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BOCKENHEIM IM WANDEL

BOCKENHEIM IM

Der Umzug der Uni ist seit Jahren im Gange. Was bedeutet das für den Stadtteil? Ein Spaziergang rund um den Campus zwischen neuen Gemeinschaften, geliebten Klassikern und Gentrifizierung.

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›› Text: Jürgen Mai

Seit 17 Jahren versorgt Inhaberin Bettina Evans mit dem Café Crumble in der Kiesstraße den Stadtteil mit Leckereien. „Bockenheim ist bodenständig – mein Lieblingsstadtteil in Frankfurt. Die Kiesstraße ist für mich wie ein Wohnzimmer“, sagt sie. Den Wegzug der Uni beobachtet sie nicht mit Sorge. „Wir haben uns als Mittagstisch für in der Nähe Arbeitende etabliert, außerdem sind wir vor allem an Wochenenden stark besucht. Wir sind nicht von der Uni abhängig.“ Sie gibt ehrlich zu: „Der Neubau für den AfE-Turm gefällt mir nicht. Wir wurden für das Café damals für eine Werbebroschüre angefragt. Das habe ich abgelehnt.“ Sehr gut gefallen ihr hingegen die Renovierungsarbeiten am Senckenbergmuseum: „Das ist richtig schön geworden!“ Das Museum wird seine Ausstellungsfläche verdoppeln und künftig vier neue Themenwelten – Mensch, Erde, Kosmos, Zukunft – zeigen. Übrigens: Zugunsten des Café Crumble verkaufen befreundete Künstler*innen derzeit ihre Werke. Die Exponate sind im Schaufenster des Cafés zu sehen.

 AKADEMIE DER ARBEIT: GEMEINSCHAFTLICHES WOHNEN – UND KOCHEN!

  Seit den 1920er-Jahren zählt die Akademie der Arbeit (AdA) zur Frankfurter Universität. Nach dem Wegzug der von Gewerkschaftsseite geprägten Bildungsstätte steht die Mertonstraße 30 leer. Was ist dort geplant? Wohnprojekte und –initiativen auf rund 1.500 m2 Fläche nach der Idee des gemeinschaftlichen Wohnens. Noch bis Juli können sich entsprechende Initiativen bewerben. Planungsdezernent Mike Josef sagt: „Das Areal wird der gemeinwohlorientierten Entwicklung zugeführt. Es ist der Startpunkt, um diesen Ort wieder mit Leben zu füllen.“ Bei der Vergabe für die Zeit ab 2021 sollen Kriterien wie langfristig kostengünstige Miete, Gemeinschaftsflächen und die Einbindung des Themas „Arbeit, Gewerkschaft und Ausbildung“ den Ausschlag geben. Aktuell wird eine Zwischennutzung geplant. Hier soll das Stadtteilbüro „Initiative Zukunft Bockenheim e. V.“ in Kürze einen Nutzungsvertrag unterschreiben. Die Idee: Die alte AdA-Kantine soll für solidarisches Kochen genutzt werden. „Seit Corona sind viele Hilfsangebote für Bedürftige weggebrochen. Hier möchten wir mit dem Projekt einspringen“, erläutert Sprecherin Anette Mönich. Die AdA-Kantine sei in einem hervorragenden Zustand und sofort betriebsbereit. Ihr Verein setzt sich seit Jahren für eine sozial gerechte Entwicklung des Stadtteils ein. Sie kommentiert Investoren-Projekte wie das Wohnheim im alten Philosophicum oder den Neubau an der Stelle des legendären AfE-Turms stets kritisch. Regelmäßig fordert Zukunft Bockenheim e. V. die Stadt auf, den Milieu- und Erhaltungsschutz in Bockenheim stärker zu beachten. Die Zwischennutzung der AdA-Kantine wäre ein schöner Erfolg. Auch sollen hier Mädchen und Frauen, die nach 2015 nach Deutschland gekommen sind, zu Köchinnen ausgebildet werden. Damit nicht genug. Es laufen bereits Gespräche über die Zeit nach der Zwischennutzung. „Die Bockenheimer Wohninitiativen, die sich für die AdA bewerben, wollen, dass das Kantinen-Projekt auch nach September 2021 weitergeht“, freut sich Mönich.

 CAFÉ CRUMBLE: KEINE ANGST UMS WOHNZIMMER

Viele Veränderungen im Stadtteil sind eine Frage der Perspektive – so wie der Love/Hate-Schriftzug vor dem Senckenbergmuseum.

 CAFÉ ALBATROS UND PIELOK: GASTRONOMISCHE FRAGEZEICHEN Eines der Fragezeichen im Viertel: das Café Albatros, das seit Monaten geschlossen hat. Im Schaufenster prangt ein Schild: „Wir renovieren“. Mit welchem Gastro-Konzept der Bockenheimer Klassiker künftig bespielt wird, ist unklar. Um die Ecke in der Jordanstraße 3 wartet das nächste Fragezeichen: „Ende einer Institution“ titelten die Frankfurter Tageszeitungen, als das Restaurant Pielok 2016 nach fast 90 Jahren schloss. Die Stadt Frankfurt kaufte das Gebäude im Jahr 2017. Seitdem steht es leer. Aber es heißt, die Planungen laufen.

Ein Spaziergang durchs Viertel BOCKENHEIM IM WANDEL

 INSTITUT FÜR VERGLEICHENDE IRRELEVANZ: UND NOCH EIN FRAGEZEICHEN Kettenhofweg 130. Knapp ein Jahrzehnt war das ehemalige Gebäude des Amerika-Instituts besetzt und beherbergte, von der Universität toleriert, das Institut für vergleichende Irrelevanz. Das autonome Zentrum bot unter dem Motto „Theorie, Praxis, Party“ ein Programm mit Vorträgen, Kongressen und Konzerten. Nach dem Verkauf 2013 wurde das Institut geräumt – und steht, nach einem weiteren Eigentümerwechsel, immer noch leer. Die aktuellste Information stammt von einer Anfrage der Linken-Fraktion vom Juni 2019. Gefordert wurde ein Instandsetzungsgebot, „um das Haus vor dem Verfall zu schützen.“ Der Frankfurter Magistrat entgegnete, das Gebäude sei zwar in einem ungepflegten Zustand, die Bausubstanz jedoch nicht gefährdet.

 DIE ZUKUNFT DES STUDIERENDENHAUSES: OHA!

Seit den 1950er-Jahren hat das Studierendenhaus mit dem Sitz des AStA, dem Café Koz und dem Pupille-Kino seinen festen Platz auf dem Campus. Über kurz oder lang wird der AStA auf den Campus Westend ziehen. Das Studierendenhaus soll dann zum „Offenen Haus der Kulturen“ – kurz OHa – werden. Gemeinsam mit rund 30 Initiativen wurde folgende Vision formuliert: „Ein Ort, an dem soziale, politische Akteur*innen und Künstler*innen verschiedener Disziplinen sowie Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion, sexueller Orientierung, Alter, mit und ohne Behinderung und unabhängig von ihren ökonomischen Hintergründen in Austausch treten. Wir wollen das Gebäude als soziokulturelles Zentrum weiterentwickeln.“ Tim Schuster vom „Offenes Haus der Kulturen e. V.“ sagt: „Die seit Jahren kursierenden Befürchtungen von einer Verödung des Stadtteils sind zum Glück bislang nicht eingetreten. Aber man merkt, dass weniger Studierende unterwegs sind und sich die soziale Mischung verändert, woran neben dem Uni-Umzug vor allem die Gentrifizierung schuld ist.“ Hier denkt er an das Luxus-Projekt One Forty West auf dem Gelände des ehemaligen AfE-Turms mit Preisen für Eigentumswohnungen ab 13.000 Euro pro Quadratmeter. Schuster sagt: „Was sich Bockenheim bewahrt hat, ist sein rebellischer Geist. Es gibt immer wieder Initiativen, die aktiv für eine andere Art von Stadt eintreten, wie z. B. im letzten Jahr die Initiative ‚Backhaus bleibt‘“. Dabei hatte die Bürgerinitiative Social Hub für einige Tage das ehemalige Tibet-Haus am Hülya-Platz besetzt, für ein Stadtteilzentrum geworben und gegen Pläne, dort Wohnungen zu errichten, demonstriert. Bockenheim bleibt spannend. „Der Kulturcampus ist immer noch eine große Chance. Mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und weiteren Akteuren wie dem Zentrum der Künste oder der Jüdischen Akademie kommt wieder studentisches Leben“, so Schuster. Das OHa! soll ebenfalls ein Teil sein und „mit seiner fast 70-jährigen Tradition nach dem Wegzug der Uni die Chance auf ein zweites Leben bekommen. Die Stadt Frankfurt möchte das Projekt umsetzen, so steht es auch im Koalitionsvertrag. Allerdings muss sich noch zeigen, wie stark der politische Wille tatsächlich ist. Denn der Kostendruck durch den Immobilienmarkt macht auch uns zu schaffen. Wir hoffen auf Unterstützung, gerade von Studierenden.“

VOWI: WIEDERENTDECKUNG DER ECKKNEIPE VS. GENTRIFIZIERUNG

Seit über 20 Jahren betreibt Karsten Maaß die Volkswirtschaft in der Jordanstraße. Ihm gebührt das Schlusswort unseres Spaziergangs: „Uns in Bockenheim fehlen die Studenten. Ihr Ausbleiben wird überlagert durch verschiedene Entwicklungen. Ein neuer Trend ist zum Beispiel die Wiederentdeckung der Eckkneipen durch junge Leute. Tiefer auf den Stadtteil wird sich die Nachfrage nach Wohnraum auswirken – Stichwort Gentrifizierung –, aber auch der Kulturcampus, auch wenn das noch dauert.“ Die Vowi bietet zurzeit unter dem Namen „Petite Cuisine“ wechselnde Mittagsgerichte, die durchs Fenster verkauft werden. Sehr lesenswert übrigens, nach wie vor: Die

Blog-Beiträge, die Karsten Maaß zum 20-jährigen

Jubiläum seiner Kneipe im Oktober 2017 veröffentlicht hat: einergehtimmer.wordpress. com/2017/01/14/20-jahre-voll-mitgeschichten-aus-der-volkswirtschaft/