Konzeption des guten Lebens

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KON ZEP TION DES GUTEN LE BENS



Konzeption des guten Lebens Zur Bedeutung einer Theorie des Guten innerhalb der modernen Gesellschaft

Friedrich Schiller Universit채t Philosophische Fakult채t Institut f체r Philosophie

Bachelorarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Bachelor of Arts (B.A.) vorgelegt von Philipp Herberger, geboren am 04.05.1986 in Bruchsal

Erstgutachter PD Dr. Tilo Wesche

Zweitgutachter Prof. Dr. Hartmut Rosa

Jena, den 28.07.2011


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Einleitung

Freiheit und Selbstverwirklichung

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Positive Freiheit bei Charles Taylor

Die Bedeutung der Gemeinschaft

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Freiheit und Gemeinschaft

Dezentralisierung

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Pluralismus und Selbstentfaltung bei John Stuart Mill

Der kulturelle Markt

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Martha C. Nussbaum und das gute Leben

Schluss


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Tradition der positivenund negativen Freiheit

Negative Freiheit und Gleichheit bei Ronald Dworkin

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Liberaler Atomismus

Charles Taylors philosophische Anthropologie

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Etzioni und die soziale Ordnung

Pluralismus in der Gesellschaft

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Die zwei Varianten des Perfektionismus

Der Vorrang des Rechten vor dem Guten

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Literaturverzeichnis

Impressum



EINLEITUNG


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A

ristoteles rückt in dem siebten Buch der Politik das gute Leben und den Staat in das Zentrum seiner Gedanken. Ohne eine Antwort auf die Frage, was das gute Leben überhaupt ist, so Aristoteles, können wir keinen vernünftigen Staat bilden. Nach Aristoteles muss die Politik aufs Engste mit einer Ethik, der Lehre vom guten Handeln und Leben, verbunden werden.1 Dieses Verständnis der Beziehung zwischen dem Staat und einer Theorie des Guten ist im Zeitalter der europäischen Aufklärung einem anderen Gedankengut gewichen. Dieses formierte sich auf der Basis humanistischer Ideen als liberale Auffassung mit dem Anspruch, dass sich der Staat gegenüber konkurrierenden Konzeptionen des guten Lebens neutral verhalten soll. Die Anhänger der liberalen Theorie sind der Überzeugung, dass das Prinzip der Gleichheit verletzt wird, sobald der Staat oder eine Gesellschaft für eine bestimmte Konzeption der Lebensführung eintritt. Der Liberalismus betont, dass in einer demokratisch pluralistischen Gesellschaft verschiedenartige Vorstellungen vom guten menschlichen Leben existieren. Eine Festlegung auf eine bestimmte Konzeption des Guten würde somit gleichzeitig eine Diskriminierung anderer Ansichten bedeuten. Denn jeder Mensch, der die etablierte Vorstellung des Guten nicht vertritt, würde in dieser Gesellschaft nicht mit dem gleichen Respekt behandelt werden, wie derjenige, der gemäß der allgemeinen Konzeption lebt und handelt. Der Staat würde die Menschen nicht mehr als Gleiche behandeln. Dies hätte, laut der liberalen Auffassung, eine Beschneidung der individuellen Freiheit zur Folge, denn ein zentrales Bestreben der liberalen Theorie besteht darin, dass jeder genau das Leben führen kann, das er leben will. Der Mensch muss für sich selbst entscheiden können, was für ihn ein gutes Leben bedeutet, und eine öffentlich artikulierte Vorstellung des Guten wäre eine unzulässige Beeinflussung des Individuums. Die Regierung und öffentliche Institutionen sollen sich demnach allen wertenden Urteilen bezüglich verschiedener Lebenskonzeptionen enthalten, um die Freiheit und Gleichheit des Einzelnen zu gewährleisten. Gegenüber dieser liberalen Theorie formierte sich eine kritische Bewegung, die überzeugt ist, dass eine demokratische Gesellschaft eine allgemein akzeptierte Bestimmung des guten Lebens benötigt. Wir sprechen hier von der Debatte zwischen Kommunitarismus und Liberalismus. Der Kommunitarismus behauptet, dass die liberale Theorie dem Wesen des Menschen nicht gerecht wird, indem er seine kulturelle und soziale Vorbedingung übersieht und dadurch die fundamentalen Voraussetzungen zur Identitätsbildung übergehe. Der Liberalismus zeichne einen abstrakt atomistischen Personenbegriff.2 Viele kommunitaristische Autoren verlangen eine Stärkung der Gemeinschaft, in der Menschen ihre gemeinsamen Wertevorstellungen artikulieren können. Bevorzugt die eine Partei, die Liberalen, eine Ethik des Gerechten, vertritt die andere eine Ethik des Guten. Beide Parteien präsentieren ein Bündel von Ansichten, jedoch ist die Beziehung und Verschiedenheit komplex. In der Auseinandersetzung gab es in bestimmten Punkten eine gewisse Annäherung, wohingegen in ande1  Vgl. Höffe, Otfried: Einführung in Aristoteles Politik. In: Aristoteles: Politik. Hg. von Otfried Höffe. Berlin: Akademie Verlag 2001. S. 16f. vcv 2  Vgl. Pauer-Studer, Herlinde: Das Andere der Gerechtigkeit. Moraltheorie im Kontext der Geschlechterdifferenz. Berlin: Akademie Verlag 1996. S. 133.


»Derjenige, der vor hat, über die beste Staatsverfassung die entsprechenden Untersuchungen anzustellen, muss zunächst genau bestimmen, welches Leben das wählenswerteste ist.« Aristoteles: Politik. Hg. u. übersetzt von Franz F. Schwarz. Stuttgart: Reclam 1998. 1323 a 14-18.

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“A characteristik feature of modern liberalism is that the state must be exhibit a kind of impartiality towards different conceptions of the good.� Maclead, M. Colin: Liberalism, Justice and Markets. A Critique of Liberal Equality. Oxford: Clarendon press 1998. S. 187.


ren Aspekten noch ein starker Dissens herrscht. Die Debatte ist vielschichtig und schwierig in ihrer philosophischen Tiefe zu greifen. Es handelt sich um Fragen der Zukunftsfähigkeit von demokratischen Gesellschaften. Die Thematik ist eng mit Problemen der politischen Ordnung und der inZZGerechtigkeit, die Gleichheit, die Freiheit, die Selbstbestimmung, der Pluralismus, die Gemeinschaft und das Rechte werden im Verlauf der Arbeit in Verbindung mit einer Konzeption des Guten gebracht und dahingehend beleuchtet. Diese Arbeit wird im Folgenden die Kontroverse zwischen Liberalismus und Kommunitarismus anhand des Begriffs des Guten untersuchen, um den Kern beider Theorien freilegen zu können. Der Kommunitarismus stellt im Gegensatz zum Liberalismus keine einheitliche Theorie dar. Vielmehr sind die kommunitaristischen Bestrebungen eine kritische Auseinandersetzung mit Liberalismus. In dieser Chronologie vollzieht sich auch die folgende Arbeit. Zuerst werden die liberalen Standpunkte dargestellt, um sie anschließend einer kommunitaristischen Kritik zu unterziehen. Durch die starke Vernetzung vieler Aspekte und Begrifflichkeiten sind jedoch alle Kritikpunkte miteinander verbunden und bauen aufeinander auf. Der Einstieg in das Thema wird am Begriff der Freiheit vorgenommen, um von dort aus die Debatte aufzufächern.

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FREIHEIT UND SELBSTVERWIRKLICHUNG

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TRADITION DER POSITVEN UND NEGATIVEN FREIHEIT


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Liberalisten und Kommunitaristen sind sich einig, dass dem Menschen am besten dadurch gedient ist, wenn man ihn über seine Lebensführung selbst entscheiden lässt. Uneins ist man sich darin, welches Paket an Rechten und Ressourcen den Menschen am besten dazu befähigt.3 Eine essentielle Rolle bei der Gestaltung eines guten Lebens spielt das Recht auf Freiheit. Diese ist nicht Zweck an sich, sondern stellt immer das Mittel zur Selbstbestimmung des eigenen Lebens dar.4 Offensichtlich ist, dass die Freiheit eines jeden ihr logische Grenze bei der Freiheit des Anderen finden muss.5 Sehen wir von diesen Übereinstimmungen ab, gibt es eine Vielzahl von Auffassungen wie wir Freiheit definieren sollten, um den Bürgern einer Gesellschaft die ideale Voraussetzung zu geben, ihre geplante Lebensführung zu ermöglichen. Im Folgenden wird mit dem durch Isaiah Berlin6 berühmten Begriffspaar der positiven und negativen Freiheit gearbeitet. Ausgehend von dieser Unterscheidung wird der komplexe Freiheitsbegriff ausdifferenziert um dadurch eine deutlichere Bestimmung der liberalen und kommunitaristischen Theorie zu erzielen.

3  Vgl. Kymlicka, Will: Politische Philosophie heute. Eine Einführung. Übersetzt von Hermann Vetter. Frankfurt a. M: Campus Verlag 1997. S. 161. 4  Freiheit wird in dieser Arbeit als instrumenteller Wert für ein anderes Ziel definiert und besitzt keinen intrinsischen/fundamentalen Wert. Siehe hierzu: (Vgl. Dworkin, Ronald. Was ist Gleichheit? Übersetzt von Christoph Schmidt-Petri. Berlin: Shurkamp 2011. S.171ff.) Diese Arbeit wendet sich daher gegen die Auffassung, die Freiheit selbst als Endzweck begreift, wie z. B. bei (Vgl. Gould, C. Carol: Marx´s Social Ontology. Cambridge: MIT Press 1978. S. 118ff. 5  Vgl. Klopfer, Max: Ethik Klassiker von Platon bis John Stuart Mill. Stuttgart: Kohlhammer 2008. S. 370f. 6  Vgl. Berlin, Isaiah: Four Essays on Liberty. Oxford: University Press 1969. S. 118-172 9 Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Übersetzt von Walter Euchner. Berlin: Suhrkamp 2011. S. 202.


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Beide Freiheitstypen stehen in der politischen Philosophie in einer ganz bestimmten Tradition. Die negative Freiheit wird mit Bentham und Hobbes verknüpft. Diese Anschauung versteht die Freiheit als Abwesenheit von äußeren Hindernissen: »Freiheit bedeutet genau genommen das Fehlen von Widerstand, wobei ich unter Widerstand äußere Bewegungshindernisse verstehe«7. Demgegenüber wird die positive Freiheit häufig mit den Philosophen Marx oder Rousseau in Verbindung gebracht. Nach dieser Version besteht Freiheit nur dann, wenn das gemeinsame Leben unter einer kollektiven Kontrolle steht und jeder Bürger auch einen Teil dieses kollektiven Apparats darstellt. »Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens«8. Beide Auffassungen stehen in einem erheblichen Gegensatz zueinander. Die eine Seite sieht in der Einmischung Anderer, sei es durch den Staat, Institutionen oder einzelner Personen, eine Begrenzung der Freiheit. Wohingegen die Anhänger der positiven Freiheit für eine zumindest partielle kollektive Kontrolle der Gemeinschaft plädieren. Innerhalb dieser beiden Freiheitstheorien gibt es wiederum eine ganze Reihe von Auffassungen, wie wir Freiheit definieren sollten. Im folgenden Punkt wird zunächst auf Ronald Dworkins zentrale Argumentation für die Verteidigung der negativen Freiheit eingegangen, um daraufhin Charles Taylors Rechtfertigung der positiven Freiheit zu behandeln.

7  Vgl. Berlin, Isaiah: Four Essays on Liberty. Oxford: University Press 1969. S. 118-172 9 Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Übersetzt von Walter Euchner. Berlin: Suhrkamp 2011. S. 202. 8  Rousseau, Jean-Jacques: Gesellschaftsvertrag oder Grundrechte des Staatsrechts. Übersetzt von Hans Brockard. Stuttgart: Reclam 2003. S. 18.

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NEGATIVE FREIHEIT UND RONALD DWORKIN


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B

etrachten wir nun eine Definition der Freiheit, die kennzeichnend für die liberale Theorie ist − die negative Freiheit.9 Bei Ronald Dworkin ist die Freiheit eng mit dem Begriff der Gleichheit verbunden.10 Um diese Beziehung untersuchen zu können, wird hier zuerst das liberale Neutralitätsgebots näher betrachtet. Die Aufgabe des Staats liegt nach dem politischen Liberalismus in der Begründung und Aufstellung der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Die Regeln des Zusammenlebens sollen so formuliert werden, dass die verschiedenen Individuen ihre je eigene Konzeption des guten Lebens verfolgen können. Dabei darf der Staat durch seine Gesetzgebung keine bestimmte Konzeption bevorzugt. Der Staat darf sich in Fragen der Lebensführung nicht einmischen, da er ansonsten die Autonomie des Menschen und somit seine Freiheit einschränken würde. Freiheit ist nach Dworkin bei »Angelegenheiten von großem persönlichen Interesse«11 unantastbar, und darunter fällt die Verfolgung eines individuellen Lebensplans. Jeder Mensch hat seine eigene Vorstellung des guten menschlichen Lebens. Er selbst muss entscheiden dürfen, welches Leben für ihn erstrebenswert ist. Gesellschaftliche Autoritäten dürfen aus Gründen der menschlichen Verschiedenheit keine verbindliche Anleitung zu einem gelingenden Leben liefern. Ein Einwand gegen die Neutralität wäre z. B., dass in einigen Situationen des Lebens das Gemeindemitglied, der Freund oder der Lebenspartner meint zu wissen was besser für den Gegenüber sei. Müssten sich nicht diese Mitmenschen oder die Gemeinschaft einmischen, um Andere vor einer vermeidlich falschen Entscheidung zu schützen oder gar vor einem absehbaren schlimmen Schicksal zu bewahren? Der Liberalismus schließt die Beratung und Kritik durch die Mitmenschen nicht aus, im Gegenteil schulden die Menschen einander Hilfe um das Bessere vom Schlechteren zu unterscheiden. Aber die liberale Theorie verneint in diesem Bereich jede paternalistische Tendenz. Keiner Person oder auch Gemeinschaft darf es gestattet sein einen Menschen von seiner Entscheidung zu einer bestimmten Lebensführung abzuhalten.12 Denn er ist derjenige dem an seinem Leben und Glück am meisten gelegen ist, er ist die einzige Autorität in Fragen seiner Lebensziele. Die Achtung des Staates vor den persönlichen Entscheidungen gegenüber der Wahl der jeweiligen Lebensführung heißt die Menschen als Gleiche und Freie wahrzunehmen. 9  Dworkin bekennt sich in seinem Buch »Was ist Gleichheit?« ausdrücklich zur negativen Freiheit (Vgl. Dworkin 2011: S. 158.). Rawls hingegen vermeidet diese Begriffliche Trennung (Vgl. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übersetzt von Hermann Vetter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990. S. 230f.) 10  Vgl. Dworkin 2010: S.158ff. 11  Dworkin 2010: S. 160. Es gibt gute Gründe um manche Freiheiten zu beschränken und Dworkin zeigt dabei ein einleuchtendes Beispiel: Kein Mensch darf das Recht haben die Lexington Avenue hinaufzufahren, wenn der Staat begründen kann, dass die Erklärung der Avenue zur Einbahnstraße dem Allgemeinwohl dient.(Dworkin 1990: 433f.) Aber in Angelegenheiten von großem persönlichen Interesse ist eine Einschränkung der Freiheit aus der Sicht von Dworkin unzulässig. 12  Es sei hier angemerkt, dass die liberale Theorie in der Beschränkung der Lebensführung auch paternalistische Aspekte kennt. Bei Lebensplänen, die z. B. Gewalt, Diskriminierung einer Minderheit oder Rassismus propagieren und ausüben, muss sich der Staat zum Schutz der Gesellschaft einschalten. Auch bei Kinder, geistig Behinderten Personen oder Menschen, die in ihrer Entscheidungsfähigkeit vorübergehend beeinträchtigt sind.


Laut Dworkin würde eine Konzeption des Guten in der überindividuellen Sphäre den Gedanken der Gleichheit und Freiheit verletzen. Denn einige Menschen würden sich womöglich für eine andere Vorstellung des Guten entscheiden, schließen sich aber aufgrund des staatlichen und gesellschaftlichen Drucks der allgemeinen Konzeption an. Dies wäre eine Verletzung des individuellen Freiheitsrechts. Andere entscheiden sich gegen die allgemein anerkannte Konzeption des Guten und würden dadurch nicht die gleiche Behandlung des Staates und der Gesellschaft erfahren. Dies wäre eine Verletzung der Gleichheit. In unserer modernen Gesellschaft nimmt der Begriff der Gleichheit einen sehr hohen Stellenwert ein, denn wenn eine Gesellschaft ihre Bürger als Ungleiche behandelt, handelt sie ungerecht. Nach Rawls trägt der Mensch eine intuitive Überzeugung vom Vorrang der Gerechtigkeit in sich, deswegen muss sie die wichtigste Tugend der Institutionen sein.13 Der Liberalismus begründet sein Neutralitätsgebot aus dem Vorrang des Rechten vor dem Guten. Auf diesen Aspekt des Vorrangs wird später näher eingegangen, hier genügt zunächst die Tatsache, dass diese Neutralität zum Schutz der Freiheit und Gleichheit ein zentraler Aspekt in der liberalen Theorie darstellt.

13  Vgl. Rawls 1979: S. 19ff.

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»Die Regierung muss diejenigen, die sie regiert mit Rücksicht behandeln, das heißt als menschliche Wesen, die des Leidens und der Enttäuschung fähig sind, und mit Achtung, das heißt als menschliche

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Dworkin, Ronald: BĂźrgerrechte ernstgenommen.Ăœbersetzt von Ursula Wolf. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990. S. 439.

Wesen, die in der Lage sind, sich nach intelligenten Konzeptionen davon, wie sie ihr Leben leben sollten, selbst zu formen und entsprechend zu handeln.ÂŤ


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“What does it mean for the government to treat its citizens as equal? That is, I think, the same question as the question of what it means for the government to treat all its citizens as free, or as independent …” Dworkin, Ronald: Liberalism. In: Ethische und politische Freiheit. Hg. von Julian Nida-Rümelin. Berlin: de Gruyter 1998. S. 191.


Der liberale Staat versucht den Einzelnen vor möglichst vielen äußeren Zwängen und Beeinflussungen zu schützen. Die Freiheit in ihrer negativen Variante zu interpretieren, bedeutet laut Dworkin die Menschen als Gleiche zu behandeln und nur das kann gerecht sein. Freiheit wird als »Freiheit von rechtlichen Zwängen«14 definiert, welche eine Person in ihren Möglichkeiten der Selbstentfaltung einschränken. Menschen müssen bei der Wahl ihrer eigenen Lebensziele so viel Flexibilität wie nur möglich haben.15 Jeder perfektionistische oder paternalistische Staat würde dieser Form der Selbstbestimmung zuwiderlaufen. Dworkin konstatiert, dass es im Gegensatz dazu doch einige Philosophen und Soziologen gibt, die auf eine gemeinsame Theorie des Guten bestehen und kritisiert dies vehement16 Er behauptet, dass die Mitglieder mit einer unpopulären Überzeugung, auch wenn jede Person durch verfassungsrechtliche Barrieren geschützt wäre, letztlich über einige Generationen hinweg doch der brutalen Verfolgung verfallen würden Dworkin weist die positive Freiheit und deren innewohnendes Prinzip des Kollektiven entschieden zurück. Charles Taylor warnt in seinem Buch »Negative Freiheit?«17, wohl aufgrund solcher Aussagen wie sie z. B. Ronald Dworkin tätigt, vor zu polemischen und fast karikaturistischen Darstellungen positiver Freiheit. Um die gegnerische Position zu entkräften wird oftmals zu einer überspitzten Darstellung des jeweilig anderen Freiheitstyps gegriffen. So wird die positive Freiheit von ihren Gegnern häufig als »totalitäre linke Theorie«18 bezeichnet, die den Zwang im Namen der Freiheit rechtfertigt. Untersuchen wir nun im weiteren Punkt die Position von Charles Taylor. Welche Argumente entgegnet er der liberalen Theorie?

14  Dworkin 2011: S. 158. 15  Vgl. ebd. S. 206. 16  Vgl. ebd. S. 185. 17  Vgl. ebd. S. 185. 18  Vgl. Ebd. S. 118.

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POSITIVE FREIHEIT BEI CHARLES TAYLOR


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F

ür den Liberalismus ist die Freiheit wichtig um zum einen die Bürger in der Möglichkeit zur Selbstverwirklichung ihrer indivduellen Konzeption des guten Lebens nicht einzuschränken und zum anderen, damit sich die Bürger als gleichwertiges Mitglied betrachten können. In der Arbeit wurde bisher die Selbstbestimmung mit dem Liberalismus in Verbindung gebracht. Dies könnte zu der übereilten Annahme führen, dass der Kommunitarismus der Selbstbestimmung weniger Priorität beimisst, als dies die liberale Theorie tut. Aber auch die Kommunitaristen wie z. B. Charles Taylor sehen darin den zentralen Aspekt für die Konzeption des Freiheitsbegriffes. Der Unterschied liegt in den Bedingungen, die nach der jeweiligen Theorie erfüllt sein müssen, damit bei der Wahl der Lebensführung von wahrer Freiheit gesprochen werden kann. Wenn man der Ansicht ist, dass durch die Abwesenheit äußerer Hindernisse die Bedingung für eine freie Selbstverwirklichung erfüllt wird, dann entscheidet man sich für die negative Freiheit. Aber wenn man die Gefährdung der Selbstverwirklichung auch in inneren Hindernissen sieht, verändert sich das Verständnis von Freiheit. Gehen wir einen Schritt zurück um zu erläutern, was wir hier genau unter innere Hindernisse verstehen. Menschen können durch Angst, Furcht, einem falschen Bewusstsein, fehlender Selbstkontrolle, Zweifel, usw. in ihrer Entscheidung beeinflusst werden. Wenn z. B. eine Person aus einer völlig irrationalen Angst des Versagens eine Prüfung nicht besucht, obwohl sie sehr gut darauf vorbereitet war und bestanden hätte, dann ist das ein inneres Hemmnis. Oder nehmen wir einen anderen hypothetischen Fall indem sich eine Frau aus Gründen unberechtigter Selbstzweifel nicht für eine Karriere entscheidet, obwohl sie dort einen Mehrwert an Lebenserfüllung erfahren hätte. Beide nehmen ihre inneren Hindernisse sehr wohl als irrational wahr, können sich aber nicht von diesen Fesseln lösen. Es ist klar, dass wir diese irrationale Angst und die unbegründeten Selbstzweifel als Hindernisse begreifen, da die Personen ihre angestrebte Laufbahn nicht verwirklichen können. Dies sind Beispiele bei denen wir problemlos von Zwängen reden können und einer Abwesenheit der Freiheit zur Selbstverwirklichung.19 Auch aus falschen Gewichtungen unserer Bedürfnisse kann eine falsche Entscheidung resultieren. So verhält es sich z. B. bei einem Konflikt zweier Wünsche. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Ein Mann geht leidenschaftlich gerne jedes Wochenende zum Fußballspiel ins Stadion. Er weiß, dass ihn diese Gewohnheit auf Dauer Eheschwierigkeiten bereiten wird. Obwohl er diese Beziehung als erheblich wichtiger einschätzt als den Stadionbesuch, kann er sich nicht entscheiden seine Fußballbegeisterung einzuschränken. Der Unterschied gegenüber inneren Hemmnissen liegt darin, dass seine Fußballbegeisterung ein Teil der Identität ist, wohingegen man die irrationale Furcht und unbegründete Selbstzweifel aufgeben kann, ohne einen Teil von dem zu verlieren was die Persönlichkeit.20 Der Konflikt zwischen zwei Bedürfnissen beim Fußballfan zeigt aber auch, dass wir uns irren können was ein gutes Leben für uns bedeutet. Nach abermaliger Aufforderung und Bitten seiner Ehefrau die Wochenenden mit ihr zu verbringen, 19  Charles Taylor verwendet ähnliche Beispiele um die Bedeutung der inneren Zwänge hervorzuheben. (Vgl. ebd. 132ff.) 20  Vgl. ebd. 132-133.


entscheidet sich der Mann für das au genblicklich vorherrschende Bedürfnis des Fußballs und gegen die Beziehung. Solche Menschen bereuen vielleicht ihre Entscheidung und erkennen später, dass die Jahre der Fußballbegeisterung verschwendete Zeit waren und sie trivialem Zielen nachjagten. In diesem Fall beruhte die Entscheidung nicht auf einer wohlüberlegten und vernünftigen Abwägung.21 Oder anders formuliert: Das gute Leben ist nicht notwendigerweise das, was gegenwärtig dafür gehalten wird. Wenn man die Freiheit nicht nur als Abwesenheit äußerer Hindernisse versteht, sondern akzeptiert, dass auch innere Zwänge verschiedenster Art existieren, ist die negative Freiheit nicht mehr tragbar. Welche guten Gründe hat die Liberale Theorie um trotzdem auf der negativen Freiheitstheorie zu verharren? Wenn man den Gedanken der Freiheit zu Ende denkt und die Selbstverwirklichung demnach nicht nur durch äußere, sondern auch durch innere Hindernisse gefährdet ist, so kann ein Subjekt nicht mehr »Die oberste Autorität sein in der Frage ob seine Bedürfnisse authentisch sind oder nicht, ob sie seine Zwecke zunichtemachen oder nicht«22. Dieser Gedanke ist einer der Gründe weshalb viele Liberalisten auf den hobbesschen Freiheitsbegriff beharren. Die Angst vor einem totalitären System, wie sie Dworkin oben formulierte, scheint hier begründet zu sein. Der Totalitarismus findet dort seinen Nährboden, wo die Herrschaft über Andere im Namen der Freiheit gerechtfertigt werden kann. Charles Taylor hat natürlich keineswegs ein totalitäres System im Auge und lenkt ein: »keine offizielle Körperschaft kann eine Doktrin oder Technik besitzen, aufgrund deren sie uns auf das rechte Gleis setzen könnte«23. Aber ist man nun nicht wieder am Anfang des Problems angelangt? Wenn man versucht die inneren Hindernisse in eine Gesellschaftskonzeption einzubauen, endet man in einem totalitären System. Müssten wir nicht aus rein pragmatischen Gründen, zum Schutz der Gleichheit und Gerechtigkeit, auf der Stufe der negativen Theorie, wie Sie Dworkin beschreibt, stehen bleiben?

21  Das Beispiel mit dem Fußballfan könnte einige Fragen aufwerfen. Der Mann hätte, falls er über die Konsequenzen ideal informiert gewesen wäre die Ehe bevorzugt. So folgt daraus aber nicht, dass ihn die Entscheidung für die Ehe mehr Nutzen gebracht hätte, wenn er über die Konsequenzen uninformiert gewesen wäre. Das macht die Angelegenheit kompliziert. Mehr dazu bei Griffin, James: Well-Being: Its Meaning, Measurement Moral importance. Oxford: Clarendon Press 1986. S. 11. ff. Wichtig ist hier die ersichtliche Erkenntnis, dass sich Individuen bei der Wahl ihrer Lebensziele irren können. 22  Taylor 1992: S. 125. 23  Ebd. S. 126.

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28 Charles Taylor hält diesen Schritt für allzu voreilig. Er teilt deshalb den Weg von der negativen zur positiven Freiheit in zwei Schritte ein. Der erste Schritt setzt die Freiheit mit dem was wir wirklich wollen gleich. Diese Konzeption unterscheidet die Motivationen24 unseres Handelns, damit man sein Leben wirklich lenken kann.25 Der zweite Schritt führt eine Doktrin ein, was unser wirklicher Wille zu sein habe.26 Den ersten Schritt muss man gehen um dem Begriff der Freiheit gerecht zu werden, den zweiten Schritt vermeiden um dem Totalitarismus zu entgehen. Im nächsten Punkt wird darauf eingegangen in welcher Form es möglich ist dem Freiheitsbegriff nach Taylor gerecht zu werden ohne dadurch den fatalen Schritt in ein totalitäres System zu gehen. So viel sei vorweggenommen: Nach Taylor ist eine freie Selbstverwirklichung nur in einer Gemeinschaft möglich. Was man genau unter Gemeinschaft verstehen kann und inwiefern sich dort die kommunitaristische Theorie von der liberalen absetzt, wird im folgenden Abschnitt behandelt. Zuvor wird das Behandelte kurz zusammengefasst. Es sind hier zwei grundlegende Ansichten zur Bedeutung einer Theorie des Guten innerhalb der modernen Gesellschaft vorgestellt worden. Der Liberalismus lehnt aus Gründen der Gleichheit und Gerechtigkeit eine Theorie des Guten im öffentlichen Raum ab. Das Erkennen des Guten ist aufgrund seiner mannigfaltigen Vorstellungsmöglichkeiten eine private Angelegenheit. Der Kommunitarismus argumentiert aus dem Standpunkt eines anderen Freiheitsbegriffes für eine Artikulierung des Guten in der öffentlichen Sphäre.

24  Unter Motivationen wird hier die Triebfeder meines Handelns gesehen. Hier: Ob man frei oder aus einem inneren Zwang heraus handle. Ob die Entscheidung aus einer reflektierten und vernünftigen Überlegung entspringt oder blind ist. 25  Vgl. ebd. 126. 26  Vgl. ebd. 127.


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DIE BEDEUTUNG DER GEMEINSCHAFT


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D

eutschland vermied nach dem Ende des zweiten Weltkriegs den vorbelasteten Begriff der Gemeinschaft. Durch die Schrecken der nationalsozialistischen Volksgemeinschafts- Ideologie sprach man nun mehr von Lebenswelt, kulturelle Lebensform, Gruppe usw. Erst durch den Einfluss der Kommunitaristen und einer Wiederentdeckung Ferdinand Tönnies kam es zu Beginn der 80er Jahre zu einer begrifflichen »Renaissance der Gemeinschaft«27 in Deutschland.28 Dem Gemeinschaftsbegriff kommt eine zentrale Stellung in der kommunitaristischen Idee zu. Aber was kann man unter einer Gemeinschaft verstehen? Eine Gemeinschaft ist eine Gruppe von Menschen, die durch verschiedene Bindekräfte zusammengehalten wird. Nach Tönnies ist Gemeinschaft ein »Verhältnis gegenseitiger Bejahung«29in der ihre Mitglieder das Ziel der Gemeinschaft als eine Äußerung ihrer individuellen Neigung empfinden. Eine Gemeinschaft stellt für Tönnies eine ontologische Einheit dar, die im Idealfall eine vollkommene Einheit menschlichen Willens bildet.30 Das bedeutet nicht, dass die Gemeinschaft nach Tönnies der Unterschiedlichkeit und Ungleichheit der Menschen ein Ende setzen möchte. Es geht ihm um eine »Einheit des Differenten«31. Eine Gemeinschaft zeichnet sich durch geteilte Werte und Überzeugungen aus. Die Beziehungen untereinander sind solidarisch und wertschätzend. Die Kommunitaristen verstehen die Gemeinschaft nicht als Gegenbegriff zur Gesellschaft sondern als ihr zentraler Bestandteil. Der Kommunitarismus verlangt eine Stärkung des Gemeinschaftsbegriffs aus zwei Gründen. Der erste Grund zeigt sich sehr deutlich an der Kritik von Michael Sandel in “Liberalism and the Limits of Justice”32. Sandel kritisierte das atomistische Menschenbild des Liberalismus im Allgemeinen und im Besonderen bei Rawls. Bevor hier näher auf die Kritik von Sandel eingegangen wird, muss zuvor das Werk von John Rawls »Eine Theorie der Gerechtigkeit« näher beleuchtet werden. Dort werden die Gerechtigkeitsprinzipien durch eine vertragstheoretische Konstruktion hergeleitet, in der Menschen sich in einer Art fiktivem Urzustand befinden, um über eine gerechte Gesellschaft zu entscheiden. Diese Menschen stehen in einer »anfänglichen Situation der Gleichheit«33 hinter einem Schleier des Nichtwissens. Dieser Schleier des Nichtwissens soll vermeiden, dass eine der Personen weiß, welche Neigungen, Talente, Überzeugungen usw. sie in der Gesellschaft besitzt, damit sich niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn bevorzugen würden. Keiner der Beteiligten kennt seine Vorstellung des Guten.34 Rawles geht es darum, dass niemand aufgrund seiner gesellschaftli27  Vgl. Schlüter, Carsten: Renaissance der Gemeinschaft? Stabile Theorie und neue Theoreme. Berlin: Duncker & Humblot 1990. 28  Vgl. Opielka, Michael: Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parson. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag 2006. S. 23. 29  Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979. S. 3 30  Vgl. ebd. S. 7. 31  Ebd. S. 16. 32  Sandel, Michael. Liberalism and the Limits of Justice. 2. Auflage. Cambridge: Cambridge University Press 1998. 33  Rawls 1979: S. 28. 34  Vgl. ebd. S. 29.


chen oder natürlichen Voraussetzungen bevorzugt oder benachteiligt wird. Diese rein theoretische Situation soll eine faire Ausgangssituation gewährleisten.35 Michel Sandel kritisiert diesen Entwurf des Menschen in Rawls Naturzustand. Die Personen in Rawles Urzustand sind ihren Zielen und Zwecken vorgeordnet.36 Es ist jedoch unmöglich das Ich von seinen Zielen zu trennen, so Sandel, vielmehr konstituiert sich das Ich durch seine Ziele. Ein Bild von Personen, die als völlig unabhängig und sozial ungebunden beschrieben werden hat weitreichende Konsequenzen für eine Gesellschaftskonzeption. Rawls geht in seiner Gerechtigkeitskonzeption davon aus, dass die Menschen eine Bereitschaft zur Güter- und Ressourcenverteilung nach dem Differenzprinzip37 zeigen würden. Diese Solidarität und Verbundenheit der Bürger untereinander ist ausgehend vom liberalen Personenbild nicht schlüssig. Die Solidarität einer Gesellschaft lässt sich nicht durch Rawls fiktiven Naturzustand herleiten. Die Voraussetzung für eine Gesellschaftskonzeption ist ohne eine Art der Gemeinschaft, die gemeinsame moralische Werte und Überzeugung teilen, nicht möglich. John Rawls Theorie kann nicht beweisen, inwiefern seine Konzeption eine gesellschaftliche Basis der Solidarität und des Zusammenhalts liefert. Axel Honneth stellt fest, dass die meisten Vertreter beider Parteien hierbei inzwischen übereinstimmen.38Eine funktionierende demokratische Gesellschaft benötigt eine soziale Wertegemeinschaft mit normativem Charakter um für einen solidarischen Zusammenhalt zu sorgen.39Aber, und hier geht das Verständnis des Gemeinschaftsbegriffs wieder auseinander, begreift die liberale Theorie die Gemeinschaft nur als notwendige Bedingung für eine stabile Gesellschaft, als eine Art kulturelle »Bestandsvoraussetzung«40. Demgegenüber sehen die Kommunitaristen noch eine weitere und viel wichtigere Bedeutung in der Gemeinschaft: Die Bedingung für die individuelle Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung sei ausschließlich in einer Gemeinschaft möglich. Der Kommunitarismus möchte am Begriff der Gemeinschaft festhalten und denkt dabei nicht von dem Kollektiv her, sondern von den Freiheitsbedingungen menschlicher Subjekte.41 Dieser essentielle Unterschied, so Hartmut Rosa, ist »zu wenig berücksichtigt worden und mag wesentlich dazu beitragen, die pauschalen Verdächtigungen zu entkräften, der Kommunitarismus verlange die Unterordnung oder gar

35  Vgl. ebd. 36  Vgl. Rawls 1975: S. 607. Man bezeichnet diese Sicht der Person häufig als kantische, denn ebenso Kant war der Auffassung, dass das Ich seinen sozial vorgegebenen Rollen vorgeordnet sei. 37  Das Differenzprinzip bedeutet, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten nur gestattet sind, wenn sie zu jedermanns Vorteil dienen. Rawls geht es darum die willkürlichen Wirkungen der natürlichen Lotterie zu mildern indem die begabteren Menschen zwar ein mehr an Einkommen und Verantwortung bekommen, aber dies nur gerechtfertigt ist, wenn auch der am schlechtesten Gestellte davon profitiert. Dies bedeutet, dass die begabteren Menschen ihre Fähigkeiten auch zum Teil in den Dienst der Gemeinschaft stecken müssen. (Vgl. Rawls 1975: S. 81ff.) 38  Vgl. Honneth, Axel: Posttraditionale Gemeinschaften. Ein konzeptioneller Vorschlag. In: Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Hg. von Micha Brumlik. Frankfurt a. M.: Fischer 1993. S. 260. 39  Vgl. ebd. 40 Ebd. 41  Vgl. Rosa, Hartmut: Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor. Berliner Diss. Frankfurt a. M.: Campus Verlag 1998. S. 435.

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34 die Opferung des Individuums gegenüber den Zielen der Gemeinschaft«42. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird zuerst auf das aus kommunitaristischer Sicht verfehlte liberale Personenbild eingegangen, um dann ausgehend von der philosophischen Anthropologie Taylors den Wert der Gemeinschaft für eine freie Selbstverwirklichung des Einzelnen zu untersuchen.

42  Vgl. Rosa 1998: S. 435.


»Was das Differenzprinzip zwar voraussetzt aber nicht zu liefern vermag, ist ein Weg zur Identifikation derjenigen, in deren Gemeinschaft meine Vorteile zu Recht als Allgemeinbesitz betrachtet werden, d. h. ein Weg, uns selbst von vornherein gemeinschaftlich verpflichtet und moralisch engagiert zu verstehen.« Sandel, Michael: Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst: In: Kommunitarismus. eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften.. Hg. von Axel Honneth. 3. Auflage. Frankfurt: Campus Verlag 1995 S.28.

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LIBERALER ATOISMUS

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CHARLES TAYLORS PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE


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Ein zentraler Aspekt in dieser Arbeit stellt das Neutralitätsgebot des Liberalismus dar. Wenn man sich für die Stellung einer Theorie des Guten in der modernen Gesellschaft entscheiden muss, hat man zwei Möglichkeiten. Entweder man geht den Weg der liberalen Theorie und rückt damit die Theorie des Guten in den Privaten Raum, oder man vertritt die Meinung, dass man das Gute in der öffentlichen Sphäre artikulieren muss. Wenn es sich bei der Entscheidung über den Raum einer Theorie des Guten nicht nur um eine Parteinahme handeln soll, sondern um ein wohlüberlegtes Urteil, muss man diese Debatte im Hintergrund einer ontologischen Untersuchung betrachten.43Charles Taylor kommt das Verdienst zu, die Debatte versachlicht zu haben und die Aufmerksamkeit auf Fragen der Identitätsbildung zu lenken.44 Der Vorwurf der kommunitaristischen Seite lautet, dass der Liberalismus ein falsches Menschenbild zeichne und damit die Realität verzerre. Die liberale Theorie beschreibt den Menschen als atomistischen Individualist, d. h. als ein sozial ungebundenes Wesen »ohne gemeinsame Maßstäbe und Normen, die ihn bei der Gestaltung leiten«45. In der Realität gehört es aber zum Wesen einer Gesellschaft, die in ihr aufwachsenden Subjekte in Beziehungsstrukturen und Gemeinschaften einzubinden.46 Der Mensch bewegt sich in den verschiedensten sozialen Netzwerken. Beginnend bei der Familie, Nachbarschaft, Freundschaften, der Schulklasse, Vereinen bis zum Arbeitsplatz, der Ehe usw. Ausgehend von einem liberalen Atomismus kann das soziale Leben nicht adäquat erklärt werden. Der Liberalismus verfehlt laut der kommunitaristischen Kritik die soziale Konzeption des Menschen und übersieht, dass eine wesentliche Bedingung des Strebens nach dem menschlichen Guten mit der gesellschaftlichen Existenzweise des Menschen verknüpft ist.47 Taylor lehnt die liberale Theorie ab, da sie in ihrem vertragstheoretischen Ansatz von einem atomistischen Menschenbild ausgeht. Obwohl uns der Mensch im physischen Raum als Einzelner entgegentritt, genügt er sich nicht als Einzelner und kann daher auch nicht von seiner Einzelhaftigkeit aus verstanden werden.48 Die Kritik an dem atomistischen Modell geht bei Taylor sehr weit, insofern er behauptet, dass der »Mensch außerhalb einer gemeinsamen Auseinandersetzung über Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht nicht einmal ein moralisches Subjekt«49 sein kann. Betrachten wir im Folgenden die Konzeption des Menschen bei Charles Taylor, um anschließend den Kreis mit seiner positiven Freiheitskonzeption schließen zu können. 43  Vgl. Taylor, Charles: Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. In: Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften.. Hg. von Axel Honneth. 3. Auflage. Frankfurt: Campus Verlag 1995. S. 104ff. 44  Vgl. Schwaabe, Christian: Politische Theorie 2. Von Rousseau bis Rawls. 2. Auflage. Paderborn: Fink 2010. S. 159. 45  Walzer, Robert: Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus. In: Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Hg. von Axel Honneth. 3. Auflage. Frankfurt: Campus Verlag 1995. S. 162. 46  Vgl. ebd. S. 163. 47  Vgl. Taylor 1992: S. 150. 48  Vgl. Zalten, Erich: Die Problemverschlingung von Liberalismus. In: Kommunitarismus versus Liberalismus. Hg. von Kurt Seelmann. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2000 (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft 76). S. 90. 49  Taylor 1992: S. 150.


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Taylors Konzept beruht auf der Ausarbeitung einer philosophisch en Anthropologie. Jede Form der politischen und sozialen Theorie impliziert eine grundlegende anthropologische Konzeption.50 Somit muss die Frage: Wer bin ich? Von zentraler Bedeutung für eine gerechte Gesellschaftsordnung sein. Das heißt nicht, dass es ihm an einer universalen und allzeit gültigen Beschreibung des menschlichen Wesenskern gelegen ist. Vielmehr ist der Mensch in einem andauernden historischen Prozess der Selbstfindung. Die Fragen nach der Identitätsbildung und der Konstituierung des Selbst gewinnen unter der Bedingung der Moderne an Bedeutung. Denn das Fehlen metaphysischer Gewissheiten und das Hinterfragen der eigenen Traditionen und dessen Werte erweisen sich als problematisch in der modernen Identitätsbildung. In seinem Werk »Quellen des Selbst« unternimmt Taylor den Versuch die Entstehung der neuzeitlichen Identität zu erläutern. Ein wichtiges, wenn nicht zentrales Ziel im ersten Teil seiner Arbeit besteht darin aufzuzeigen, dass »das Selbst und das Gute […] sich als unentwirrbar miteinander verflochten erweisen«51 .Taylor versucht den nicht aufzulösenden Zusammenhang von der Identität eines Individuums und einer Konzeption des Guten zu analysieren. Bevor nun die Verzahnung des Selbst mit dem Guten und schließlich die freie Selbstverwirklichung innerhalb der Gemeinschaft beschrieben wird, muss zunächst auf einige grundlegende philosophische Ansichten von Charles Taylor bezüglich der Konstituierung des Selbst eingegangen werden. Charles Taylor versteht die menschlichen Subjekte als “self-interpreting animals”52 .Das Subjekt konstituiert sich erst durch die Bewertung, Interpretation und Deutung seiner sozialen Umwelt. Demnach kann es keine der Selbstdeutung vorgängige personale Identität geben.53 Taylor steht somit der obigen Kritik von Michael Sandel an dem rawlschen Personenbild nahe. Ein Individuum findet sich immer in einer Umwelt wieder, in der es sich durch Wert – und Bedeutungszuschreibungen orientiert. Die These von Taylor lautet, dass der Mensch in dem was er darstellt zugleich eine Interpretation seiner Umwelt liefert. Dieser Gedanke findet sich auch bei Hegel: Die Selbstbezüglichkeit ist nur zugleich als dialektischer Selbstbezug im Fremdbezug denkbar.54 Das Selbst wird hier als untrennbar mit dem empirisch Äußeren verstanden. Taylor ist von der gesellschaftlichen Übermittlung der personalen Identität überzeugt.55 Somit 50  Vgl. Rosa 1998: S. 61. 51  Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Über setzt von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Shurkamp 1994. S. 15. 52  Taylor, Charles: Self-Interpreting Animals. In: Philosophical Papers Bd. 1. Human Agency and Language. Cambridge. Cambridge University Press 1985. S. 72. 53  Vgl. Rosa 1998: S. 85. 54  Vgl. Henrich, Dieter: Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie. Stuttgarter Hegel- Kongreß 1981. Stuttgart: Klett-Cotta 1983. S. 433. Henrich beschreibt den Unterschied zwischen Kant und Hegel. Dabei zeigt sich, dass sich der Streit über das Personenbild zwischen Hegel und Kant in einer vergleichbareren Weise vollzog, wie zwischen dem Kommunitarismus und Liberalismus heute. Kant unterscheidet das ich denke also das Selbstbewusstsein mit dem inhaltlichen Bewusstsein. Während Hegels These lautet, dass die Selbstbezüglichkeit des Selbstbewusstseins nur denkbar ist, wenn es in der Beziehung auf etwas Anderes vollzogen wird. (Vgl. ebd. S. 430ff.) 55  Vgl. Weber, Verena: Tugendethik und Kommunitarismus. Individualität-UniversalisierungMoralisches Dilemmata. Würzburg: Verlag Königshausen 2002. S.99f.

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40 entwickelt sich der Mensch abh채ngig von seiner sozialen Umwelt und den Bedeutungen, die den Objekten von der jeweiligen Lebensform zugeschrieben werden. Der sprachliche, kulturelle und soziale Hintergrund bildet den Rahmen unserer Selbstinterpretation:


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Rosa 1998: S. 94.

»Menschliche Subjekte haben je nach ihrem kulturellen und sozialisatorischen Hintergrund unterschiedliche (implizite) moralische Topographien die den Rahmen für ihre (präreflexive) Selbstinterpretation und damit für ihre Konstitution abgeben.«


42 Jedes Individuum bewegt sich in einem moralischen Raum, der je nach Sprachraum und Kultur seine eigenwillige Form aufweist. Dieser Raum ist der Wertehorizont an dem sich der Mensch orientiert und in dem er sich durch seine individuelle moralische Landkarte56 zurecht findet. Diese Landkarte wird mit »Hilfe starker Wertungen oder qualitativer Unterscheidungen gezeichnet«57. Bei starken Wertungen handelt es sich um eine deutende Orientierung des Subjekts. Das Subjekt belegt Charaktereigenschaften, Ziele, Ideen Verhaltensweisen etc. denen es begegnet, mit einer qualitativen Unterscheidung in richtig/falsch, höher/niedriger gut/schlecht, mutig/feige, tugendhaft/lasterhaft, edel/unwürdig etc.58 Der Mensch braucht eine Orientierung auf das Gute, also ein Gefühl für qualitative Unterscheidung um eine Identität zu erlangen.59 Die starken Wertungen ermöglichen es einer Person, Ordnung und Struktur in situativ auftretende Wünsche zu bringen. Ohne solche Wertungen wäre eine praktische Orientierung in der Welt nicht möglich und somit auch kein sinnvolles Handeln.60 Zusammengefasst: Das Subjekt wird in einen moralischen Raum hineingeboren, durch starke Wertungen zeichnet es seine individuelle moralische Landkarte, die den Ort des Individuums und somit seine Identität in dem Raum lokalisiert und konstituiert. Damit ein Subjekt eine Handlungsorientierung und Identität gewinnen kann, muss die Platzierung im moralischen Raum mit einer narrativen Darstellung des individuellen Lebens verknüpft werden. Der Mensch begreift sein Leben als zusammenhängende Geschichte von Herkunft, Standort und Lebensziel. »Um zu empfinden, wer wir sind, brauchen wir eine Vorstellung davon, wie wir es geworden sind«61. Nach Charles Taylor begreifen wir unser Leben im Sinne einer zusammenfassenden Geschichte, die nach einem Guten62 ausgerichtet ist.63 Das menschliche Subjekt zeichnet sich dadurch aus, dass es sich beständig an einer Vorstellung des Guten orientiert. Das Selbst artikuliert sich im Hinblick auf das Gute. Auch McIntyre64 teilt diese Vorstellung des Menschen, denn wenn ein Mensch nicht mehr weiß was gut für ihn ist, so ist er auch der vernünftigen Gründe für das richtige Handeln beraubt. Diese Vorstellung des Guten lässt sich nicht a priori bestimmen, sondern wird vom Individuum immer wieder neu umgestaltet, so56  Vgl. Taylor, Charles: The moral Topography of the self. In: Hermeneutic and Psychological theory. Hg. v. Stanley Messer. New Brunswick 1988 S. 300f. Hierzu auch (Vgl. Rosa 1998: S. 98ff.). 57  Taylor 1994: S. 59f. 58  Vgl. ebd. S. 17. 59  Vgl. ebd. S. 94. 60  Vgl. Haus, Michael: Kommunitarismus. Einführung und Analyse. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003. S. 58. 61  Taylor 1994: S. 94. 62  Das Individuum verleiht dem Guten seine Bestimmung durch die starken Wertungen d. h. qualitativen Auszeichnungen (besser, wertvoller, schöner etc.) innerhalb des moralischen Raums. 63  Vgl. ebd. 64  Vgl. McIntyre, Alasdair: Privatisierung des Guten. In: Pathologien des Sozialen. Die Aufgabe der Sozialphilosophie. Hg. von Axel Honneth. Frankfurt a. M.: Fischer 1994. S. 164f. McIntyre bezieht dies von der Individuellen Sphäre auch auf die politische Sphäre. Demnach ist eine Kenntnis der moralischen Regeln ohne eine Kenntnis des menschlichen Guten nicht zu erreichen. Siehe (2.4).


mit wird der Lebensgeschichte eine Form der Suche verliehen.65 Die jeweilig individuellen Geschichten können aber nur im Hintergrund des kulturellen Rahmens erzählt werden. Diese Skizze von Taylors philosophischer Anthropologie wird im Folgenden auf verschiedene Bereiche der politischen Theorie übertragen. Festzuhalten bleiben die essentiellen Eckpunkte: Der Mensch entwickelt sich abhängig vom moralischen Raum und orientiert sich an einer Vorstellung des Guten, die von der sozialen Umwelt geprägt ist.

65  Vgl. Rosa 1998: S. 168

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BEDINGUNGEN DER FREIEN SELBSTVERWIRKLICHUNG INNERHALB EINER GEMEINSCHAFT


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W

ie oben beschrieben wurde, ist ein wichtiger Aspekt in der Sozialanthropologie von Taylor der moralische Raum. In diesem Begriff wird die Überzeugung formuliert, dass der Geltungsanspruch einer Moral in konkreten Lebensbereichen verwurzelt ist. Die menschlichen Subjekte werden von den sozialen und kulturellen Strukturen des Gemeinwesens entscheidend geprägt. Der Gemeinschaft kommt die Rolle einer Instanz zu, die artikuliert und weitergibt, was gut und gerecht ist.66 Sie ist Träger und Medium der Wertevermittlung, in ihr verständigen sich nicht nur die Menschen über das Gute. Vielmehr konstituieren sich ihre Vorstellungen vom Guten durch die intersubjektive Struktur in der Gemeinschaft. Wenn wir der Idee der positiven Freiheit nach Taylor folgen, so wäre das Subjekt ohne die Aussicht auf Mitgestaltung der Gemeinschaft nicht frei. Die Identität des Menschen ist im erheblichen Maße durch das soziale Umfeld bestimmt und konstituiert, daher muss der Mensch die Möglichkeit erhalten die Lebensform in die er hineingeboren wird in einem gewissen Grad mitzubestimmen. Dies scheint paradox, denn wie kann man etwas umformen, das einem in so bedeutendem Maße bestimmt? Jedoch reicht die Bestimmung der Gemeinschaft nicht soweit, dass der Mensch sozial determiniert wäre.67 Hartmut Rosa verweist in diesem Aspekt auf einen dialektischen Prozess: »Indem wir durch unsere bewusste Anstrengungen unsere gemeinsame Lebenswelt und die sozialen Beziehungen in ihr umformen, verändern und rekonstituieren wir auch uns selbst.«68 Die Möglichkeit für Menschen bei der Gestaltung ihrer Gemeinschaft mitzuwirken ist jedoch einigen Bedingungen unterworfen. Es ist unumgänglich eine Konzeption des Guten in der öffentlichen Sphäre zu artikulieren. Wie oben festgestellt, orientiert sich das Subjekt an einer Vorstellung des Guten. Ausgehend von einer gemeinschaftlichen Deliberation muss eine allgemein anerkannte Vorstellung des Guten in den öffentlichen Raum transportiert werden. Nur so ist eine Identifizierung mit einem gemeinsamen Projekt möglich.69 Das Individuum muss die Überzeugung haben, dass die Gemeinschaft sowie die Institutionen Ausdruck seiner selbst sind.70 Gemeinsame Ziele wirken einer individualistisch und egoistisch geprägten Gesellschaft entgegen und entwickeln eine Form der Solidarität. Die Menschen erkennen einander als wichtig und wertvoll für das gemeinsame Projekt an. Die gegenseitige Unterstützung und Beratung, sowie eine Orientierung auf eine Konzeption des Guten helfen den Individuen bei der Identitätsbildung und der Verfolgung ihrer Ziele. Die Wahrscheinlichkeit, dass z. B. die selbstzweifelnde Frau in dem obigen Beispiel durch die Unterstützung und Hilfe einer starken Gemeinschaft, den Schritt in das Berufsleben wagt, ist im Vergleich zu einer individualistischen Gesellschaft erheblich größer. Die freie Selbstbestimmung ist an einer Teilhabe an gelingenden intersubjektiven Beziehungen gebunden. Die Beziehung der Mitglieder untereinander konstituiert eine Art der gemeinschaft66  Vgl. Weber 2002: S.99. 67  Vgl. Rosa 1998: S. 182ff. 68  Ebd. S. 437. 69  Taylor spricht hier von Patriotismus, der im deutschen Raum jedoch eine negative Konnotation erfährt. Patriotismus bedeutet aber bei Taylor nichts anderes als die Identifizierung mit einem gemeinsamen Projekt. (Vgl. Taylor 1995: S. 125). 70  Vgl. Taylor 1994: S. 110.


lichen Praxis und ohne eine Teilhabe daran, kann es keine freie Selbstwahl des eigenen Lebens geben. Denn erst durch die gemeinschaftliche Praxis wird dem Individuum eine Weise der Selbstverständigung ermöglicht, die man zur freien Wahl des Lebens benötigt. Nur durch die intersubjektiven Beziehungen, kann man einen Zugang zu seinem Selbst finden, der es einem ermöglicht von freier Wahl zu sprechen.71 Um eine freie Selbstverwirklichung zu gewährleisten müssen die Wertevorstellungen, die schon implizit unseren sozialen Institutionen zugrunde liegen, ausformuliert werden, damit ein Forum der Diskussion geschaffen werden kann.72 Eine gemeinsame Praxis kann sich nur durch eine gemeinsame Werteordnung konstituieren. Nur so kann eine Gemeinschaft wieder der Gestaltung zugänglich sein. Basierend auf dem Personenbild von Charles Taylor ist eine Neutralität des Liberalismus nicht wünschenswert, da sie einer gemeinschaftlichen Identifizierung und Identitätsbildung zu wider läuft und einer freien Selbstbestimmung nicht gerecht wird. Zudem ist die Möglichkeit einer konsequenten Neutralität des Staates nicht möglich, weil jedes Individuum und somit auch jede politische Struktur seine Entscheidungen im Hintergrund eines gewissen Wertehorizonts fasst.73 Da jeder Entscheidung implizit gewisse Wertekonzeptionen zugrunde liegen, werden zwangsläufig ethische Auffassungen, die sich in der Minderheit befinden, ausgeschlossen. Durch eine Gemeinschaft, in der sich die Mitglieder über eine gemeinsame Vorstellung des Guten verständigen können werden also zwei wichtige Voraussetzung der Freiheit erfüllt. Der intersubjektive Aspekt, durch den das Selbst erst die Möglichkeit erhält seine Lebensziele auszuformulieren und die Möglichkeit der Mitgestaltung der Gemeinschaft und Lebensumwelt, die das Selbst in erheblichem Maße konstituiert.

71  Vgl. Menke, Christoph: Liberalismus im Konflikt. Zwischen Gerechtigkeit und Freiheit. In: und Gerechtigkeit. Hg. von Micha Brumlik. Frankfurt a. M.: Fischer 1993. S. 225. 72  Vgl. Rosa 1998: S. 443. 73  Vgl. Rosa 1998: S. 52.

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DEZENTRALISIERUNG


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er Kommunitarismus verlangt eine Stärkung der Gemeinschaft, jedoch geht der Trend in der modernen Gesellschaft in eine Richtung der Schwächung des Gemeinwesens. Ein Grund hierfür liegt in der rasant steigenden Mobilität der Gesellschaft. Robert Walzer spricht von vier Mobilitätsvarianten: Die geographische Mobilität, die soziale Mobilität, die Ehemobilität und die politische Mobilität.74 Man mag diese Mobilität begrüßen und aus liberaler Sicht ist dies ein Vollzug der Freiheit, klar ist aber, dass aus der steigenden Mobilität eine Schwächung des Gemeinwesens resultiert. Eine weitere Ursache liegt in der fortschreitenden Zentralisierung der Gesellschaft. Aus diesem Grund plädiert Charles Taylor für eine Dezentralisierung, da eine kollektive Selbstkontrolle nur in einem dezentralisierten System möglich ist.75 Die Forderung nach einer Dezentralisierung leuchtet ein, denn eine Artikulierung des Guten muss auf die je individuelle Gemeinschaft angepasst werden. Natürlich müssen die sozialen Gruppen untereinander beständig im Austausch bleiben, da bei isolierten Gemeinschaften eine Gefahr der Fehlentwicklung gegeben ist. Gemeinschaften sind nicht notwendigerweise gute Gemeinschaften da sie auch autoritär, intern repressiv oder schlicht unmoralisch sein können. Die Interaktion zwischen Gemeinschaften ist ebenso wichtig wie die Intersubjektivität des Einzelnen. Der gegenseitige Austausch ist die Basis einer vernünftigen Entscheidungsfindung. Man kann sich das als eine Art Baukastensystem vorstellen. Ein kleiner Kasten bildet die Gemeinschaft, welche in einer produktiven Interaktion mit anderen Gemeinschaften verknüpft ist. Die Summe der Gemeinschaften bildet eine Gesellschaft oder Nation. Ein konkretes Bild:

UNO EUROPA DEUTSCHLAND THÜRINGEN STADTVERWALTUNG JENA BÜRGERINITIATIVEN/VEREINE/VERBÄNDE/ GEMEINSCHAFTEN ETC. IN JENA

74  Vgl. Walzer 1995: S. 164-166. 75  Vgl. Taylor, Charles: The Stakes of Constitutional Reform. In: Reconciling the Solitudes. Essays on Canadian Federalism and Nationalism. Hg. von Guy Laforest. Montreal: McGill-Queen‘s University Press 1993 S. 145ff.


Je tiefer die Kaste umso spezifischer kann eine Formulierung des Guten sein und umgekehrt: Je höher die Kaste umso abstrakter muss die Formulierung einer Theorie des Guten sein, damit die verschiedenen Gemeinschaften, die sich darunter befinden, einen angemessenen Rahmen haben können, in dem sich die jeweilige Theorie des Guten bewegen kann. Die Bestimmung und Lenkung muss von der Gemeinschaft ausgehen um eine Selbstverwirklichung gewährleisten zu können, also von unten nach oben und nicht umgekehrt. Eine Stärkung der Gemeinschaft würde entgegen vieler Befürchtungen schließlich die Macht des Staates einschränken, da die Verwaltung und Regierung der Menschen auf der unteren Ebene der Gemeinschaft stattfindet. In individualistisch geprägten Gesellschaften sind die Zwangsmittel des Staates hingegen stärker ausgeprägt, da die Einzelnen auf ihre isolierten Kräfte und Einsichten verwiesen werden.76 Die Menschen sind untereinander weniger durch eine Gemeinschaft verknüpft, sondern stärker mittels des Staates verbunden, der dadurch mehr Kontrollfunktionen über die Gesellschaft erlangt. Taylors politischen Theorie verlangt nach einem republikanischen Politikmodell, da dort das Gemeinwesen wieder als gemeinsames Projekt verstanden werden kann. Eine Kritik an Taylor ist, dass die politischen Vorschläge gegenüber der theoretische Konzeption unterentwickelt bleiben.77 Etwas anders verhält es sich bei Etzioni, der versucht die Kommunitaristischen Ideen in die Gesellschaft zu integrieren. Im Folgenden wird dargestellt, wie eine Gemeinschaften durch ihren normativen Charakter die Gesellschaft lenken kann.

76  Vgl. Habermann, Gerd: »Kommunitarismus« Institutionelle Voraussetzung der Freiheit. In: Freiheit und Gemeinsinn. Vertragen sich Liberalismus und Kommunitarismus? Hg. von Georgios Chatzimarkakis. Bonn: Lemmens 1997. S. 14. 77  Rosa 1998: S. 448.

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ETZIONI UND DIE SOZIALE ORDNUNG


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mitai Etzioni ist einer der wenigen Vertreter des Kommunitarismus, die sich auch tatsächlich dazu bekennen. Im Gegensatz zu einem Großteil der Kommunitaristen, setzt sich Etzioni aktiv für eine kommunitaristische Politik ein, also um eine Rekonstruktion der Gemeinschaft und eine Wiederherstellung der Bürgertugenden, sowie eine Stärkung der moralischen Grundlagen einer Gesellschaft.78 Etzioni eröffnet eine sehr konkrete und mit vielen Beispielen gespickte praxisorientierte kommunitaristische Reformbewegung. Sein Wert für die politische Philosophie wird erst dadurch erschlossen, wenn man aus seiner allzu konkreten Diskussion heraustritt und eine theoretische Lesart unternimmt. In diesem Punkt wird kurz dargelegt, inwiefern eine soziale Ordnung innerhalb einer Gesellschaft ohne Zwang, sondern mit normativen Mitteln erreicht wird. Etzioni wirbt für eine Stärkung der moralischen Stimme einer Gemeinschaft. In einer liberal geprägten Gesellschaft erkennt er eine typische Furcht des Einzelnen vor der Artikulierung ethischer Ansprüche und diese Scheu moralische Ansprüche auszuformulieren behindert die soziale Etablierung der Moral.79 Die Menschen haben Angst durch ethische Forderungen selbstgerecht zu erscheinen. Aber wenn eine Gesellschaft eine Verbesserung des moralischen Niveaus erreichen möchte, müssen die Einzelnen auch bereit sein ihre moralische Stimme zu erheben. Diese Stimme ist der »soziale Klebstoff«80, der eine Werteordnung zusammen hält. Nach Etzioni reicht es nicht, wenn der Einzelne seine moralische Stimme erhebt. Gesellschaft insgesamt benötigt handlungsfähige Vereinigungen, Gruppen, Organisationen und Institutionen, die eine aktive Orientierung besitzen. Diese müssen gemeinsame Ziele und Moralvorstellungen besitzen, um ein kollektives Selbstbewusstsein ausbilden zu können. Etzioni argumentiert für eine starke Gemeinschaft um einem Werteverfall entgegenzulenken. Zudem belegt er mit einigen Beispielen,81 dass die Basis einer hohen Lebensqualität am besten durch funktionierende Gemeinschaften gewährleistet ist. Gemeinschaften dürfen nicht auf Zwang oder Nutzenkalküle zurückgreifen, sondern auf einen Steuerungsmodus der Moral. Normative Mittel wie Erziehung, Konsens, Ermahnung aber auch Gruppendruck und vor allem die moralische Stimme der Gemeinschaft, sind maßgebend für die gute Ordnung einer Gesellschaft.82 Aber im Gegensatz zum Zwang wird die Autonomie des Handelnden durch den moralischen Druck nicht zum Erliegen gebracht.83 Ein Individuum, das die Werte einer Gemeinschaft teilt, handelt nach einer gemeinsamen Vorstellung des Guten aus dem Bedürfnis Anerkennung zu ernten. Das Verlangen nach dem sozialen Kapital sichert die soziale Ordnung, und dadurch wird folglich der Einfluss des staatlichen Zwangsapparats auf ein Minimum reduziert. Das Gefühl der Verpflichtung gegenüber 78  Vgl. Etzioni, Amitai: Die Entdeckung des Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwortlichkeit und das Programm des Kommunitarismus. Übersetzt von Wolfgang Ferdinand Müller. Stuttgart: Schäfer-Poeschel 1995. S. 9. 79  Vgl. ebd. S. 40. 80  Ebd. S. 42. 81  Reese-Schäfer, Walter: Amitai Etzioni zur Einführung. Hamburg: Junius 2001. S.72f. 82  Vgl. Etzioni, Amitai: Die Verantwortungsgesellschaft. Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie. Berlin: Ullstein 1999. S. 37. 83  Vgl. Haus 2003: S. 115.


der gemeinsamen Werteordnung und den gemeinsamen Zielen ist das beste Mittel zur Gewährleistung einer sozialen Ordnung. Nach Etzioni kann man eine soziale Ordnung und Steuerung am besten durch normative Mittel erreichen. Der moralische Druck gewährleistet eine zwanglose84 Orientierung an einer gemeinschaftlichen Vorstellung des Guten.

84  Inwiefern man hier tatsächlich von einer Abwesenheit des Zwangs reden kann ist fragwürdig. Nach Etzioni ist Beeinflussung nicht gleich Zwang, da Zwang Gewaltanwendung beinhaltet und moralischer Druck weder Haft, körperliche Leiden noch Vernichtung von Eigentum zur Folge hat. (Vgl. Etzioni 1995: S. 44ff.) Jedoch ist dies für viele Liberalisten eine viel zu enge begriffliche Definition des Zwangs. Aber Etzioni geht es hierbei um die Bevorzugung eines moralischen Drucks durch eine vernünftige Gemeinschaft gegenüber dem staatlichen Zwangsapparat. Zudem ist einer seiner zentralen Anliegen ein Wandel hin zu einer Verantwortungsgesellschaft, in der jeder seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft hat und Pflichterfüllung ohne eine gewisse Form des Drucks ist schwer vorstellbar.

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PLURALISMUS IN DER MODENRNEN GESELLSCHAFT


»Es gibt eine endliche Vielfalt von Werten und Einstellungen, von denen sich die verschiedenen Gesellschaften diese oder jene zu eigen gemacht haben. Werte und Einstellungen, die die Angehörigen anderer Gesellschaften (im Lichte ihrer eigenen Wertesysteme) bewundern oder auch verurteilen mögen, die sie aber stets, wenn sie über genügend Vorstellungskraft

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Berlin, Isaiah: Der angebliche Relativismus des europäischen Denkens im 18. Jahrhundert. Übersetzt von Reinhard Kaiser. In: Das Krumme Holz der Humanität. Hg. von Henry Hardy. Frankfurt a. M.: Fischer 1992. S. 108f.

verfügen und sich Mühe geben, verstehen können, und verstehen bedeutet hier erkennen, wie und warum Menschen, die in einer bestimmten Situation sind, solche Lebensziele zu eigen machen können. (…) Man bezeichnet diese Lehre als Pluralismus«


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n einer modernen demokratischen Gesellschaft herrscht eine Pluralität von Lebensentwürfen. Einige Konzeptionen mögen manchen Menschen vielleicht fragwürdig oder höflicher ausgedrückt unzugänglich erscheinen. So kann z.B. ein leidenschaftlicher heavy Metal Sänger sicherlich wenig Einfühlungsvermögen für die Vorliebe einiger Menschen zur Volksmusik aufbringen, genau so wenig wie ein Atheist sich eine Lebensplanung nach katholischen Postulaten vorstellen kann. Jedoch sind sie sich womöglich darin einig, dass ein Pluralismus in einer Gesellschaft wünschenswert ist. Da man voraussetzt, dass es so etwas wie die Verfolgung eines guten Lebens gibt85, ist eine Vielzahl von Auswahlmöglichkeiten für eine Gesellschaft immer erstrebenswert. Wir können nicht nur aus unserer Erfahrung, sondern auch aus der Beobachtung vieler Konzeptionen lernen und unsere Schlüsse daraus ziehen. Jedes Individuum wird somit mit den verschiedensten Vorstellungen, was ein gutes Leben ist, konfrontiert. Dies eröffnet dem Menschen Wahlmöglichkeiten und somit auch alternative Lebensformen. Nach Rawls ist eine »Verschiedenheit der Vorstellungen vom Guten selbst etwas Gutes«86. Eine Theorie in der politischen Philosophie muss das Faktum des Pluralismus ernst nehmen. Eine Idee vom Guten menschlichen Leben ist dem ersten Verständnis nach einer pluralistischen Gesellschaft entgegengesetzt. Wenn alle Menschen nach einer einzigen Definition des Guten handeln würden, könnte eine Gesellschaft keine solche Variantenvielfalt an Vorstellungen liefern und somit wäre der Mensch wichtiger Wahlmöglichkeiten beraubt. Einer der liberalen Einwände an einem perfektionistischen Staat lautet demnach, dass der Perfektionismus keine Pluralität bezüglich Konzeptionen des guten Lebens in einer Gesellschaft gewährleisten kann und daher die Menschen um einen Teil ihrer freien Selbstverwirklichung betrogen werden. Die freie Selbstbestimmung bedarf einer pluralistischen Lebensform, einer Kultur mit sinnvollen Wahlmöglichkeiten und der Schutz dessen muss ein ernstes Anliegen jeder vernünftigen politischen Theorie sein. Liberalismus und Kommunitarismus haben hier das gleiche Ziel, nur der Weg den sie zur Sicherung der Pluralität vorschlagen ist ein anderer. Die liberale Gerechtigkeitskonzeption verlangt eine neutrale Haltung gegenüber verschiedenen Konzeptionen des Guten. Aufgrund dieses liberalen Grundsatzes der Neutralität darf der Staat in den Markt der verschiedenen Lebenskonzeptionen nicht eingreifen, nicht einmal zum Schutz des Pluralismus:

85  Waldron, Jeremy: Theoretical Foundations of Liberalism. In: The Philosophical Quarterly Volume 36 Nr. 147. (1986). S. 145. 86  Rawls 1979: S. 486ff.


»Jeder kollektive Versuch des liberalen Staates zum Schutz des Pluralismus wäre selbst eine Verletzung liberaler Gerechtigkeitsgrundsätze.« Cragg, Wesley: Two Conceptions of Community or Moral Theory and Canadian Culture. In: Dialogue. Canadian Philosophical Review. Volume 25, Issue 01. (1986). S. 47.

Wie können die Liberalen diese Enthaltung rechtfertigen, da sich gleich mehrere Kritikpunkte aufdrängen. So könnten für die Gesellschaft wertvolle Lebensentwürfe aufgrund ihrer anspruchsvollen und aufwändigen Natur im kulturellen Markt untergehen. Oder eine dominante Idee des Guten könnte die Vielfalt von Vorstellungen einschränken. Der Vorwurf der kommunitaristischen Seite lautet, dass die Liberalisten so tun, als wären die Bedingungen für eine kreative Vielfalt der Lebenskonzeptionen in der Gesellschaft naturgegeben. Wie kann die liberale Theorie ihr Neutralitätsgebot trotzdem aufrechter halten? Einige interessante Argumente für das Neutralitätsgebot finden wir bei John Stuart Mill. Seine politische Theorie formuliert, wenngleich in verstärkter Weise etwas, was der Liberalismus in seinen Konsequenzen stillschweigend akzeptiert. Zuerst werden hier einige Aspekte der Philosophie von Mill beschrieben, um dann die Aussagen für die Kommunitarismusdebatte im Kontext einer modernen pluralistischen Gesellschaft fruchtbar zu machen.

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PLURALISMUS UND SELBSTENTFALTUNG BEI JOHN STUART MILL


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ohn Stuart Mills Philosophie87 wird von einer wesentlichen Überzeugung geprägt, die ihn mit dem Denker Wilhelm von Humboldt eint. Beide sehen in dem höchsten Zweck des Menschen die Ausbildung seiner individuellen Fähigkeiten und Eigentümlichkeit.88 Nach Mill besitzt der Mensch ein tiefes Interesse an der Ausbildung und Entwicklung seiner individuellen Fähigkeiten. Er vertritt also die These, dass wenn man die Menschen beobachtet, man immer wieder feststellen kann, sie möchten die Tätigkeiten, die sie ausüben immer besser können und perfektionieren. Jeder Mensch, der versucht seine Individualität und Kraft voll auszuprägen, benötigt neben Verstand und Selbstbeherrschung auch die Freiheit. In einer Gesellschaft lauern viele Gefahren, welche eine Person bei der Ausbildung ihrer eigenen Kräfte hindern können. Das Staatswesen, die öffentliche Meinung, sowie die Tyrannei der Gewohnheit können Faktoren der Behinderung der Individualität sein.89 Freiheit bedeutet demnach die Möglichkeit zur Selbstentfaltung. Mill geht über die Freiheitskonzeptionen von Bentham und Hobbes hinaus. Institutionen müssen die Freiheit nicht nur sichern, sondern auch das Verständnis von Freiheit aufrechter halten. Das bedeutet, die soziale und gemeinschaftliche Perspektive zu akzeptieren, nach der die Fähigkeit zum Guten (in diesem Fall die Freiheit) mit einer Form der Gesellschaft verknüpft ist.90 Mill trägt in dieser Auffassung kommunitaristische Züge daher ist auch Taylor bemüht verschiedene Formen des Liberalismus zu unterscheiden und weißt den Denkern Humboldt und Mill eine Sonderstellung zu. Beide waren sich «der sozialen Einbettung menschlichen Handelns voll bewusst«91. Obwohl sich Taylor mit dem Strang des Denkens von Taylor verteidigt den Standpunkt, dass eine «Gesellschaft eine anerkannte Definition des guten Lebens benötigt«92, während Mill dies als Verletzung der Freiheit zur Selbstentfaltung aufgefasst hätte. Aber diese Differenz ist in diesem Punkt nicht von weiterem Belangen. Wichtig ist hier Mills weitreichende Freiheitskonzeption, die ausgehend von dem folgenden Zitat weiter untersucht wird: »Die einzige untrügliche und andauernde Quelle für den Fortschritt ist die Freiheit«93. Um diese Aussage verstehen zu können muss man noch tiefer in die Philosophie von Mill eintauchen. Jedem Menschen müssen, nach Mill, Freiräume gegeben werden damit er seine Konzeption vom Guten Leben ausprobieren kann. Ausprobieren, weil der Mensch unabhängig von seiner Erfahrung kein Wissen haben kann, welche Neigungen und Bedürfnisse er hat. Dieses Experimentieren in der Ausbildung der Fähigkeiten und Verfolgung des individuellen Lebensplan überträgt er auf 87  Im Gesamtwerk von John Stuart Mill finden sich gegenläufige Tendenzen. Wenn im weiteren Verlauf von Mill die Rede ist, werden darunter die Ansichten verstanden, die er in dem Buch »Über die Freiheit« vertritt. 88  Vgl. Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Grenze der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. Stuttgart: Reclam 1982. S. 22. 89  Mill und Humboldt identifiziert, liegt trotzdem eine unüberwindbare Differenz zwischen Mill und Taylor. 100-105. 90  Gräfrath, Bernd: Nachwort. In: Über die Freiheit. Hg. von Bernd Gräfrath. Stuttgart: Reclam 2010. S. 182f. 91  Taylor 1995: S. 108. 92  Taylor 1995: S. 104. 93  Mill 2010: S. 102.


»Der höchste und letzte Zweck jedes Menschen ist die höchste und proportionirlichste Ausbildung seiner Kräfte in ihrer individuellen Eigentümlichkeit. Die notwendige Bedingung der Erreichung desselben: Freiheit des Handelns, und Mannigfaltigkeit der Situation.« Ebd. S. 9.

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»Die Unähnlichkeit des einen mit dem andern im Allgemeinen das Erste ist, was die Aufmerksamkeit entweder auf die Unvollkommenheit des eigenen und die Überlegenheit eines anderen Typs lenkt oder auf die Möglichkeit, durch Verschmelzung der Vorzüge beider etwas Besseres zu erzeugen.« Mill 2010: S. 104.


die Gesellschaft. Gesellschaften insgesamt profitieren davon, wenn sie den Menschen diese Freiräume zum Experimentieren geben. Hier erkennt man einen utilitaristischen Gedanken in Mills Theorie. Er versucht die individuelle Freiheit des Menschen aus einer utilitaristischen Perspektive zu begründen. Wenn der Staat dem Menschen die Freiheit zur Selbstentfaltung gewährleistet und sie dadurch verschiedenste Lebenskonzeptionen ausprobieren können, trägt die Gesellschaft auf lange Sicht einen Nutzen davon. Manche Experimente mögen scheitern, doch das Ausprobieren zeigt, dass einige Konzeption für eine Gesellschaft nicht funktioniert, andere Lebensentwürfe entstehen und setzen sich aufgrund ihrer besseren Glücksmöglichkeiten94 fest. Der Pluralismus in einer Gesellschaft ist wichtig, um eine stetige Verbesserung der Gesellschaft zu erreichen, eine Verbesserung, die sich durch ein gemeinsames Arbeiten und Experimentieren an besseren Lebensformen vollzieht. Die Menschen entwickeln sich in Form eines Lern- und Erkenntnisprozesses weiter. Zusammengefasst: Die dargestellte Freiheitskonzeption erlaubt das Experimentieren an einer Vielzahl von unterschiedlichen Lebenskonzeptionen, die wiederum den Fortschritt einer Gesellschaft gewährleisten. John Stuart Mill präsentiert in seiner Philosophie einen liberalen Perfektionismus im weiten Sinne.95 Der Perfektionismus wird nicht von außen durch den Staat als ethische oder politische Forderung herangetragen, sondern steckt in den Individuen als Bedürfnis ihrer Selbstverwirklichung. Somit vertritt Mill keinen ethischen Perfektionismus sondern einen anthropologischen Perfektionismus, der durch die progressive Natur des Menschen begründet wird.96 Die Möglichkeit der Verbindung von Liberalismus und Perfektionismus ist umstritten. Rawls Charakterisierung des Liberalismus als deontologische Theorie und den Perfektionismus als teleologische Theorie erlaubt die Verbindung nicht.97 Wenn man den Perfektionismus aber nicht in seiner engen Definition versteht, sondern als die Idee der Vervollkommnung des Menschen, ist eine Verschmelzung von Perfektionismus und Liberalismus möglich. Hinter der Idee des Freiheitsverständnisses bei Mill steckt die Förderung und Vervollkommnung der Individuen in einer Gesellschaft.

94  Eine Lebensform kann aus vielen Gründen attraktiver als die andere sein. Indem sie mehr Sinn stiftet, abwechslungsreicher, aufregender oder mehr Freiheit bietet als andere Lebensentwürfe. Glück(smöglichkeit) ist aufgrund seiner Allgemeinheit wohl der passende Begriff. 95  Vgl. Höntzsch, Frauke: Individuelle Freiheit zum Wohle aller. Die soziale Dimension des Freiheitsbegriffs im Werk des John Stuart Mill. Wiesbaden: Vs Verlag 2010. S. 78f. 96  Vgl. ebd. 97  Vgl. Rawles 1979: S. 43.

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DER KULTURELLE MARKT


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elchen Beitrag kann Mill nun der Kommunitarismusdebatte im Kontext des Pluralismus und des liberalen Neutralitätsgebots geben? Mill und der Liberalismus eint die Forderung der neutralen Haltung des Staates bezüglich einer Theorie des Guten. Dadurch wird die Verantwortung für die Vielfalt und Entwicklung einer Konzeptionen des Guten an einen Markt von widerstreitenden und konkurrierenden Konzeptionen übergeben. Die Steuerung von außen ist im Namen der liberalen Gleichheit und Gerechtigkeit nicht zulässig, somit ist eine Regulierung des kulturellen Marktes nicht möglich. Untersuchen wir konkreter was hier unter dem kulturellen Markt gemeint ist. Der Markt wird hier als ein umfassendes Angebot an verschiedenen Lebensformen in einer Gesellschaft definiert. Wie ein Markt im konventionellen Sinn, herrscht in einer pluralistischen Gesellschaft Angebot und Nachfrage bezüglich Konzeptionen des Guten. Alle Lebensweisen in unserer sozialen Umwelt sind allein durch ihre Gegenwart öffentliche Präsentationen, wie man ein Leben führen kann. Jeder Mensch, ob er nun will oder nicht, gibt durch seine Lebensführung seine ganz eigene Antwort auf die Frage, wie man ein erfülltes Leben erreichen kann.98 Jede Lebensweise bringt somit eine grundlegende Sichtweise zur Welt zum Ausdruck.99 Die Nachfrage erklärt sich aus dem Wesen des Menschen. Der Mensch strebt nach einem glücklichen und erfüllten Leben.100 Getrieben von diesem Bedürfnis, sucht er nach Möglichkeiten um dieses Ziel zu erreichen. Dabei betrachtet er die Entwürfe seiner Mitmenschen, um möglichst viele Erkenntnisse zu gewinnen, wie er selbst zu einem erfüllten Leben kommen kann. Die Aneignung oder Ablehnung einer bestimmten Lebensführung stellt dabei eine Bejahung oder Verneinung einer Konzeption des guten Lebens dar. So verstanden findet sich im Mensch Angebot und Nachfrage zugleich. Das mag paradox klingen, aber sobald man das auf eine äußere und innere Ebene aufteilt, wird dies klarer. Die Nachfrage entspringt aus dem Inneren des Menschen als Bedürfnis nach einem erfüllten Leben. Das Angebot wird nach außen als ein Vorschlag zur Lebensführung präsentiert und unterliegt der Interpretation des Betrachters. Laut der liberalen Theorie soll der Staat nun für ideale Rahmenbedingungen auf dem kulturellen Markt sorgen. Durch die Meinungs- Rede- und Versammlungsfreiheit ist gewährleistet, dass Menschen für ihre Konzeptionen werben können. Diskriminierende und gewaltbereite Konzeptionen muss der Staat mit seinen

98  Es soll hier keine illusionäre Gesellschaft dargestellt werden, in der jeder Mensch ein erfülltes Leben führt. Eine negative Antwort, also wie ein erfülltes Leben nicht erreicht wird ist schlicht auch eine Antwort. Im Grunde trägt jedes Leben einen Teil von beiden Antworten in sich. Diese Antwort verändert sich natürlich auch immer in ihrem Kontext, da die Interpretation einer Lebensweise von Person zu Person variiert. 99  Vgl. Huster, Stefan: Die ethische Neutralität des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung. Tübingen: Mohr Siebeck. 2002. S. 6. 100  Schon die reichhaltige Fülle und stetig anwachsende Anzahl an Sachbüchern, die zu einem glücklichen Leben verhelfen wollen, demonstrieren dieses innere Bedürfnis des Menschen. Diese Arbeit folgt demnach der Ansicht von Aristoteles und Thomas von Aquin, die übereinstimmen, dass sich das Grundinteresse des Menschen im individuellen Glück oder gelingenden Leben orientiert. (Vgl. Horn, Christoph: Einführung in die politische Philosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003. S. 220.)


gegebenen Mitteln bekämpfen.101 Der Liberalismus kann aber noch nicht begründen inwiefern die Entwicklung der Menschen in diesem Markt der Konzeptionen auch wirklich eine positive ist. Ohne ein sorgfältig begründetes Argument für das Vertrauen in den Markt der Lebensentwürfe ist der Liberalismus angreifbar. In John Stuart Mills Philosophie ist ein Vertrauen in diesen kulturellen Markt erkennbar. Wie oben erläutert wurde, ist unter der Bedingung vernünftiger Freiheiten des Individuums zur Selbstentfaltung und die darunter fallende Neutralität des Staates eine stetige Fortentwicklung und Verbesserung der Gesellschaft möglich. John Rawls nähert sich dieser Thematik über den Begriff des Selbstwertgefühls. Der Mensch benötigt eine Überzeugung, dass seine eigene Vorstellung vom Guten »wert ist, verwirklicht zu werden«102, ansonsten wird all sein Streben schal und leer. Damit ein Individuum vom Wert seiner Bemühungen überzeugt sein kann, müssen seine Anstrengungen von den Mitmenschen geachtet und geschätzt werden.103 Rawles beschreibt die Anziehungskräfte verschiedener Lebensweisen durch Bewunderung, Hochachtung usw., jedoch geht er nicht auf die besondere Eigendynamik dieses Prozesses ein. Ein Regulieren und Einschreiten in den Markt der Lebenskonzeptionen wäre eine Form des Perfektionismus oder Paternalismus, und aufgrund der »intuitiven Überzeugung vom Vorrang der Gerechtigkeit«104 und dem daraus resultierenden Neutralitätsgebot, muss solch ein politisches Einschreiten in den kulturellen Markt verworfen werden. Die liberale Theorie kann keine überzeugenden Argumente liefern, die ein derartiges Vertrauen in den Markt der Konzeptionen des guten menschlichen Lebens rechtfertigen. Sie kann nicht sicherstellen, inwiefern sich wertvolle Lebensweisen auch über Generationen hinweg erhalten können. oder wie sich aufwändige aber gewinnbringende Konzeptionen für die Gesellschaft dauerhaft durchsetzen können. Die Konsequenz der liberalen Neutralität ist eine unübersehbare Verselbstständigung der Wertesphäre und der damit einhergehenden Lebenskonzepte. Die liberalen Unterscheidung von der öffentlichen Gerechtigkeit und absoluter privater Freiheit bei der Wahl der Lebensführung enthält einen erheblichen Aspekt der Heterogenität. Die skeptische Haltung von Martin Walser, ob die liberale Theorie den Erfordernissen des Pluralismus auf Dauer gewachsen ist, scheint berechtigt.105 Walser stellt das Neutralitätsgebot in einem kritischen Unterton wie folgt dar:

101  Die Liberale Theorie ist sich bei der Verwendung der Mittel zur Bekämpfung gewaltbereiter Konzeptionen uneins. So schlägt z. B. Rawls bei einer aufkommenden Gruppierung mit Aktionen von zivilen Ungehorsams vor, sich zuerst einer aktiven Bekämpfung zu enthalten. Dadurch könnte ein Umdenken in der Gruppe standfinden. Da ihnen gestattet wird gehör in der Gesellschaft zu finden, würden sie schließlich von den Vorzügen solch einer Gesellschaftskonzeption überzeugt werden. Erst nach einer gewissen Zeitspanne ist eine aktive Bekämpfung ratsam. (Vgl. Rawls 1979: 420 ff.) 102  Rawles 1979: S. 479. 103  Vgl. ebd. 104  Rawls 1979: S. 20. 105  Vgl. Walzer 1995: S. 172.

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»Es sind Individuen, die nach dem guten Leben streben, und es sind Gruppen, die es befördern; der Staat führt über beide Aktivitäten den Vorsitz, nimmt aber an keiner von beiden aktiv teil.« Ebd.


Die Alternative liegt in der kommunitaristischen Politik. Durch aktive staatliche Eingriffe ist es möglich wertvolle Lebensweisen für eine Gesellschaft zu fördern. Altruistische und wohltätige Lebensführungen sollen demnach begünstigt werden. Gewinnbringende Konzeptionen für die Gesellschaft können über Leitbilder des guten Lebens, also einer allgemeinen Theorie des Guten, vermittelt werden. In dieser Debatte stellt sich weniger die Frage, ob sich der Staat gegenüber Konzeptionen des Guten Lebens neutral verhalten soll, oder ob man Leitbilder des Guten in eine Gesellschaft integriert. Vielmehr läuft es in der Gegenüberstellung beider Theorien auf einen anderen Vergleich hinaus. Wenn wir beide Vorschläge konsequent zu Ende denken, muss man sich zwischen zwei anderen Konzeptionen entscheiden. Entweder wählt man einen unkontrollierbaren liberalen Marktperfektionismus oder einen deliberativen kommunitaristischen Perfektionismus.106 Um diese Unterscheidung verstehen zu könne, bedarf es einer näheren Beleuchtung, die nun im folgenden Punkt unternommen wird.

106  Vgl. Kymlicka, Will: Politische Philosophie heute. Eine Einführung. Übersetzt von Hermann Vetter. Frankfurt a. M: Campus Verlag 1997. S.187ff. Und im Besonderen (Vgl. Rosa 1998: S. 433ff.). In beiden Arbeiten werden die Konsequenzen des liberalen Neutralitätsgebots dem kommunitaristischen Modell entgegengestellt. In dieser Arbeit kommt es aufgrund des unterschiedlichen Kontextes zu einer Abänderung und Verbindung beider Bezeichnungen.

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DIE ZWEI VARIANTEN DES PERFEKTIONISMUS


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nter Perfektionismus ist hier nicht die antike Erscheinungsform gemeint, die mit einer bestimmten erkenntnistheoretischen Doktrin verknüpft ist. In dieser Definition befinden sich nur wenige Individuen in der epistemischen Position das Gute zu erkennen. Dieses Wissen verleiht wenigen Menschen die Autorität einer legitimen Herrschaft über viele. Die Bürger können dann mit einer entsprechenden Erziehung zum Guten umgeformt werden.107 Diese Form des Perfektionismus bewegt sich nicht in dem modernen demokratischen Rahmen mit Werten der Autonomie, Freiheit und Gleichheit und kann deshalb nicht die Art der Beschreibung sein, die hier angestrebt ist. In der Verbindung von Liberalismus und Perfektionismus soll auch nicht eine in der Forschung jüngere Richtung des liberalen Perfektionismus nach, William Galstons, Thomas Hurka oder Joseph Raz ausgedrückt werden.108 Der Begriff wird hier in seinem weiten Sinne verstanden. Der Perfektionismus stellt die Idee dar, dass die Tätigkeit und Handlungen der Individuen oder einer Gemeinschaft im Hinblick auf das Gute vollzogen werden. Zudem enthält diese Beschreibung eine Form des Fortschrittsgedankens. Es wird ein Ziel oder Zweck in Aussicht gestellt, dessen Verwirklichung erstrebenswert ist. Um diesem Ziel näher zu kommen bedarf es einer Anstrengung oder genauer einer stetigen Verbesserung des Individuums oder der Gesellschaft. Es stecken demnach zwei zentrale Begriffe in der Definition des modernen Perfektionismus: Das Gute und der Fortschritt. Für die weitere Untersuchung wird nochmals auf Charles Taylors philosophische Anthropologie zurückgegriffen. Nach Charles Taylor und ebenso Alasdair McIntyre versteht sich das Selbst in einer narrativen Form, welches sich an einer Vorstellung des Guten orientiert.109 In einer Gesellschaft nach liberalen Mustern streben demnach die Individuen, also jeder für sich ohne öffentlich artikulierte Orientierungspunkte, nach ihrer individuellen Theorie des Guten. Die Suche nach dem Guten findet innerhalb eines unkontrollierbaren Marktes der Konzeptionen statt. Unkontrollierbar, weil der Liberalismus eine Theorie des Guten in den privaten Raum verortet und somit eine Regulierung des Marktes ablehnt. Solch eine Zuversicht in den Markt kann nur auf zwei Weisen gerechtfertigt werden, die wir beide in dem Werk »Über die Freiheit« von John Stuart Mill finden. Entweder man verteidigt das Neutralitätsgebot und damit den unkontrollierbaren Markt, mit der nachromantischen Idee von Mill, »dass jede Person ihre eigene, originäre Form der Selbstverwirklichung besitzt, die sie jeweils nur unabhängig entfalten kann«110. Dann wäre eine staatliche Einmischung in den Markt ein erheblicher Freiheitsverlust für die Bürger des Staates. Jedoch scheint diese Sicht der Person überholt, denn die soziale 107  Vgl. Pauer-Studer, Herlinde: Liberalismus, bürgerliche Tugenden und perfektionistische Bestrebungen. In: Gerechtigkeit und Politik. Philosophische Perspektiven. Hg. von Ulrich Steinvorth. Berlin: Akademie Verlag 2002. S. 82-83. 108  Vgl. Raz, Joseph: The Morality of Freedom. Oxford: Clarendon Press 1988. Ferner eine Arbeit von Herlinde Pauer-Studer, die diese Verbindung von Liberalismus und Perfektionismus ausgiebig untersucht. Vgl. Pauer- Studer 2002: S. 77-95. 109  McIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Übersetzt von Wolfgang Riehl. Frankfurt a. M.: Campus Verlag 1987. S. 295f. 110  Taylor 1992: S. 119-120.


Einbettung der Individuen und der Einfluss der sozialen Umwelt liegen für Kommunitaristen wie Sandel und Taylor auf der Hand. Die Teilnahme an gemeinsamen kulturellen Praktiken ermöglichen dem Menschen erst reflektierte Entscheidungen über das gute Leben. Das liberale Personenbild wäre nach dieser Ansicht schlicht eine falsche Interpretation des menschlichen Wesens. Die andere Variante liegt im Vertrauen des Marktes als ein Träger des Fortschritts. Bei Mill ist der Fortschritt an das nachromantische Personenbild geknüpft. Die Alternative liegt in einer alten utilitaristischen Denkweise: Wenn der Einzelne für sein eigenes Wohl sorgt und seine eigene Vorstellung vom Guten verfolgt, so ist auch dem Gemeinwohl gedient. Jedoch ist dieses Argument nicht befriedigend da das Wohl der Einzelnen, auch bei einer Einhaltung des rechtlichen Rahmens, mit dem Gesamtwohl der Gemeinschaft kollidieren kann. Der Gegensatz zwischen dem Wohl des Einzelnen und dem Wohl der Gesellschaft ist in einer individualistisch liberalen Gesellschaft zudem noch stärker ausgeprägt. Es wird nicht gezeigt inwiefern dies die beste der gegebenen Alternativen sein soll. Die liberale Theorie verweist bei Fragen des Fortschritts darauf, dass sie sich selbst als deontische Theorie versteht, »die das Rechte nicht als Maximierung des Guten bestimmt«111. Dadurch bleibt der Fokus auf die Formulierung der Gerechtigkeitsgrundsätze gerichtet. Nach Sandel müssen sich aber gerechte Gesellschaften auf Ziele stützen, was der Liberalismus verneint.112 Aber der Aspekt des Fortschritts darf bei einer modernen Gesellschaftsordnung nicht vernachlässigt werden. In den älteren westlichen Gesellschaftsformen lagen Ordnung und Fortschritt im Konflikt miteinander.113 Hingegen ist in unserer modernen Gesellschaft der Fortschritt eine Grundlage der demokratischen Ordnung geworden: »Die Dynamik des Fortschritts führt nicht mehr zwangsläufig zum Untergang, sondern sie ist die Voraussetzung der Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung.«114 Eine Gesellschaft, die keine stetige Verbesserung der Lebensumstände anstrebt, ist keine gute Gesellschaft und unter Verbesserung der Lebensumstände darf nicht nur eine positive Entwicklung des materiellen Wohlstands gesehen werden. Das Augenmerk einer politischen Theorie kann nicht nur auf eine gerechte Güterverteilung beruhen. Ein Fortschritt muss auch im ethisch kulturellen Mark angestrebt werden und nicht nur im wirtschaftlichen Bereich. Die liberale Theorie geht einfach davon aus, dass sich die Menschen im kulturellen Markt unter den liberalen Rahmenbedingungen zum Guten entwickeln. 111  Rawls bezeichnet die Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß als deontisch im zweiten Sinne. Da für jede beachtenswerte ethische Theorie die Folgen von Belangen dafür sind, was recht ist. (Vgl. Ebd.) In dem Differenzprinzip steckt eine Form der Teleologie, denn man muss die Folgen für die Gesellschaft betrachten um herauszufinden inwiefern dem am schlechtesten Gestellten gedient ist. Nach Rawls würde aber für Institutionen, nachdem im Urzustand über die gerechten Grundsätze der Gesellschaft entschieden wurde, kein Grund mehr bestehen das Gute zu maximieren. Letztlich Zielt die Kritik auf die Aufstellung des Grundsatzes ab, welche die Menschen im Urzustand wählen würden und laut Rawls wäre dies keine Regulierung des kulturellen Marktes, sondern eine Entscheidung für das liberale Neutralitätsgebots. 112  Vgl. Sandel 1995: S. 18ff. 113  Vgl. Weymann, Ansgar: Sozialer Wandel. Theorien zur Dynamik der modernen Gesellschaft. München: Juventa 1998. S. 28f. 114  Ebd. S. 28.

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78 Jedoch bleibt die liberale Theorie in diesem Kontext ein überzeugendes Argument schuldig: »die Liberalen neigen immer noch dazu, die Entstehung und Fortexistenz einer toleranten und pluralistischen Kultur für natürlich und selbstverständlich zu nehmen…«115. Was kann hier nun unter einem unkontrollierbaren liberalen Marktperfektionismus verstanden werden? Der Perfektionismus bezieht sich hier nicht auf den Staat, sondern auf den Markt der Lebenskonzeptionen, in dem jedes Individuum unkontrollierbar, d.h. ohne Leitbilder nach dem Guten strebt jedoch innerhalb der liberalen Grundrechte wie Gleichheit, Freiheit und Autonomie. Im kommunitaristische Modell soll hingegen durch eine gemeinschaftliche Deliberation eine Konzeption des Guten in den öffentlichen Raum transportiert werden. Diese Konzeption muss einer beständigen Kritik und Diskussion zugänglich sein, damit sie in ihrer Form veränderbar ist und die Menschen eine Teilhabe an der Veränderung ihrer sozialen Umwelt haben können. Der kulturelle Markt kann durch seine Mitglieder bewusst gesteuert werden, indem sie aktiv an der Gestaltung der Gemeinschaft teilnehmen können. Die normative Gestalt der Konzeption lenkt die Gesellschaft durch das Bedürfnis des Einzelnen nach dem sozialen Kapital, also dem Verlangen des Einzelnen nach Anerkennung und Akzeptanz. Im Kommunitarismus steckt die Idee, dass kein Ich, sondern ein Wir in die Situation versetzt wird die Gesellschaft zum Guten hin zu gestalten und dies ist nur durch ein gemeinsames Arbeiten an einer öffentlichen Konzeption des Guten möglich. Trotz der Schwäche, die der Liberalismus bezüglich der Thematik des kulturellen Marktes aufweist, kann er diese Linie nicht verlassen, wenn er dem Rechten Vorrang einräumt. Was man genau unter dem Vorrang des Rechts verstehen kann, wie die liberale Theorie diesen Vorrang begründet und welche Argumente die Kommunitaristen für den Vorrang des Guten anbringen wird im folgenden Punkt behandelt.

115  Kymlicka 1997: S. 190.


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DER VORRANG DES RECHTEN VOR DEM GUTEN


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er moderne westliche Staat entstand durch eine Emanzipation der politischen Ordnung von religiös-weltanschaulichen Wahrheitsansprüchen, aus einem Prozess der Säkularisierung.116 Die Fragen der Lebensführung und Weltanschauung wurden nunmehr in die individuelle Freiheit entlassen. Jeder hat jetzt das Recht in Fragen der Lebensführung seine eigene Entscheidung zu treffen und dementsprechend auszuführen und abzuändern. Nach der liberalen Theorie kommt dem Staat die Aufgabe zu die Regeln festzulegen, die jede Person einhalten muss, damit Menschen mit unterschiedlichen ethischen Überzeugungen friedlich zusammenleben können. Darin kommt eine Art Minimalmoral zum Ausdruck, die von allen Menschen eingehalten werden muss.117 Die Normen und Regeln nach denen eine Gesellschaft zusammenleben soll werden als das Rechte bezeichnet. Fragen nach dem guten Leben, also Konzeptionen des Guten, werden als das Gute bezeichnet. Der politische Liberalismus unterscheidet nicht nur zwischen dem Rechten und dem Guten, sondern räumt dem Rechten einen Vorrang ein. Das bedeutet eine Staatsverfassung muss zuallererst die Normen einer Gesellschaft finden nach der eine friedliche Koexistenz der verschiedenen Konzeptionen des Guten möglich ist, ohne dass eine bestimmte Konzeption bevorzugt wird. Der Staat verhält sich neutral gegenüber konkurrierenden Vorstellungen des Guten. Mit dem Vorrang des Rechten steht und fällt die liberale Neutralität gegenüber Konzeptionen des guten Lebens. Im Folgenden wird einer der philosophisch tiefsten Differenzen zwischen Liberalismus und Kommunitarismus untersucht, die Frage nach dem Vorrang:

116  Vgl. Böckenförde, Ernst Wolfgang: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992. S. 92f. 117  Vgl. Huster 2002: S. 11.


“What is the stake in the debate between Rawlsian liberalism and the view I advance in LLJ is not whether rights are important but whether rights can be identified and justified in a way that does not presuppose any particular conception of the good life. (…) The fundamental question, in other words, is whether the right is prior to the goods.” Sandel 1998: S. X.

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84 Sandel kritisiert den Vorrang des Rechten, nach seiner Auffassung muss man zuerst wissen, was das Gute ist um das Recht adäquat formulieren zu können. Oder anders formuliert: »Das Rechte ist nur im Lichte des Guten erkennbar«118. Die Kommunitaristen argumentieren für den Vorrang des Guten und liegen dabei ganz in der Tradition von Aristoteles.119 Im Folgenden wird zuerst auf zwei liberale Gründe für den Vorrang des Rechten eingegangen um schließlich die Gegenargumente der Kommunitaristen zu untersuchen. Für Rawls sind Rechte in doppelter Hinsicht den Vorstellungen des Guten vorgeordnet. Zum einen, weil subjektive Rechte Überlegungen über eine gemeinsame Idee des Guten ausstechen und zum anderen, weil die Rechtfertigung der geforderten Minimalmoral nicht von einer Theorie des Guten abhängt.120 In der Beurteilung der Kommunitarier an dem Vorrang des Rechten ist es häufig der zweite Punkt, der scharf kritisiert wird. Eine Form der Kritik lautet, dass sich der Liberalismus selbst untergräbt, indem allgemein verbindliche Rechte formuliert werden, artikuliere die liberale Theorie schon implizit eine Theorie des Guten. Die liberalen Werte der Freiheit, Gleichheit und Autonomie würden somit keine Rechte darstellen, sondern eine Konzeption des Guten. Auf eine Gesellschaft übertragen bedeutet dies, dass eine liberale Theorie bestimmte Tugenden am Menschen verlangt und auszubilden versucht wie z. B. Toleranz gegenüber den Mitmenschen und ihren Lebensplänen und die Fähigkeit sein Leben autonom zu gestalten. Dworkin entgegnet diesem Vorwurf, indem er die Minimalmoral auf eine politische Ebene setzt, die keine Vorstellung vom Guten Leben darstellt: “Liberalism is not selfcontradictory: the liberal conception of equality is a principle of political organization that is required by justice, not a way of life for individuals…”121. Aber so einfach ist das nicht. Beim Liberalismus ist der Vorrang der Gerechtigkeit absolut. Dem Wert der Gerechtigkeit kommt für die Institutionen eine Vorrangstellung aller politischen Werte zu. Bei einem Konfliktfall zwischen zwei widerstreitenden Konzeptionen verweisen die sozialen Institutionen auf den Vorrang der Gerechtigkeit und entscheiden unter diesem Gesichtspunkt. Damit sich dies für die Individuen genauso verhält, müsste der Vorrang der Gerechtigkeit auch individuell gültig sein.122 Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet hat die starke Wertung der Gerechtigkeit nicht nur in der politischen Sphäre Gültigkeit, sondern wird auch als ethischer Anspruch an das Individuum herangetragen. Die Minimalmoral des Liberalismus wäre somit eine implizite Vorstellung des Guten. Charles Taylor argumentiert hier aus der Sicht weise seiner philosophischen Anthropologie. Da jedes Handeln schon eine moralische Land118  McIntyre 1994: S.163. McIntyre bezieht sich hierbei auf Aristoteles und Thomas von Aquin. 119  Vgl. Rose, Uta: Die Komplexität politischen Handelns: die Liberalismus-Kommunitarismus Debatte im Lichte des Denkens von Hannah Arendt. Waldkirch: Edition Gorz 2004. S. 155ff. 120  Vgl. Hebeisen, Michel Walter: Liberalismus und Kommunitarismus betreffend das Verhältnis vom Rechten zum Guten. In: Kommunitarismus versus Liberalismus. Hg. von Kurt Seelmann. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2000 (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft 76). S. 139. 121  Dworkin 1998: S. 203. 122  Vgl. Menke 1993: S. 231.


karte voraussetzt ist jedes menschliche und damit auch politisches Handeln an einen Wertehorizont gekoppelt. In jeder Artikulation einer Minimalmoral wäre somit implizit eine Theorie des Guten formuliert. Aber damit ist für die Kritiker des Liberalismus nicht viel gewonnen. Sie müssen beweisen können, dass man eine rationale Übereinkunft über moralische Regeln nur adäquat erkennen und formulieren kann, wenn man sie im Hintergrund des Guten betrachtet. McIntyre ist ein vehementer Verfechter der These, dass eine Übereinkunft über moralische Regeln eine Übereinkunft über das Wesen des menschlich Guten voraussetzt.123 Laut der liberalen Theorie ist es möglich einen Konsens über gemeinsame moralische Regeln zu finden. Demnach besitzen die moralischen Regeln bei den Liberalen einen anderen Status als Vorstellungen vom menschlichen Guten, da der Liberalismus eine Übereinkunft über das Gute ausschließt. Individuen können bei den Urteilen zustimmen, wo diese eindeutig sind und so verhält es sich bei den moralischen Regeln. McIntyre kritisiert dies und behauptet, dass die gemeinsamen moralischen Maxime und Prinzipien nicht hinreichend klar formuliert sind um das Handeln zu lenken und das was man nicht hinreichend formuliert ist nichts Gemeinsames.124 McIntyre fordert eine Institutionalisierung des Guten damit die Vorstellungen vom Guten aus dem privaten Raum in die Öffentlichkeit transportiert werden. McIntyre ist überzeugt, dass man eine allgemein anerkannte Konzeption des Guten benötigt um moralische Regeln klar definieren zu können und macht deshalb gegen die gegenwärtige liberale Theorie geltend:

123  Vgl. McIntyre 1994: S. 164f. 124  Vgl. ebd. S. 169.

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»… dass eine notwendige Vorbedingung für hinreichend klar formulierte, gemeinsam geteilte und rational begründete moralische Regeln die ist, das ein politisches Gemeinwesen eine gemeinsam geteilte und rational begründbare Vorstellung vom menschlichen Guten hat.« Ebd. 1994: S. 171-172.


McIntyre verdeutlicht dies anhand eines Beispiels aus dem Alltag.125 In der Gesellschaft scheint man sich auf den ersten Blick einig zu sein, welche moralische Regel bezüglich des Lügens anzuwenden sei. Sie lautet: Man darf nicht lügen oder lügen ist schlecht. Aber wie verhält es sich, wenn man mit einer Lüge einem Freund aus der Klemme helfen kann? Wenn man mit einer Lüge ein Leben rette oder eine peinliche Situation vermeiden kann? Darf man oder soll man lügen, wenn es einem höheren Interesse dient? Darf man lügen um jemanden nicht zu kränken? Die Menschen sind sich nicht einig welche Lüge zulässig ist und welche nicht. Des Weiteren ist sich die Gesellschaft auch nicht einig, wie man die Missetäter behandelt. Sollte man die Lügner bestrafen und wenn ja in welcher Form? Dies ist eine der moralischen Regeln, die nicht hinreichend klar formuliert werden können ohne eine Idee des Guten.126 Es kann hier kein öffentlicher Konsens gebildet werden ohne eine gemeinsam geteilte Vorstellung des Guten. Ein interessantes Beispiel, welches diese gesellschaftliche Verwirrung und Unklarheit bei moralischen Regeln offenbart, findet man in einem jüngeren Skandal der Politik: Die Rede ist von der Plagiatsaffäre um die Person Gutenberg.127 Die Gesellschaft war sich trotz eines offensichtlichen Betrugs des Politikers uneins darüber, welche Schuld er trägt und welche Konsequenzen dies haben solle. Einige verlangten lautstark den Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers und eine entsprechende Bestrafung wegen Betrugs. Anderen genügte eine Aberkennung des Doktortitels und eine Entschuldigung. Manche sahen darin gar ein Kavaliersdelikt. In der Öffentlichkeit konnte man eine klare Unsicherheit und Uneinigkeit feststellen, wie man bei einem solchen Verhalten verfahren sollte. McIntyre wendet zu Recht ein, dass eine Übereinkunft über moralische Regeln nur im Hintergrund einer allgemein anerkannten Theorie des Guten erreicht werden kann.

125  Vgl. ebd. S. 169f. 126  Vgl. ebd. S. 170f. 127  Am 16. Februar 2011 wurde veröffentlicht, dass in der Dissertation des damaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Gutenberg Plagiate entdeckt wurden. Am 1. März trat zu Gutenberg unter wachsendem öffentlichen Druck von seinem politischen Amt zurück.

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»Die Privatisierung des Guten bewirkt also nicht nur, dass wir keine hinreichend klar formulierten gemeinsamen moralischen Regeln haben, sondern auch, dass Bereiche von Entscheidender moralischer Bedeutung nicht zum Gegenstand eines angemessenen öffentlichen systematischen Diskurs oder Untersuchungsprozesses werden können.« Ebd. S. 174.


Der Kommunitarismus hat gute Gründe um am Vorrang des Rechts zu zweifeln. Aber wenn man das Rechte tatsächlich nur im Lichte des Guten erkennen kann, dann müssen die Kommunitaristen beweisen können, dass es möglich ist eine allgemein anerkannte Konzeption des menschlichen Guten zu formulieren. Dieser Punkt liefert dem Liberalismus eine große Angriffsfläche. Sie verweisen auf die Unmöglichkeit eine gemeinsame Konzeption des Guten durchsetzen zu können, »weil in unserer Kultur ein radikaler Dissens über das Wesen des guten und vernünftigen Menschen«128 herrscht. Der Versuch eine allgemeingültige Theorie des Guten zu formulieren wird als Rückfall in vormodernes metaphysische Denken bezeichnet. Durch die enorme Vielfalt von einander konkurrierenden Lebensentwürfen sei dieses Unternehmen zum Scheitern verurteilt. Der Liberalismus äußert seine Angst und Missbehagen bezüglich einem Vorrang des Guten, da eine Theorie des Guten die Wertevorstellungen normieren und daraus ein nicht zu tolerierender Freiheitsverlust resultieren würde.129 Wie oben erwähnt plädiert die liberale Theorie für den Vorrang des Rechten, weil subjektive Rechte Überlegungen über eine gemeinsame Idee des Guten ausstechen würden. Zweifels frei steckt in einer eng gefassten Theorie des Guten die Gefahr individuelle Konzeptionen des Guten zu stark zu normieren. Aber diese Gefahr steckt nur in einer invariablen und für definitiv verstandenen Theorie des Guten.130 Wenn man nur einen Kernbereich des Guten einengt und die weiteren Bestimmungen einer andauernden Verbesserung, Berichtigung und Überprüfung unterwirft, so ist eine Verletzung der individuellen Freiheit ausgeschlossen.131 Im Folgenden werden die Vorschläge von der Philosophin Martha Nussbaum analysiert, die den Versuch wagt eine weit gefasste Theorie des Guten unter Berufung auf Aristoteles aufzustellen.

128  Ebd. S. 175. 129  Vgl. Pauer-Studer 1996: S.65f. 130 Ebd. 131  McIntyre wäre mit diesem Versuch nicht einverstanden, da es ihm um eine einzige und einheitliche Konzeption des Guten geht. Es geht ihm um einen Aristotelismus wie ihn weitgehend die Thomisten verstanden haben. Nur dieser vermag nach McIntyre die Privatisierung des Guten in Frage zu stellen. (Vgl. McIntyre 1994: S. 173)

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MARTHA C. NUSSBAUM UND DAS GUTE LEBEN


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m letzten Punkt der Arbeit wird die starke vage Konzeption des Guten von Martha Nussbaum vorgestellt. Es wird gezeigt, dass man anhand einer öffentlichen Theorie des Guten in ein anderes Verhältnis zu drängenden Fragen wie einer gerechten Ressourcenverteilung tritt und dadurch zu anderen Schlussfolgerungen gelangt. Ausgehend von Aristoteles behauptet Martha Nussbaum, »dass die Aufgabe des Staates nicht richtig verstanden oder gut erfüllt werden kann, wenn sie nicht auf einer ziemlich umfassenden Theorie des menschlichen Guten und der guten Lebensführung basiert«132. Sie argumentiert für eine Priorität des Guten und ist sich in diesem Punkt der Gegensätzlichkeit mit dem Liberalismus bewusst. Wenn man dem Guten einen Vorrang einräumt, dann muss man eine überindividuelle Konzeption des guten Lebens entwickeln. Wie oben schon erläutert, äußert der Liberale hierbei Bedenken, da diejenigen, die nach der geforderten Konzeption des Guten handeln mehr gefördert werden würden. Vorstellungen des Guten, die Eingang in das politische Denken finden, würden für Projekte instrumentalisiert werden. Zudem operiere diese Unternehmung mit metaphysischen Mitteln, die für einen Konsens nicht geeignet sind.133 Martha Nussbaum stellt aus diesem Grund eine starke vage Konzeption des Guten auf. Vage in dem Sinne, dass die Konzeption viele Spezifikationen zulässt, die dem jeweiligen kulturellen Raum angepasst werden können und stark 134, weil sie dennoch ein Umriss des guten Lebens zeichnet.135 Martha Nussbaum formuliert die Konzeption des Guten aus dem Standpunkt eines Essentialismus, also die Auffassung, dass ein menschliches Leben bestimmte zentrale und universale Eigenschaften besitzt.136 Ausgehend von Bedürfnissen, Fähigkeiten, Empfindungen, etc., die alle Menschen gemein haben, lässt sich eine Konzeption des Guten erarbeiten. Aus dieser Gemeinsamkeit erstellt sie eine Liste von Fähigkeiten 137, die für ein menschliches Leben von grundlegender Bedeutung sind. Auf dieser Liste finden sich grundsätzliche Fähigkeiten, wie die Fähigkeit, sich guter Gesundheit zu erfreuen, die fünf Sinne zu benutzen, sich von einem Ort zum anderen bewegen zu können, eine angemessene Unterkunft zu besitzen, Möglichkeit zu sexueller Befriedigung zu haben usw.. Aber auch weiter reichende Fähigkeiten, wie z. B. die Fähigkeit kritisch über die eigene Lebensplanung nachzudenken oder sein eigenes Leben und nicht das von jemand anderem zu leben. Nach dieser Konzeption kommen dem Staat mehrere Aufgabenfelder zu. Er muss ein funktionierendes Gesundheitssystem, Sicherheit, Schutz der Entscheidungsfreiheit, ausreichend Ernährung und eine angemessene Unterkunft ge132  Nussbaum, Martha C.: Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Übersetzt von Ilse Utz. Hg. von Herlinde Pauer- Studer. 1. Auflage. Frankfurt a. M. : Suhrkamp 1999. S. 32. 133  Ebd. S. 45. 134  Mit dem Begriff stark möchte sich Martha Nussbaum bewusst von der schwachen Theorie des Guten bei John Rawls absetzen. (Vgl. Rawls 1979: S. 437ff.) 135  Ebd. S. 46. 136  Vgl. Nussbaum, Martha C.: Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus. In: Was ist gutes Leben? Philosophische Reflexionen. Hg. von Holmer Steinfath. 2. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998. S. 201f. 137  Vgl. Nussbaum 1999: S. 49-58. (Vgl. Nussbaum, Martha C: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Übersetzt von Robin Celikates. Berlin: Suhrkamp 2010. S. 218ff.)


währleisten. Die Bürger als Gleiche und Freie zu behandeln bedeutet dann nicht, wie bei Dworkin, eine gerechte Güterverteilung und eine politisch neutrale Haltung gegenüber der individuellen Lebensführung, sondern den Bürgern »zu ermöglichen, eine bestimmte Schwelle zu überschreiten und eine Stufe zu erreichen, auf der sie sich für eine gute Lebensführung entscheiden können«138. Die starke vage Konzeption versucht nicht die Menschen dazu zu bringen auf eine bestimmte Weise zu funktionieren. Vielmehr versucht sie Menschen hervorzubringen, die zu bestimmten Tätigkeiten befähigt sind und eine der wichtigsten Fähigkeit, die der Aristoteliker fördert ist die Entscheidungsfähigkeit.139 Wenn nun die Aufgabe des Staates darin besteht den Bürgern die Möglichkeit zu eröffnen eine bestimmte Schwelle oder Stufe zu überschreiten, dann hat dies weitreichende Folgen. Das Ziel muss dann lauten möglichst viele Menschen über diese Schwelle zu bringen, Oder eine ausführlicher Fassung: Bedingungen für die Menschen zu verbessern, die diese Stufe bereits überschritten haben, weil man nur dann die Menschen als Freie und Gleichgestellte behandelt.140 Betrachtet man eine gerechte Ressourcenverteilung im Hintergrund dieser Theorie des Guten eröffnet sich ein anderer Verteilungsschlüssel als bei Dworkin oder Rawls. Der Liberalismus zieht zur Bewertung der Situation eines Menschen vor allem sein Einkommen und seinen Wohlstand als Indikator der Güterverteilung heran. Der Aristotelismus, nach Martha Nussbaum zieht die Fähigkeiten und Tätigkeiten als Indikator heran. Für den Aristoteliker sind materielle Güter nur Mittel zum Zweck. Das bedeutet, dass materielle Güter als Mittel verstanden werden, die es einem Menschen ermöglichen sollen die Stufe der freien Selbstbestimmung zu erreichen. Ein mehr an materiellen Gütern ist demnach nicht erstrebenswert. Zu viel Reichtum kann starkes Konkurrenzdenken hervorrufen und von den wesentlichen Dingen des Lebens abhalten.141 Die funktionale Rolle der Güter variiert von Person zu Person. Manche Menschen benötigen mehr Mittel und Förderung andere weniger um die Schwelle zu überschreiten. Ein Mensch mit einer körperlichen Behinderung braucht mehr materielle Unterstützung um eine minimale Mobilität herstellen zu können. Kinder in benachteiligten Familien benötigen mehr finanzielle Unterstützung und einen besseren Zugang zu Bildungseinrichtungen.142 Eine etablierte Konzeption des Guten in der modernen Gesellschaft hat gegenüber dem Liberalismus nach Rawls einen 138  Nussbaum 1999: S. 63. 139  Vgl. ebd. S. 40f. 140  Vgl. ebd. S. 63f. Wenn das Ziel des Staates lautet möglichst viele Menschen zur Überschreitung dieser Schwelle zu führen, damit sie in der Lage sind sich für eine gute Lebensführung zu entscheiden, hat dies erhebliche Konsequenzen für die politische Landschaft: Subventionierung kultureller Einrichtungen. Ausweitung des Bildungswesens. Stärkere Investitionen in die soziale Arbeit bei schwachen Gesellschaftsteilen. Starke Erhöhung des Spitzensteuersatzes, da materielle Güter keinen Zweck an sich besitzen und die Mittel für andere Menschen benötigt werden, die diese Schwelle nicht erreicht haben. Man könnte bei der Interpretation von Martha Nussbaums soweit gehen, dass der Staat ein Grundeinkommen einführen müsse um jedem Menschen die Möglichkeit zu geben diese Schwelle zu erreichen. Siehe zum Thema Grundeinkommen: (Vgl. Van Parijs, Philippe: Real Freedom for All. what (if anything) can justify capitalism. Oxford: Oxford University Press 1995.) 141  Vgl. Nussbaum 1999: S. 35ff. 142  Vgl. ebd. S. 35ff.

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94 weiteren bestechenden Vorteil. Rawls stellt in seinem Werk »Eine Theorie der Gerechtigkeit« ausdrücklich fest, dass seine Ergebnisse ungeeignet sind Fragen nach einer weltweiten Gerechtigkeit zu behandeln. Die Konzeption konzentriert sich auf eine »wohl geordnete Gesellschaft«143. Dagegen hat eine Konzeption mit ihrem Fokus auf eine gute Lebensführung das große Verdienst mit einer Vorstellung zu arbeiten, die an vielen Orten und zu vielen Zeiten geteilt wird.144 Auf der Basis einer Konzeption des guten Lebens wird ein internationaler Dialog erleichtert. Aber eine Theorie des Guten trägt auch ein gewisses Konfliktpotential mit anderen Kulturen in sich. Martha Nussbaum erzählt von mehreren öffentlichen Debatten die sie während ihrer Arbeit bei der UNO erlebte. Im Folgenden werden zwei Streitgespräche verkürzt dargestellt. Es handelt sich in den Diskussionen um den Wert verschiedener Traditionen in anderen Kulturen. 1. Ein Ökonom lobt die vortreffliche Verbindung zwischen den Werten der privaten Sphäre und Werten am Arbeitsplatz in einer indischen Region: Genauso wie man dort von der menstruierenden Frau annimmt sie verunreinige die Küche gilt das Gleiche für den Arbeitsplatz. Daher muss sich die Frau während ihrer Periode von beiden Örtlichkeiten fernhalten.145 2. Eine Ethnologin kritisiert die eingeführte Pockenschutzimpfung in Indien durch die Engländer, da dadurch eine indische Gottheit ausgerottet wurde.146 Auf die Kritik einiger Zuhörer, dass der eine Fall eine Diskriminierung der Frau sei und der andere keine negative, sondern eine positive Entwicklung darstelle entgegneten die Redner, dass man diese Traditionen nicht mit einer eingeschränkten westlichen Schablone betrachten dürfe. Dies mögen extreme Beispiele sein, aber der Vorwurf, dass man bestimmte auffallend negative Traditionen mit der beschränkten westlichen Sichtweise nicht beurteilen dürfe, ist keine Seltenheit. Ein Einschreiten in fremde Kulturen wird häufig als eine Form der Missachtung des historischen und kulturellen Unterschieds und der Autonomie fremder Nationen betrachtet.147 Für Martha Nussbaum stellen beide Beispiele jedoch einen schweren Bruch mit der aristotelischen Konzeption des Guten und dem Prinzip des Essentialismus dar.148 Für den Aristoteliker ist das Leben immer dem Tode vorzuziehen und eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit und Entscheidungsfreiheit nicht zulässig:

143  Rawls 1979: S. 21. 144  Vgl. Nussbaum 1999: S. 31. 145  Vgl. Nussbaum 1988: S. 198f. 146  Vgl. ebd. 199f. 147  Vgl. ebd. 204. 148  Vgl. ebd. S. 207ff.


»Der Aristotelismus lässt sich nicht aufhalten, Traditionen dort zu kritisieren, wo diese Tradition für Ungerechtigkeit oder Unterdrückung verantwortlich ist…« Ebd. 1998: S.217.

Entweder man kritisiert die Tradition, als unvereinbar mit der Konzeption des Guten und versucht in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die Ungerechtigkeit dieser Tradition zu wecken, oder man entscheidet sich für eine Form des Relativismus, unter der letztlich die schwächsten Glieder einer Gesellschaft leiden müssen. Zusammengefasst: Martha Nussbaum unternimmt unter der Berufung auf Aristoteles den Versuch eine starke vage Konzeption des Guten zu konstruieren und die Vorteile gegenüber dem Liberalismus herauszuarbeiten. Dabei greift sie den Liberalismus an der Wurzel an, indem sie behauptet, dass in einer Gesellschaft, die auf der Grundlage einer aristotelischen Konzeption des Guten aufbaut, die Entscheidungsfreiheit der Bürger ausgeprägter wäre. Der Fokus auf wichtige Fähigkeiten der Menschen, die aufgrund der Theorie des Guten gefördert werden müssen, ermögliche eine höhere Anzahl mündiger und autonomer Bürger in einer Gesellschaft. Darüber hinaus schaut eine Theorie des Guten über den Tellerrand und versucht dort zu wirken, wo Ungerechtigkeit herrscht, um die Idee eines selbstbestimmten Menschen zu verbreiten.

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SCHLUSS


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reiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sind Begriffe die kennzeichnend sind für den Liberalismus nach Dworkin und Rawls. Wenn die Kommunitaristen diese Theorie kritisieren, dann nicht aus einer völligen Abneigung des Liberalismus, vielmehr ist der Liberalismus eine der wenigen Theorien, die es zu kritisieren lohnt. Aber die vorgestellte Kritik der Kommunitaristen um Taylor, Sandel, McIntyre, Walzer und Etzioni greift tief an der liberalen Theorie. Sie versucht argumentativ die liberale Mauer der Neutralität zum Einsturz zu bringen, um Raum für eine Theorie des Guten in der Öffentlichkeit schaffen zu können. In dieser Arbeit wurden drei zentrale Kritikpunkte an der liberalen Theorie geübt: 1. Wahre Freiheit ist nur in einer Gemeinschaft möglich, die eine über individuelle Konzeption des Guten artikulieren muss, um Ziele und Orientierungspunkte festzulegen. 2. Durch den Verzicht auf eine Theorie des Guten formiert sich ein nich zu kontrollierender kultureller Markt, dessen Entwicklung nicht absehbar ist. 3. Die moralischen Regeln einer Gesellschaft sind nur im Lichte des Guten erkennbar und können daher von der liberalen Theorie nicht adäquat formuliert werden. Wenn wir den Blick auf die Bundesrepublik Deutschland lenken scheint es so, als ob wir hinsichtlich der kommunitaristischen Kritik stark aufgestellt wären. Die ausgeprägte Dezentralisierung in Deutschland ermöglicht die Bildung starker Gemeinschaften. Die Bundesländer besitzen einen erheblichen Grad an Selbstregierung und die regionalen Identitäten sind stark ausgeprägt. In Deutschland gibt es eine Vielzahl von Vereinen, Gewerkschaften und Bürgerinitiativen, die eine Vorstellung vom guten menschlichen Leben verkörpern. Nicht umsonst erwähnt Etzioni Deutschland als positives Beispiel.149 Trotzdem werden hier in einer sehr verkürzten Variante zwei Problemfelder aufgezeigt, deren Lösung nur im Hintergrund einer kommunitaristischen Politik möglich scheinen: Integrationspolitik: In der Bundesrepublik wurde der Fehler begangen, die ausländischen Bürger nicht mit Nachdruck in die gemeinschaftliche Praxis mit einzubeziehen um ein Bewusstsein für eine Identifizierung mit dem gemeinsamen Projekt zu fördern. Das Resultat dieses Versäumnis sind größtenteils isolierte Gemeinschaften. Europapolitik: Durch die Finanzkrise Griechenlands und weiteren drohenden Staatspleiten kommt das Projekt Europa ins Wanken. Eine föderalistische Verbindung in der einige Staaten finanzielle Hilfe für andere Staaten leisten ist nur unter einer gemeinsamen Konzeption des Guten möglich. Es müssen Ziele für die Idee Europa formuliert werden um einen Zusammenhalt der Nationen zu erreichen. Die Bürger müssen verstehen können, weshalb sie eine derartigen soziale Verpflichtung eingehen sollten, ansonsten entwickelt sich eine spürbare Verdrossenheit gegenüber dem Projekt Europa. 149  Vgl. Etzion 1995: S. XII.


Nur durch eine gemeinsame Konzeption des Guten kĂśnnen wir uns wieder als Teil eines gemeinsamen Projekts verstehen. Ein Projekt, auf das in der Zukunft weitere groĂ&#x;e Herausforderungen warten, die nur im Miteinander zu bewältigen sind.

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IMPRESSUM


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Herausgeber Philipp Herberger

Konzept & Gestaltung Elena Herberger

Druck Hochschule Mannheim Fakultät für Gestaltung Paul-Wittsack-Straße 10 68163 Mannheim

Papier Umschlag: Gmund Power Blue 900 g/m2 Inhalt: Savanna Perla Matt 100 g/m2 Gmund Color System, Contact 100 g/m2 Gmund Color System, Rot 100 g/m2

Typografie Garamond Premier Pro Giorgio Sans

Auflage 5 Exemplare

Erscheinungsjahr 2012


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