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Musik gestalten, mit dem Maß band Emotion

Musik gestalten, mit dem Maßband Emotion

TEXT: MICHAEL SANDERLING DOKUMENTATION: ELMAR FULDA

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Musiker, Pädagoge und Dirigent: Michael Sanderling ist der Mann mit den drei Leben und doch kaum über 50 Jahre alt. In allen Feldern sofort einer der Großen. Erst Orchestermusiker in Leipzig und Berlin, dann Cellovirtuose in den Konzertsälen der Welt. Heute Professor für Cello an der HfMDK. Und Chefdirigent, zuletzt bei der Dresdner Philharmonie, ab 2021 beim Luzerner Sinfonieorchester.

Michael Sanderling ist ein Reisender, vielleicht auch Rastloser, jedenfalls ein Musik-Besessener: im Anspruch an sich und andere, in der Menschlichkeit, mit der er fordert, fördert und aus Musik Funken schlägt. Er ist ein Kollege, der in der Welt unterwegs ist, aber seine künstlerische Heimat in der Hochschule gefunden hat. Was denkt ein Künstler und Mensch wie Michael Sanderling über Tempo? Wir haben versucht es herauszufinden, und ihm zugehört. An einem Sonntag Anfang März, er unterrichtet, kam gerade aus Budapest und steigt schon am Tag darauf wieder in ein Flugzeug. Es ist ein ruhiges, fokussiertes Gespräch. Hier sind seine Antworten.

Tempo ist ein wichtiger Interpretationsbaustein in der Musik –und ein besonders heikler, weil so scheinbar objektiv, wenn ein Komponist seinem Werk Tempoangaben durch Metronomzahlen mitgibt. Ich habe vor Jahren als Cellist die Uraufführung eines Werkes vorbereitet, mir dabei die Finger wund geübt, aber kam nicht zum Erfolg. Ich rief den Komponis ten an. Er lud mich ein. Ich spielte ihm die betreffende Stelle vor. Er: „Das ist doch alles viel zu schnell!“ Ich: „Ich bin erst bei 60, Sie schreiben 86.“ Da holt er sein altes Metronom heraus. Was war passiert: Es lief viel zu langsam, war nicht geeicht.

Tempo entsteht aus Emotion Ich verstehe Tempo als einen Baustein der Interpretation, so wie Artikulation, Dynamik, Phrasierung andere es sind. Tempo hat immer auch etwas Subjektives, sehr Individuelles.

Tempo ist an die spieltechnischen Möglichkeiten der Musiker, an einen konkreten Ort gebunden: In welcher Distanz befinden sich die Orchestermusiker zueinander, in welchem Raum spielen sie? Wenn man plötzlich in einen trockenen Raum kommt, stellt man fest, so zerfasert geht das nicht, und nimmt es zügiger. Und umgekehrt bei einer Brucknersinfonie, wenn es die Akustik zulässt, wähle ich ein noch langsameres Tempo.

Ein Tempo zu finden, ist für mich kein mechanischer Vorgang. Ich suche die Emotion, den wahrhaftigen Moment –daraus ergibt sich das Timing, der Zeitpunkt, wo es weitergehen muss, oder, wo es Zeit ist zu verweilen. Ich finde es schwierig, sich an einer Metronomzahl festzuhalten. Da vermisse ich Fantasie.

Historische Zusammenhänge Noch in den 1950er Jahren spielte man die Musik von Monteverdi über Bach bis Mozart in deutlich anderen, langsameren Tempi. Das war das berüchtigte Barockspiel, wo man heute das Gefühl hat, ein Eimer Soße und dreimal Rühren. Es fehlten historische Informationen. Die Musikinterpretation war geprägt durch die Romantik, insbesondere durch die französische Musik, die im guten Wortsinn sehr zeitaufreibend ist, gebaut auf Harmonien, die ein ganz anderes Tempo brauchen, um im Fortgang begriffen zu werden. Da war Nikolaus Harnoncourt eine Erleuchtung. Nicht er allein, aber er hat uns am meisten und am sprunghaftesten zurückgeführt auf die Dinge, die man eigentlich hätte wissen können und sollen. Von ihm haben wir gelernt, dass Tempo immer auch eine historische Vorstellung ist. Ein Largo zu Beethovens Zeit hat eine andere Bedeutung als ein Largo zu Brahms Zeit.

Ich habe mich intensiv und mit großer Hingabe mit Schostakowitsch beschäftigt. Er ist ein Extremfall, gerade, was seine Tempoangaben betrifft. Schostakowitsch hat ganz bewusst falsche Metronomzahlen und falsche Tempobezeichnungen notiert. Wenn er Allegro schreibt, meint er nicht unbedingt Allegro. Er schrieb es, um in der Generalprobe, in die immer eine Abordnung des Zentralkomitees zur Kontrolle kam, sagen zu können: Genossen, Entschuldigung, ich habe da Allegro stehen, die haben gerade einen Riesenfehler gemacht, die haben das übersehen, die haben viel zu langsam, traurig gespielt – das ist natürlich heiter, eine Feier des Sozialismus und der Partei.

Auch dieses Wissen hat meine Sicht zurechtgerückt. Bei der Frage nach dem richtigen musikalischen Tempo gibt es nur relative, subjektive Antworten, keine objektiven.

Wahrheitssuche Als Dirigent dirigiere ich Stücke erst, wenn ich glaube, sie verstanden zu haben, sie gleichsam in mir erlebe. Ich lasse mich da nicht treiben. Das ist ein Grund, warum ich meine Zweigleisigkeit, Professur hier und Dirigent in der Welt, so sehr schätze. Auf keiner dieser beiden Schienen muss ich für sich genommen Erfolg haben, weil ich mir immer sagen kann, dass es noch die andere gibt. Das ist ein ganz großes Privileg, das ich aus meinem Leben nicht mehr wegdenken möchte.

Ich erhalte Angebote, kurzfristig Dirigate zu übernehmen, wie letztes Jahr hier in Frankfurt. Drei Stücke waren mir vertraut, ein viertes nicht. Wir haben es weggelassen. Das Orchester hatte es geprobt, konnte es spielen. Mir wäre es gelungen, es irgendwie runterzupinseln. Aber das ist nicht meine Aufgabe. Ich will dem Orchester ein ebenbürtiger Partner sein. Es ist nicht nur eine Frage des Berufsethos, sondern auch eine Frage der Wahrheitsfindung. Ich ruhe nicht, bis ich zumindest das Gefühl habe, nahe an die Wahrheit heranzukommen, die in ein Kunstwerk, ein Musikstück eingeschrieben ist. Und ich habe den Eindruck, diese Ehrlichkeit und Seriosität wird auch heute noch geschätzt.

Michael Sanderling

Zeitdruck Es gibt Dirigenten, die sind in den Proben immer eine Stunde früher fertig. Ich kann das so nicht, habe auch kein Vergnügen daran. Ich bin nicht nur für mich verantwortlich und für das, was ich mit dem Stück vorhabe. Es sind die Musikerinnen und Musiker, die es spielen. Ich muss berücksichtigen, dass der Fagottist mit dem schweren Solo vielleicht auch etwas ausprobieren möchte und etwas Zeit braucht. Fürsorge ist ein Charakterzug, den Dirigenten mitbringen sollten, da sie immer die Perspektive des Orchestermusikers mitdenken müssen, und nicht die eigene. Was der Dirigent braucht, ist unwichtig. Das ist das Schwere an dem Beruf. Sie müssen alles fertig haben, obwohl Sie es vorher nie ausprobieren konnten. Als Dirigent gehöre ich zu denen, die zu wenig Zeit haben, die oft jammern, die aber dann auch immer wieder feststellen, ohne daraus zu lernen, dass es doch gereicht hat.

Arbeitstempo Mein Eindruck ist – vielleicht trete ich jetzt in ein Fettnäpfchen –, dass sich Studierende heute mehr Zeit nehmen, als sie sich nehmen sollten. Als ich damals in der DDR studierte, war für mich klar: Wenn ich nicht alles daransetze, Musiker zu werden, und zwar ein erfolgreicher, muss ich in einem System verharren, in dem ich nicht leben möchte. Diesen unbedingten Willen spüre ich bei Studierenden heute nicht immer, dagegen oft eine gewisse Sorglosigkeit.

Mein eigenes Leben, der Blick in die Musikgeschichte zeigt mir aber: Herausfordernde Situationen bringen oft die beste Kunst hervor. Das können ein seelischer Druck sein, die Sehnsucht nach gesellschaftlicher Veränderung, finanzielle Nöte. Krisen sind große Motivatoren, die eigene Komfortzone zu verlassen. Vielleicht geht es uns für Kunst ein bisschen zu gut, vielleicht nehmen wir es als zu selbstverständlich, dass es Kunst, dass es diese Studiermöglichkeiten gibt. Wir brauchen einen positiven Drill. Sich Ziele setzen, diese konsequent zu verfolgen und zu erreichen, auch das kann glücklich machen. Es ist letztlich der eigene Wille, der das Arbeitstempo bestimmt, auch im Studium. Und da habe ich so hier und da meine Zweifel. → Prof. Michael Sanderling ist Professor für Violoncello an der HfMDK. Ab 2001 wandte er sich dem Dirigieren zu, arbeitete u.a. als künstlerischer Leiter und Chefdirigent der Kammerakademie Potsdam, später als Chefdirigent der Dresdner Philharmonie. Mit Beginn der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent des Luzerner Sinfonieorchesters.

„Als Dirigent dirigiere ich Stücke erst, wenn ich glaube, sie verstanden zu haben, sie gleichsam in mir erlebe“