Nature On | Off

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NATURE ON | OFF


NATURE ON I OFF


FRANCIS ALŸS I BRUCE BAILLIE I JOHN BALDESSARI I GUY BEN NER I ULU BRAUN I FLATFORM I GUNNAR FRIEL UND ANJA VORMANN I ANTON GINZBURG I NIKLAS GOLDBACH I PIA GRESCHNER I FLORIAN GWINNER I SIMONE HÄCKEL I DELPHINE HALLIS I JOE HAMILTON I HELGE JANSEN I DAGMAR KELLER UND MARTIN WITTWER I GUDRUN KEMSA I ALISON KNOWLES I MANDY KREBS I KURT KREN I BARBARA UND MICHAEL LEISGEN I MELANIE MANCHOT I LUKAS MARXT I CHARLY NIJENSOHN I RÓBERT OLAWUYI I HANS OP DE BEECK I REYNOLD REYNOLDS I SCHMELZDAHIN I CORINNA SCHNITT I JOANNA SCHULTE I ROBERT SMITHSON I JUKKA SILOKUNNAS I ERIKO SONODA

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STEINA VASULKA I MARIA VEDDER I BILL VIOLA I TAMÁS WALICZKY


GRUSSWORT

Sehr geehrte Damen und Herrn, Technisierung und medialer Fortschritt scheinen der Natur und ihrer Wiedergabe in der Kunst auf den ersten Blick geradezu konträr gegenüberzustehen. Die Traditionslinie idyllischer Darstellungen unberührter Landschaften kontrastiert in unserer Vorstellung mit Bildern des technischen Fortschritts und neuester Errungenschaften der Industrialisierung, wie sie bereits im 19. Jahrhundert entstanden sind. Umso bemerkenswerter erscheint der Umstand, dass in der Gegenwartskunst der Versuch unternommen wird, diesen scheinbaren Gegensatz aufzulösen, bzw. komplexe Zusammenhänge aufzuzeigen und Denkanstöße zu geben. Insbesondere in den letzten Jahrzehnten wuchs das Interesse medial arbeitender Künstlerinnen und Künstler an dem Themenbereich Natur und Landschaft in starkem Maße. Nicht zuletzt durch die Earth Art, Land Art, Konzeptkunst und Arte Povera haben sich Naturmaterialien, natürliche Prozesse, großangelegte Eingriffe in die Landschaft und naturwissenschaftliche Experimente in der Kunst etabliert. Die Ausstellung NATURE ON | OFF thematisiert in einer facettenreichen Schau unterschiedliche Auseinandersetzungen der zeitgenössischen Medienkunst mit dem Komplex Natur, Landschaft und Garten. Dieses spannende Projekt wurde von Studierenden des Kunsthistorischen Instituts in Zusammenarbeit mit den Medienkünstlern und Lehrbeauftragten Matthias Neuenhofer und Daniel Burkhardt entwickelt. Insgesamt haben vierzig Künstlerinnen und Künstler, darunter namenhafte Persönlichkeiten wie Francis Alÿs und Hans Op de Beeck sich bereit erklärt, ihre Arbeiten für die Ausstellung zur Verfügung zu stellen. Als Ausstellungort dienen erstmals die Räumlichkeiten der Lehrveranstaltungsgebäude der Universität. Auf diese Weise entsteht eine spannungsreiche Mischung aus Hochschulatmosphäre und Kunstinszenierung und die Besucher erhalten durch dieses ungewöhnliche Ausstellungsformat einen Einblick in den universitären Alltag und das Studium der Kunstgeschichte in Osnabrück. Ausstellungsprojekte wie NATURE ON | OFF ermöglichen den Studierenden, praktische Erfahrungen im Bereich der Ausstellungsplanung und -organisation zu sammeln und ihr erworbenes theoretisches Wissen anzuwenden. Indem die Ausstellung das Motto WIR SIND IM GARTEN des diesjährigen Kulturjahres der Stadt Osnabrück aufgreift, wird zudem

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ein Beitrag zur städtischen Kulturarbeit in Osnabrück geleistet. Gleichzeitig wird durch die Konzentration auf die Medien Film und Video an die Bedeutung Osnabrücks als etabliertem Veranstaltungsort des Internationalen Medienkunstfestivals angeknüpft. Die präsentierten Arbeiten offenbaren den facettenreichen und divergierenden Blick auf die Natur im medialen Zeitalter, der von der religiösen Vorstellung des Paradiesgartens über tradierte Idealbilder bis hin zur kommerziellen Ausbeutung und Zerstörung der Natur reicht. Angesichts der aktuellen Diskussion um den Klimawandel und über unseren Umgang mit den globalen Ressourcen verspricht diese Ausstellung mehr als ein visuelles ästhetisches Erlebnis. Sie lenkt unseren Blick auf unser komplexes Verhältnis zur Natur und bietet Raum zur Reflektion über unseren Umgang mit ihr. Mein herzlicher Dank gilt allen Beteiligten, die die Ausstellung NATURE ON | OFF ermöglicht haben. Insbesondere möchte ich Frau Prof. Helen Koriath danken, die das Projekt initiiert und geleitet hat, ebenso wie den Künstlerinnen und Künstlern, die ihre Arbeiten in der Ausstellung präsentieren. Nicht zuletzt gilt mein besonderer Dank den Studierenden des Kunsthistorischen Instituts, deren Ideen in dieses besondere Projekt eingeflossen sind und ohne deren Engagement dieses spannende Ausstellungsprojekt nicht hätte ins Leben gerufen werden können.

Prof. Dr. Wolfgang Lücke Präsident der Universität Osnabrück

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FLÜCHTIGES Mit wachsender Geschwindigkeit wird die Welt kleiner; wir bewegen uns zu Orten, ohne wirklich dort zu sein; ste-

hen am Amazonas und auf dem Dach der Welt, aber reizvoller und wichtiger scheint es, das der ganzen Welt mitzuteilen und zu zeigen, als dort zu sein, innezuhalten und den Ort und die Natur mit Geist und Sinnen aufzunehmen. Zwei Fingerbewegungen – und das Selfie mit einer der wenigen noch verbliebenen, einzigartigen Naturlandschaften als beliebiger Hintergrundkulisse erscheint in Sekundenschnelle auf den Smartphones der Freunde viele tausend Kilometer entfernt. Was das Erlebnis so besonders macht, ist ohne Belang, bleibt ausgeblendet. Der Gegensatz zu Goethes Reise- und Naturbeobachtungen und zu den Bildern Caspar David Friedrichs, die uns an ortsgebundenen Erlebnissen und Empfindungen der Autoren teilhaben lassen, kann nicht größer sein. An die Vorstellungen des Medientheoretikers Marshall McLuhan anknüpfend führte der koreanische Künstler Nam June Paik schon Anfang der siebziger Jahre die Schrumpfung der Welt zum globalen Dorf vor Augen, indem er auf über hundert Monitoren, die er mit mehreren hundert grünen Kübelpflanzen im dunklen Raum als Aufsehen erregenden künstlichen Garten inszenierte, unaufhörlich seine VideoKlang-Collage Global Groove laufen ließ. Dem Prinzip des Channel Zapping weit vorausgreifend hatte Paik mittels seines Videosynthesizers in Form und Farbe manipulierte Fernsehaufnahmen aus mehreren Ländern, Aufzeichnungen von Auftritten seiner künstlerischen Freunde und Zitate aus eigenen älteren Videotapes nach musikalisch-rhythmischen Prinzipien so gemixt und transformiert, dass sie einzig als ein das Sehen und das Hören überfordernder, audiovisueller Flow von Störungen wahrnehmbar waren. Von Holzstegen aus, wie sie in japanischen Gärten der Meditation dienen, konnten die Besucher diesen neuartigen TV-Garden in seiner damals äußerst befremdlichen, provozierenden Ästhetik überblicken und so, wie die Stimme aus dem Off verkündete, einen „flüchtigen Eindruck der Video-Landschaft von morgen“ gewinnen. In der Video-Sound-Collage zeigt sich Paiks Vision einer durch die Künste vereinten, zusammengerückten Welt mit Referenzen auf lebensphilosophische Ideen der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die er mit einer kritischen Medienreflexion verbindet. Seine Begeisterung für neue Technik, mit der er erfindungsreich experimentierte, machte ihn nicht blind gegenüber Fehlentwicklungen in den Systemen, sondern erhöhte im Gegenteil seine Aufmerksamkeit für das Erkennen von Mängeln, die er ästhetisch produktiv in seiner Arbeit nutzte. Insofern erfüllen Paiks Videotapes mit ihren elektronisch manipulierten, die globalen Erscheinungen der Medienwelt transformierenden Bildern, Klängen und Geräuschen auch die Forderungen Brechts an die Kunst, vordringlich dort anzusetzen, wo Defekte erkennbar sind. Die Verknüpfung des medialen Kunstwerks mit der Idee und dem Bild des Gartens sowie das von ihm selbst als Metamorphose charakterisierte künstlerische Arbeitsprinzip verweisen auf die Natur nicht als ästhetische Leitlinie, sondern als Prinzip der Veränderung und als Legitimation für den Einsatz neuer technischer Errungenschaften/Möglichkeiten. Auch die in der Ausstellung NATURE ON | OFF vertretenen 14 Videotapes und Videoinstallationen, die zwischen 1992 und 2014, in einem Zeitraum höchst rasanten Technologiefortschritts insbesondere im Bereich der Visualisierungsmöglichkeiten entstanden, greifen in

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jeweils spezifischer Weise auf die Natur- und Gartenmetaphorik zurück, indem sie sich manchmal auch an künstlerische Vorbilder anlehnen oder sie transformieren und mit eigenen ästhetischen Mitteln die Aufmerksamkeit auf Schwachstellen, Probleme und Konflikte unserer Kultur und Zivilisation lenken. Die Künstlerinnen und Künstler leben überwiegend in Metropolen wie London, Paris, Mailand, Berlin, Mexiko-Stadt und Hongkong. Sie sind zwar von der Natur und vom Garten als Metaphernkonglomerat fasziniert, aber gebrauchen es niemals unkritisch und unreflektiert im Sinne einer die Avantgarde zu Beginn des frühen 20. Jahrhunderts noch beflügelnden Idee der Harmonisierung von Technik und Kunst. Manchmal krass und deutlich, machmal unterschwellig und höchst subtil verbinden sie die Naturmetaphern mit Erkenntnisinteressen, die weit über das Feld der Kunst hinausreichen. Wie Paik sind alle am Projekt NATURE ON | OFF Beteiligten von den medientechnischen Möglichkeiten und der heutigen Geschwindigkeit im Austausch von Bildern und Informationen begeistert. Noch vor wenigen Jahren hätte NATURE ON | OFF ein virtuelles Übungsmodell bleiben müssen. Da die Künstlerinnen und Künstler uns dank des Internets und seiner elektronischen Dienste viele der Videos als digitale Files senden konnten und wir mit ihnen rund um die Uhr in der ganzen Welt kommunizieren konnten, um alle anstehenden Fragen zu klären, konnte die Ausstellung im realen Raum der Universität realisiert werden. Im Zusammenhang mit den Debatten um das Urheberrecht und die Datensicherheit kann das uns von den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern entgegengebrachte Vertrauen, mit dem sie ihre Werke für die Ausstellung zur Verfügung gestellt haben, gar nicht hoch genug gewürdigt werden. Da sie häufig an ganz bestimmte und bei Tamás Waliczkys Installation sogar schon als historisch zu bezeichnende technische Apparate gebunden sind, war kaum vorherzusehen, dass die Videos und Videoinstallationen tatsächlich bis auf einzelne Ausnahmen in ihren spezifischen Präsentationsformen wie von den Künstlerinnen und Künstlern konzipiert gezeigt und rezipiert werden können. Zu unserem Bedauern war es nicht möglich, alle angefragten, gesichteten und diskutierten Videoarbeiten zu zeigen. Die Wertschätzung jeder einzelnen künstlerischen Leistung und des uns in jedem Fall signalisierten Interesses am Projekt nature on/off möchten wir durch die gemeinsame Nennung aller Namen am Anfang dieser Publikation zum Ausdruck bringen. Situationsbedingt werden nach nur zwei Ausstellungstagen die digitalen Datenfiles gelöscht, werden Blu-ray Discs und DVDs aus den Abspielgeräten entfernt, die Beamer, Monitore und Flatscreens ausgeschaltet – in Windeseile ist NATURE ON | OFF Geschichte.

Helen Koriath

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FRANCIS ALŸS geboren 1959 in Antwerpen (B) I

lebt und arbeitet in Mexiko-Stadt

Mit einer Gruppe fröhlicher Kinder, die in der venezolanischen Natur auf der Suche nach Heuschrecken sind, streift der Zuschauer durch hohes Gras. Wie aus der Perspektive der Kinder fokussiert die Kamera in Nahaufnahmen die Beute, auf die die Kinder aus sind: die Saltamontes, die großen grünen, sich im Schutz des Grases aufhaltenden Heuschrecken. Im nächsten Moment schiebt sich eine kleine Hand vor die Linse und schnappt zu. Die Heuschrecke zappelt, aber ihre Versuche sich zu befreien sind erfolglos. Glücklich über den Fang, ohne Zögern und mit ausgelassener Begeisterung reißen die Kinder den Heuschrecken die Beine aus und werfen sie in hohem Bogen in die Luft. Lachend rennen sie ihnen hinterher und sammeln sie wieder auf, sobald sie zu Boden gestürzt sind. Das Lachen der Kinder und ihre Jubelschreie im gemeinsamen Spiel sind für den europäischen Zuschauer nur schwer mit dem deutlich hörbaren Knacken der brechenden Heuschreckenbeinchen zu vereinbaren. Die von der Kamera aus nächster Nähe eingefangenen Szenen wirken fremd und je länger man diesem Kinderspiel folgt, umso größer wird die Distanz zur romantischen Vorstellung spielender Kinder in der Natur. Alÿs dokumentiert in seiner Serie Children’s Game, die seit 1999 entsteht und bisher 15 Werke umfasst, undramatisch und doch hoch emotional, wie sich Kinder unter den unterschiedlichsten Lebensbedingungen in Ländern wie Lateinamerika, Afghanistan oder Frankreich vergnügen, welche erfinderischen, in unseren Augen erschreckend fremden Spiele sie spielen und welche Orte sie zu Spielplätzen machen. Der Zuschauer von Children’s Game #9 teilt mittels der lebhaften und bewegten Kameraführung zunächst die Freude und Begeisterung der Kinder beim Spielen, bis er unerwartet mit einem ihm fremden kindlichen Verhalten in der Natur konfrontiert wird. Für die Kinder in Venezuela aber sind Heuschrecken etwas Alltägliches und sogar ein Lebensmittel, das sie auf dem Markt kaufen können. Der Künstler zeigt in seinem Video unbefangene und unbekümmerte, gleichwohl von der Kultur in ihrer Umgebung geprägte Handlungen von Kindern in einer natürlichen Umgebung, in der Nähe eines Flusses – aus unserer Perspektive einem Kinderparadies oder auch Abenteuerspielplatz, an dem wir Tierquälereien nicht vermuten würden. Vielleicht erinnern sie uns aber auch an den eigenen, nicht immer adäquaten Umgang mit Insekten und anderen Tieren in der Natur und im Rückblick auf unsere Kindheit an eigene, auch nicht immer gewaltfreie Spiele.

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Children’s Game #9: Saltamontes I 2011 06:07 min, Farbe, Ton (in Zusammenarbeit mit Félix Blume)

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ULU BRAUN geboren 1976 in Schongau I

lebt und arbeitet in Berlin

Auch für The Park verwendet Ulu Braun das schon in anderen Arbeiten eingesetzte, und seine künstlerische Arbeit charakterisierende Prinzip der Collage. Langsam ziehen ineinander und übereinander gelegte Szenen aus unterschiedlichen Kontexten am Zuschauer vorbei. Von erhöhtem Standpunkt blickt er weit über das kontinuierlich wechselnde, sich bis zum Horizont erstreckenden Panorama aus zusammengefügten Stadtlandschaften mit ihren austauschbaren Skylines hinweg, über denen sich ein blauer Himmel erhebt. Nur hier und da wird das Blau von aufsteigendem Rauch als Zeichen für Industrieansiedlungen und einmal von einem riesigen, sich drehenden Werbeschild auf einem Hochhaus gestört. Die größte Aufmerksamkeit ziehen die zahlreichen sich davor abspielenden Szenen auf sich. Zu Beginn teilen wir die Aussicht mit einer männlichen Gestalt und blicken auf eine gigantische Baugrube, in der die Baumaschinen kleiner erscheinen als ein hilfloser Elefant mit seiner roten Balancierkugel am Grubenrand. Manchmal nur durch kleine Ausschnitte kenntlich gemacht, gelangen nach und nach historische Typen von Gärten und Parkanlagen in den Blick, die vom Mönchsgarten über den barocken Garten mit künstlich angelegter Grotte bis zu Freizeitparks, Spiel- und Sportstätten reichen. Der Zuschauer kann Tiere in freier Wildbahn und in Gefangenschaft, sich liebkosende Paare und turbulente Volksfeste, Biker und Obdachlose, spielende Kinder und betende Menschen beobachten. Zwar gehen sie überall den Umgebungen angemessenen Beschäftigungen nach, aber immer erscheinen auch einzelne Menschen, Tiere und Handlungen vollkommen fehl am Platz. Dieser Eindruck wird dadurch unterstützt, dass sich die zahlreichen Umgebungen und Aktionen nicht separieren lassen. Das wiederum führt zu einer Überforderung der Zuschauer, denn es ist ihm kaum möglich, alle Einzelheiten und Zusammenhänge zu erfassen. Es entsteht ein visuelles Chaos, eine mediale surrealistischen Collage, die in krasser Weise vor Augen führt, wie der Mensch sich seine Umwelt den Bedürfnissen entsprechend schafft und sich immer weiter von einer natürlichen Umgebung entfernt, sie benutzt und brutal unterwirft. Was die Bilder begleitend zu hören ist, lässt sich bestimmten Tonquellen – Baggern, Motoren, jubelnden Menschen - und einzelnen Szenen zuordnen. Sie werden aus dem Chaos hervorgehoben und helfen die Aufmerksamkeit bis zu einem gewissen Grad zu lenken. Insgesamt ist das Video, das als Loop konzipiert ist und so vielfältige wie gegensätzliche, sowohl erheiternde, verstörende als auch nachdenklich stimmende Eindrücke vereint, als eine Parabel des Lebens in der Absurdität unserer heutigen Welt zu verstehen. Durch die Wahl des erhöhten Betrachterstandpunkts wird das Video einem Schauspiel ähnlich wahrgenommen. Eine gewisse Distanz zum Geschehen bleibt gewahrt, obwohl man sich aufgrund der Größe der Projektion und der eindringlichen Bilder seinem Sog nicht entziehen kann.

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The Park I 2011 1-Kanal-Video-Installation, 5:30 min loop, Full HD (1920 x1080), Stereo

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FLATFORM gegründet 2007 (I) I

die Künstlergruppe lebt und arbeitet in Mailand und Berlin

Can not be anything against the wind beginnt mit Aufnahmen von einer hügeligen Agrarlandschaft. Zu sehen sind bestellte Felder, abgemähte Wiesen, Bäume, Sträucher, darüber der Himmel. Da sich diese Landschaft durch keine Besonderheiten auszeichnet, stellt sich der Zuschauer die Frage, was die Videokünstler an dieser Landschaft fasziniert haben könnte. Doch schon nach wenigen Sekunden wird er von seinen Gedanken abgelenkt, denn es passiert etwas. Unerwartet kommt Dynamik in die sensationslose Landschaft. Als wäre sie ein nach den Prinzipien der Landschaftsmalerei konstruiertes, horizontal gegliedertes Bild mit Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund und Himmel, beginnen sich einzelne Ebenen voneinander zu lösen und sich in jeweils eigenem Tempo nach rechts oder links zu bewegen. Bäume und Sträucher ziehen nah an der Kamera nach links vorbei und verdecken die Sicht wie beim Blick aus einem fahrenden Zug. Dahinter schieben sich Felder langsam nach rechts, weiter dahinter bewegt sich ein Baum in die Gegenrichtung, ein Sonnenblumenfeld erscheint im Vordergrund, ein Gleitschirmflieger schwebt vorbei und Traktoren tauchen auf den Feldern auf. Die Farbe des Himmels wechselt von strahlendem Blau bis zu dunklem Grau und verweist auf verschiedene Tageszeiten und Wetterlagen, die aber keinen Einfluss auf das wundersame Eigenleben der Landschaft ausüben. Alles in dieser Landschaft scheint den Konzepten der Künstler folgend konstruierbar. Alle Elemente sind austauschbar und veränderbar wie Kulissen im Theater. Begleitet und unterstützt wird das kontinuierliche Gegeneinander der Landschaftselemente von Tonaufnahmen, die während einer Fahrt durch die Landschaft entstanden sein können. Manchmal ist Vogelgezwitscher ist zu hören, manchmal wechseln sich Windgeräusche mit nahezu lautlosen Passagen ab. Fährt die Kamera dicht an Bäumen und Gebüsch vorbei, kann man Geräusche wahrnehmen, die von der Berührung der Blätter mit der Kamera herrühren könnten. Herrscht eine Sekunde lang Stillstand, ist nichts zu hören. Hellt sich der Himmel auf, zwitschern die Vögel und brummen die Traktormotoren. Dann wieder ist der Wind als lautes Rauschen zu hören, der die Blumen und Büsche zu bewegen scheint. Im Zusammenhang mit dem Bildverfahren ist der Wind von besonderer Bedeutung. Die Windgeräusche, die auf den Titel der Videoarbeit verweisen, tragen in besonderem Maße zu der Assoziation bei, dass die Kraft des Windes ursächlich etwas mit dem Hin- und Herschieben der Landschaftskulissen zu tun haben könnte. Verdunkelt sich die Landschaft, schwillt die Geräuschkulisse an. Am Ende ändert sich zum ersten und einzigen Mal die Kameraeinstellung und das Video nimmt eine nahezu poetische Wende. Die Kamera löst sich von der Landschaft, schwenkt in den Himmel und folgt einem Flugzeug. Mit raffinierten technischen Möglichkeiten, durch Verschiebungen des Standorts, der Kamera und der Zeitpunkte der Aufnahmen, führen die Künstler modellhaft vor Augen, dass es das einzig gültige Bild der Landschaft nicht gibt, sondern immer nur eine Vielzahl möglicher Bilder.

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Cannot be anything against the wind I 2010 06:20 min, Full HD, Farbe, Stereo

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ANTON GINZBURG geboren 1974 in Sankt Petersburg (RUS) I

lebt und arbeitet in New York

Für das Video Sweep hat Anton Ginzburg eine einzige Kameraeinstellung gewählt. Die Kamera ist auf den kleinen Ausschnitt eines Platzes vor einer islamischen Moschee gerichtet, von der nur ein kleiner Teil der Fassade zu sehen ist. Die drei Eingangsportale sind verschlossen. Davor ragt aus einem kleinen, rechteckig eingefassten Flecken Erde inmitten des gepflasterten, etwas tiefer liegenden Platzes ein alter, knorriger Baumstamm heraus, der zum Schutz gegen die schädlichen Sonnenstrahlen unten am Fuß mit weißer Farbe angestrichen ist. In dieser Kameraeinstellung erscheint der Stamm mit seiner schrundigen und an einigen Stellen verletzten Rinde wie auf einer Bühne inszeniert. Die beiden flachen Treppenstufen, die zur Moschee hinaufführen, werden zu Rängen und die Fassade mit den überwiegend geometrischen Kachelmosaiken in kräftigem Blau, Grün und Ocker erscheint als dekorative Kulisse. Nichts bewegt sich, nur Vogelgezwitscher ist zu hören, in das sich allmählich leise das Geräusch eines Besens mischt, der über den Steinboden fegt. Es herrscht eine friedliche Stimmung. Eine alte Frau kommt langsam von links ins Bild. Mit einem Reisigbesen fegt sie sorgfältig Staub, ein paar Blätter und ein wenig Erde rund um den Baum zusammen und verlässt nach getaner Arbeit den Platz. Erneut kehrt Ruhe ein. Das Video ist zu Ende. Ginzburg zeigt in diesem fünfminütigen Video die kleine Alltagsepisode, in der eine Frau ihrer Arbeit nachgeht und dafür sorgt, dass der Platz vor der Moschee sauber und gepflegt aussieht. Da sonst nichts geschieht, erfährt diese einfache Handlung größte Aufmerksamkeit. Der Zuschauer wird durch nichts abgelenkt und hat die Möglichkeit, sich vollkommen auf das Geschehen und den Ort des Geschehens zu konzentrieren. Er hat auch die nötige Zeit, alles was er hört und sieht, intensiv aufzunehmen. Dieses in aller Ruhe und im immer gleichen Rhythmus ausgeführte Ritual des Fegens und das begleitende sonore Geräusch lassen den Zuschauer zur Ruhe kommen. Dazu trägt auch das gesamte wie von einem Regisseur konzipierte Szenario bei. Alles erscheint bis ins Detail sensibel aufeinander abgestimmt. Selbst die Kleidung der muslimischen Frau, ihr langer Rock, die Jacke und das Kopftuch scheinen in ihren Mustern und Farben auf das Dekor der Fassade abgestimmt. Ihre hellgrünen Plastikschlappen fallen zwar auf, aber auch dieses Grün findet sich im Kachelmosaik wieder. Gleichzeitig stellen sie einen Bezug zur Gegenwart und zur Realität des Zuschauers her. Alles andere vermittelt dem westlichen Zuschauer den Eindruck, als sei die Zeit stehengeblieben und man blicke in die Vergangenheit zurück. Die sakrale Architektur mit ihrer zwar noch in ihrer Schönheit erhaltenen, aber an einigen Stellen bröckelnden Fassade, das Steinpflaster, die fegende Frau und der majestätische Baumstamm zeigen deutliche Spuren des Alters; als hätten sie eine gemeinsame Geschichte, die den Gleichklang der Farben bestimmt. Wie die Fassade der Moschee steht der knorrige Baumstamm trotz seiner Verletzungen noch immer fest und aufrecht, obwohl er mit wenig Erde auskommen muss. Ein paar grüne Blätter seiner Krone, die bisweilen vom Wind ins Bild geweht werden zeigen, dass noch Lebenskraft in ihm steckt. Um ihn auch für die Zukunft zu erhalten und drohenden Gefahren vorzubeugen, ist der weiße Anstrich wie eine schützende und heilende Manschette um ihn herumgelegt. Auf dem staubigen Platz und vor der Fassade mit ihrer marmorverkleideten Sockelzone hebt das Weiß die Präsenz des uralten Baumstamms hervor. Der in das Alltagsritual der Säuberung und Pflege einbezogene Baum wird als Zeichen des Lebens und Überlebens auch unter widrigen Bedingungen lesbar. Natur, Kultur, Religion und Rituale sind die Stoffe für dieses in seiner Einfachheit und inhaltlichen Komplexität berührende Video. Es reiht sich in die Arbeiten Ginzburgs ein, die ihn als sensiblen Entdecker, Forscher, Geographen, Archäologen, Anthropologen und Historiker auf der Suche nach verschütteten Spuren und Erkenntnissen aus der Vergangenheit als Wurzeln unserer Zivilisation auszeichnen.

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Sweep I 2012 05:00 min, HD, Farbe, Ton

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NIKLAS GOLDBACH geboren 1973 in Witten I

lebt und arbeitet in Berlin

Auf den ersten Blick könnte man dieses Video wegen der festen Kameraeinstellung auch für eine Farbfotografie halten, die dem klassischen Bildaufbau eines romantischen Landschaftsgemäldes folgt. Das Auge des Betrachters kann von einem erhöhten Standpunkt aus über eine erhaben wirkende Landschaft schweifen, die, schaut man genauer hin, sich als das riesige Gelände eines Braunkohle-Tagebaus zu erkennen gibt, das nur im Anschnitt zu sehen ist und endlos erscheint. Rosa- blaues Licht der aufgehenden Sonne hüllt die bizarre Industrielandschaft ein. So entsteht eine romantisch gefärbte Stimmung, die in dieser Landschaft nicht angemessen ist und auch nicht zu der Szene im Vordergrund zu passen scheint. Dort, unmittelbar am Rand der Braunkohlegrube, sitzt ein in der „Uniform des urbanen Archetyps“ (Niklas Goldbach) gekleideter Mann. Er befindet sich in einer misslichen Situation, denn er sitzt auf dem Boden, mit den Händen auf dem Rücken an einen in die Erde gerammten Metallpflock gefesselt. Die aufgrund der Lichtverhältnisse Ruhe und Friedlichkeit ausstrahlende Atmosphäre scheint durch den Anblick der gefesselten Männergestalt gestört zu werden, da sie aber fast vier Stunden lang keinen ernsthaften Versuch unternimmt, sich zu befreien, wird deutlich, dass der erste Eindruck täuscht. Der Gefesselte verändert im Laufe des fast vierstündigen Videos mitunter lediglich seine offenbar unbequeme Position. Er wirkt ratlos, nicht handlungswillig in dieser Situation und ihr resignierend ergeben. Sein Blick ist mal auf seine Umgebung, mal nach unten auf den Boden gerichtet; manchmal scheint er sogar entspannt die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht zu genießen. Im Blick auf die unwirtliche Umgebung erscheint der berühmte biblische Auftrag: „Macht euch die Erde untertan“ auf brutale Weise erfüllt. Hier macht sich Goldbachs kritische Sicht auf das gespannte Verhältnis zwischen modernem Menschen und der Natur bemerkbar, denn insbesondere seit der industriellen Revolution zerstört der Mensch sehenden Auges die Natur und damit nachhaltig seine eigene Lebensgrundlage. Mit der Fesselung des Mannes an den Metallpflock, der auch ein Hinweis auf die Montanindustrie sein kann, greift Goldbach auf Darstellungen des Heiligen Sebastian zurück, der während seines Martyriums an einen Pfahl gebunden von Pfeilen seiner Peiniger durchbohrt wurde, weil er sich offen zum Christentum bekannte. Dafür bezahlte er mit seinem Leben. Die Lage, in der sich Goldbachs Protagonist als Stellvertreter des heutigen Menschen befindet, scheint weniger dramatisch. Er erträgt sein Schicksal geduldig, denn es scheint keine Möglichkeit zu geben, die Fesseln zu lösen, die ihn mit der zerstörten Landschaft verbinden. Er muss erkennen, dass sich seine Spezies die Natur auf eine Art und Weise zu eigen macht, die ein Leben im Einklang mit ihr kaum mehr zulässt. Doch vielleicht gibt es Hoffnung, denn tief unten auf dem rauen Grund des Tagebaugeländes erscheint ein grüner Hauch und um den Metallpflock herum gedeihen wieder die ersten Gräser - Zeichen dafür, dass sich die Natur ihren Raum zurückerobert und die Industrielandschaft wieder in eine grüne Kulturlandschaft transformiert.

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The Nature Of Things No. 2 I 2014, 1-Kanal-Video Installation, 226 min loop, Full HD, Stereo

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FLORIAN GWINNER geboren 1977 in Starnberg I lebt und arbeitet in Berlin Mit Decoration zeigt Florian Gwinner eine faszinierende und zugleich nachdenklich stimmende Reise durch die „Evolution der konstruierten Welt“, wie er sagt. Unter musikalischer Berieselung zieht zunächst ein bunt zusammengewürfeltes, in seiner Kombination aus Behältnissen, Trödelwaren und Dekorationsobjekten nicht lieblos, gleichwohl kitschig wirkendes, stillebenartiges Arrangement, wie es sich in vielen privaten Haushalten finden ließe, langsam am Zuschauer vorbei. Zwischen die mit Naturdekoren versehenen Dosen und Teller sind billige Plastikblumentöpfe mit saisonalen Pflanzen, symbolträchtige Skulpturen wie ein Keramiklöwe, eine kleine asiatische Gottheit und eine weiße Taube sowie ein Fotoapparat gesetzt. Echt oder original erscheint hier nichts, auch nicht die Blumen, die wie alles andere den Stellenwert von Massenware erhalten. Auffallend ist der in diesem häuslichen Arrangement deutlich werdende Hang zum Natur- und Kunstersatz, der in der Verwendung von Pflanzen- und Fruchtdekoren auf Dosen und Geschirr, den Tierfiguren sowie in den miniaturisierten Nachahmungen der Bildhauerkunst zum Ausdruck kommt. Mit der Kamerafahrt verändert sich das Arrangement. An die Stelle der Blumentöpfe rücken kleine, frisch angelegte Pflanzenbeete mit pflegeleichten immergrünen Büschen und blühenden Sträuchern, bis sie von Gräsern und Farnen abgelöst werden. Begleitend geht der Ton allmählich von der Musikberieselung zu natürlichen Geräuschen über. Als schließlich die Farbe der Pflanzen unerwartet von Grün zu Weiß wechselt und bald darauf die Pflanzen durch Imitate aus Papier ersetzt werden, werden erste elektronisch verzerrte Naturgeräusche hörbar, aus denen sich unangenehm kreischende Elektrosounds entwickeln. Wider Erwarten haben die farblosen künstlichen Blumen und Gräser eine faszinierende Wirkung auf den Betrachter. Die kunsthandwerkliche Nachahmung der Natur gewinnt an ästhetischem Wert und Reiz und bannt die Aufmerksamkeit der Zuschauer weit mehr als die echten Pflanzen. Der Klang hingegen wird als störend, beinahe bedrohlich empfunden und ist anders als zuvor nicht auf den ersten Blick mit den Bildern in Einklang zu bringen – nach kurzer Zeit aber schon, denn er erinnert an Geräusche in Science-Fiction-Filmen, mit denen die Dramatik bedrohlicher Bildsequenzen unterstrichen wird. Nach und nach werden auch die organischen Formen der nachgemachten Natur dekonstruiert und auf ihr Ausgangsmaterial zurückgeführt. Aus Papierschnipseln werden auf ein einheitliches Maß zugeschnittene, aufeinandergestapelte Bögen. Von hier aus fährt die Kamera weiter zu einer Ansammlung von Kabeln und allerlei veralteten technischen Apparaten für die Aufnahme, Wiedergabe und Bearbeitung von Bild und Ton, den Basiswerkzeugen der Videokunst, die im Kern aus wertvollen seltenen Erden bestehen. Während die auf diese Bilder abgestimmten technischen Geräusche von Maschinen und Geräten langsam in den Hintergrund treten und sich wieder zur anfänglichen Unterhaltungsmelodie des Videos zurückentwickeln, bewegt sich die Kamera unaufhaltsam weiter. Die Fahrt beginnt von neuem und der Fotoapparat taucht wieder auf. Nun, im Kontext des gesamten Videos, kann er als Erinnerung an die Geschichte der Fotografie und so auch der so genannten neuen Medien verstanden werden. Fox Talbot lieferte mit seiner Schrift „Pencil of Nature“ neue Ansätze für die fotografische Theorie und Ästhetik, indem er davon ausging, dass fotografische Bilder nicht mehr von Künstlern, sondern von der Natur selbst geschaffen würden.

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Decoration I 2008 05:22 min, DigiBeta, Farbe, Stereo

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SIMONE HÄCKEL geboren 1974 in Hannover I

lebt und arbeitet in Berlin

Nah an der Videokamera vorbei reitet eine junge Frau auf einem Schimmel in einen von Büschen umstandenen Park oder Garten ein, der nur als kleiner Ausschnitt gezeigt wird. In seiner Mitte ist ein rechteckiges Blumenbeet angelegt, das ein niedriges weißes Plastikzäunchen umgibt. In ihrem langen fliederfarbenen Rüschenkleid und den violetten Pumps erscheint die junge Frau ganz und gar nicht dem Reiten angemessen gekleidet. Sie entspricht in ihrem Äußeren eher dem Bild einer Märchenprinzessin, die auf dem Rücken ihres Schimmels ihre schönsten Glücksmomente erlebt. Zunächst führt sie das Pferd ruhig ein paar Runden um das kleine bunte Beet herum, ehe sie es durch eine Lücke im Zaun wie in einen Reitparcours hineinführt. Dem Können eines Dressurpferds entsprechend führt der Schimmel auf kleinstem Raum Volten, Piaffen und Pirouetten vor. Darauf bedacht, dass er die Umrandung nicht niedertritt und den viel zu kleinen Parcours nicht verlässt, nimmt die Reiterin gelassen und wie selbstverständlich hin, dass die Hufe des Pferdes den lockeren Boden aufwühlen und die offensichtlich gerade erst hineingesetzten blühenden Blumen zertrampeln. Entspannt sitzt sie auf dem Rücken des Pferdes, das mit seinen passend zu Kleid und Schuhen der Reiterin lila gefärbten Hufen allmählich das Beet zerstört und auch dem Zaun nicht mehr ausweichen kann. Als wäre nichts geschehen, führt die Reiterin den Schimmel schließlich aus dem Parcours heraus und reitet unbeeindruckt von dem, was sie mit ihrem Pferd angerichtet hat, davon. Zurück bleibt ein Bild der Verwüstung. Aber zur Überraschung des Zuschauers erscheint es wie durch ein Wunder in Sekundenschnelle wieder in seiner anfänglichen Pracht vor der Kamera. Die Ordnung ist wiederhergestellt, der Zaun wieder aufgerichtet, der Boden geglättet und jede Blume wieder an ihrem Platz. Alles entspricht wieder dem billigen Klischee des perfekten Gartens, zu dem auch das Bild der Prinzessin in ihrem Rüschenkleid passt, die soeben auf dem Schimmel mit seinen lilafarbenen Hufen die Szene verlassen hat. „Unverblümt“ setzt Simone Häckel in ihrem so betitelten Video Prinzessin, Schimmel und umzäunten Garten, die zentralen Motive von Märchen, Kitschromanen und Mädchenfantasien in Szene; aber nicht, um die damit verbundenen Klischeevorstellungen zu bedienen, sondern um sie zu konterkarieren. Ihre Märchenprinzessin trägt kein wirklich schönes, wertvolles Traumkleid aus Seide, sondern nur ein billiges Kunstfaserfähnchen, das gar nicht zur Erscheinung und zum Verhalten der jungen Frau passt. Der verwunschene Garten, dessen Zaun der ersehnte Prinz unter Einsatz von Mut und Tapferkeit überwinden muss, ist auf niedliche Dimensionen der Garten- und Baumarktprodukt geschrumpft. Prinzessin, Schimmel und Garten werden mit unverhohlener Freude zu Karikaturen. Unverblümt trampelt die Reiterin, die sich selbst noch nicht ganz frei von Klischeevorstellungen gemacht hat und sie weiterträgt, auf den Klischees herum, um sie zu zerstören und aus der Welt zu schaffen. Aber das gelingt ihr nur zum Teil und nicht nachhaltig. Denn sobald sie als Akteurin nicht mehr präsent ist, stellt sich die alte Ordnung wieder her. Simone Häckel beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit Sehnsüchten, die sich in kleinen Dingen und Geschichten des Alltags äußern und von der Konsumindustrie, hier am Beispiel der Kleidungs- und Dekoartikelbranche befördert werden. Mit ihrer absurden Schimmelreiterin und ihrer Dressur auf dafür vollkommen ungeeignetem Terrain führt sie vor Augen, wie Mensch, Tier und Natur unter dem Druck, ins Bild zu passen der Lächerlichkeit preisgegeben sind.

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Unverblümt I 2006 02:31 min, Farbe, Ton

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DELPHINE HALLIS geboren 1973 in Pompaples (CH), lebt und arbeitet in Paris Den Titel für ihr Film-Essay hat die Künstlerin dem Gedicht „All watched Over By Machines Of Loving Grace“ des Amerikaners Richard Brautigan, eines Vertreters der kalifornischen Untergrund-Literatur, entnommen. Das 1967 (sic) während eines Stipendienaufenthalts am California Institute of Technology geschriebene Gedicht ist für Hallis mehr als eine Inspirationsquelle, denn es bildet die wesentliche Grundlage für die im Video stattfindende Auseinandersetzung mit dem Einfluss von Computern auf unser Denken und Handeln, auf unsere Wünsche und Vorstellungen. Die Originalaufzeichnung einer Lesung des Gedichts von Brautigan liefert außerdem den Ansatz für die Tongestaltung. Zunächst ist das mit eindringlicher Stimme gesprochene Gedicht in voller Länge zu hören. Danach wird es über die gesamte Dauer des Videos hinweg in einzelne Zeilen und Wörter zerlegt und synchron zu den Bildern und Bildstörungen eingesetzt, so dass eine Symbiose aus Bild und Sprache, Bild- und Tongestaltung entsteht. Sprache, Pausen, Wiederholungen und elektronische Tonverzerrungen finden in den Bildern und Bildmanipulationen ihre jeweiligen Entsprechungen. Brautigans Gedicht ist eine Vision. Er stellt sich die Welt als kybernetisches System vor, in dem Natur und Technik in Harmonie existieren, der Mensch von der Last der Arbeit befreit ist und wieder zu einem der Natur enger verbundenen Leben zurückkehren kann, das von „Maschinen liebender Gnade“ bewacht wird. Der dramatische, poetisch-beschwörende Tonfall des Vortrags und die überzeichnet freundlichen Bilder friedlichen Miteinanders im Text des Gedichtes erscheinen wie ein Appell, über existenzielle Fragen, die Zukunft und die Entwicklung neuer Technologie gleichermaßen ernsthaft und mit Fantasie nachzudenken. Die Videokünstlerin reagiert darauf vierzig Jahre später mit den ihr zur Verfügung stehenden technischen Mitteln und trifft in ihrer Bild- und Tongestaltung denselben Nerv wie Brautigan. In der Bildgestaltung geht sie von Tieren aus, die in Zoologischen Gärten gefilmt wurden. Der Mensch ist unsichtbar, er ist hinter der Technik und den Computern zurückgetreten. Die Aufnahmen der Tiere, einzelne Körperformen und Fellmuster werden mittels elektronischer Verzerrungen abstrahiert, bis sie sich in Licht und Farbe auflösen, um schließlich zu graphischen Elementen wie Linien, Raster, Kurven und Diagrammen zu werden. Die Streifen eines Zebrafells beispielsweise zerlaufen und verschieben sich scheinbar systematisch und werden schließlich zu barcodeähnlichen Strukturen. Umgekehrt werden aus Lichtstreifen und Farbfeldern Bilder von Tieren. Aus einer roten Lichtlinie entsteht zum Beispiel das Bild des Halses eines rosaroten Flamingos. Für den Ton des Videos wendet Hallis dasselbe Verfremdungsprinzip an. Die Tonaufnahmen von Tieren in der künstlichen Umgebung Zoologischer Gärten interagieren darüber hinaus mit der bearbeiteten Stimme Brautigans. Elektronisch erzeugte und mit der Videokamera aufgenommene Bilder und Töne zusammen erzeugen eine neue fantastische Welt, die Brautigans utopisches Gedicht in faszinierender Weise visualisiert und seine Vorstellungen aus den sechziger Jahren mit den technischen Mitteln des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts aktualisiert.

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I like to think (right now please!) I 2004 Film-Essay, 08:00 min, DVCAM, PAL, 4:3, Stereo Gedicht “All Watched over by Machines of Loving Grace”, gelesen von Richard Brautigan, alle Rechte vorbehalten.

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DAGMAR KELLER geboren 1972 in Donaueschingen I lebt und arbeitet in Düsseldorf UND MARTIN WITTWER geboren 1996 in Lausanne (CH) I lebt und arbeitet in Düsseldorf Langsam gleitet die Kamera an einer Neubausiedlung mit gepflegten Eigenheimen entlang. Möglicherweise ist es früher Morgen, denn alles scheint noch zu schlafen. Kein Mensch ist zu sehen, nichts bewegt sich. Immer auf derselben Höhe wird der Blick an Fassaden und Gärten vorbei gelenkt. Mal schaut man weit in einen Garten hinein, mal versperrt eine Hecke oder Mauer die Sicht. Obwohl in diesem Wohnviertel unterschiedliche Haustypen zu finden sind, wirken sie doch vereinheitlicht durch den heute so beliebten Gebrauch einzelner, der einstigen Herrschaftsarchitektur entliehener Elemente. Dasselbe gilt für die Gestaltung der Gärten, die mal mehr, mal weniger auf den Stil der Häuser abgestimmt sind und sich hauptsächlich an der Kultur der formalen Gärten, aber auch an anderen Gartentypen orientieren. Auch sie tragen nicht dazu bei, dem Wohnumfeld der Bewohner Individualität zu verleihen, das eine Grundstück von dem anderen abzuheben. Fertigbauweise und Massenproduktion mit ihrer Glätte und Gleichförmigkeit entsprechen ganz und gar nicht dem Bild vom idyllischen Wohnen vor der Stadt und im Grünen, sondern erzeugen das Gefühl der Langeweile und Monotonie. Die Siedlung scheint wie in einer Momentaufnahme erstarrt oder eher noch in einen unerklärlich tiefen Schlaf gefallen, wie wir ihn aus Märchen kennen. Selbst der Hund, das einzige Lebewesen, das zu sehen ist und die Fontäne des Springbrunnens im Garten erscheinen wie stillgestellt, eingefroren – als klassische Accessoires im Traum vom Wohnen in Pose gebracht. In der Umgebung dieser Schlafstadt wirken sie nahezu gespenstisch, wie auch mit dem Fortlauf des Videos die gesamte Szenerie immer weniger den Eindruck einer „netten“ Wohngegend macht. Immer deutlicher entsteht das Bild vom stereotypen und genormten Leben, das dem Menschen keine Spielräume lässt, seine Individualität auszuleben, lebt er auch noch so wohlsituiert und komfortabel. Der Zuschauer nimmt zwar gern das freundliche Angebot wahr, in den im Raum bereitgestellten Sitzschalen vor der wandgroßen Projektion Platz zu nehmen, aber gemütlicher wird es ihm dadurch nicht gemacht. Das verhindert auch die von Michaela Grobelny alias M.I.A. eigens für die Videoarbeit geschaffene Musikkomposition, die genau denselben Nerv wie die Bilder trifft. Anfangs swingt der Besucher der Installation vielleicht noch mit dem Sound mit, aber schon nach kurzer Zeit ist das nicht mehr möglich; die elektronischen Töne greifen hart und laut ein und ersticken das Gefühl im Keim, eine Idylle zu betrachten.

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Say Hello to Peace and Tranquility I 2001 1-Kanal-Videoinstallation mit Musik, 23 min loop, Farbe, BetaSP auf DVD / Musik komponiert von Michaela Grobelny alias M.I.A.

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MANDY KREBS geboren 1987 in Magdeburg I

lebt und arbeitet in Berlin

In gleichmäßig langsamer Fahrt gleitet die Kamera fast eine halbe Stunde lang an unzähligen, immer gleichen Pflanzenreihen vorbei und vermittelt den Eindruck eines endlosen Gewächshauses, in dem Pflanzen vor den Klimaeinflüssen geschützt gedeihen können. In seinem strahlenden Weiß erscheint das Gewächshaus weniger als ein Ort für natürliche Gewächse als für industrielle Produkte, die am Fließband entstehen. Alles ist sauber, nur abgefallene oder abgeschnittene Blätter bedecken den Boden. Nirgendwo ist Erde zu sehen, denn den heutigen Bedürfnissen des industriellen Gemüseanbaus entsprechend wachsen die Pflanzen in weiß ummantelten Substraten und berühren nicht einmal mehr den Hallenboden. In dem künstlichen, unter Laborbedingungen geschaffenen Ökosystem werden Wachstum und Qualität gleichermaßen maschinell gesteuert und kontrolliert. Ähnlich wie bei der Versorgung von Patienten auf der Intensivstation eines Krankenhauses werden den Pflanzen Wasser und Nährstoffe im benötigten Maß über Schläuche und Sonden zugeführt. Wie dort und in chemischen Laboren wird alles lückenlos kontrolliert, angepasst, gemessen und errechnet, damit die Pflanzen in kürzester Zeit den größtmöglichen Ertrag erzielen. Anders als in der traditionellen Landwirtschaft übernehmen vollautomatische Maschinen die Arbeit von Menschen. Nur selten ist ein Arbeiter bei seiner Routinearbeit in diesem vollkommen kalten, abweisenden und ereignislosen Ambiente zu sehen. Die von der Künstlerin gefilmten Pflanzen sind Paprikapflanzen. Ihre Früchte sind für den Großmarkt bestimmt, von wo aus sie weiter verteilt werden. Es muss gewährleistet sein, dass sie mehrere lange Transportwege überstehen und in möglichst perfektem Zustand beim Verbraucher ankommen damit sie gekauft werden. Die jeden Zufall ausschaltende weitgehend automatisierte Anbauweise garantiert nicht nur optimale Wachstumsbedingungen, sondern auch die den Vorstellungen der Konsumenten entsprechenden Formen, Farben, materiellen und geschmacklichen Eigenschaften der Ware. Gewächshäuser wie das im Video H.1 gezeigte stehen zum Beispiel in den Niederlanden und in Spanien. Von dort wird das produzierte Gemüse in die ganze Welt exportiert. Am Anfang des Videos, wenn die ersten Reihen der unter nahezu klinischen Bedingungen wachsenden Zuchtpflanzen vorbeiziehen, wartet der Zuschauer noch darauf, dass sich das ihm bietende immer gleiche Bild verändert, doch nach einer Weile wird er sich bewusst, dass diese Erwartung nicht erfüllt wird. So äußert die Künstlerin in ihrem Video subtile Kritik, die dazu anregen kann, dass der Betrachter die eigenen Verhaltensweisen überdenkt.

H.1 I 2011 27:00 min, HD, Farbe, Mono

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MELANIE MANCHOT geboren 1966 in Witten I

lebt und arbeitet in London

Aus der Ferne ist die Kamera auf eine kleine Szene in einem Park gerichtet. Beobachtet wird ein Mann bei dem Versuch auf einem Seil zu balancieren. Er trägt einfache, legere Kleidung, ein weißes T-Shirt und eine rote Hose und hebt sich so vom umgebenden dominierenden Grün ab. Das Zwitschern der Vögel und das Rauschen des Straßenverkehrs, das eher zu erahnende als zu erkennende große Gebäude hinter den Bäumen sowie der Mülleimer rechts im Kameraausschnitt verweisen auf einen öffentlichen Park inmitten der Stadt als Ort des Geschehens. Von dem gewählten Standpunkt des Betrachters aus erscheint er wie eine Bühne, die dem Artisten für seine Übungen dient. Obwohl sich die kleine Szene in der Öffentlichkeit abspielt, erscheint der Akteur völlig unbeeindruckt von möglichen Blicken der Zuschauer und vermittelt nicht den Eindruck, sich durch die Videokamera beobachtet zu fühlen. Im Gegensatz zu einem Seilkünstler, der seinen Auftritt in einem Zirkus oder auf der Straße vollführt, hascht dieser Artist nicht nach Aufmerksamkeit und Beifall. Vielmehr scheint er an diesem Ort im Grünen die notwendige Ruhe und Konzentration für seine Kunst zu finden. Wieder und wieder versucht der Mann, das zwischen zwei Baumstämme gespannte Seil zu überqueren, kann die Balance nicht halten und versucht es erneut. Der Seiltanz kann verstanden werden als eine Metapher für das Gleichgewicht von Mensch und Natur sowie von Körper und Geist, für die Fragilität des menschlichen Daseins in der modernen Welt. Wie Paul Klee sagte: „Der Seiltänzer kümmert sich gesteigert um sein Gleichgewicht. Er wägt die Schwerkraft hüben und drüben. Er ist Waage“1. Integriert in die Natur, in sich gekehrt und ohne Notiz von der Welt außerhalb der natürlichen Probebühne zu nehmen, übt der Künstler geduldig sein Kunststück, bis er beschließt, seine Übungen zu beenden und das Seil verlässt. In nahezu meditativer Ruhe löst er ein Seilende von einem der Bäume, um den er es zur Befestigung gewunden hatte, indem er den Stamm mehrfach umrundet. Auch bei dieser Handlung erscheint er so routiniert, dass der Eindruck eines wichtigen Rituals entsteht, das untrennbar mit dem Seiltanz verbunden ist, da es die Sicherheit des Artisten gewährleistet. Er muss den Seilbefestigungen, in diesem Fall dem Baumstamm, vollkommen vertrauen können. Fast zeitgleich mit dem Loslassen und Herabfallen des Seilendes ändert sich die „Bühnenbeleuchtung“. Wolken scheinen sich vor die Sonne zu schieben, und die Szene wird in Dunkel gehüllt. Das Video endet mit einem kleinen Naturschauspiel, das berührt. 1 Paul Klee: Pädagogisches Skizzenbuch, hg. von Hans M. Wingler, Mainz 1956, S.32.

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Tightrope Walker I 2006 1-Kanal-Video-Installation, 3:38 min, Farbe, Ton

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LUKAS MARXT geboren 1983 in Schladming I

lebt und arbeitet in Köln

Reign of Silence entstand im Polargebiet von Spitzbergen, das Lukas Marxt als Teilnehmer am „Arctic Circle Residency Program“ bereiste. Von erhöhtem Standpunkt aus fängt die statische Kamera den Ausschnitt einer weiten, grau schimmernden, kaum bewegten Wasseroberfläche ein, hinter der sich ein vereistes Bergmassiv erhebt, das wie eine gigantische, erstarrte Welle erscheint und den Blick in die Landschaft verstellt. Wasser und Gestein verschmelzen in ihrem Grau-Weiß zu einem Bild fremder, erhabener Natur. Wenn der Zuschauer sich nach einer Weile in der Bildsituation zurechtgefunden hat, bewegt sich von rechts kommend ein geradezu winzig erscheinendes Motorboot auf die Bildmitte zu. Fast gleichzeitig durchschneidet außer dem Geräusch des Motors eine Stimme (die des Künstlers) jäh die Stille und reißt den Zuschauer abrupt aus seiner Naturbeobachtung. Aus Richtung des Beobachters werden dem Bootsführer per Funk Anweisungen erteilt und es setzt eine Kommunikation mit dem Bootsführer ein, der um konkretere Angaben und Kurskorrekturen bittet und sich rückversichert, ob er alles richtig macht. Mit aufheulendem Motor beginnt das Boot nach den Anweisungen vom Mittelpunkt der Wasserfläche aus immer größere konzentrische Kreisbahnen zu ziehen, bis sich durch Einwirkung der Motorkraft ein riesiger, tief in die Wasseroberfläche hineingreifender Strudel bildet. Als dieser sich fast über die gesamte Breite des Bildausschnitts erstreckt, verschwindet das Boot, begleitet von dem Ausruf „Perfect, perfect“ des Beobachters, links aus dem Blick. Noch mehrere Minuten lang sind die Spuren des Strudels zu sehen. Als Spirale tänzeln sie noch eine Weile auf dem Wasser, bevor sie sich schließlich ganz verflüchtigen und Ruhe und Statik wieder die Herrschaft übernehmen. Ein wesentlicher Faktor in Marxts Arbeit ist die Wahrnehmung von Zeit und Dauer. Die flüchtige Interaktion zweier Menschen und der technische Eingriff in eine unberührt scheinende Natur hinterlassen keine Spuren. Der Betrachter wird Zeuge der unmerklich ineinandergreifenden Prozesse des Entstehens und Vergehens einer nur für Momente existierenden Skulptur bzw. eines Bildes. Marxt Verfahren erinnert an die Land-Art-Videos von Gerry Schum. Die Wahl des von der Zivilisation noch weitgehend verschonten Ortes und die Spiralform lassen an Robert Smithsons „Spiral Jetty“ denken, die riesige, aus Steinen erbaute und begehbare, in einen Salzsee ragende Spirale, die sich gegen den Uhrzeigersinn dreht – wie die von dem Motorboot erzeugte Wasserspirale in Marxts Video. Vor der imposanten Kulisse des Eisbergs erscheint der flüchtige Eingriff des Menschen in die Natur folgenlos, gleichwohl führt das Bötchen anschaulich und stellvertretend für Maschinen und Technik vor, welche immense reale und imaginative Kraft in ihm steckt.

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Reign of Silence I 2013 07:20 min, Farbe, Ton

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HANS OP DE BEECK geboren 1969 in Turnhout (B) I

lebt und arbeitet in Brüssel

20 Minuten und 25 Sekunden lang taucht der Betrachter ein in eine Welt traumartiger schwarz-weißer, wie vom Menschen verlassener, in magische Dunkelheit getauchte Landschaften und ist hin- und hergerissen zwischen der Beobachtung ihrer Entstehungsprozesse und ihrer eigentlich simplem materiellen Realität auf der einen und den daraus entstehenden unglaublich geheimnisvollen Szenarien auf der anderen Seite. Immer wieder sind vier Hände zu sehen, die wie bei einem Brettspiel auf einer schwarzen Fläche mit einfachen Gegenständen eine Szene nach der anderen aufbauen, verändern und daraus in unaufhörlichem Fluss wieder neue entstehen lassen. Nur wenige ruhige und geübte Handgriffe und einfachste Utensilien scheinen nötig, um die kleinen Wälder Landschaften, Gärten und Parks entstehen zu lassen, die von so großer Wirkkraft sind. Sobald die Hände nicht zu sehen sind, ist der Zuschauer geneigt, sie als Schöpfer der vielen Szenarien zu vergessen. Sie sind so effektvoll inszeniert, dass man annehmen könnte, es handele sich um Abbilder realer Räume und Landschaften, die mit den Mitteln medialer Effekte verfremdet wurden, um ihnen die gewünschte mysteriöse Wirkung zu verleihen. Obwohl nichts verschleiert wird, erscheint dem Zuschauer das, was sich vor seinen Augen abspielt, wie Zauberei, er möchte nichts verpassen, schaut gebannt zu, will sehen, begreifen wie etwas entsteht, ist damit aber überfordert. Zu Beginn verfolgt der Zuschauer staunend, wie vor seinen Augen eine weite Landschaft entsteht, die mit weißem Sand berieselt wird, in den kleine zeichenhafte Bäume gestellt und verschlungene Wege gezeichnet werden. Mit gezielt eingesetzter Beleuchtung wird diese mit einfachsten Mitteln gestaltete Miniaturwelt in Szene gesetzt und in ein geradezu mystisches Licht getaucht, so dass sie in der Wahrnehmung der Zuschauer ihr fantastisches Eigenleben entwickeln kann. Zwar sind zahlreiche Effekte nötig, um die Videobilder zu erschaffen und die Zuschauer zu täuschen, aber oft sind es nur kleine Tricks, die unverstellt gezeigt werden und die im Handumdrehen bestimmte gewünschte Atmosphären erzeugen. Eine wesentliche stimmungserzeugende Komponente ist die elektronische Musik des britischen Musikers Scanner, der in seiner minutiös auf die Szenen und Motive abgestimmten Komposition auch natürliche Geräusche verarbeitet und den Zuschauer in ähnlicher Weise manipuliert wie dies die Bilder tun. Beendet wird das Video mit dem Bau einer Stadt aus Zuckerwürfeln, die durch einen prasselnden Regenschauer aus Gießkannen nach und nach in sich zusammenfällt und sich vollständig auflöst. Am Ende ist nur noch eine leere schwarze Wasserfläche zu sehen ist, die die Bühne war für all die Inszenierungen von Bildern der Kunst und Kultur, der Erinnerung, Träume, Vorstellungen und Fantasien, die das Bildrepertoire bilden, aus dem Hans Op de Beeck für seine Videoproduktionen schöpft, die uns die Welt im wahrsten Sinne des Wortes in neuem magischem Licht sehen lassen.

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Staging Silence I 2013 20:48 min, Full HD, s/w, Ton

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TÁMAS WALICZKY geboren 1959 in Budapest (H) I

lebt und arbeitet in Hongkong

Die Idee zu diesem Video geht auf einen Super-8-Film zurück, den der Künstler Anfang der achtziger Jahre von seiner kleinen Tochter gedreht hat, als sie gerade erst das Laufen gelernt hatte. 1992 nutzte Waliczky diese Schwarz-Weiß-Aufnahmen als Ausgangsmaterial für sein aufwendiges Projekt The Garden: 21st Century Amateur Film, für das er das von Imre Kováts programmierte „Wassertropfen-System“ entwickelte. Angeregt durch die Beobachtungen seiner Tochter, die in dem alten Film voller Begeisterung ihre Umwelt erkundet und neugierig auf alles reagiert, was in ihrer Reichweite ist, hat der Künstler nach Visualisierungsmöglichkeiten für die Wahrnehmungsperspektive des Kindes gesucht. Mittels des „Wassertropfen-Systems“ wird eine neue Sicht ermöglicht, die wesentlich abweicht von den in der Kunst seit der Renaissance herrschenden Gesetzen der Perspektive und mit Wahrnehmungskonstanten bricht. Waliczky setzt bei dem Gedanken an, dass das Sehen wie alle menschlichen Fähigkeiten erst erlernt werden muss und durch die eigenen Erfahrungen in einem immer größeren Bewegungsradius entwickelt wird. Das neu entwickelte Verfahren versucht sich der Sicht eines Kindes zu nähern, das sein Verhältnis zu den Dingen in seiner Umwelt noch nicht richtig einschätzen kann, Maßstäbe für Größen und Entfernungen noch nicht kennt, sich folglich anders dazu in Beziehung setzt als Erwachsene. In der Animation, bei der dieses neue Verfahren zum ersten Mal eingesetzt wird fällt schnell auf, dass es weder eine Horizontlinie gibt, an der sich der Betrachter orientieren könnte, noch einen stabilen Zuschauerstandpunkt. Die Horizontlinie ist zum Oval verformt, sie umschließt das Kind in seiner Welt und trennt sie von der des Betrachters. Die Dimensionen und Verhältnisse der Objekte sind nicht festgelegt, sondern sie verändern sich mit den Bewegungen des Kindes. Sie werden größer, wenn das Kind auf den Baum, die Bank, das Spielgerät zuläuft und kleiner, wenn es sich wieder entfernt. Die Sicht des Mädchens verändert die Welt optisch in eine Sphäre des Kindes. Der Zuschauer begleitet es beim Spielen und Entdecken und kann an seinen Erfahrungen teilhaben – wenn es über die Wiese rennt und eine Blume pflückt, Baumstämme umarmt, eine Rutsche hinunterrutscht. Für die Animation wurden die ursprünglich schwarz-weißen Super-8-Aufnahmen so nachbearbeitet, dass die Konzentration ganz auf das Kind und die einzelnen Objekte gelenkt wird, die es untersucht. Es entsteht der Eindruck einer unbeschwerten, fröhlichen, voller Reize steckenden Kinderwelt, wo Sand gelb, die Wiese grün, die Rutsche knallrot ist und wo die bunten Blumen und der blühende Obstbaum ihre größten Erlebnisqualitäten entfalten können.

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The Garden: 21st Century Amateur Film I 1992 Videoinstallation, 04:27 min, Farbe, Ton, BetaSP, Computeranimation

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IMPRESSUMDiese Publikation erscheint anlässlich der

Ausstellung nature on | off am 3. und 4. Juli 2015 in der Universität Osnabrück. Sie wurde realisiert in Projektzusammenarbeit von Lehrenden - Daniel Burkhardt, Helen Koriath, Matthias Neuenhofer - und Studierenden des Kunsthistorischen Instituts der Universität Osnabrück sowie in Kooperation mit dem Projektbüro Fachbereich Kultur der Stadt Osnabrück und dem European Media Art Festival (EMAF). NATURE ON | OFF ist ein Beitrag zum Osnabrücker Kulturjahr 2015 unter dem Motto WIR SIND IM GARTEN. Herausgeber Helen Koriath, Kunsthistorisches Institut der Universität Osnabrück Realisation und Redaktion Helen Koriath, Pia Beholz

DANK

Unser besonderer Dank gilt allen, die auf vielfältige Weise zur Realisation der Ausstellung und der Publikation beigetragen haben, insbesondere: Antje Vayá Corral, Kuhl|Frenzel, Agentur für Kommunikation, Osnabrück Galerie m Bochum Galerie Peter Kilchmann, Zürich Sixpackfilm, Wien Studio Hans Op de Beeck, Brüssel Valerie Schwindt-Klevemann, Osnabrück Hermann Noering, EMAF, Osnabrück Antje Bramlage, Projektbüro Fachbereich Kultur der Stadt Osnabrück Gebäudemanagement, Universität Osnabrück

Gestaltung Pia Beholz, Agnes Nguyen

Alexandra Lombardi, Kunsthistorisches Institut der Universität Osnabrück

© 2015 Kunsthistorisches Institut der Universität Osnabrück Katharinenstraße 5, 49069 Osnabrück, Tel. 0049 – (0)541 – 969 4595 www.kunstgeschichte.uni-osnabrueck.de

Osnabrück

Sebastian

Quasinowski,

Kunsthistorisches

Institut

der

Universität

Fachgebiet Kunst/Kunstpädagogik Universität Osnabrück Institut für Geographie, Universität Osnabrück

© Texte: 2015 Kunsthistorisches Institut der Universität Osnabrück © Abbildungen für Ulu Braun, Florian Gwinner, Simone Häckel, Dagmar Keller/Martin Wittwer bei VG Bild-Kunst Bonn 2015; für Francis Alys beim Künstler und bei Galerie Peter Kilchmann, Zürich; für alle anderen Abbildungen bei den jeweiligen Künstlerinnen und Künstlern An Ausstellung und Publikation beteiligte Studierende Azim Fabian Becker, Pia Beholz, Josephin Borges, Lea Busemann, Lilli Braun, Kai Jobusch, Ayse Karagöz-Kaya, Kerstin Lübbers, Ina Miezal, Agnes Nguyen, Helma Ostermann, Jessica Pannier, Johanna Pöhler, Sarah Ramlow, Lara Rennen, Christina Röhm, Lara-Louisa Schmidt, Franziska Schmitz, Emil Schoppmann, Stefan Spitzer, Jan- Hendrik Steffan, Carina Stolzmann, Katharina Westphal, Lena Wolters

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