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Von der Dynamik, Neues zu lernen

Als Tänzer und Choreograph stehe ich immer wieder vor der Frage, wie ich einen neuen Bewegungsablauf lernen oder auch lehren kann – über Nachahmung, technische Erklärung oder über Bilder und Metaphern? Oder über eine Mischung aus alldem? Aber nicht nur Bewegungsabläufe sind von Belang. Oft geht es auch um Bewegungsqualitäten, wie zum Beispiel „fließend“ oder „gebunden“. Oder das Lernen gilt der Verbindung von Körperhaltung, Bewegung, Emotion und Intention. Immer aber steht der Körper mit sei nen Bewegungen im Fokus. Diese Bewegungen behandeln Tanz als Handlung und zugleich als Technik, bei der die Handlung in ihre Einzelteile zerlegt, dazu in ihrer Motorik verstanden und experimentell neu zusammengesetzt werden kann.

Man könnte sagen, Tanz behandelt Handlung als Körpertechnik, ganz im Sinne des französischen Soziologen und Ethnographen Marcel Mauss, für den der Körper das erste Instrument der Menschen ist. Tanz spielt und experimentiert mit diesen Körpertechniken und findet so immer wieder neue Kombinationsmöglichkeiten von Bewegungen als Bezugnahme zur Welt. Dabei spielt auch das Tempo eine Rolle, allerdings nicht so sehr als absolut messbare Geschwindigkeit, sondern als ein Verhältnis zwischen schnell und langsam.

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Im Tanz wird dieses Verhältnis als Dynamik bezeichnet. Anders als in der Musik, wo der Begriff die Tonstärke bezeichnet, geht es im Tanz um Ent- und Beschleunigung. Eine dynamische Tänzerin ist also kein lauter Mensch, sondern kann schnell das Tempo wechseln. Es geht um Schwung, Kraftentfaltung, Beschleunigung – und Abbremsen. Um etwas Neues zu lernen, braucht es zunächst: Ruhe und Bedächtigkeit. Ohne sie wird man sich kaum in dem zu erkundenden Feld oder Bewegungsablauf orientieren können. Denn wir neigen dazu, im Umgang mit etwas Unbekanntem Angst oder Stress zu verspüren. Die damit einhergehenden körperlichen Spannungsmuster sind nicht gerade hilfreich, um sich auf Neues einzulassen.

Ruhe und Bedacht helfen dabei, diese Spannungsmuster loszulassen und offen zu bleiben – mit Entschleunigung hat das allerdings wenig zu tun. Das meine ich kritisch. Heute wird oft das Tempo neuer Technologien beklagt. Als Gegenmittel werden Entschleunigung und Achtsamkeit gefordert. In Seminaren werden gestresste Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so weit vom Arbeitsstress heruntergefahren, dass sie nachher wieder mit vollem Tempo der Umsatzsteigerung dienen können. Eine solche Entschleunigung hat mit Lernen wenig zu tun. Sie öffnet die Körpertechniken nicht zu neuen Handlungsmöglichkeiten in einer Welt voll neuer Technologien. Eher richtet sie Menschen darauf ab, noch produktiver zu werden und noch mehr zu konsumieren. Sie macht Menschen für Algorithmen vorhersehbar.

Wir Menschen aber haben uns seit der Erfindung des zweibeinigen Gehens mit jeder neuen (Körper)technik immer ein Stück weit desorientiert und schließlich immer wieder neu erfunden. Wenn wir uns als Spezies also irgendwie auszeichnen, dann dadurch, dass wir immer bereit waren, Neues zu lernen und für uns selber unvorhersehbar zu werden.

Als Professor für szenische Körperarbeit im Theater stehe ich vor der Frage, wie sich meine Bewegungsexpertise auf die Fragen der Schauspielerei übertragen lässt. Und damit bin ich – in Zusammenarbeit mit den Studierenden und anderen Lehrenden – wieder beim Erlernen von Neuem. → Prof. Martin Nachbar hat zum Sommersemester die Professur Szenische Körperarbeit im Fachbereich 3 (Darstellende Kunst) übernommen. Er ist Tänzer, Choreograph und Performer, unterrichtet hat er bisher u.a. an der Hollins University (USA), an den Performing Arts Research and Training Studios P.A.R.T.S. (Belgien) sowie am Trinity Laban Conservatoire of Music and Dance (Großbritannien).

Martin Nachbar in „Urheben Aufheben“, Berliner Sophiensaele (2014)

„Wenn wir uns als Spezies irgendwie auszeichnen, dann dadurch, dass wir immer bereit waren, Neues zu lernen, für uns selber unvorhersehbar zu werden und dabei für Momente die Orientierung zu verlieren“