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Abschliessende Würdigung

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Das Ergebnis der Analyse ist wenig überraschend. Die Autorin beschäftigt sich mit philosophischen Fragen. Sie denkt über das Leben auf dieser irdischen Welt nach. Freuden und Schmerzen halten sich die Waage. Der Sinn der menschlichen Existenz liegt aus ihrer Sicht im gläubigen Vertrauen auf einen Himmel nach dem Tod.

Bei unseren Betrachtungen zur Sprache von Katharina Berkmüller gehört schliesslich auch ein Blick auf das Gedicht «Froher Muth».157 Die zweite von insgesamt sechs Strophen lautet: Bin gesund vom Schlaf erwacht, Und von meinen Lieben lacht Liebe mir entgegen! Fühl zur Arbeit mich gestärkt, Und die Zeit flieht unbemerkt Unter Gottes Segen.

Was fällt uns auf? Hier weicht Katharina Berkmüller von ihrem üblichen Versschema mit vierzeiligen Strophen ab und schreibt sechszeilige Strophen. Auch das Reimschema variiert. Anstelle des hauptsächlich verwendeten aabb oder allenfalls abab verwendet sie in diesem Gedicht ein anspruchsvolles aabccb-Schema. Man nennt diesen «umarmenden Reim» in der Literaturwissenschaft «Schweifreim». Interessant ist dies nun insofern, als eines der berühmtesten Gedichte der Romantik, nämlich das «Abendlied» von Matthias Claudius, ebenfalls diesem Schweifreim folgt: Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen, am Himmel hell und klar. Der Wald steht schwarz und schweiget und aus den Wiesen steiget der weisse Nebel wunderbar.

Dieses Beispiel lässt sich durchaus als Beleg für Katharina Berkmüllers Interesse an der Literatur ihrer Zeit verstehen.

Abschliessende Würdigung

Wenn wir die Texte von Katharina Berkmüller von ihren heute als etwas gar schwer empfundenen Formulierungen entschlacken und wenn wir ihr zugutehalten, dass die grossen Romantiker Joseph von Eichendorff (1788–1857), Novalis (1772–1801) und Matthias Claudius (1740–1815) und vor allem dann die Komponisten Franz Schubert (1797–1828), Robert Schumann (1810–1856) oder Felix Mendelsohn (1809–1856) ihre Zeitgenossen waren und wir deren geschriebene und vertonte Texte heute nicht selten ebenfalls eher als befremdlich empfinden, so wird eines doch überdeutlich: Katharina Berkmüller beschäftigte sich neben der Bewältigung ihres Wängemer Alltags mit den geistigen Entwicklungen ihrer Zeit. Sie schulte ihr sprachliches Empfinden an der Sprache der damaligen Jugend- und Volksliteratur. Sie beschäftigte sich mit den philosophischen Grundfragen des Lebens: Wer bin ich? Was ist meine Aufgabe? Wohin gehe ich? Sie war belesen. Sie befreite sich von religiösen Zwängen und pflegte ein bewusst kritisches Verhältnis zur offiziellen Kirche. Die emotional bewegte Sprache in

ihren Gedichten wurzelt in ihren Empfindungen und weltanschaulichen Überzeugungen. Ihre Gedanken und ihre Sorgen, ihre Stimmungen und Empfindungen, ihre Botschaften und Glückwünsche; alles goss sie in Verse. So verstanden ist sie eine klassische Vertreterin der Volkspoesie des 19. Jahrhunderts. Katharina Berkmüller reiht sich mit ihren Gedichten ein in eine Vielzahl von Gedichten anderer Frauen der damaligen Zeit. Die Gedichte dienten in erster Linie dem Zweck, Stärkung und Haltung in schwierigen Lebenslagen zu bewahren oder zu vermitteln. Sie sind bewegende Zeugnisse eines oft einsamen Ringens um Sinngebung und Trost. Aus dem weit geschlagenen Bogen vom irdischen Leben in den dereinstigen Himmel und der dortigen Wiedervereinigung mit Familie und Bekannten schöpfen die Verfasserinnen Lebensmut und Kraft.158

Der bei der Lektüre der Gedichte manchmal entstandene Eindruck, Katharina Berkmüller sei zwischen Sorgen und Sehnsucht, Romantik und Melancholie gefangen gewesen und habe permanent um Freude, Trost, Zuversicht und Vertrauen gerungen, erscheint vor dem Horizont ihrer Zeit gerechtfertigt. Ihre literarische Prägung aus den Jugendjahren zusammen mit ihrem Bruder Jakob ist in ihren Gedichten zeitlebens spürbar und unterscheidet sich thematisch und formal von den unbeschwerten Darstellungen des Dorflebens ihres Gatten Alphons.

Noch in der späten Romantik waren Sehnsucht, Trauer und Schmerz Leitthemen. Franz Schubert (1797–1828) hat als Repräsentant seiner Zeit in seinen letzten Liedern mit Gedichten von Ludwig Rellstab (1799–1860) genau diese Sprache vertont. «Liebesbotschaft», »Frühlingssehnsucht», «In der Ferne» und «Abschied» lauten einige der Gedichte. Dabei ist klar, die Menschen jener Zeit waren nicht einfach depressiv und geplagt von unerfüllbarer Sehnsucht. Etwas melancholischer als wir heutzutage wohl schon. Aber immer gelang ihnen der Ausgleich oder die Balance. Neben Tränen und Trauer war da immer auch Trost. Neben dem Donner das Vogelgezwitscher. Neben dem Schmerz die Sehnsucht. Es ist letztlich diese Ausgeglichenheit, welche Zeitgeist und Sprache bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts charakterisierten. Katharina Berkmüller steht weitgehend mittendrin.

Aber eben nur weitgehend. Nicht vollständig. In einigen Gedichten blitzt eine andere Katharina auf. Eine, welche kritisch und engagiert Stellung bezieht gegenüber Zuständen und Entwicklungen, welche ihr missfallen. Eine, welche das Mittelmass des damals üblichen Gedichteschreibens überragt. Eindrucksvoll ihre Kritik am kirchlichen Brauch, Selbstmörder ausserhalb der Friedhofmauern zu vergraben. Unüberhörbar ihre Missbilligung der Aufhebung der Klöster und die damit verbundene Vertreibung der Nonnen. Eindringlich ihre Kritik an den Dorfbewohnern von B., denen sie mit ungewohnt scharfen Worten vorwirft, untereinander von Zank und Unfrieden, Neid und Bitterkeit zerfressen zu sein. In diesen wenigen exemplarischen Gedichten vertritt Katharina unmissverständlich ihre eigene Meinung und legt den Finger unbeirrt auf Missstände. Sie übertritt damit bewusst ungeschriebene Grenzen. Sie äussert eine politische Meinung. Die «brave Frau»

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106 wird zum «aufmüpfigen Weib».159 Die Reaktionen ihres im Kanton Thurgau gesellschaftlich gut integrierten Mannes sind uns nicht bekannt.

Die vorhandenen Quellen verraten wenig über Katharinas Leben. War sie glücklich? Oder haben ihre Sorgen überwogen? Wir wissen wenig Verlässliches. Eines aber ist sicher: Sie hat angesichts all ihrer lebensgeschichtlichen Unsicherheiten im Glauben ihren Trost gefunden. Sie lebte in der Gewissheit, dass nach jedem Tiefschlag Aussicht auf bessere Zeiten und letztlich auf ein Leben nach dem Tode besteht. Daraus gewann sie ihre bewundernswerte Zuversicht und ihre eindrückliche Gelassenheit. So hielt sie ihr Leben in der Balance. Das Niederschreiben der Gedichte war ihr wohl zweierlei, sowohl Mittel, sich mit dem Leben auseinanderzusetzen als auch Bestätigung ihrer Überzeugungen.

In verschiedenen Zusammenhängen sind wir bereits auf Katharinas Religiosität gestossen. Sie empfindet ihr Leben in erster Linie als Folge von Prüfungen, welche zu bestehen sind. Denken wir nur an den Tod ihrer zwei Büblein oder an den Verlust ihrer Zürcher Heimat. Mit Hilfe ihres tief verwurzelten Glaubens gelingt es ihr, immer wieder Rückschläge zu verkraften und sich erneut aufzuraffen. In ihren Gedichten ist diese permanente Stimmungslabilität bis hin zu depressiven Zuständen jederzeit spürbar. Sie hat sich ihr Leben nicht leicht gemacht. Eine Religiosität im Sinne von «Fröhlich zieh ich meiner Wege» voll heiterer Ruhe und innerer Gelassenheit kannte Katharina nicht.

Die Lebensläufe der beiden Berkmüller weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. Beide schufen ihr Lebenswerk autodidaktisch. Wir finden bei Katharina weder Hinweise auf eine entsprechende Ausbildung noch auf irgendeine theoretische Auseinandersetzung mit Literatur. Auch bei Alphons fehlt jeglicher Beleg, dass er einmal an einer Kunstakademie eingeschrieben gewesen wäre. Beide haben sie von Beginn weg auf ihr Talent vertraut und unbeirrt über Jahrzehnte ihre Gedichte oder ihre Zeichnung geschaffen. Auf Experimente haben sie verzichtet. Beharrlich haben sie an ihren Themen und an ihren Ausdrucksweisen festgehalten. Inmitten der beträchtlichen politischen und künstlerischen Umwälzungen während ihres Jahrhunderts sind sie sich – und einander – treu geblieben. Schwere Schicksalsschläge wurden hingenommen und getragen. Beide haben in frühen Jahren die Entwurzelung aus ihrer Heimat erlebt. Zwei von drei Kindern sind ihnen bei der Geburt weggestorben. Vom eingeschlagenen Weg abbringen liessen sie sich dadurch nicht. Katharina trug ihr Schicksal dank eines unbeirrbaren Glaubens. Wie Alphons mit den familiären Schicksalsschlägen umgegangen ist, wissen wir nicht. Er war tagsüber als Buchhalter in der Weberei und als Chordirigent oft ausserhalb der Familie engagiert.

Gerade in der Art und Weise, wie die beiden ihr Bedürfnis nach Musik gepflegt haben, erkennen wir exemplarisch, wie sie bei all ihren Gemeinsamkeiten dennoch lebenslang in ihren traditionellen Geschlechterrollen des 19. Jahrhunderts verhaftet blieben. Beide liebten die Musik. Katharina spielte Gitarre und sang gerne selbstverfasste Lieder. Alphons spielte Geige und leite-

te Chöre. Sie sang ihre Lieder zu Hause in der Stube, allein oder zusammen mit ihrer Tochter, zum eigenen Vergnügen oder aus Wehmut. Er stand auf dem Podium in der regionalen und kantonalen Öffentlichkeit als Dirigent im Rahmen grosser Auftritte auf Sängertreffen und Gesangsfesten.

Auf unserer Spurensuche haben wir Katharinas Gedichte schätzen gelernt. Wir sind uns bewusst geworden, dass viele davon nie für die Öffentlichkeit gedacht waren. Indem Katharina ihren innersten Gefühlen sprachlich Ausdruck verleiht, ermöglicht sie uns einen Einblick in ihr Leben. Der Umgang mit ihrem literarischen Lebenswerk heischt Respekt. Neben dem bildnerischen OEuvre ihres Mannes hat sie ein ebenbürtiges Werk geschaffen.

Manche von uns heutigen aufgeklärten Leserinnen und Lesern des 21. Jahrhunderts mögen selbst nach der Lektüre dieses Lebensbildes mit den Texten von Katharina Berkmüller ihre liebe Mühe haben. Die Gedichte wirken in ihrer Romantik übersteigert, in ihrem Gut-Böse- oder FreudeLeid-Schema manchmal etwas kindlich und in ihrer bedingungslosen Anbetung Gottes überhöht. Wie ganz anders empfinden viele die Zeichnungen ihres Mannes Alphons! Deren Romantik, deren Übersteigerungen zur Idylle, deren naiver Charme vermögen auch heute noch zu verfangen und wecken nach wie vor Bewunderung. Eine Ironie der Geschichte.

Unsere Auseinandersetzung mit den wenigen Spuren, welche die beiden hinterlassen haben, hat uns einen eindrücklichen und berührenden Blick auf den Mikrokosmos ihrer Leben im 19. Jahrhundert erlaubt. Die Lebensbilder von Katharina Berkmüller-Stutz und Johann Alphons Berkmüller haben sich zu einem Ganzen verwoben und sind unvermittelt zu einem Stück Kultur- und Sozialgeschichte geworden. Für das Ortsmuseum Wängi sind die beiden ein ausgesprochener Glücksfall.

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