Peter Vahlefeld - Nur wer den Klatsch der Stadt kennt findet den Mörder

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Klatsch #3 oder wo sind denn hier die Toiletten? Liebe Kunstfreunde: wenn Kunst nach Peter Sloterdijk der »ungeschützte Verkehr mit der Intelligenz des Anderen« ist, laden die Kulturinstitutionen neuerdings zum Gang Bang ganz besonderer »Art« ein. Ganze Busladungen unterhaltungswütiger Pauschaltouristen und Einheimischer, werden vor dem Museum ausgespukt wie vor einer Reeperbahnkneipe. Es ist bumsvoll. In kilometerlangen Warteschlangen stehen Alt und Jung brav in Reihe und Glied an der Kasse und quälen sich mit stundenlangen Besuchen im Museum. Wie ein verstopfter Abfluß sieht alles aus. Zwischen bemalten Buddy-Bären und was es sonst noch an Stadtmarketingterror gibt, stehen sie da wie Nachwuchsstricher in einem gigantischen Medienbordell. Hier geht die Staatsgewalt vom Volke aus. Es könnte auch eine Parade sein, ein Aufmarsch, ein gespielter Witz oder irgendeine andere Fehlzündung. Die scheinbar freiwillige Unterwerfung des Menschen unter das Meinungsdiktat der großen Realitätsproduzenten Politik, Medien und Kultur, sind nicht wie angenommen Grundlage einer Demokratie, sondern ganz im Gegenteil, verhindern sie. Das Volk legitimiert durch die Wahlen Herrschaft, führt diese aber selbst nicht mehr aus, sondern wird bildlich gesprochen nur noch zur Kasse gebeten. Für wie bescheuert hält diese Regierung ihr Publikum? Die Kasse ist auch der Ort an dem sich das rot-rote Model unter den Landesfürsten zu Wort meldet und allen Ernstes behauptet, Berlin sei arm aber sexy. So sexy, daß die Leute 9 Stunden Schlange stehen für ein bißchen Brot und Spiele – und so arm wie der neue Slogan der Berlin-Tourismus-MarketingGesellschaft »Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin«, der sich so anhört wie Kurt Beck aussieht. Ein typisches Produkt des um sich selbst kreisenden Systems. Aber das Publikum ist interessiert an der Nummer, also machen alle mit und fahren nach Berlin. Und da lümmeln sie nun, im sozialen Gefüge vom Angestellten bis zum Ruhiggestellten abwärts und warten, daß sie reinkommen dürfen. »Pimp my ride rein«. Hier inszeniert sich die aufgeblühte Masse der Deutschen in ihrer wohlfahrtsstaatlichen Dauernarkose. Schlangestehen, Gezähltwerden und sichdrängeln als Selbstzweck. Menschen, die die wenigen Haare, die ihnen geblieben sind, über die lichten Stellen kämmen, den Scheitel links akkurat gezogen haben, andere wiederum mit Tunnelblick und Rauhaardackel. Sie alle genießen sichtlich ihre Rolle als Zeugen und das neue Heimatgefühl unter all den Pappkameraden. Hier in der Schlange vergeht die Zeit, die nie vergeht. Wie am Strand in Rimini oder auf Palma de Mallorca, wo sich die Menschen nicht ausbreiten – nein, wo sie sich stapeln lassen um sich abends an Riesenbuffets um Unmengen von Würstchen, Erbsen und fettigen Pommes zu prügeln. Wenn man könnte, würde man an der nächsten Zapfsäule Leben in sich reinpumpen und für immer verschwinden.

Ein surreales Bild bietet sich dann auch in den Ausstellungen selber. Wie ferngesteuert bewegen sich die globalisierten Ikea-Menschen durch die Räume. Audio-Guides flüstern ihnen zu, was sie zu tun und zu denken haben und bestimmen ihren Weg – ein zeitgemäßes Sinnbild der Entmündigung, während sie sich wie Schießbudenfiguren durch die zähe Pampe des Museums bewegen. Elementare Entscheidungen werden eh dem Staat überlassen und den als Reformen getarnte Umverteilung werden im kollektiven Trance des Konformismus ohnmächtig zugesehen. Alles ist mittlerweile gleichbedeutend oder gleich wurst. Klatsch oder Abklatsch. Ürigbleibt der Staat als Einrichtung zur Beherrschung seiner Bürger. Die Gerechtigkeit, die er zu verwirklichen vorgibt, benötigt immer mehr Gesetze, die Gesetze benötigen immer mehr Bedienstete, und die Bediensteten benötigen immer mehr Geld. Wenn der arbeitenden Bevölkerung durch die Arbeit der Bundesregierung nur Peanuts übrigbleiben, ist es kein Wunder, wenn die Menschen zu Affen werden. Seit ich diese Bilder gesehen habe, finde ich nachts kaum noch Schlaf, und schlafe ich doch mal ein, dann träume ich wüste und verstörende Albträume wie diesen: Im Reichstag, der Plenarsaal. Angela Merkel steht am Rednerpult, macht wahrscheinlich eine Regierungserklärung über Leidkultur oder Erinnerungskultur oder von der Herausforderung der Gestaltung der Zukunft von Morgen. Sie ist nervös und verspricht sich oft. Schon nach wenigen Minuten bilden sich kreisförmig dunkle Schweißflecken unter den Achseln ihres bügelfreien Amtshemdes, die sich bedrohlich schnell ausweiten.Schon läuft ihr der Schweiß in kleinen Rinnsalen aus den Ärmeln und tropft aufs Manuskript. Wahre Sturzbäche ergießen sich mittlerweile aus Ärmel- und Hosenröhren. Frau Merkel liest tapfer weiter ihre Rede vor, wenn auch freilich lange Pausen entstehen, weil der Schweiß Teile des Manuskripts unleserlich gemacht hat. Einzelne Abgeordnete rutschen unruhig auf ihren Sitzen herum, Angst in den Augen, andere wecken ihre Fraktionskollegen. Ab hier erklingt nun aus Beethovens Neunter Sinfonie »Alle Menschen werden Brüder«. Der Schweißpegel erreicht die vorderen Sitzreihen, ganz hinten stürzen einzelne zu den Ausgängen – verschlossen! Und das Schwitzwasser steigt und steigt. Bis zur Brust sitzen die Abgeordneten nun schon im Schweiße ihres Angesichts. Die ersten werden ohnmächtig oder sterben auf der Stelle vor Ekel. Schließlich sind alle tot, nur noch Frau Merkel hält sich schwimmend oben, stoisch weiter ihre Rede proklamierend, und wird von ihrem eigenen Schweiß bis ganz nach oben in die gläserne Reichstagskuppel getragen ... Hier bin ich dann aufgewacht und mußte leider feststellen, daß ich ins Bett gemacht hatte.


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