Lost Voices #1

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LOST VOICES

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Da, wo's zu weit geht, f채ngt die Freiheit erst an. Werner Finck (1902-78), dt. Kabarettist u. Schriftsteller


Liebe Leserinnen und Leser, ja, es ist geschafft. Die erste Ausgabe unseres bescheidenen Literaturmagazins “Lost Voices” hat das Licht der Welt erblickt. Ein kleiner Schritt hinein ins groβe Ungewisse. Wo dieser Weg hinführen mag, ist zu diesem Zeitpunkt noch vollkommen unklar. Unsere Aufgabe besteht darin talentierten, aber noch eher unbekannten Autoren die Möglichkeit zu geben ihre Werke einer wunderbaren Leserschaft zu präsentieren. Alle Schreiber und sonstigen Künstler sollen ihren kreativen Exzessen freien Lauf lassen und der Welt ihren Wahnsinn berichten. Wir möchten uns bei allen bedanken, die uns mit ihren Werken bereichert haben. Wir hatten soviel gutes Material vorliegen, dass es eine echte Plage war die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wir hoffen, dass sich die Leser in gleicher Form an den auserwählten Texten erfreuen werden, wie wir es hier in unserem nichtvorhandenen Redaktionsbüro getan haben. Es hat Spaβ gemacht und wir warten gespannt auf Resonanz in jeglicher Form.…und nun die Flasche Bier zur Hand (darf auch Wein, Cognac oder Whisky sein), Zigarette in den Mund gesteckt und weiterblättern. Denn jetzt wirds richtig schön brutal…. In diesem Sinne… - Marc Mrosk (Herausgeber)

LOST VOICES AUSGABE EINS

Lost Voices

4-5

Joachim Allgaier, Mark Heywinkel, Helge Streit

Bühne 1

6-9

Stefanie Kißling, Annika Senger, Carmen Herrmann

Bühne 2

10 - 14

Michael Helming, Rüdiger Saß, Anna Catharina Von Rosenthal, Johannes Witek, Ivo Theele, Claus Will

Stimmen

15 - 19

Claus Will, Andreas Hutt, Marcus Mohr, Gesine Loth, Ivar Bahn, Louisa Söllner, Johannes Witek

Kunst / Fotos Von Klaus Roth: Seite 1, 15, 18, 20 Von Kim Vanessa Heywinkel: Seite 16 Fotos Seite 4, 6, 9, 10, 12, 13 von Marc Mrosk

Verantwortlich für Print: Marc Mrosk Marc@lost-voices.de Verantwortlich für Website: Sven Deike Sven@lost-voices.de

Alle Rechte der hier aufgeführten Werke liegen bei den jeweiligen Autoren, Fotografen/ Künstlern

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Lost Voices ein leben, verdichtet (Auszug) von Joachim Allgaier in der schule musst du gut sein. bist du es nicht, werden deine lehrer böse mit dir sein. irgendwann werden dann die schuldirektoren mit den lehrern böse sein, weil die schüler nicht gut sind. dann wird das kultusministerium schlecht auf die direktoren zu sprechen sein weil die direktoren auf die lehrer böse sind da diese mit ihren schüler nicht zufrieden sind weil diese nicht gut genug sind. irgendwann wird es dann einen großen test zwischen all den ländern, schülern und schulen geben, der prüft wie gut die schüler denn nun wirklich sind. schneiden die schüler darin schlecht ab werden die journalisten und die bürger auf das kultusministerium böse sein, weil die bildung im land schlecht ist. dann wird es weitere tests und überprüfungen geben, die zeigen werden, dass auch die studenten schlecht sind. und mit ihnen die beamten, schul- und universitätsdirektoren und die dozenten, wie auch schon die lehrer. dabei mussten doch auch diese schon in der schule gut sein, um überhaupt erst lehrer, dozenten oder beamte werden zu können. das feuilleton wird sich zu wort melden und wird es immer schon gewußt haben; es läuft etwas schief im lande und vermutlich sind die regierung, die medien oder die gesellschaft selbst an allem schuld. und all dies nur, weil du und die anderen in der schule nicht gut seid. auch deine eltern wollen schließlich, dass du in der schule gut bist. ist ja nur zu deinem besten, kind. auch für die eltern ist es nicht gut wenn ihr kind in der schule schlecht, womöglich sogar versetzungsgefährdet ist. ist doch auch peinlich für sie wenn die kinder der nachbarn und der bekannten in der schule alle besser sind als du. vielleicht bist du aber viele jahre tapfer und gut genug, um bis zum ende der schulzeit durchzuhalten. dann darfst du vielleicht auf eine neue schule; eine hochschule. dort hast du es nicht mehr mit lehrern, sondern mit professoren, wissenschaftlern und hochrangigen experten zu tun. manche von ihnen sind nebenbei auch pädagogen oder einfach lehrer. andere lassen dich von anfang an spüren, dass du in ihrem arbeitsleben nur lästigen ballast darstellst, der ihre wertvolle zeit in anspruch nimmt. und natürlich ist es keine frage, wer hier zu den wissenden und wer zu den unwissenden zählt. es wird dich jahre kosten, bis du wie einer der ihren zu reden lernst. vielleicht bist du abermals zäh und ausdauernd genug, um bis zum ende durchzuhalten. in einer hastigen abschlußzeremonie wird dir dann ein staatlich beglaubigtes zertifikat mitgegeben, mit dem du nun deinen lebenslauf schmücken kannst. die nächsten warten schon.


Lerndienst von Mark Heywinkel Vor kurzem haben sie die Idee dahinter geändert: Die jungen Männer sollen keinen stumpfen Dienst an der Gesellschaft mehr leisten, heißt es, sie sollen an ihrem Dienst wachsen, ihn als persönliche Chance nutzen. Lerndienst nennen sie es nun, nicht mehr zivile Dienstleistung. Trotzdem bleibt es das Gleiche. Um sechs Uhr stehe ich auf und schlurfe ins Heim. Dort ist über Nacht das Chaos ausgebrochen. Mehrere Bewohner plagt eine schwere Grippe. Im Treppenhaus riecht es schon würzig. Die Pfleger bewaffnen mich mit Gummihandschuhen, schäumendem Spülmittel und einem Schwamm. Dann geht’s an die Front. Am ersten Einsatzort bleibt mir bereits die Luft weg. Das Bad einer alten Dame sieht aus wie ein Schlachtfeld. Ich beeile mich, meine Hände fahren schnell durch jede verdreckte Ritze. Mit Spülmittel gehe ich durch die Toilette und das Waschbecken. Hier und da treffe ich auf Stellen, die schon verkrustet sind. Wann hat hier das letzte Mal jemand sauber gemacht? Auf dem Weg hinaus wünsche ich der alten Dame einen schönen Tag. Ehe sie etwas antworten kann, übergibt sie sich ein weiteres Mal. Ich helfe ihr, sich ins Bett zu legen und reiche ihr ein Glas Wasser. Sie bedankt sich, rührt es aber nicht an. „Das ist kein Leben mehr.“, sagt sie und wendet ihren Blick von mir ab. Draußen lehne ich mich im Flur an eine Wand und atme tief durch. Mein Herz pocht wild. Doch es bleibt keine Zeit, es zu beruhigen. Gleich darauf erteilt mir mein Pieper den nächsten Auftrag. Die Grippe, mein allgegenwärtiger Feind, lässt den Alten keine Ruhe. So geht es den ganzen Nachmittag mit Wischen, Putzen und Schrubben weiter. Von Raum zu Raum und Etage zu Etage wird es schlimmer. In jedem Zimmer finden neue Schlachten statt. Es fließt zwar kein Blut, aber hier werden Magensäfte abgesondert; hier werden Willen gebrochen, Grenzen erreicht. Und am Ende des Tages kehre ich in den Aufenthaltsraum zurück und erwische die Pfleger beim Strip-Poker-Spielen. Eine halbnackte Praktikantin lächelt mir beschämt zu. Die Pfleger fühlen sich nicht ertappt. „Du darfst nach Hause“, sagen sie gnädig und trotz Verweigerungsschreiben und strengen Moralbekundungen wünsche ich mir jetzt, eine Waffe in den Händen zu halten. Türmen von Helge Streit

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BUEHNE 1 Tagwerk von Stefanie Kißling Der Regen tröpfelt sich gen Nachmittag. Straßenpfützen saugen Betonbeläge auf. Die Sonne kämpft sich durch das Wolkenmeer. Der Herbst wischt immer noch seine Blätterspuren um Häuserreihen. Es ist kalt Ende Februar. Auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof verwandelt sich die rege Hetze in Gemächlichkeit; wer noch nicht auf Arbeit ist, hat frei oder ist frei. Ein alter Mann sitzt in der Wartehalle und liest gut gekleidet Zeitung. Eine Frau sitzt neben ihm, schaut mit rein, räuspert sich gelegentlich. Eine Traube Punks schlürft an Wartehäuschen vorbei, die Bierflasche fest in der Hand. Vereinzelt postierte Ordnungshüter lassen ihre Augen mitschlürfen. Hier und da, wenn ein Zug ein- oder ausfährt, Zugräderkreischen und Bahnhofsdurchsagen. Ein Junge tritt nach einer Taube, wird von der Mutter ermahnt. Einige Menschen huschen in Buchläden, in Kioskständen oder zu McDonalds. Lachen. Stimmengemurmel. Zwei Penner lehnen an einer Wand und diskutieren das Weltgeschehen. Kein reges Treiben an den Gleisen. Die Luft riecht kalt und matt. Ein Junge und ein Mann sitzen nebeneinander in einem Wartehäuschen vor einem Gleis. Der Junge spielt mit der Kordel seiner Mütze, der Mann starrt ins Leere. Punks schlürfen an ihnen vorüber, der Junge blickt auf, der Mann starrt durch sie hindurch. Taubengurren erstickt das Menschengemurmel und Stimmengewirr. Der Junge steckt seine Hände in die Hosentaschen, kaut auf seiner Unterlippe herum. Seine Augen wandern zu dem Mann neben ihm, der ihn nicht bemerkt. Die Königsstraße, die ihre Arme bis zum Bahnhof ausstreckt, wirkt lebendiger; Leute huschen umher. Greenpeace ist dabei, einen Stand aufzubauen. Penner mobilisieren Kunststücke aus Kindertagen und zeigen Zahnlücken, wenn man ihnen beim Vorbeigehen ein paar Münzen in die regenfeuchten Hüte wirft. Eine alte Frau studiert eine Anzeigensäule. Jugendliche lassen ihre Handys trällern. Aktenmenschen hetzen an Kleiderläden vorbei, den scheuen Blick auf Armbanduhren gerichtet. Regenschirme aller Farben werden aufgespannt. Es ist kalt Ende Februar. Eine leichte Herbstwindrose säumt den nassen Asphaltstein. Eine Durchsage lässt den Jungen im Wartehäuschen aufschrecken. Sein Zug womöglich. Er fährt gleich ein. Der Mann neben ihm steht auf. Plötzlich ein Lächeln auf seinem Gesicht. Der Blick zur Uhr. Gemütlich, keine Ungeduld. Vereinzelte Menschen stehen bereits an der weißen Linie, die ein Übertreten verbietet. Das Taubengurren verwandelt sich in energisches Flügelschlagen. Den Zug kann man bereits als kleinen Punkt erkennen. Er fährt bald ein. Der Mann geht zur weißen Linie vor. Er wartet. Auf der Königsstraße lassen Kinderfüße Pfützenwasser spritzen, eine alte Frau bekommt Tropfen ab und schimpft. Für ein paar Sekunden bricht die Sonne durch den Wolkenvorhang, ein Mädchen lacht. Das Zugräderkreischen setzt ein. Der Junge rührt sich nicht vom Fleck, beobachtet den Mann, der jetzt auf der weißen Linie steht und dem Zug entgegen sieht. Nur für kurze Zeit. Dann dreht er sich zu dem Jungen um und lächelt ihn an. Es ist kalt Ende Februar. Der Mann springt. Die Wolkendecke kämpft sich durch den ganzen Tag, doch in der Nacht verschwindet sie. Sternentrauben kriechen aus ihrem schwarzen Mantel. Betonböden sind nass, doch es regnet nicht mehr. Ein Hund heult sich durch die Stille. Vereinzelte Autos rauschen über das Pfützenmeer des Asphaltbodens. Katzenfauchen, ein Stimmenpaar. Es ist kalt Ende Februar. Kein reges Treiben auf den Straßen.


Monique von Annika Senger Er hat ihr zu seinem 40. Geburtstag ein rotes Designer-Kleid und schwarze Satin-Dessous gekauft. Verführerisch soll sie aussehen, wenn er am Abend bei leiser klassischer Musik und Kerzenschein mit ihr speist. Sie darf sich schon am Nachmittag in seinem frisch bezogenen Bett entspannen, während er auf dem Küchentisch die Zutaten für das Festtagsmahl vor sich aufreiht. Er hat sie nicht gefragt, ob sie fleischliche Genüsse zu schätzen weiß. Schließlich ist ihm bewusst, dass Monique all seine Vorlieben bedingungslos mit ihm teilt. Den Truthahn wird er mit feinsten Trüffeln und gerösteten Maronen füllen und dazu mit Wein abgeschmecktes Rotkraut und Kartoffelknödel reichen. Eine französische Entenleberpastete soll den Gaumen als Vorspeise reizen, und als Nachtisch wird er zum ersten Mal eine süß-deftige Eigenkreation servieren: Vanillepudding mit gerösteten Zwiebeln und gebratenem Speck. „Sie wird mich nach diesem Essen noch mehr lieben“, denkt er laut und schiebt den Truthahn in den Backofen. Genüsslich nippt er an einem Glas Rotwein, was ihn beim Kochen jedes Mal ins Reich der Sinne entführt. Der Vogel in der Röhre braucht einige Zeit zum Schmoren. Die will er nutzen, um Monique eigenhändig für das romantische Rendezvous herauszuputzen. Sie haben sich eine Weile nicht gesehen, so dass er sich schon brennend auf ihre allererste Liebesnacht freut. Nackt liegt sie im Schlafzimmer vor ihm ausgebreitet. Er verspürt plötzlich Lust, mit den Fingern sanft durch ihr blond gelocktes Haar zu streichen, flüchtig ihre harten Nippel zu streifen und dann ihren weit geöffneten Mund zu küssen. Aber nein, denkt er sich, vor dem Essen wird nicht genascht. Das nimmt nur den Appetit. Er dreht sie auf den Rücken und lässt seine Fingerspitzen von ihrem Nacken bis zu dem Ventil am Gesäßansatz gleiten. Behutsam hebt er Monique hoch, führt das Ventil an seinen Mund, umspielt es mit der Zunge und fängt an zu blasen. Die Rundungen ihres Körpers nehmen prall in seinen Händen Gestalt an. „Wie schön du bist“, seufzt er, nachdem er mit der Luft seiner Lungen ihre volle Attraktivität zum Vorschein gebracht hat. Ihre blauen Augen hören niemals auf zu strahlen, und sobald er sie anlächelt, glaubt er, sein eigenes Spiegelbild darin zu erkennen. Noch nie in seinem Leben ist er jemals mit einer derartigen Intensität in eine Frau verliebt gewesen. Vor einiger Zeit hat er sogar den Wunsch entwickelt, Monique vor den Traualtar zu führen und Kinder mit ihr in die Welt zu setzen. Doch was würde wohl seine Mutter von ihr halten? Würde sie Monique ohne Murren als Schwiegertochter akzeptieren? Schnell verdrängt er die Fragen, setzt seine Geliebte auf die Bettkante und bürstet ihre Locken. Die hellen Strähnen liebkosen seine Hände mit ihrer Weichheit. Ihn bezaubert die Art, wie sie ihr locker über die Schulter fallen. Vor dem Essen muss er ihr Haar jedoch bändigen. Er fände es unappetitlich, wenn es in die eigens von ihm zubereiteten Köstlichkeiten hinge. Also entscheidet er sich für eine elegante Hochsteckfrisur. Zuerst zieht er ihr aber den nagelneuen schwarzen Slip an, danach den BH. Er weiß instinktiv, dass sie das figurbetonte Kleid mit tiefem Dekolleté und freiem Rücken genauso aufregend findet wie er. In dunklem Rot sieht sie einfach nur atemberaubend aus. „Ich glaube, ich habe noch nie so eine erotische Frau wie dich kennen gelernt“, säuselt er in ihr Ohr und kann sich nicht davon abhalten, an ihrem Ohrläppchen zu knabbern. Er ahnt, wie viel Lust sie dabei empfindet und muss sich wieder zwingen, mit seinen Zärtlichkeiten bis nach dem Essen zu warten. „Nein, Monique, nicht alles auf einmal, auch wenn ich weiß, wie gerne du mich jetzt verführen willst“, gibt er ihr mit einem Anklang von Bestimmung zu verstehen. Er schaut in ihr Gesicht und entdeckt die pure Perfektion. Monique braucht keine Schminke, um hübsch auszusehen, keine Anti-Faltencremes, um ihre Haut zu glätten. Sie wird immer jugendlich und frisch wirken. Und was das Beste ist: Sie hört ihm geduldig zu, hat für jedes Problem ein offenes Ohr. „Andere Frauen wollen immer nur das Eine“, ist er fest überzeugt, „aber mit Monique kann ich auch tiefgründige Gespräche führen. Ist das nicht wunderbar, dass wir immer einer Meinung sind?“ Sie hat keine Einwände gegen das rote Cocktail-Kleid. Auf ihre stille Art bedankt sie sich sogar überschwänglich dafür, weil es ihre wohlgeformten Brüste so ideal zur Geltung bringt. Entzückt über ihre Freude schließt er sie fest in die Arme, so dass ihr ein ausgelassenes Quietschen entfährt. „Ja, Monique, zeig mir nur, wie glücklich du bist“, kommentiert er ihren gelegentlichen Hang zur Emotionalität. Er mag es, wenn Frauen ihre Gefühle offen zur Schau stellen – zumindest in Maßen. Viel anziehender findet er Moniques dezent zurückhaltendes Temperament. Sie ist nicht gleich wie andere potentielle Liebhaberinnen beim ersten Date mit der Tür ins Haus gefallen. Sacht streicht er ihr Haar zur Seite und bedeckt ihren Hals mit Küssen. Die Spange, die ihre Locken fixieren soll, hat die Form eines goldenen Schmetterlings. Als er auf einem Markt für Kunsthandwerk darauf gestoßen ist, musste er sie Monique einfach als kleines Geschenk für zwischendurch mitbringen. Der Preis spielte für ihn keine Rolle: 42 Euro investierte er doch gerne von Zeit zu Zeit in seine Geliebte. So wie die Spange ihr Haar umschließt, so entpuppt sich auch der ganze kunstvolle Charakter des ausgefallenen Schmuckstücks aus Metall. „Du bist vollkommen!“ muss er Monique zum wiederholten Male loben. „Aber jetzt ruh’ dich noch ein bisschen aus. Ich muss nach dem Essen sehen.“ Er hebt die Decke an und bettet sie darunter. Monique soll wissen, dass sie sich bei ihm im Haushalt um gar nichts zu kümmern braucht. Er liebt es, für sie zu sorgen und sie mit hübschen Kleidern und Gaumenfreuden zu verwöhnen. Männer, die ihre Frauen 7 ausbeuten, beschimpfen, schlagen oder gar vergewaltigen sind ihm ein Gräuel.


Die Tatsache, dass ein Großteil der Damenwelt jedoch genau diesen Typ Mann begehrt, hat ihn lange genug deprimiert – bis zu jenem Tag, als Monique in sein Leben getreten ist. Sie lernten sich in einem Erotik-Shop kennen und auf den ersten Blick lieben. Auf der Stelle nahm er sie mit nach Hause und beschloss, sie bis zu seinem 40. Geburtstag kein einziges Mal anzurühren. Schließlich wollte er ihr und vor allem sich selbst Zeit geben, sich aneinander zu gewöhnen und gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Manchmal würdigte er Monique tagelang keines einzigen Blickes, um die Wiedersehensfreude ins Unendliche zu steigern. Der Duft aus der Küche erfüllt allmählich seine gesamte Wohnung. Langsam, so denkt er, ist es Zeit, ein weißes Tuch auf dem Esstisch im Wohnzimmer zu drapieren. Von seiner verstorbenen Tante hat er ein altes Service mit Goldrand geerbt. „Für Monique nur das wertvollste Porzellan“, sagt er sich. Er konnte sich beim Einkaufen nicht recht entscheiden, welche Farbe die Kerzen haben sollen. Folglich wird er blaue, grüne und rote auf dem silbernen Kerzenhalter kombinieren. Die Flasche Champagner hat er bereits kalt gestellt. Nun fehlen nur noch die Kristallgläser. „Mist“, fällt ihm ein, „ich habe gar keine Sektgläser!“ Doch ihm ist längst klar, dass Monique es ihm verzeihen wird, den Champagner aus einem Weinglas schlürfen zu müssen. Das Prickeln auf der Zunge genießt sie so oder so – genauso wie Antonio Vivaldis Vier Jahreszeiten. Mit der Musik im Hintergrund schleicht er auf leisen Sohlen ins Schlafzimmer, um Monique mit seiner Anwesenheit zu überraschen. Ihre Lider sind geschlossen. Wenn sie schläft, haftet an ihrem Gesicht etwas Engelhaftes. Er weckt sie mit einem Kuss auf die Stirn. Ihre Augen öffnet sie aber erst, als er sie im Bett aufgerichtet hat. Ihre Frisur ist im Schlaf keinen Zentimeter verrutscht, denn die Angewohnheit, sich auf dem Laken hin und her zu wälzen, ist Monique zum Glück fremd. Ihr stets geöffneter Mund lächelt ihn erwartungsvoll an, und er registriert: Sie freut sich auf das gemeinsame Essen. Vorsichtig hebt er sie an und trägt sie ins Wohnzimmer. Sie ist ein Federgewicht in seinen Armen. Die Farbzusammenstellung der Kerzen auf dem Tisch würdigt sie mit einem Lächeln, während sie dem Goldrand-Service keinerlei Beachtung schenkt. Er setzt sie auf den Platz ihm gegenüber, wo sie ununterbrochen verliebte Blicke austauschen können. „Das wird der schönste Geburtstag werden, den ich jemals gefeiert habe“, bemerkt er. „Ich bin so froh, dass es dich gibt, Monique.“ Zum ersten Mal in seinem Leben leistet ihm ein weibliches Wesen dabei Gesellschaft – mit Ausnahme seiner Mutter und seiner älteren Schwester. Mittlerweile erleichtert es ihn, endlich erwachsen zu sein und die beiden nicht mehr täglich sehen zu müssen. „Mama kommt erst morgen zum Kaffee vorbei. Also haben wir den ganzen Abend ungestört für uns“, offenbart er Monique. Daraufhin holt er den Champagner aus dem Kühlschrank und überprüft den Verschluss mit Vorsicht. Er möchte seine Liebste fragen, wie man die Flasche öffnet, ohne dass der Korken bis an die Decke knallt. Doch er ahnt, dass Monique damit noch weniger Erfahrung hat als er selbst. Sie hat nichts dagegen, auf den edlen französischen Schaumwein zu verzichten und stattdessen den angefangenen Chianti mit ihm zu trinken. Bevor er aber das Glas an ihre Lippen setzt, hat er das Gefühl, in ihren Augen eine Spur von Widerwillen zu lesen. Auch beim Verzehr der teuren Entenleberpastete vermittelt sie ihm nicht den Eindruck, sonderlich hungrig zu sein. „Du bist wohl Vegetarierin“, vermutet er und behält es für sich, dass er fleischlose Essgewohnheiten nicht nachvollziehen kann. Er lässt sich trotzdem jeden Bissen seines Mahls auf der Zunge zergehen. Hin und wieder prostet er hinüber zu Monique, die ihn still und andächtig beobachtet. „Du bist so tolerant“, stellt er glücklich fest. Nein, es macht ihr nichts aus, ihm beim Essen nur zuzuschauen und selber leer auszugehen. Um ihr dennoch eine Freude zu machen, torkelt er nach dem Vanillepudding mit Zwiebeln und Speck vom Wein etwas schläfrig zur Stereoanlage und wechselt Vivaldi gegen Tangoklänge von Astor Piazzolla. „Eine erotische Frau wie du muss es doch mögen, sexy zu tanzen, nicht wahr?“ fordert er sie auf. Sie gleitet bereitwillig in seine Arme und lässt sich quer von ihm durchs Wohnzimmer führen. Er beginnt erst schüchtern und dann mit Verlangen ihr rundes Gesäß zu kneten und die weibliche Beuge zwischen Taille und Becken zu streicheln. Monique ist wie Wachs in seinen Fingern. Sobald er sie enger an sich drückt, quietscht sie lustvoll. Er spürt, wie sich die Leidenschaft der argentinischen Musik auf sie überträgt. Nichts hält ihn mehr davon ab, ihre leuchtend roten Lippen zu küssen und mit seiner Zunge in ihrem Mund zu baden. Nach monatelanger Enthaltsamkeit haben sie es sich endlich verdient, ihren körperlichen Bedürfnissen hemmungslos freien Lauf zu geben. „Mach’ mich bitte heute Nacht glücklich, Monique“, flüstert er zärtlich in ihr Ohr. Sie hat nichts dagegen einzuwenden und lässt sich tanzend von ihm ins Schlafzimmer geleiten. Ja, Monique erwidert seine Liebe mit solcher Hingabe, dass ihn der Anflug von Müdigkeit, der ihm nach dem üppigen Festessen überkommt, nicht weiter kümmert. Er ist auch immer noch fit genug, sie über die Schwelle seines nächtlichen Lagers zu tragen und sie auf das mit dunkelroten Rosen geschmückte Bett zu legen. Mit diesem duftenden Blumenmeer wollte er sie überraschen, und in der Tat scheint er ihre romantische Ader getroffen zu haben. Ihm ist, als würde sie in den Rosen schwimmen. „Die Süße hat gar nichts von meiner Aktion mitbekommen und geglaubt, ich würde nur das Essen aus der Küche holen“, denkt er zufrieden. Als erstes entkleidet er Monique, danach sich selbst. Er öffnet auch ihre Haarspange, denn es erregt ihn, wenn das Haar einer Frau wild um ihr Gesicht wirbelt. Wie sie so hüllenlos vor ihm liegt, lässt er sich schlaftrunken auf sie fallen. „Ich liebe dich“, gähnt er und versinkt in einem langen, traumlosen Schlaf. Als er am nächsten Morgen erwacht, liegt Monique platt gedrückt unter ihm. Ein Rosendorn hat sich in der Nacht in ihren Rücken gebohrt.


Warterei von Carmen Herrmann Die Abfahrtszeit meines Busses lässt mir nichts anderes übrig, als mich im Bushäuschen an die Glaswand zu lehnen. Kleingeld klimpert in irgendeiner Hosentasche. Man hält die Augenlider gesenkt, oder lässt die Blicke an den Häuserfassaden rauf- und runterklettern. Ein Mann schiebt sein Fahrrad quer über vier Fahrbahnen. Er sei Bild- amSonntag-Ausfahrer, sagen die Satteltaschen, die für vier Uhr nachmittags noch sehr prall gefüllt aussehen. Vielleicht wurden sie aber auch bloß ausgebeult, von den vielen unaussprechlichen Schlagzeilen.Der Mann stoppt sein Rad vor der Bushaltestelle, und fängt an unter seiner Kapuze hervorzuschimpfen, so dass man gerade noch den grauen Schnauzbart in dem dünnen gegerbten Gesicht sieht. Wenn er spricht, zwängen sich milchig blaue Augen unter dem Kapuzenrand hervor.Ich würde gerne verstehen, was er zu sagen hat, aber er ist zu weit weg, außerdem scheint er es auf eine bestimmte Person abgesehen zu haben. Aber das scheint nur so. Käme ein Bus daher, würde er den genauso beschimpfen. Er schiebt fünf Meter weiter, während er die Pflastersteine beschimpft, bleibt eine Armlänge vor mir stehen, sieht mich schief an, und ich merke, er sieht überhaupt nicht mich, er sieht nur die Worte, die er von einem Teleprompter abzulesen scheint: „Regensburg ist eine schöne Stadt, jaja, das sagen alle, die hierher kommen. Aber die Leute sind blöd. Sie sind einfach blöd einfach dumm.“ Danach sinkt sein Kapuzenkopf ein wenig nach vorne, und er schiebt weiter.

„Kennen sie den?“, fragt einer, der neben mir auf den Bus wartet „Nein“, sage ich, „aber der erschüttert mich nicht. Ich habe schon andere gesehen.“ „Der hat ein Haus voller Vögel“, sagt der Warter. „Das glaube ich gern“ sag´ ich. Solch abgedrehten Leuten sagt man auch immer gleich nach sie wären heimliche Millionäre, verrichteten Spottjobs, und hätten eine Wohnung voll überquellender Sparschweine. Dieser jedenfalls schien Vögel zu haben. „Nein“, sagt der Warter, „er hat wirklich ein eigenes Haus, voll mit Vögeln. Ich vergönn´ es ihm ja!“ „Aber schimpfen tut er lieber an der Bushaltestelle“, sag´ ich. „Manchmal könnte man doch auch…“, sagt der Warter, und sieht mich an, als wäre es meine Pflicht ihm zuzustimmen. „Nun“, sag´ ich, „irgendwo muss der ganze Frust ja hin.“ „Der muss raus!“, sagt der Warter eindeutig. „Sehen sie“, sag´ ich, „und ehe man sichs versieht, schiebt man ein Fahrrad durch die Straßen.“


Bohrlöcher von Michael Helming

BUEHNE2

„Haben Sie Ihr Bonusheft dabei?“ – „Leider nein,“ schüchterte ich über die Theke und hätte beinahe in garstiger Geistesabwesenheit ein Bier bestellt, da mich das durchgestylte Praxisinventar tatsächlich an eine Szenekneipe oder ein Bistro erinnerte. Zudem hatte ich noch kurz zuvor meine Arztangst an einer Kneipentheke behandelt. Wie ich jetzt hier hing und meine Krankenkassenkarte einlesen ließ, in ähnlicher Art hänge ich manchmal auch in der Nachbarschaft von Zapfhähnen durch. Armgestützt. Kaum fähig mich aufrechtzuhalten. Notdiensttermine sind unangenehm. Die zahnhalsschlanke und fleischblutjunge Zahnarzthelferin legte meine Behandlungsakte an und sagte freundlich: „Kein Problem. Das können Sie beim nächsten Mal nachtragen lassen.“ Das nächste Mal? Ich murmelte: „Mmmmmh“; bemüht, weder Zustimmung noch Verneinung auszudrücken. Ich hatte mein Bonusheft natürlich dabei. Doch der letzte Eintrag lag fast zehn Jahre zurück, da mir die Kauleiste schon abartig weh tun muß, bis ich einen Dentisten aufsuche. Wer je einer Zahnarzthelferin ein Bonusheft ausgehändigt hat, aus dem unregelmäßige Praxisbesuche hervorgehen, weiß, warum ich meines in der Hosentasche behielt. Vorwurfsvolle Blicke reizen Nerven manchmal mehr als der stärkste Bohrer. Ich taperte ins Wartezimmer. Mein Eßzimmer pochte abartig und als ich endlich in den Behandlungsraum geführt wurde, der Stuhl zurückkippte und man mir ein weißes Plastiklätzchen umlegte, fühlte ich dieses Pochen so stark, daß ich auch einen Kardiologen hätte gebrauchen können. Fast so schlimm wie der Zahnarzt selbst, ist das Warten auf ihn. Diese Minuten, allein im Behandlungsstuhl. Trotz schallisolierter Wände dringen Fräsgeräusche aus dem benachbarten Zimmer. Dann geht die Tür auf und der Dentalklemptner kommt hinein, wäscht sich die Hände, gibt die Hand und knippst das Riesenflutlicht an. Das Spiel beginnt. Mir kommt es wie neunzig Minuten plus Verlängerung vor. Ohne Halbzeitpausen. Fast alle Zahnärzte sind Brillenträger und obwohl sie selbstverständlich entspiegelte Gläser haben, kann man doch immer in Zahnarztbrillen seine eigene Mundhöhleninnenarchitektur bestaunen. Ekelige Einrichtung. Weißgelbgraues Mobiliar und rosa Tapeten. Doppelt schlimm, wenn die Arzthelferin, die einem den riesigen Absaugschlauch wie einen Bodenstaubsauger an die Wange hält, ebenfalls kurz- oder weitsichtig ist. Ich bin vorsichtig, öffne den Mund nur ein Stück. Und dann kam er mit dem Haken und fuhr die Zahnreihen ab. Er zählte Füllungen und ich wartete auf Fachfloskeln wie: „Vierer oben links kariös“, doch der Haken blieb nirgends hängen, schabte zwar ekelhaft kratzig über den Schmelz, doch nirgends drang er elektrisierend schmerzhaft ein. Meine Nerven lagen blank wie Zahnhälse bei Parodontosepatienten. Er schabte und ich verspannte mich mehr und mehr. Er redete mit der Zahnarzthelferin, schwäbelte, sprach so mahlend, speichelnd, mengend. Fei Schoo. Woisch. Ich denke mir, daß der schwäbische Tick vom Häuslebaue eng mit der Sprache verwurzelt ist. Wenn Schwaben sprechen, zermahlen sie in ihren Mundhöhlen Kies und Mörtel, vermengen das Gemisch mit Speichel, speien aus und bauen aus diesem Auswurf ihre Häuser. Häuser, die nicht immer Qualitätsarbeit sind. Zur Erklärung muß ich meinen Mund ein wenig öfter öffnen und schließen: Es ist nämlich so, daß eine gute Freundin mir, als sie von meinen Schmerzen erfuhr, eben jenen Zahnarzt empfahl, der da nun über meinen Schmelz schabte. Und sie empfahl ihn nicht etwa, weil sie von seinen fachlichen Fähigkeiten überzeugt war, sondern weil sie in einem seiner Häuser zur Miete wohnte. Hätte ich ihre Wohnung zu dieser Zeit schon von innen gesehen, wäre ich zu einem anderen Zahnarzt gegangen, doch die Gelegenheit ergab sich erst später. Eine Wohnung ohne Biß. Klein. Verbaut. Die Badezimmertür stieß beim Öffnen immer gegen das Waschbecken. Eine Hundehütte, die er sich glänzend bezahlen ließ. Meine Freundin hatte dafür Verständnis, da der arme reiche Mann doch so vom Schicksal geschlagen war, wie sie immer wieder irgendwo aufschnappte. Tochter hatte seine umfangreiche Jazzplattensammlung verkauft um sich fett Junk rauszulassen und als es an den Entzug ging, räumte sie Vatis Medizinschrank aus und ließ Rezeptblöcke mitgehen. Verdiente sich nachts beim Gärtner des Hauses ein paar Mark dazu. Ferner kassierte sie aus Muttis Haushaltskasse Schweigegeld dafür, daß sie über gewisse Herrenbesuche und Einkaufsfahrten die Klappe hielt. Mutter und Tochter waren jedoch nicht verfeindet, eher Kameradinnen im Geiste Konstantin Weckers. Das kostet natürlich, was hohe Mieten rechtfertigt und wirklich unangenehm an der Wohnung meiner guten Freundin war lediglich der permanente Pilzbefall in allen Ecken. Das Wasser lief in Strömen von Decke und Wänden. „Sie können jetzt den Mund ausspülen,“ sagte der Zahnarzt und legte den Haken weg. Wie von Geisterhand lief Wasser 10und vor in ein Glas. „Der Zustand Ihrer Zähne ist nicht der beste. Sie sollten regelmäßiger pflegen. Antibakteriell spülen allem regelmäßig zur Individualprofilaxe kommen.“


Ich spuckte warmes Wasser und sah im Geiste einen großen Bohrer sich in blankes Zahnbein fressen, wie in eine Betonwand, es schließlich durchschlagen und in der weichen Pulpa zwischen Blut- und Nerven-fasern steckenbleiben. Warum haben Zähne kein Gewinde, daß man sie einfach nur aus der Mundhöhle schraubt, wenn sie schadhaft sind? Er stopfte Watterollen in meinen Mund und sagte: „Ich entferne noch ein wenig Zahnstein.“ Einfach ausschrauben, dachte ich. Und neue Zähne müßten auf Bäumen oder an Sträuchern wachsen. Man geht einfach raus in die Natur und pflückt sich ein neues Gebiß. Ich sah durch das Spiegelbild der Brille im Zahnarztaugenpaar, daß der Mann konzentriert bei der Sache war. „Ihre Schmerzen kommen von den Weisheitszähnen. Die versuchen durchzubrechen, haben aber keinen Platz. Die sollten Sie von einem Kieferchirurgen entfernen lassen. Nicht gleich. Aber irgendwann, bevor sich die Zähne verschieben.“ Ich machte „Mmmm,“ und er antwortete: „Da müssen Sie leider der Realität ins Auge sehen.“ Ich hörte die Gegensprechanlage: „Ihre Frau ist am Telefon.“ – „Sagen Sie, ich rufe zurück.“ Er nahm die Augen nicht von meiner Mundhöhle, die unter dem brummenden Steinschleifer vibrierte. „Ihre Backenzähne sind für Ihr Alter recht abgenutzt. Da sollten wir bei Gelegenheit mal eine Überkronung machen.“ Mein Körper verfällt, dachte ich. Sollte ich mir Kronen einsetzen lassen? Ich dachte an die alten Sissi-Filme, die meine Mutter immer so gern anguckt und daran, wie mein Mund wohl gekrönt aussieht. „Ich wiill gaarr kaine Kaisseriin sssain!“ Meine Zunge drückte gegen die Watte, während die Augen hinter der Brille sich in Bildern meiner imaginären Krönung spiegelten. „Da kommen Sie mal vorbei und ich gebe Ihnen einen Kostenvoranschlag für Ihre Kasse. Wir können oben und unten in einer Sitzung machen. Wäre das nicht schön?“ Ich sagte: „Nööön!“ „Wenn Sie nochmal spülen wollen?“ Er schraubte den Schleifkopf ab und wieder lief Wasser. Langsam bewegte sich der Stuhl in die Senkrechte zurück und er reichte mir zum Abschied die Hand und ein Rezept. Paracetamol, las ich nicht ohne Freude. Ich ging in die Apotheke und dann nach Hause, warf gleich die ersten zwei Tabletten ein und hörte Ramones. I wanna be sedated. Beim Zahnarzt war ich seitdem nicht mehr.

Liebet eure Feinde, Segnet jene, die euch fluchen, Tut wohl denen, die euch hassen, Daß ihr Kinder des Vaters im Himmel seid, Der seine Sonne aufgehen läßt Über die Guten und Bösen! (J. von Nazareth) Die Hoffnung stirbt zuletzt von Rüdiger Saß Es ist mir nicht zum ersten Mal passiert, daß ich, von Schnapschimären überwältigt, eingeschlafen bin. Doch diesmal ist es anders. Anstatt von Schrulle, dem Wirt der „Trinkbar“, geweckt zu werden, schüttelt mich ein Afrikaner, ein Kind in Uniform, ins Bewußtsein zurück. Anstatt durch die erwachenden Straßen meiner Stadt heimwärts zu wanken, entsetzen mich Gewehrläufe, die auf mich gerichtet sind. Mit einigen andern werde ich durch Spaliere wütender Menschen getrieben, ein Spießrutenlauf mit Schlägen, Tritten, Stößen und Hieben, mit Machetenhieben. Die Kindersoldaten scheinen nicht zu wissen, wohin mit uns, mit einer Last, die zu tragen ihre Kräfte übersteigt. Sie scheinen verwirrt von dem Chaos, von dem Aufruhr um sie herum. Sie machen kurzen Prozeß, sie werfen uns von einer Brücke. Ich muß zusehen, wie Menschen zehn, zwanzig Meter in die Tiefe stürzen, Menschen, die wie Müll, wie Dreck weggeschmissen werden. Sie klatschen auf einem ausgetrockneten Flußbett auf, und - was das Unerträglichste daran ist ich weiß, daß mir in wenigen Momenten das gleiche passiert. Schon werde ich gepackt: Ich klammere mich am Geländer fest. Dann spüre ich nichts mehr, dann schwebe ich durch Schwerelosigkeit. Meine Mutter kommt auf mich zu. Sie sagt: „Junge, trink nicht soviel!“ An ihrer Hand quengelt Raschel, mein Töchterchen, mit einer Schultüte im Arm. Dann sehe ich, wie sich die Kinderkrieger über die Brückenbrüstung lehnen, ich sehe, wie sie schießen. Und ich sehe Filmkameras, die auf mich gerichtet sind, ich sehe Reporterrotten. Ich muß mit ansehen, wie mein Sterben das Konsumvolk in aller Welt unterhält, noch heute abend, heute nacht. Neben mir schießen Geschoßfontänen in die Höhe. Ich will, aber ich kann mich nicht bewegen. Irgend etwas hindert mich, irgend etwas hält mich auf.


Winterdämmerung von Anna Catharina Von Rosenthal

Nachts springt manchmal in leeren Autos etwas gegen die Scheiben, wenn ich vorbeigehe von Johannes Witek

Schneller und schneller. Kein Stillstand. Immer nur vorwärts. Niemals rückwärts. Mit 25 mindestens fünf Jahre Berufserfahrung, fünf Semester im Ausland und danach? Immer weiter. Auf der Karriereleiter. Nicht ruhen. Nicht anhalten. Nicht denken. Immer nur weiter. Allein. Keine Zeit. Für nichts. Für niemanden. Schnelle Entspannung. Schnell. Ergebnis zählt. Essen im Stehen. Tabletten einwerfen. Schlafmangel. Keine Freizeit. Kein Leben. Keine Freunde. Nur weiter. Bloß nicht anhalten. Nicht nachdenken. Weiterbilden. Buckeln. Machen. Machen. Tun. Mit 30 mindestens ein Magengeschwür, eine Panikattacke und danach? Nichts gelernt. Keine Zeit. Der Aufstieg. Endlich. Neuer Posten. Große Chance. Die Chance. Jetzt oder nie. Immer höher. Immer mehr. Nie genug. Mehr. Noch mehr. Immer mehr. Nie genug. Nicht ausruhen. Unersetzlich werden. Herzrasen. Tabletten. Mehr Tabletten. Alkohol. Mehr Alkohol. Zigaretten. Mehr Zigaretten. Joggen. Schneller Joggen. Einsamkeit. Zweifel. Angst. Die Jugend? Vorbei. Die Liebe? Keine Zeit. Die Freunde? Welche Freunde? Mit 40 mindestens drei geregelte Mahlzeiten, drei Ruhephasen pro Tag und danach? Ruhe. Stille. Kneten. Laute Schreie. Manchmal. Schwebezustand. Gespräche. Malen. Singen. Tonfiguren formen. Spaziergänge im Park. Natur. Vogelzwitschern. Entspannung. Glückseligkeit. Frieden. Mit der Welt. Sich selbst. Endstation. Psychiatrie.

Ich war ein Kind und sie hatten diesen Garten; -- Freunde meiner Eltern, Er: groß und kräftig, Chiropraktiker, Sie: groß und grauhaarig, zuvor mit einem Maler verheiratet. Der Garten begann ganz oben an der Straße, wo er seine Praxis hatte und verlief dann eine lange, lange Wiese runter, um die Terrasse des Wohnhauses herum bis zum Sichtschutzzaun. Der war über zwei Meter hoch. Und wir saßen auf dieser Terrasse und ich war ein Kind. Ich schmiß Gläser um, Teller runter und riß an den Zierblumen. Meine Mutter gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf oder zischte meinen Namen, obwohl der keine Zischlaute enthält. Und sie, groß und grauhaarig, pflegte stets zu sagen: „Das macht doch nichts, das ist doch gar kein Problem, laß ihn doch …“ Und ich wunderte mich. Ich mochte sie lieber als meine Mutter.

Nun sind viele Jahre vergangen seitdem. Der Wind zeichnet hier andere Körper auf die Kleider der Menschen. Ich starre die Augen auf Werbeplakaten an bis sie zurückstarren und ich zittere. Nachts springt manchmal in leeren Autos etwas gegen die Scheiben, wenn ich vorbeigehe. „Sie kam reingelaufen, von oben bis unten voll“ erzählt mir eine Version, die mich betrügen will. „Dann hat sie immer gesagt: `Mei, jetzt hab ich´s wieder nicht halten können`. Und ich bin mit ihr ins Bad und hab sie sauber gemacht.“ Die Polizei hat angerufen, um zu sagen, dass er überfahren wurde. Ich höre ihre Antwort statt zu schlafen.


Hinterzimmer von Ivo Theele Es war wieder einer dieser Tage. Es regnete draußen aber wozu sollte er zu Hause bleiben. Also ging er etwas in den Straßen herum, auf dem Kopfsteinpflaster, auf dem das Licht der Laternen glänzte. Als er durchgefroren und bis auf die Haut durchnässt war, ging er in dieses Café, das im Keller unter einer Bäckerei an der Ecke lag. Das Café war nicht groß, die Decke hing tief auf den Gästen, keine Ecke war ausgeleuchtet und der Zigarettenqualm konnte nirgendwohin abziehen. Daniel Zubaré fühlte sich nicht wohl hier, aber irgendwie kam er trotzdem immer wieder. Warum auch nicht, dachte er sich, warum woanders hingehen, wo viele Leute waren, wo es laut war, hier hatte er wenigstens seine Ruhe, hier meinte er, schreiben zu können. Er ging also die steile Treppe ins Café hinunter und hängte seinen Mantel an einen Haken. Er strich durch seine nassen Haare und setzte sich an den Platz, an dem er immer saß. Es kam selten vor, dass jemand anderes dort saß. Bei der Bedienung bestellte er einen schwarzen Tee mit einem Schuss Whiskey, wie immer, und gab an, dass er gerne diese Tangoplatte hören wollte, diese alte, die sie hin und wieder spielten. Man erfüllte ihm diesen Wunsch, da man ihn gut kannte und darüber hinaus kaum andere Gäste im Lokal saßen. Es war später Nachmittag, eine tote Zeit in dem mäßig besuchten Café, die Nachmittagsgäste waren bereits wieder gegangen, die Abendgäste noch nicht eingetroffen. Daniel Zubaré ließ einen Blick durchs Café schweifen. Jemand saß dort hinten unter dem Torbogen am Tisch, in ein Buch vertieft, ein junges Paar am Tisch daneben, die beiden unterhielten sich angeregt. An der Theke auf einem Barhocker saß sie wieder, die mit den blond-roten Haaren, die er so gut kannte, bis auf ihren Namen. Er nickte ihr zu, sie nickte zurück. Dann holte er sein Skizzenbuch heraus und vertiefte sich darin. Sein Tee wurde gebracht. Nein, nichts zu essen, danke. Ihm war nicht nach Essen. Nicht bevor er endlich mit seinen Zeilen weiter gekommen war. Er machte eine Notiz in das Heft, nahm einen Schluck Tee, dann kritzelte er weiter in dem fragmentarischen Text herum. Stützte sein Gesicht, schloss die Augen, machte wieder eine Notiz, hielt kurz inne, schüttelte den Kopf, strich etwas durch. Wieder ein Schluck Tee, tiefes Durchatmen. So ging es mehr als eine Stunde und er bemerkte nicht, dass er dabei ständig beobachtet wurde, vielleicht weil er, ohne es zu merken, sich daran bereits gewöhnt hatte. Die Frau an der Bar nippte an ihrem Getränk und wich mit ihren Blicken nicht von ihm. Immer wieder stieg in ihr die Hoffnung auf, dass er zu ihr herüber blicken könnte, doch dann schaute er einfach nur wieder ziellos in der Umgebung herum, wischte sich mit seiner Serviette durchs Gesicht und wandte sich wieder seinem Geschriebenen, seinen Versuchen zu. Doch sie wusste, dass es sich zu warten lohnte. Früher oder später würde er sich wieder ihr zuwenden. Diesmal war es eher früher. Mit einem lauten Seufzer lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und klappte sein Skizzenbuch zu, schloss die Augen. Er war wieder so weit. Die Musik spielte noch immer, mittlerweile die B-Seite der Schallplatte. Daniel Zubaré gab der Bedienung ein Zeichen, dass er noch etwas trinken wollte und bemerkte dabei wieder die Frau an der Bar. Sie lächelte ihn an, ganz offen und eindeutig, mit einer gewissen Sicherheit. Sie trug eine weiße Bluse und einen dunklen Rock, der von ihren Beinen mehr offenbarte als verbarg. Wie hieß sie noch gleich, fragte er sich. Hatte er sie überhaupt einmal nach ihrem Namen gefragt? Nein, gestand er sich nach einigem Überlegen ein, er hatte es wohl nicht. Es war so eine dumme Angewohnheit von ihm, Menschen nicht nach ihrem Namen zu fragen. Meistens erfuhr er sie ja eh durch Zufall nur wenig später, bei ihr hatte er ihn allerdings nicht erfahren. Sie zündete sich eine Zigarette an und versuchte, ihm einen vertrauten Blick zuzuwerfen. Ihre Hand glitt an ihrem Körper herunter, über die Hüfte, über den Oberschenkel, dann eine Richtungsänderung: Die Hand strich über den kurzen Rock und zog ihn etwas höher. Dabei blickte sie ihn fortwährend mit ihren mattgrünen Augen an. Er riss sich los von ihrem Körper, sah sein Skizzenbuch an und seufzte. Wieder ein verlorener Tag, an dem er nichts geschrieben hatte, mit dem er zufrieden war. In ihm war alles leer, ausgebrannt, dachte er. Wie sollte man etwas Bedeutendes schreiben, wenn alles im Kopf leer ist, alles im Herzen? Er steckte sein Buch ein und ging zur Frau mit den blond-roten Haaren. Sie war nicht überrascht, stellte einfach ihr Getränk ab und erhob sich von ihrem Barhocker. Beide gingen wortlos zusammen an der Bar vorbei ins Hinterzimmer, das schlecht beleuchtet und unaufgeräumt am Ende des Flurs lag.


Sie schloss die Tür hinter sich, nahm seine Hand und legte sie auf ihren Hals. Sie atmet heftig, dachte er sich und glitt mit seiner Hand bis zu ihrem Rock herunter, den er langsam hochschob. Beide sahen sich an, ernst und unverwandt, kein Lächeln, keine Unsicherheit, was hier geschah, hatte sich schon oft ereignet. Mit der anderen Hand zog er ihren Kopf an sich heran und küsste sie heftig, drückte seinen Körper an sie. Nun wurde auch sie aktiv, knöpfte sein Hemd auf und machte sich am Gürtel zu schaffen. Sie drückte ihn auf die Matratze, die auf dem Boden lag, schob mit einer Hand die Bücher und Kleidung beiseite und zog ihn ganz aus. Als er nackt vor ihr lag, zog auch sie ihre Bluse aus, ihren Rock, alles darunter. Als er kurz danach in sie eindrang, stöhnte sie übertrieben laut auf. Nach sechs Minuten lagen sie nebeneinander, beide waren fertig. Sie rauchte und Daniel Zubaré schaute sie mit vorsichtiger Skepsis von der Seite an. Ihre vollen Brüste fielen leicht nach außen, und ihr rotes Schamhaar zog wie magisch immer wieder seinen Blick an. War es nicht an der Zeit, wenigstens jetzt etwas zu sagen, fragte er sich. Vielleicht nach ihrem Namen fragen? Er überlegte eine Zeit. War es nicht längst zu spät für eine solche Frage? Die Tango-Schallplatte, sagte er schließlich, meinst du, ihr habt vielleicht noch eine andere? Sie zog kräftig an ihrer Zigarette, sodass sie hellrot aufleuchtete. Ich glaube schon, antwortete sie, ohne genauer darüber nachzudenken. Die Zigarette war aufgeraucht. Sie stand auf, suchte ihre Kleidung zusammen und zog sich wortlos an. Erst den BH und die Bluse, dann den Rest. Abwesend betrachte er ihre Bewegungen im Halbdunkel, bis ihn plötzlich ein Gedanke aufrüttelte. Die Perspektive! Vielleicht sollte er die Perspektive ändern. Er nahm sein Skizzenbuch zur Hand, blätterte eilig darin herum und versuchte, sich seine Zeilen in einer neuen Perspektive vorzustellen. Entschuldige, faselte er dabei kurz, ich muss gerade diese eine Sache hier überlegen, dann bin ich wieder bei dir. Aber sie hatte bereits vor einigen Augenblicken den Raum verlassen, saß an der Bar, trank etwas und hatte veranlasst, dass eine andere Musik gespielt wurde.

Schwangerschaftsstreifen von Claus Will Schwanger. Sie hat es endlich geschafft. Frühmorgens schon fängt sie an zu kotzen. Mein Kaffee verursache ihr Übelkeit. Mein Aftershave. Ich glaube, sie kann mich nicht mehr riechen. Abgehakt. Als Samenspender war ich gut. An ihren fruchtbaren Tagen erwartete sie mich bereits an der Tür. Wie eine rollige Katze. Manchmal trug sie ein rotes Negligé, oft gar nichts mehr. Anfangs fand ich das geil. Sie schien unersättlich. Danach maß sie immer gleich die Temperatur. Und an den folgenden Tagen war sie regelrecht abweisend. Sie wolle nichts gefährden. Dass ich nicht lache. Unsere Beziehung hat sie gefährdet, ohne mit der Wimper zu zucken.Wenigstens ist sie jetzt glücklich. Wahrscheinlich nur, weil ihre Hormone verrückt spielen. An Sex mag sie momentan nicht denken. Ich allerdings auch nicht. Mein Arbeitskollege hat mir erzählt, wie das bei seiner Frau später wurde, so im sechsten, siebten Monat. Da wollte sie ständig Sex, aber er nicht mehr. Und sie warf ihm vor, er schaue allen Frauen hinterher, die keinen dicken Bauch hätten. Stimmte auch.Und als das Kind dann da war? Da war dann nur noch das Kind da. Windeln, Kacke, Gerülpse. Ständiges Geschrei, mitten in der Nacht musste es gesäugt werden, alle vier Stunden. Nur noch dunkle Ringe hatten sie um die Augen. Und ihr lief ständig die Milch weg. So ’ne Sauerei. Schon jetzt dreht sich alles ums Baby. Dabei kommt es erst in sieben Monaten auf die Welt. Sie schwärmt mir vor, wie wir uns freuen können, endlich mit Kindersitz im Auto. Wie eine richtige Familie. Sie hat schon die ganze Kinderzimmerausstattung ausgesucht. Samt Spieluhrmond, Strampelanzügen und ‘Gehfrei’, oder wie diese Lauflerndinger heißen.Alle ihre Freundinnen kommen und beglückwünschen sie. Vor allem diejenigen, die selber Kinder haben wollen. Mich schauen sie etwas komisch an. Ich weiß nicht, ob ich ihr Lächeln als süffisant deuten soll oder ob es verschämt gemeint ist.Die Freundinnen, die bereits Kinder haben, halten nicht hinter dem Berg mit guten Ratschlägen. Sie erzählen gerne, was sie so alles in den ersten drei Monaten gekotzt haben. Und woran sie merkten, dass es ein Junge oder ein Mädchen wurde. Schwangerschaftsstreifen! Die würden bleiben. Und grob gerechnet koste jede Schwangerschaft einen Zahn. Mindestens. Wenn nicht noch Wasser in den Beinen zurückbliebe, oder Bluthochdruck. Vor allem die postnatale Depression sei schlimm, bis alle Hormone wieder an ihrem Platz seien und vernünftig arbeiteten. Na, bis dahin sind wir also eine richtige Familie. Oder doch eher eine heilige? Ich habe ihr nämlich nicht erzählt, dass ich mich bereits Jahre, bevor wir uns kennenlernten, habe sterilisieren lassen.


STIM STI MMEN EN Denver. Nacht. (Claus Will)

Berlin, Flachdach (Andreas Hutt)

Drei Uhr zweiundzwanzig. Orion wacht am Himmel, leicht vorgebeugt, und schaut zu, wie meine Nachbarn ficken. Venus funkelt. Es riecht nach Schnee. Ein Auto hupt.

Eine Wüste aus Dächern vor mir; in der Ferne morst ein Fenster mit Licht; ein Wodka-O-Saft greift meine Hand und bringt mich zum Strand von Rio

Ich habe nicht geträumt von Dächern, die sich in der Ferne zu Gebirgen türmen, Wolkenfetzen, die auf der Erde schlittern, Gänsen, die in langgestreckten Formationen am Horizont verschwinden. Wer sagt ihnen, wohin? Wer fasst den Entschluss? Wer entscheidet, wenn ich schreibe, für dieses Wort, und gegen jenes?

In der first class meines Sonnenstuhls fliege ich über der Stadt; die Teerpappe hinter mir schwitzt.

15 Meine Nachbarn haben sich erschöpft. Orion wacht noch immer. Und irgendwo ruft eine Gans.


SCHLECHTES INTRO, GUTER SONG (Marcus Mohr) Ich hatte ihr gesteckt, dass ich ein Gedicht für sie geschrieben hatte, und als sie bei mir war, wollte sie unbedingt, dass ich es ihr vorlese. Ich drückte mich rum, kramte in der Packung Pall Mall nach einer Ausrede und fand nichts, nichts was mich aus der Jauche ziehen konnte. Und so stichelte sie weiter. Sie ließ nicht locker. Ich hatte einfach nichts in der Hand, womit ich mich vor dem Elend drücken konnte. Nur die Kippe (die Packung gab doch was her) glühte und qualmte und bot einen Zeitaufschub. Sie hatte mich auf den Knien. Ich ergab mich und zückte das Blatt Papier mit den Zeilen über sie. Sie lehnte sich auf meinem Bett zurück, verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf und gab den Startschuss. Der Text war nicht gut, der Vortrag mangelhaft bis ungenügend, aber ihre Augen begannen zu leuchten, nachdem ich die letzte Zeile hinter mir gelassen hatte und sie erwartend ankuckte. Ich hatte mich zum Affen gemacht. Trotzdem lohnte es sich. Das Ergebnis ließ sich sehen.

EINE NEUE STADT (Marcus Mohr) Die Abgase stanken nach Fahrtwind Und die Brummifahrer Die uns fast über den Haufen fuhren Waren die letzten Arschlöcher In ihren dicken Blechbüchsen Die Raststätte blieb mir nicht In Erinnerung Genau wie die Typen und Weiber Hinter den Theken Die uns kühles Flüssiges verkauften Und dafür sorgten Dass wir durch das teuer erstandene Fresschen nicht vom Fleisch fielen Irgendwann hielt einer an Lud uns in seine Karre ein Und bugsierte uns über die Grenze An der wir Als wären wir Hauptdarsteller Eines schlechten Films Von tausend Autos auserwählt waren Anzuhalten und den Grenzposten Unsere Visitenkarten vor die Augen Zu hauen Nach dem Ausstieg Folgte der Eintritt in eine neue Uns unbekannte Stadt Und wir schnürten die Stiefel fester Man weiß ja nie Aber alles was uns dort erwartete War Blümchensex in Beton gekloppt Und wir schauten zu Dass wir hier so schnell wie möglich Verschwanden


Aasgeier (Ivar Bahn) Mein Kampf ums täglich Brot (Gesine Loth) Wimmel einen Bettler ab, wirklich abgewimmelt, wie einen ekligen Hund, kotzt mich aber auch an. Sehen eine Gringa in der Tür, und schon leuchten die Augen, und sie steuern zielsicher auf meine Wohnung zu. „Ai, minha filha, só dez centavos.“ Wenn, dann geb‘ ich was zu essen, ist gesünder. Aber er war wohl zu überrumpelt von meiner Ignoranz. (ich auch) Am Sonntag ist es der Hass hier. Sehen mich in der Stube sitzen und rufen. Zwischen uns meine Gittertür, die mich schützt und mir Raum gibt. Frau mit Baby, kaputter Typ mit Lederjacke, alter Mann, der immer Essen will. Die Erste kriegt Brot. Der Zweite nix. Der Dritte braucht Zucker, Orangen hat er schon. Fühle mich so ertappt, in meinem Luxus. Mit Tomatensoßenmund und vollen Backen sag‘ ich: „Ich hab‘ nix.“ PERVERS. Ich würde ausrasten und mit der Pump-Gun in die vollen Backen schießen. Oder so ähnlich. Sie schimpfen mich nicht an. Sie sind gütig. „Gott segne dich.“ Das schlechte Gewissen ist flüchtig. Ist dieser Schreck überstanden, kommen die Maracatugruppen und trommeln mir mein Nicht-Können ins Gewissen. (hab‘ doch eins) Schaue nur versteckt aus meiner Stube. Alle wollen mich ärgern.

mit triefenden lefzen schlipsen und kragen pirscht ihr euch heran an die schwachen und armen würgt ihre hälse presst deren gedärm indem ihr euch mästet müssen sie sich entleern wohlartikuliert betrügt ihr kinder und greise ihr löffelt kaviar und sie schaufeln scheiße sonnt wänste und schwänze im warmen süden lasst euch von huren ganztags bedienen zu hause ganz ordentlich hund frau und kind damit die moral nach außen auch stimmt der egoismus braucht tausend lakaien die wünsche erschnuppern und mit niveau schleimen ärzte mätressen anwälte chauffeure schuhputzer dienstmägde kollaborateure wissend verkümmern rasant und stetig gutartige reste ihr übt euch redlich im anbiedern foltern raffen und rächen ich kann nicht anders ich muss mich erbrechen ihr widert mich an ihr kakerlaken meine fäuste möchten euch die fresse einschlagen dann fort mit solch lästigen einfaltspinseln auf eine der einsamsten südseeinseln dort knabbert ihr wurzeln haust im erdloch und landet schließlich im kannibaleneintopf endlich mal werdet ihr aufgefressen endlich geratet ihr ins vergessen nur einmal noch schmerzt eure anwesenheit wenn ihr euch mitten im schließmuskel zeigt


Poesía viva (Louisa Söllner)

Du schau mich an schau nicht an mir vorbei auf Bedeutung und ähnliche Mythen schau mich an

unter deinem Finger der die Zeilen streichelt strecke ich verwöhnte Katze mich und wenn ich deinen vom Lesen angestrengten Atem spüre zittre ich wie ein Seidenslip an der Wäscheleine oder das Taschentuch das sich in deinem Hemd nahe deiner Brust zum Schlagen deines Herzens regt ich erzähle dir die intimsten Geschichten wenn du willst ich erzähle dir vom Menschsein und streife alle Hüllen ab schau: mein Bauch und schau: mein Nabel . schau: meine Haut denn meine Haut ist eine Sprache die alle Grenzen überwindet koste mich koste die exquisiten Buchstaben mit ihrem Geschmack von Lakritz und schwarzen Algen koste ein wenig Geheimnis - ich werde deine Mundhöhle erobern wie ein neues Land


Margarethe und der Clown (Johannes Witek)

Margarethe war bekannt für ihre Partys. Der Vorbesitzer des Hauses, in das sie eingezogen war, hatte ihr im Keller unter der Garage etwas wunderbar Altmodisches hinterlassen: Ein Raucherzimmer. Lange, schwarze Ledersofas standen dort und niedrige Holztische mit riesigen gläsernen Aschenbechern darauf. Die Sofas waren immer schnell besetzt von einer nach rätselhaften Kriterien zusammengesetzten Loge Auserwählter. Der Rest von uns stand herum und wartete, bis ein Platz frei wurde. Margarethe hatte sich sogar einen Plattenspieler besorgt. Sie spielte viel langsamen Jazz; Miles Davis, Chet Baker, solche Sachen. Der Clown war plötzlich da. Sein Gesicht war zu weiß und seine Lippen zu rot und das Haar floß ihm um den Schädel wie eine seltsame Wolke. Er saß neben Margarethe auf dem Sofa und sprach nicht. Nun hatte Margarethe ein gesundes Verhältnis zu ihrer Sexualität. Wir alle hatten davon profitiert. Es war fern jeder Außergewöhnlichkeit, einen Mann neben Margarethe auf dem Sofa sitzen zu sehen.Der Unterschied war nur, dass der Clown blieb. Soll heißen: er verschwand nicht wieder von Margarethes Seite, wie wir anderen. Er saß neben Margarethe, trank nicht, rauchte nicht, tat auch sonst nichts. Richtete man das Wort an ihn, starrte er durch einen durch und summte ein Kinderlied. Es ging das Gerücht, er sei in der Telekommunikationsbranche. Seltsam ist: der Vergleich von Erfahrungsberichten ergab, dass niemand von uns das Lied kannte, das er summte. Trotzdem war es ein Kinderlied. Noch seltsamer ist: Der Vergleich von Erfahrungsberichten ergab auch, dass keiner von uns je das Wort an ihn gerichtet hat. Und etwas war mit seinen Zähnen.

Eines Nachts hörten wir Margarethe schreien. Wir hatten erst gemerkt, dass sie weg war, als wir sie suchten, um uns zu verabschieden. Die Schreie kamen aus dem Haus, genauer: aus dem ersten Stock, wo das Schlafzimmer war. Es war furchtbar. Es war abartig. Man konnte sich vorstellen, wie sämtliche Meerschweinchen der Nachbarn dabei neurotisch wurden. Es dauerte danach lange, bis wir wieder anständig und wie Menschen onanieren konnten. Wir gingen, ohne uns zu verabschieden. Dann war Margarethe verschwunden. Unschlüssig, ob wir einfach so ins Haus gehen sollten, gingen wir schließlich einfach so ins Haus. Die Tür war nicht abgesperrt. Auf den Möbeln lag eine Staubschicht. Die Schränke waren voller Kleider. Das Bett unberührt. Auf den Badezimmerspiegel Hatte jemand mit blutrotem Lippenstift ein krakeliges Grinsen gezeichnet. Als nächstes kamen die Einladungen. Mit der Post. Kleine, schmale Visitenkarten mit einem krakeligen, blutroten Schriftzug darauf: "Ex ungue leonem". Wir haben das nachgeschlagen. Es bedeutet: „An der Klaue (erkennt man) den Löwen“. Plutarch. Sonst ist nichts auf den Karten. Weder Name noch Adresse. Es sind Einladungen. Es wurde eingewandt, ob es klug wäre, sie anzunehmen. Ein Diskussionsprozess fand statt. Ergebnis war, dass sich die Frage nicht stellt.

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