wunde, die die NATO 1999 mit ihrem Luftkrieg gegen Serbien mit der nachfolgenden Abspaltung des Kosovo geschlagen hat, muss endlich geheilt werden.

Andreas Zumach ist Autor und Journalist.