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NORMAL PEOPLE - Gesichter der Insel Norderney

Auch Norderney hat einen Gang zurückgeschaltet. Momente des Innehaltens lenkenden Fokus auf die Schönheit der Inselnatur. Statt „höher, schneller, weiter“ lauschen wir - mit Blick auf das Weltnaturerbe Wattenmeer - den Geschichten normaler Leute.

CHELL

Foto. Carsten Muecke

Mein Name ist Chell Michels. Ich bin Busfahrer auf Norderney. Auf der Insel kennt mich fast jeder - auch durch unser Norderneyer Wetter-TV, das ich seit ein paar Jahren zusammen mit Jacek auf Facebook mache. In meiner Heimatstadt Bremerhaven habe ich früher Eishockey in der Regionalliga gespielt - mich wirft so schnell nichts aus der Bahn. Während der Saison machen wir bis zu 25 Touren am Tag - mit zu Stoßzeiten fast 60 Leuten an Bord. Das sind tausende und abertausende verschiedene Gesichter, die im Bus an mir vorbeiziehen. Für viele Gäste bin ich der erste Mensch, mit dem sie hier sprechen, wenn sie von der Fähre kommen. Die Dialoge und der Kontakt zu den Leuten, das ist das, was jeden Tag alles rausreißt, und die Arbeit spannend, witzig und abwechslungsreich macht. Das Busfahren auf Norderney ist anspruchsvoll. Es gibt viele knifflige Ecken, zum Beispiel in der Winterstraße oder am Damenpfad. Wenn du hier nicht gescheit fahren kannst, wird es schwierig. Zwischen parkenden Handwerkern und Urlaubern, die ihr Gepäck ein- oder ausladen wollen, kommst du dir manchmal vor wie auf einem Slalom- Parcours. Wenn du an der Georgshöhe mit einem 12-Meter-Wagen um die Ecke biegst, musst du echt vorsichtig sein. Aber wir haben das alles gut im Griff. Auf der Insel bin ich damals eher zufällig gelandet, als ich noch in der Gastronomie gearbeitet habe. Nach drei Tagen wollte ich eigentlich wieder weg - daraus sind inzwischen fast 20 Jahre geworden. Ich empfinde Norderney ein bisschen wie eine kleine Kapsel. Du kannst hier ziemlich gesichert leben und bekommst von den Problemen auf dem Festland wenig mit. Die einzige Ampel, die wir haben, ist am Hafen - und wenn die rot ist, dann liegst du im Wasser, wenn du trotzdem fährst. Das bringt es ganz gut auf den Punkt. Wenn du die richtigen Ecken kennst, kannst du hier im Endeffekt immer deine Ruhe haben - sogar wenn die Insel aus allen Nähten platzt. Die Kleingartensiedlung zum Beispiel ist eine ganz eigene Welt. Wenn du da im Sommer abends zum Grillen eingeladen bist, spürst du vom Trubel nichts. Nach einem anstrengenden Jahr wünsche ich mir, endlich mal wieder richtig in Urlaub zu fahren. Da bin ich vermutlich nicht der einzige...

SUSANNE

Foto. Carsten Muecke

Ich heiße Susanne - und bin der Liebe wegen auf die Insel gekommen. Ursprünglich stamme ich aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Köln und habe nach Ausbildung und Studium für die Stadtsparkasse in Mönchengladbach gearbeitet. Bei einem Urlaub auf Norderney bin ich Michael im Goode Wind begegnet. Seit 2009 lebe ich mit ihm zusammen hier auf der Insel. Nach der Geburt unserer Tochter hat sich die Möglichkeit ergeben, eine Teilzeitstelle als Pfarrsekretärin der katholischen Kirchengemeinde zu übernehmen. Ich kümmere mich dort um die Verwaltung und als Rendantin um den Jahresabschluss und den Haushaltsplan. Ich mag vor allem den Kontakt zu den Leuten, die zum Beispiel zur Anmeldung von Taufen oder kirchlichen Hochzeiten anrufen oder ins Pfarrbüro kommen. Früher in Kirchherten bin ich lange Zeit Messdienerin gewesen, habe zusammen mit einer Freundin eine Jugendgruppe geleitet und die Firmvorbereitung mitgestaltet. Dabei habe ich die Kirche als soziale Gemeinschaft erlebt - auch unabhängig von religiösen Fragen. Das ist hier auf Norderney genauso. Wir treffen uns regelmäßig nach dem Sonntagsgottesdienst mit den Gemeindemitgliedern, trinken zusammen Kaffee und essen Kekse. Das ist unsere „Sonntagsfamilie“, weil viele so wie ich von außerhalb auf die Insel gekommen sind und keine Verwandtschaft hier haben - ein geborgener Rahmen, wo man sehr offen reden kann. Das Privatleben der Norderneyer abseits des Tourismus spielt sich in Vereinen oder zu Hause ab. Man trifft sich in der Küche, auf der Terrasse oder im Garten. Man findet Nischen und Rückzugsorte. Aber auch der Kontakt zu den Gästen kann zu Freundschaften führen - Michael und ich sind das beste Beispiel dafür. Im Winter genieße ich die Ruhe, gehe jeden Freitag mit einer Freundin am Strand walken - danach gehen wir kurz im Meer baden, egal wie kalt es ist. Aber ich bin eine rheinische Frohnatur und gern unter Menschen. Darum freue ich mich auch, wenn der Sommer kommt und es wieder voll wird auf Norderney. Wie eine kleine persönliche Auszeit empfinde ich das Singen im Gospelchor der Evangelischen Inselgemeinde. Glaube und Konfession spielen dort keine Rolle. Ich kann es kaum erwarten, bis die Chorproben 2021 endlich wieder losgehen.

HENNE

Foto. Carsten Muecke

Mein Name ist Hendrik, aber alle nennen mich Henne. Ich bin 1998 aus dem Münsterland für meinen Zivildienst im Altenheim nach Norderney gekommen - und habe danach 18 Jahre lang bei Gunther und Claudia in der Surfschule als Surflehrer gearbeitet. Das war eine gute Zeit. Ich mache mein Leben lang schon Musik, habe als Kind Klavierunterricht bekommen und spiele viele Instrumente wie Gitarre, Geige, Bass oder Percussion und alle möglichen Tasteninstrumente. Jeder hat irgendwelche Talente, Talent und Motivation gehören für mich zusammen - wenn man motiviert ist, lernt man besser, und wenn man viel schafft, ist man motivierter. Seit den 90er Jahren beschäftige ich mich auch mit elektronischer Musik und dem Komponieren und Arrangieren am Computer. Das war lange Zeit nur ein schönes Hobby, aber ich habe immer im Hinterkopf gehabt, dass ich irgendwann die Musik zum Beruf machen möchte. Parallel zur Geburt unseres Sohnes hat meine Freundin Jessica das Patchwork Lädchen in der Jann- Berghaus-Straße übernommen - und es wurde immer schwieriger die Kinderbetreuung, den Laden und den tidenabhängigen Job als Surflehrer unter einen Hut zu bekommen. Wir haben uns teilweise unser Kind nur noch in die Hand gedrückt, sind abwechselnd zum Arbeiten von A nach B gerannt, hatten kaum noch gemeinsame Zeit. Wir mussten etwas verändern. Ich bin dann ins kalte Wasser gesprungen, habe sehr viel recherchiert, einen Businessplan geschrieben und einen Gründungszuschuss von der Agentur für Arbeit bekommen, um mich als Musiker selbstständig zu machen. Seitdem verkaufe ich HipHop und vor allem Reggae Beats über das Internet. Vereinfacht gesagt, sind das Musikstücke ohne Gesang, die andere Musiker als Grundlage für eigene Songs verwenden können. Wer sich das mal anhören möchte - die Firma heißt SOULFYAH PRODUCTIONS und ist unter www.soulfyah.com zu finden. Die Musik entsteht in einem drei mal fünf Meter großen Raum in der Nähe vom Wasserturm, den ich als Studio eingerichtet habe. Jeden Sonntag veröffentliche ich einen neuen Beat. Die Kunden kommen aus der ganzen Welt, überwiegend aus Übersee. Genau in dem Monat, als der Gründungskredit auslief, habe ich zum ersten Mal mein altes Gehalt als Surflehrer getoppt. Das war ein tolles Gefühl. Wir können Familie und Beruf jetzt viel flexibler gestalten. Ich habe eine Nische gefunden, die Arbeit macht mir Spaß und erfüllt mich. Auf Norderney gibt es eine lebendige Musikszene, die weitgehend außerhalb des touristischen Geschehens stattfindet. Ich finde es schön, dass die Insel so eine kleine Welt ist, ich habe hier meine Familie, meine paar Freunde, mit denen wir uns viel und gerne treffen - das ist alles sehr übersichtlich. Die Wege sind kurz, es ist alles so einfach. Man bekommt von dem ganzen Wust und der Hektik auf dem Festland wenig mit. Für unseren Sohn kann ich mir kaum eine schönere Umgebung vorstellen - mit so einem riesigen Sandkasten drumherum. Wenn ich an meine Erfahrungen der vergangenen Jahre denke, würde ich mir für mehr Menschen wünschen, dass sie unabhängiger werden von festgefahrenen, starren Strukturen. Es lohnt sich, Krisen auch als Chance zu sehen, in eine neue Richtung zu gehen, sich neu zu erfinden oder neue Sachen zu entwickeln - und einfach positiv nach vorne zu schauen.