Nachhaltige Nachbarschaft – Katalog

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18 Fundstücke. 18 Geschichten. Die Ausstellung „Fundstücke nachhaltiger Nachbarschaft“ präsentiert Objekte, welche im Raum der Leipziger Neustadt gefunden worden sind. Ausgehend von den gesammelten Stücken entsteht ein Bild des Stadtviertels, geprägt von vielfältigen Erlebnissen und Eindrücken. Was bleibt übrig? Was ist nachhaltig und was verbindet Menschen? Die präsentierten Objekte ermöglichen einen Einblick in das Leben der Anwohner eines Viertels. Es entstehen Verbindungen und Beziehungen, ebenso wie Differenzen und Konflikte. In dieser Ausstellung „Fundstücke Nachhaltiger Nachbarschaft“ kann erkundet und erforscht werden, was den Charakter eines Stadtraumes ausmacht. Durch die vielfältigen Wahrnehmungen und Perspektiven erhält man individuelle und aktuelle Zugänge zum Thema. Gefundene Objekte der Neustadt werden zum Medium für Geschichten, welche auch grenzüberschreitend wiederentdeckt werden können.


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25 × 25 × 4 mm Metall, Papier, Polymer gefunden: Oststraße, 30.04.2014

Ein Button mit graphischer Abbildung eines Hauses. Nicht nur ein Bild transportierendes Medium, sondern Symbol für Partys, Unterstützung, Freundschaften ... und Partys.

Es war einmal ... ein Haus, junge Menschen und Platz für alternative Ideen. Das Fundament bildeten gemeinsame Interessen und solidarisches Miteinander bot der Konstruktion Halt. Renitenz und Durchhaltevermögen ließen mit der Zeit auch die entfaltungsfeindliche Hausverwaltung resignieren und geschaffen ward die Oststraße X, wie man sie heute kennt. Foto eines alten Flyers zu einem der Projekte des Hauses (Ausschnitt)

Zitat von Thomas von Aquin: http://zitate.net/ thomas%20von%20aquin. html

Internetseite des Ataris: http://bildet-laeden.de/

»Für Wunder muss man beten, für Veränderungen aber Arbeiten.« »Stimmt!«, sagte Mensch sich und krempelte die Ärmel hoch. Es wurde viel geschraubt, laut gehämmert und eine Menge gedübelt. Der Garten wurde zur Entspannungs- und Feieroase für angenehme kleine DJDarbietungen und Sommerkino. Durch selbstverwaltete Übergabe alter Mietverträge konnte die Mietpreissteigerung gestoppt werden und die Umfunktionierung und nicht »zweckgemäße« Nutzung des Kellers ermöglichte durch diverse »Keller-Partys« die Finanzierung der eigenen Projekte und häufig auch jene von Gleichgesinnten (z.B. des Ataris). Außerdem dienten diese auch dazu, bei all der Arbeit den Spaß nicht zu vergessen und die Vernetzungen im Leipziger Osten weiter auszubauen. 2


Der Anstecker — Eintritt legitimiert! Um die Veranstaltungen im hauseigenen Keller nicht ausarten zulassen — schließlich versteht man sich nicht als öffentliche Diskothek — und gleichzeitig Freunde und Bekannte einzuladen ohne auf die Nutzung von Flyern und Web angewiesen sein zu müssen, entwarf man jeweils »Türöffner«. Entweder eigens gestaltete Eintrittskarten, Festivalbändchen oder derartige selbstproduzierte Anstecker. Diese wurden an die Leute verteilt und gewährten ihren Trägern den Einlass zu feinstem Keller-Geschaller der aktuellen DJ-Cuisine. . Lochkamerafotografie des Ansteckers im Zugangsbereich zum Keller

Auf zu neuen Ufern Ob vorhergesehen oder nicht, irgendwann kommt es bei jedem »Oststraßenkind« auch zum Auszug aus dem familiärem Nest, um neue Gegenden zu erobern, neue Möglichkeiten zu entdecken, neue Träume zu verwirklichen und um Platz für die nächste Generation zu schaffen. So plagte das Fernfeh auch ein paar Leute, darunter meinen Mitbewohner, die sich dazu entschieden, ihr Glück in der Nähe der Eisenbahnstraße zu suchen. Sehr erfolgreich kann ich nur sagen, denn sie wurden fündig. Letztendlich schlugen sie ihre Zelte im »Pögehaus« am Neustädter Markt auf und sind damit — wie das Schicksal halt manchmal so spielt — direkte Nachbarn der Ausstellung. Ihr Auszug bedeutete von daher keinesfalls einen Abschied für immer; mensch pflegt die Kontakte zu einander und begegnet sich häufig auf den selben Partys, tauscht sich über Leben und Kultur aus und unterstützt sich nach wie vor, wo er kann. Schließlich galt es nun, sich die Ärmel für ein neues Hausprojekt aufzukrempeln. 3


Ein Handlungsprinzip, welches der Definition von »Nachhaltigkeit« mehr als entspricht. Nach dem Ende der Ausstellung wird die kleine Ansteckplakette in den Besitz meines ehemaligen Mitbewohners übergehen. Mit der Hoffnung, den Kontakt zueinander nicht zu verlieren; als ein Zeichen der Freundschaft und als Andenken an die gemeinsame Zeit in der Oststraße. Die neue Wohnung mit Blick auf den Neustädter Markt

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Links Zum Weiterlesen: Utopia — Das Portal für Nachhaltigkeit mit vielen Ideen: http://www.utopia. de/ Internetseite mit vielen Anregungen zu alternativen Konzepten: http://www.whydontyoutrythis.com/ siehe auch: Ulrich Brand, Bettina Lösch und Stafan Thimmel in: ABC der Alternativen, VSA-Verlag Hamburg, 2007

Autorin Lisa Jule Warrelmann Quellen http://www.bne-portal.de/was-ist-bne/grundlagen/nachhaltigkeitsbegriff/ Fotos Lisa Jule Warrelmann 4


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120 × 80 × 80 mm Kunststoff, Pappe gefunden: Heilig-Kreuz-Kirche 26.05.2014

Coffee to go. Mobiler Pausenfüller, netter Zeitvertreib, Gesprächsstoff, Wachmacher, Zurückgebliebener. Ein Kaffee in der Neustadt.

Wenn man an einem Ort aufwächst, fällt es leicht die Eigenarten und Strukturen in der Umgebung wahrzunehmen. Mann kennt die Straßen, Häuser und Menschen, die Gerüche und Geräusche. Jedes Viertel ist speziell. Es gibt Straßen, in denen Autos wie auf einer Kette aufgefädelt stehen. Es gibt Häuser mit bunten Blumenkästen, gepflegt und gehegt. Es gibt Orte, verwildert und zerstört, die scheinbar jahrelang unbeachtet blieben. Die Leipziger Neustadt ist neu für mich. Hin und wieder bin ich mit dem Fahrrad die Eisenbahnstraße entlanggeradelt doch wie es sich anfühlt hier zu leben, das ist mir fremd. In meinen Erinnerungen war es hier immer laut, belebt und auch ein wenig chaotisch. Die Häuser schreien ihre Werbetafeln und Reklameschriften dem Betrachter entgegen. Alles ist bunt. Viele Menschen, viele Kulturen. Wie ist es in der Realität? Für meine Beobachtungen begebe ich mich an einem sonnigen Nachmittag in die Leipziger Neustadt. Ich hole mir in einem Kiosk einen Kaffee und dann geht es los. Wie, wenn nicht zu Fuß, kann man einen Stadtteil am besten erkunden? Laut und belebt, dieser Eindruck wird bestätigt. Die großen Reklameschilder stellen sich dann doch als eine falsche Gedächtnisleistung heraus. Doch was auffällt, ist die Masse von Farben, welche in den Schaufenstern leuchten. Und die Vielzahl von Sprachen. Auf verschiedenste Weise preisen die Geschäfte ihre Waren an. An– und Verkauf, Second hand. Laden für Korkböden, ein Internetcafé. Die Vielfalt aus meiner Erinnerung scheint beim genauen Betrachten umso größer. Ich biege in die Hedwigstraße ein und der eben erfahrene Trubel scheint hinter mir von den Mauern gefangen. An Ende der Straße setze ich mich auf eine Bank vor die Heilig-Kreuz -Kirche. Es ist ruhig, niemand auf der Straße. Am Fuß der Bank steht ein leerer Becher. Autor Susann Wostal Fotos Susann Wostal

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60 × 25 × 3 mm Stahl gefunden: Neustädter Straße 8 14.05.2014

Ein Schlüssel finden, wie symbolisch klingt das? Als Kind habe ich in einem Märchen gelesen, dass es ein Wort geben soll, dass fast alle Türen öffnen kann. Ich glaube bis heute fest daran.

Immer wenn ich unterwegs bin, scannen meine unermüdlichen Augen automatisch den Fußboden unter meinen Füßen. Die Augen suchen nach verlorenen, vergessenen Dingen, die ich heimlich im Herzen als Schätze wahrnehme. Diese Angewohnheit habe ich schon seit meiner frühen Kindheit. Am meisten freue ich mich über gefundene Kleiderknöpfe. Ich habe sogar schon eine kostbare Kollektion davon gesammelt. Große oder Kleine Knöpfe erzählen mir ihre einsamen Geschichten, über Stoffe und Farben, über die Stile ihrer Besitzer, deren Fingerabdrücke sie noch heute tragen. Hast du, mein Leser schon einmal einen Knopf verloren? Vielleicht ruht dieser ja bereits in meiner Schatulle, zwischen all den anderen geheimnisvollen Schätzen. Meine Schatulle ist voll von bunten Glasperlen, silbernen und goldenen Metallohrenringen, Kinderüberraschungs-Teilen, kleinen Spielzeug, Schlüsselanhängern, winzigen Fahrraddetails, Stoffdekorblumen von verlorenen Haarspangen und ähnlichem Zeug. Diese kleinen, unnützen Dinge inspirieren mich und übertragen meine Gedanken in die fantasievolle Welt, die parallel in meiner Realität existiert. Ich beginne nach dem Sinn, nach Orten und nach Akteuren zu suchen. Gestern habe ich im Neustädter Viertel einen Schlüssel gefunden. Jemand hat ihn verloren, oder vielleicht absichtlich weggeworfen. Der Schlüssel hat keine Nummer, stattdessen aber eine kleine Zickzackrille auf seiner flachen Kopfseite. Er ist mit Abnutzungsspuren gekennzeichnet und stammt ursprünglich bestimmt aus dem vergangenen Jahrhundert. Das Ding war einmal neu und hat mit Goldglanz gestrahlt. Welches Schloss kann er öffnen? Ein Motoradschloss, vielleicht eine Wohnungs- oder einen Haustürschloss? Ich begann meine Reise durch die Häuser der Leipzig-Neustadt um nach Schlössern zu sehen. Die magische Kraft des Neustädter Viertels hat mich erfasst und gleichzeitig begeistert. Die zahlreichen Türen, hinter denen sich die Vergangenheit der Stadt versteckt, sind wie alte Menschengesichter, unverwechselbar! Bestimmt kann mein Fundstück ein mir unbekanntes Schloss aufmachen. Es kann auch sein, dass Jemand auf der Suche nach dem verlorenen kleinen Schlüsselchen ist. Vielleicht hast du mein Leser von deinen Nachbarn schon gehört, dass Jemand einen Schlüssel vermisst? Der Schlüssel wartet hier auf ihn, andernfalls findet er in meiner Schatulle bei all den anderen Schätzen seinen Platz. Autor Julia Kolesnikova 8


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111 × 68mm Papier gefunden: Mariannenstraße 24, 26.05.2014

Eintrittskarte von dem Fußballspiel Charlton Athletics vs. A.F.C. Bournemouth. Diese Begegnung fand am 18. März 2014 im Londoner Stadtteil Charlton statt. Es war eine Partie des Sky Bet Championchip 2013/2014 (zweite Englische Liga).

In meiner Jugendzeit wuchs ich im Leipziger Stadtteil Neustadt auf. Zusammen mit meinen Nachbarn, welche auch gleichzeitig meine engsten Freunde wurden und noch heute sind, begeisterten wir uns schon früh für den Fußballsport. An den Wochenenden ging es ins Stadion. Eine Lieblingsmannschaft gab es nicht . Wir waren nur Fußballfans. Der Tag kam an dem sich unsere Wege durch das Leben trennten. Madrid, Berlin, London und Hamburg hießen die neuen Wohnorte. Wir machten

es uns zu einer Art Tradition jedes Mal ein Fußballspiel zu besuchen, wenn wir uns sehen. Diese Tradition sorgete dafür, dass wir über die Ländergrenzen hinweg Nachbarn und vor allem Freunde blieben. Aus den Nachbarn der Leipziger Neustadt, wurden Nachbarn in Europa. Autor Kevin Finke Fotos Kevin Finke 10


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183 × 43 × 22 mm Holz, Metall gefunden: Eisenbahnstraße 109, 13.05.2014

Ich war bei Freunden zum Mittagessen eingeladen, es gab selbstgemachte Karottensuppe mit Ingwer. Schon beim Tischdecken fiel mein Blick auf diesen Esslöffel. Die Maserung seines Holzgriffes und der Rost an seiner metallenen Laffen funkelten im Schein des Sonnenlichtes, welches durch das offene Fenster strahlte.

Der Esslöffel ist für mich ein Symbol des Zusammenkommens und miteinander Speisens und somit auch von Freundschaft. Wenn immer Menschen zusammenkommen um miteinander zu essen, ist meist ein Löffel vorhanden zum Austeilen und steht somit auch für das Teilen miteinander. In China und Japan wird dieses Essgerät beispielsweise fast ausschließlich zum Austeilen der Nahrung verwendet. Dieser Esslöffel birgt aber noch eine Besonderheit: Er kommt aus der Schublade eines Wächterhauses in der Leipziger Neustadt. Fundort Eisenbahnstraße 109 Foto geschossen mit Lochkamera-Objektiv

Wie so viele Gebiete Ostdeutschlands hat auch Leipzig nach der Wende mit einer massiven Bevölkerungsflucht zu kämpfen gehabt. Auf der Suche nach besser bezahlter Arbeit ließen viele Menschen ihr Zuhause und hinterließen damit zahlreiche leere Häuser, welche aufgrund der sinkenden Nachfrage nach Behausung vorerst leer stehend blieben. Noch heute finden sich viele dieser Gebäude in Leipzig, vor allem in dessen Osten. Um sie vor dem endgültigen Verfall zu bewahren, wurde das Konzept der „Wächterhäuser“ entwickelt. Im Raum des Neustädter Markts kümmert sich vor allem der Verein Haushalten e.V. um Nutzungsund Beratungsmodelle zur Wiederbelebung verlassener Gebäude und Ladenlokalen. Interessenten, wie zum Beispiel Künstler, die den zur Verfügung stehenden Raum als Atelier nutzen möchten, können Nutzungs12


konzepte schreiben und einreichen. Die geeignetsten Konzepte werden ausgesucht und letztendlich umgesetzt. So war dies auch der Fall bei dem Haus auf der Eisenbahnstraße 109. Bis 2007 stand es für fünf Jahre leer, dann wurde von Haushalten e.V dieses Haus als das erste Wächterhaus im Leipziger Osten ins Leben gerufen. Das besondere an dieser, wie auch an anderen Gestattungsvereinbarungen über weitere Wächterhäuser in Leipzig ist, dass seine Bewohner keine Miete zahlen, sondern es auf eigene Kosten weiter ausbauen und

Link Für weitere Informationen um und über Hausprojekte in Leipzig: http://www.haushalten. org/

links: Im Inneren des Hauses, der Esstisch wird gedeckt rechts oben: Im Inneren des Hauses II, kreative Arbeit im Wohnzimmer rechts unten: Die Tür steht immer offen

instand halten. Doch die die „Hauswächter“ passen nicht nur auf das Haus auf und schauen zum Beispiel, dass das Dach dicht bleibt und erledigen Ausbesserungsarbeiten. In der Eisenbahnstraße 109 wurden darüber hinaus zahlreiche Nutzungskonzepte umgesetzt, es entstanden zum Beispiel das Sozialwerk, eine Galerie für Computerkunst und Computerinstallationen sowie bildende und darstellende Künstler, der Verein doppelplusgut und die Vorratskammer. Damit beteiligte sich die Nutzer13


gemeinschaft maßgeblich an den Veranstaltungen im Stadtteil und trugen dazu bei, das verwaisende Quartier der Stadt wieder für die Bürger nutzbar und attraktiv zu machen. In diesem Nebeneinander von Verfall und Aufbruch machen sich Menschen nützlich, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gemeinschaft. Menschen treffen zusammen, sind offen für Experimente und entwickeln aus Altem heraus Neues. Dabei handelt es sich um eine Zwischennutzung der Gebäude, welche zu einer langfristigen, stabilen Nutzung führt. der Leerstand wird somit nicht zum Problem, sondern zum Potential für eine Belebung des sozialen und kulturellen Lebensraumes. So dienen sie nun als Räume für Kunstausstellungen und Künstlerateliers, Volksküchen und Versammlungsorte der Kommune. Genau dies ist für mich ein Zeichen von nachhaltiger Nachbarschaft. Link Für weitere Informationen über das Haus Eisenbahnstraße 109: http://www.haushalten. org/detail/objekte_e109. asp?bURL=de/entlassene_ haeuser.asp&bTxt=Entlassene+H%E4user

Als Ende 2011 die Gestattungsvereinbarung für das Haus auf der Eisenbahnstraße 109 auslief, wurde gemeinsam mit den Eigentümern und Nutzern nach einer weiteren Perspektive zur Nutzung des Hauses gesucht. So konnten die bisherigen Nutzer zu günstigen Konditionen direkte Mietverträge mit den Eigentümern abschließen. Damit gilt das Haus als „entlassen“, wieder nutzbar in einem stabilen und längerfristigen Einsatz. Das Konzept Eigeninitiative gegen sehr günstigen Wohnraum führt zum kreativen Wiederaufbau längst verlassener Häuser und rettet ihre Fassaden sowie das soziale und kulturelle Leben, was sich in und um sie herum abspielt. Der Esslöffel als Sinnbild für das Teilen eines gemeinsamen Gutes repräsentiert für mich diese Gemeinschaft. Deshalb fragte ich meine Freunde, als der letzte Löffel voll Suppe geleert war, ob ich diesen Esslöffel ausstellen dürfte. Und mit ihm ihre Geschichte und Perspektive zur Umsetzung der Idee von nachhaltiger Nachbarschaft im Leipziger Osten.

Autor Elisabell Beyer Quellen https://www.youtube.com/watch?v=Stwc2hxLAyE https://www.youtube.com/watch?v=KGeUPre2_lI http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2014/02/19/ dlf_20140219_1010_110734d7.mp3 http://www.klassenarbeiten.de/referate/sonstige/esskultur/esskultur_64.htm Fotos Elisabell Beyer 14


Fahrradschloss 15


95 × 100 × 100 mm Stahldraht, Metall, Gummi, Kunststoff gefunden: Jonasstraße 4 10. April 2014

Ein Fahrradschloss ist eigentlich essenziell für die Sicherung des liebsten Vehikels eines Studenten und gerade in Leipzig ein unabdingbarer Gegenstand. Dem Seitenschneider eines Diebes hält es aber meistens nicht stand, ähnlich wie in diesem Fall.

Sicherlich fragt sich einer, was denn ein Fahrradschloss mit nachhaltiger Nachbarschaft zu tun haben soll. Schließlich ist es nicht unbedingt Sinnbild für Gemeinschaft und brüderliches Teilen. Hinzu kommt außerdem, dass es das einzige ist, was von meinem Fahrrad noch übrig ist, denn es wurde gestohlen. Auch nicht unbedingt ein Zeichen für harmonisches Miteinander. Trotzalledem verbinde ich mit diesem Fahrradschloss auch positive Erinnerungen: Ich war zu Besuch bei einer Freundin in der LeipAn dieser Laterne in der Jonasstraße hatte ich mein Rad angeschlossen, bevor es gestohlen wurde.

ziger Neustadt. Wir treffen uns ab und an, um Filme zu schauen und über dies und jenes zu quatschen. An diesem Abend suchte ich vergeblich nach einem Platz im Innenhof des Wohnhauses, um mein Rad anzuschließen. Also schloss ich es draußen an einer Laterne an. Wird wohl nichts schief gehen, dachte ich mir. Einige Stunden später wollte ich mich auf den Heimweg machen, doch mein Rad war weg. An der Stelle, wo es stand, lag nur noch das zerschnittene Schloss am Boden. Ich ärgerte mich total darüber, dass manche Menschen scheinbar überhaupt keinen Anstand besitzen und einfachso Dinge klauen. Aus Geldgier oder Neid kann es nicht passiert sein, da mein Fahrrad eigentlich eine komplette Rostlaube war. Hoffentlich wurde es aus einem triftigeren Grund gestoh16


len als aus eventueller Langeweile des Diebes. Ich überlegte hin und her, wie ich nun nach Hause kommen sollte, da ich ziemlich weit ab vom Schuss wohne ohne nah gelegenen Nahverkehr (Warum heißt das dann eigentlich Nahverkehr?) und ging vorerst zu meiner Freundin ins Haus zurück. Sie versuchte mich zu trösten und drückte mir ihren Fahrradschlüssel in die Hand und meinte ich solle es ihr demnächst wieder zurück bringen. Ich war richtig froh über ihre Hilfsbereitschaft und ihr Vertrauen. Wer verleiht schon sein Fahrrad einfach so? So bin ich doch noch ohne große Umwege nach Hause gekommen. Jonasstraße Ecke Eisenbahnstraße

Neues Fahrrad, neues Schloss, neues Glück. Mal sehen, wie lang es in meinem Besitz bleibt.

Das Rad meiner Freundin habe ich ihr am nächsten Tag zurück gebracht. Ich frage mich jedoch immer noch, warum ausgerechnet mein Fahrrad dran glauben musste. Es lässt mich irgendwie nicht los. Selbst ein sicheres Schloss, ein fest im Boden verankerter Gegenstand als Stellplatz und Kodierung haben den Dieb nicht abgeschreckt. Ich hoffe wirklich, dass es einen triftigen Grund hatte, mein Fahrrad zu stehlen.

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Links Tipps zur Fahrradsicherung: http://www.radfahren-inleipzig.de/fahrrad/fahrraddiebstahl.asp Informationen über Teilfahrräder: http://www.nextbike.de/ de/

An sich hatte ich immer mal wieder schlechtes über die Leipziger Neustadt gehört, dass dort angeblich allerlei kriminelle Energie vorhanden sei. Doch Berichten von Freunden zufolge, ist dieser Stadtteil längst nicht mehr so schlimm, wie es das Image verlauten lässt. Durch die Sanierung vieler Gebäude hat das ganze wieder an Charme gewonnen und gilt unter Studenten als richtig »hippe« Gegend, doch leider steckt mir die Geschichte mit meinem Rad immer noch in den Knochen und so richtig will das Bild vom kriminellen Brennpunkt nicht aus meinem Kopf verschwinden. Sicher wäre mir dasselbe früher oder später auch in anderen Stadtteilen passiert, die auf den ersten Blick ruhig und auch ein wenig langweilig erscheinen, doch eingebrannte Vorurteile lassen sich sehr schwer beseitigen. Die Hilfsbereitschaft meiner Freundin brachte mich auch auf den Gedanken, wie es wäre, wenn es Fahrradstationen gäbe, bei denen man jederzeit eines ausleihen könnte. Diese Idee existiert jedoch schon eine Weile (siehe Links).

Autor Mandy Simon Fotos Mandy Simon

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FEUERZEUG 19


245 × 815 × 95 mm Plastik, Metall, Butan gefunden: Konradstraße 54 27.04.2014

Beim Entkernen eines Kellers mit einer Freundin stieß ich auf das Feuerzeug. Der Vormieter wurde im Zuge von Ermittlungen zur Kinderwagenbrandserie mehrfach verhört und zog nach Anfeindungen und Spannungen in der Nachbarschaft in einen anderen Stadtbezirk um.

Neustadt-Neuschönefeld gilt vielen als eines der Problemviertel im Osten der Stadt. Durch Drogenkriminalität, verfallene Häuser und einen hohen Ausländeranteil hatte der Bezirk lange einen Ruf als sozialen Brennpunkt. Seit mehreren Jahren setzt ein Wandel ein. Viele Kreative schätzen die Offenheit und den Raum für Veränderung. Durch Initiativen, Vereine und Förderung der Stadt ist das Viertel zu einem Ort des Zusammenwachsens und guter Nachbarschaft geworden. Die Bernhardstraße in Aufruhr Foto: dpa

Infos zum Neustädter Frühstück http://www.neustaedtermarkt-leipzig.de/index. php/projekte/frueh

Durch regelmäßige Veranstaltungen wie dem „Neustädter Frühstück“ entsteht eine Atmosphäre der Toleranz, der Begegnung und des Zusammenhalts unter den Nachbarn. Leider gibt es immer Geschehnisse die dem entgegenschlagen und Misstrauen auslösen. So auch eine besondere Serie von Brandstiftungen. Über mehrere Jahre hinweg wurden im Leipziger Osten Kinderwagen in Hausfluren angezündet. So auch im März 2014 in der Bernhardstraße. Durch das beherzte Eingreifen eines Mieters konnte ein Großbrand verhindert werden, doch geblieben sind Gefühle wie Angst, Ohnmacht und Misstrauen. 20


Gute Nachbarschaftsverhältnisse werden in Frage gestellt. Ist der Mensch, der jeden Morgen beim Bäcker so freundlich lächelt der, der er vorgibt zu sein? Wer ist mein Nachbar wirklich? Kenne ich ihn überhaupt? Diese Fragen stellte sich auch eine Freundin von mir nach ihrem Einzug in die Konradstraße 54. Als wir in einer großen Räumungsaktion die Kellerbox des Vormieters entrümpelten und schließlich auf das grüne Feuerzeug stießen, staunte sie nicht schlecht. Sie berichtete mir von den möglicher Fluchtweg des Täters in der Berhardstraße über die Feuertreppe

Gerüchten, die über ihren Vormieter kursierten. Als ein Kinderwagen in der Bernhardstraße in Brand gesetzt wurde, gab es für den jungen Vormieter mehrere polizeiliche Vernehmungen und die Nachbarn wurden misstrauisch. Schnell kam es zu Schmierereien an seinem Briefkasten und zerstörte Fahrradreifen. Nicht nur die eigenen Hausmitbewohner mieden ihn, auch die Menschen auf der Straße grüßten nicht mehr und blickten finster. Obwohl er nur vernommen wurde und ihm keine Schuld nachgewiesen werden konnte, war das Vertrauensverhältnis so gestört, dass er sich entschied, aus dem Haus auszuziehen. Der Fund stimmte uns nachdenklich. Sicher es kann sich um ein einfaches Feuerzeug handeln, welches seit Jahren ungenutzt in dieser Box verschmorrte. Aber allein der Gedanke an die andere Möglichkeit ließ uns erschaudern und erzeugte sofort ein Kopfkino: den Geruch von brennender Plastik, Qualm, der sich wie eine schwere Decke auf die Lunge legt, das Dröhnen von Feuerwehrsirenen.

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Vgl. Rebecca Bondü 2006 siehe auch: V. Faust: VON AMOK BIS ZWANG – Band 2, Heidelberg-München-Landsberg-Frechen-Hamburg 2013 Links über die Soziologie von Brandstiftern http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/brand.html

Wer sich ein wenig mit der Psychologie von Brandstiftern auseinander setzt findet schnell Analysen wie „Sie wollen das Knistern hören, das Lodern sehen“ oder „Danach, selbst angesichts der entstandenen Zerstörung oder Schädigung von Besitz, Gesundheit oder gar Leben, dominiert in der Regel Gleichgültigkeit, ja Zufriedenheit, Behagen, Wohlgefühl oder Entzücken“. Gerade wenn Kinderwagen, die neben dem Transport dem Schutz eines Kindes dienen, angezündet werden, gerät das Sicherheitsgefühl ins Wanken. Niemand will Nachbar eines Menschen sein, der positive Nachbarschaftsgefühle zerstört und sie in Verdacht, Skepsis, Sorge und Zweifel verändert.

Autor Julia Hargesheimer Quellen Rebecca Bondü: Die Klassifikation von Brandstraftätern: Eine Typologisierung anhand des Tatmotivs und anderer Variablen 2006 LVZ vom 04.03.2014 Fotos Julia Hargesheimer 22


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70 × 10 × 10 mm Holz gefunden: Neustädter Straße 20/ Ludwigstraße 18.04.2014

Querbeet durch die Neustadt. Ein „Ort der Begegnung mit der Natur und dem Menschen“ vs. „Neustädter Hundeklo und griesgrämige Nachbarn“.

Der Duft von jungem Holz liegt in der Luft. Eine Prise erfrischenden Sommerregens weht mir um die Nase, die Vögel zwitschern. Als ich mich umsehe, entdecke ich die Quelle jenes Sinneserlebnisses – 1000 kleine Holzstückchen, die sich zu einem beachtlichen Haufen frisch gehäckselten Holzes emportürmen, Überbleibsel eines schönen Frühlingsrituals, dem das Erwachen und Wachsen allen Grüns folgt. Doch halt, etwas fehlt – wo sind die Sträucher? Wo die Bäume? Wo der Garten, dem dieses Ritual dienen soll? Ach, da ist er ja. Durch einen dicken hohen Holzzaun lassen sich eine Wiese, ein paar Gartenwerkzeuge, Sträucher und vielleicht sogar Beete erahnen. Vielleicht. Unerlaubt eindringen wollte ich nun nicht unbedingt, nur um zu sehen, was sich hinter diesen Mauern verbirgt. Blick durch den Holzzaun auf den Garten

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A propos: Da hängt er auch schon. Ein Aufruf, die aus dem Garten gestohlenen Dinge wieder zubeschaffen. Was es hier noch gibt? Ich mache mich mal auf die Suche. Da hätten wir z. B. das „Neustädter Hundeklo“. Wird das tatsächlich benutzt? Wie vermutet befindet sich darin bis auf eine große leere Plastetüte nichts. Mal schnell nachgegoogelt: Aha, dies eingegrenzte Fleckchen soll also ein „Ort der aktiven Auseinandersetzung mit gesellschaftsrelevanten Themen wie Kommunalpolitik, lokale und globale Lebensmittelversorgung, Umweltbildung und Umweltschutz“ sein. Hmm, so einen Ort hatte ich mir irgendwie immer anders vorgestellt. V. a. schwebte mir keine menschenleere eingezäunte Insel inmitten argwöhnisch beäugender Nachbarn vor. Oder vielleicht doch? Ist genau dies der ideale Platz, um wichtige Gedanken, Debatten und Gespräche anzukurbeln? Ein „Ort der Begegnung mit der Natur und dem Menschen“ soll das auch noch sein. Okay, fragen wir doch mal die griesgrämigen Nachbarn, die uns sowieso schon die ganze Zeit beobachten. „Nee, keine Ahnung, was das da sein soll.“ „Querbeet? Ja, das steht glaub´ ich auf dem Zaun da.“ „Manchmal kommen hier so ein paar Jungspunde und feiern da irgendwelche Parties.“ Hmm, ja danke. Also so richtig scheint das Prinzip in der Nachbarschaft ja irgendwie noch nicht angekommen zu sein. Wilde Parties? Damit könnte das Frühjahrspflanzen mit anschließendem gemeinsamen Essen gemeint sein. li.: „Neustädter Hundeklo“ re. oben: Steckbrief re. unten: Schild auf Zaun

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„Offener Garten“. „Barrierefrei“. Wer genau weiß eigentlich davon? Eine große Auskunftstafel habe ich an dem Zaun nicht gesehen. Wer also ist wirklich eingeladen, hier mitzuwirken? Die Omi von nebenan googelt wahrscheinlich nicht mal schnell „Querbeet“, den einzigen Hinweis an der Einzäunung dieses sonderbaren Fleckchens. Die Gedanken „Nachbarschaftsgarten“, „Gelebter Umweltschutz“ und „Ort der Begegnung“ vs. „Ausgrenzung“, „Vermüllung außerhalb dieser Grenze“ und „Unwissenheit“ zwingen sich einem unwillkürlich auf. Hier wurde eine Oase geschaffen, keine Frage. Ein Ort des Wohlgefallens und der Einigkeit. Doch wird einem die große Ambivalenz direkt vor Augen geführt, betrachtet man genauer die Umgebung. Links vom Zaun: Gemeinschaft, Eintracht und Harmonie – rechts davon: Missmut, Not und Kriminalität. Fazit: Zum Teufel damit? „Aus kleinem Anfang entspringen alle Dinge.“ (Cicero) Weshalb also das aufhalten, was sich erst im Anfang der Entwicklung befindet und aus dem Großes werden könnte? Da bekanntlich schon der Anfang die Hälfte des Ganzen ist, warum dann jetzt aufgeben, nur weil kein Mensch das Hundeklo benutzt und ein paar Sachen geklaut werden? Dann doch lieber „Anfangen im Kleinen, Ausharren in Schwierigkeiten und Streben zum Großen.“ (Friedrich Alfred Krupp) All diese Gedanken vereint das kleine unscheinbare gehäckselte Aststückchen aus dem großen Holzhaufen in sich. Hoffen wir also, dass dem begangenem Frühlingsritual nicht nur das Erwachen und Wachsen allen Grüns, sondern auch eines neuen Umgangs mit direkten, wie auch entfernt lebenden Nachbarn folgen wird.

Autor Johanna Claßen Quellen Informationen zu „Queerbeet“: www.querbeet-leipzig.de Zitate: www.zitate-online.de und www.aphorismen.de Fotos Johanna Claßen 26


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Jakobsmuschel


100 × 109 × 3 mm Kalziumcarbonat und organische Stoffe gefunden: Le Puy-en-Velay 24.05.2002 In Verbindung mit dem Ort: Eisenbahnstrasse 112

Diese Muschel wurde in einem kleinen Laden in der Nähe der Kathedrale Notre Dame in le Puy-en-Velay gekauft. Sie ist mit einem Spitzenband verkauft worden, welches durch die vorhergesehene Öffnung gebunden war. Der Angelort liegt in Frankreich aber man ignoriert den genauen Ort. Sobald sie kein leckeres Gericht mehr ist, begleitet die Jakobsmuschel die Pilger auf dem Jakobsweg.

Deutschland und Frankreich waren schon immer eng miteinander verbunden. Die Beziehung zwischen unseren zwei Ländern ist nicht nur auf unsere gemeinsame Grenze beschränkt, sondern auch auf alle Angelegenheiten, die wir geteilt haben. Zwischen Rivalitäten und solidarische Unterstützung, Kriegen und friedlichen Episoden, Machtkämpfen und Handelsbeziehungen, haben Deutschland und Frankreich, die seit der Aufteilung des karolingischen Reiches im Jahre 843 in zwei verschiedene Staaten getrennt wurden, die Geschichte von ihrer Nachbarschaft angefangen. Eine Nachbarschaft, die heute fortbesteht. Nachhaltige Nachbarschaft. In diesem Jahr hat mich die Neugier gepackt und ich erlebe ein Jahr lang bei diesem Nachbarn neue Erfahrungen. Als ich in Leipzig angekommen bin, habe ich in die Entdeckung dieser kleine Stadt und ihrer verschiedenen Viertel gemacht. Man hatte mir empfohlen, den Ostteil von Leipzig zu besuchen, wo die Architektur der Gebäude weniger renoviert ist, als diejenige des Stadtzentrums. Während ich an der Eisenbahnstraße in dem Neustadt Viertel entlanglief, entdeckte ich hinter einer Verkehrsampel das bekannte Symbol der Jakobsmuschel. Ratlos habe ich Zuhause die Verbindung zwischen Leipzig, und besonders diesem Viertel von Neustadt und dem Symbol des berühmten Jakobsweges recherchiert. Ich erfuhr, dass meine Gaststadt die Übergangsstelle von zwei mittelalterlichen Hauptverkehrsstraßen war: Die Via Imperii führte nach Rom und die Via Regia führte ursprünglich von Mainz-Kastel, die Wahlstadt des Kaisers des Heiliges Römisches Reiches, bis nach Santiago de Compostella und wurde später von Breslau verlängert. Sie durchquert Paris und West-Frankreich, um an diesem Wallfahrtsort im Norden von Spanien zu enden.

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Die beiden Wege, die Leipzig durchqueren: Die Via Imperri und die Via regia

Diese Via Regia wurde im Laufe des Mittelalters regelmäßig benutzt, ebenso gut für den Handel als auch für die unterschiedlichen Messen, die in Leipzig auch stattfanden. Auf diesem Weg sind verschiedene Textilien, wie Leinen und Pelze aber ebenfalls Nahrungsmittel wie Honig, zwischen dem Osten und dem Westen gereist. Holz, Wachs, und verschiedene Metalle sind auch zwischen unseren zwei Grenzen regelmäßig ausgetauscht worden. Es darf trotzdem die menschliche Beförderung nicht vergessen werden, die auch auf diesen Wegen stattfand. So hat die Via Regia manchen Armeen der mittelalterlichen Epoche bis zur Völkerschlacht defilieren sehen, die Napoleon in Leipzig im Jahre 1813 verlor. Aber die Via Regia hat ebenfalls viele Pilger auf seinen Wegen seit dem Mittelalter empfangen. Diese Wallfahrt ermöglichte tatsächlich dem ganzen katholischen Europa zu dem Grab des Apostels Jakob in die gleichnamige Kathedrale in Galicien in Spanien zu pilgern. Noch heute benutzen mehrere tausend Pilger oder Läufer als Hobby diesen Weg, die Taschen auf dem Rücken und Spazierstöcke mit dem schützenden Symbol dieser langen Reise: eine Jakobsmuschel. Ich fotografierte das Symbol dieser Via Regia in der Eisenbahnstrasse, was bedeutet, dass dieser Weg heute immer noch existiert. Aber diese Muschel war mir schon vertraut. Ich erinnere mich tatsächlich in meiner Kindheit daran, dass „diese Läufer mit den großen Rucksäcken“ vorbeigezogen sind und der Lärm von ihren schlagenden Wanderstöcken auf den Straßendecken der Altstadt von Le Puy-en-Velay zu hören war. Diese Stadt von Haute-Loire, in Auvergne ist ein sehr bekannter Aus29


Links Informationen über die Via Regia: http://www.via-regia.org Informationen über den Jakobsweg: http://www.vwv.cz/jakub/ historie_de.php Informationen über Le Puy-en-Velay und die Via Podiensis: http://www.ot-lepuyenvelay.fr/histoire-et-patrimoine/ soyez-les-bienvenus.html

gangspunkt für den Jakobsweg mit der Via Podiensis. Zahlreiche Personen kommen jedes Jahr, um „ihren Weg“ hier anzufangen. Ich erinnere mich daran, dass ich an einem Tag meine Großmutter gefragt habe, während wir nach Schulschluss spazieren gingen, was diese große Muschel bedeutete und warum sie die Leute an ihre Stäbe auf hingen. Nach ihren Erklärungen fand ich diese Jakobsmuschel faszinierend und mystisch, da sie den Leuten Kraft gab, genauso lange zu wandern, als auch so weit. Meine Großmutter schenkte mir also eine Jakobsmuschel, wie diejenige, die sich die Pilger vor ihrer Abfahrt zulegen. Ganz zufrieden behielt ich diesen wertvollen Gegenstand auf einem Regal in meinem Zimmer während meiner ganzen Kindheit. Was für eine Überraschung , als ich dieses Symbol in Leipzig entdeckte, so weit entfernt von dem Ort, wo ich es zum ersten Mal gesehen hatte! Die Nachbarn haben die Gewohnheit, die Sache aufzuteilen. Meine Heimatstadt und meine Gaststadt teilen sich diese Muschel auf. Und wer weiß ? Vielleicht wird diese eines Tages ebenfalls auf Wanderschaft gehen …

Links: Der Anfang der Via Podiensis in Le Puy-en-velay Rechts: das Symbol des Jakobswegs

Autor Claire Durand Quellen Enke, Roland, 2011, Via Regia: 800 Jahre Bewegung und Begegnung, Katalog 3. Sächsische Landesaustellung, Görlitz. Fotos Maximilian Dörrbecke (Karte) Claire Durand 30


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80 × 80 × 70 mm Holz und Kunststoff gefunden: Nähe der Meißner Straße 56, 10.05.2014

Wer tauscht wirft nicht weg, eine alternative Form des Konsums.

Auf der Suche nach einem Nebenjob wurde ich auf einen Flyer am schwarzen Brett aufmerksam, der von einem Spielzeug-Tauschmarkt in der Leipziger Neustadt berichtete. Der Flyer warb dafür, Dinge, die man selbst nicht mehr nutzt, zu tauschen, anstatt sie wegzuwerfen. Flyer der Tauschbörse

Später versuchte ich, mich näher über das Projekt zu informieren. Da sich im Internet keine Informationen finden ließen, beschloss ich, den Markt am darauf folgenden Samstag zu besuchen. Mir erklärte vor Ort eine junge Frau, das Projekt zunächst eigen-initiativ ins Leben gerufen zu haben. Inzwischen habe es sich zu einem gemeinschaftlichen Projekt entwickelt, an dem alle Hausbewohner mitwirken. Die Idee für den Tauschmarkt sei ihr während eines Aufenthaltes in Barcelona gekommen, als sie dort eine der mittlerweile weit verbreiteten Tauschbörsen besuchte. An jenen Märkten werden Kleidung, Bücher, elektronische Geräte und Spielzeug bargeldlos getauscht.

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Sie berichtete außerdem, dass sich der Fokus auf ein kritisches Konsumverständnis erst später entwickelt habe. Zu Beginn stand die Festigung von kommunalen Beziehungen im Mittelpunkt des Projektes. Der Tauschprozess regt die Menschen dazu an, miteinander zu kommunizieren und sich auf einen Wert des Tauschobjektes zu einigen. Dieser Austausch findet, im Gegensatz zu herkömmlichen Verkaufssituationen, auf einer persönlicheren Ebene statt. Eines der von den Bewohnern der Meißner Straße vorbereiteten Spiele

Gemeinsame Vorbereitungen

Während die Erwachsenen auf dem Neustädter Tauschmarkt die Möglichkeit hatten, sich während des Grillens näher kennen zu lernen, konnten die Kinder an einem von den Bewohnern vorbereiteten Spielprogramm teilnehmen. Dadurch wird die Solidarität innerhalb der Gemeinschaft gefördert.

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Außerdem tragen nicht- kommerzielle Tauschmärkte wie dieser auch auf lange Sicht zu nachhaltigeren Lebensformen bei. Je länger die Produkte genutzt werden, desto stärker werden natürliche Ressourcen geschont und die Müllproduktion wird reduziert. Stand mit Spielzeug am Tauschmarkt

Links Informationen über Tauschmärkte in Barcelona: http://www.tauschnetz-lichtenberg. de/?q=node/373

Autor Jana Schmidt Quellen Gespräch mit Linda Bieling am 10.05.2014 (Initiatorin des Tauschmarktes in der Neustadt) Fotos Jana Schmidt 34


Lindenbaum


ca. 100 × 100 × 20 mm Lindenblätter mit Blütenansatz gefunden: Eisenbahnstraße 61, 03.05.2014

Der Linde wurde seit jeher große Bedeutung in der Religion, Literatur und Musik zugesprochen. Hierbei diente sie als Symbol für eheliche Liebe, Gastfreundschaft, Güte und Bescheidenheit. Auch wurde das Dorfzentrum in vielen Regionen Deutschlands mit einer Linde gekennzeichnet, wobei sie als Ort für Ankündigungen, Versammlungen und Gerichte diente.

Es war ein Sturm, der uns von Dingen trennte und gleichzeitig zusammenbrachte. Im Sommer 2011 gab es ein Unwetter, das ganz Leipzig verwüstete. Im Allgemeinen mussten vor allem Autos wegen herabfallender Äste dran glauben, im Besonderen unsere Geschirrtücher. Ich bemerkte erst am nächsten Tag, als sich das Wetter beruhigt hatte, dass sie vom Balkon verschwunden waren. Der Wind hatte sie anscheinend mit sich genommen. Ich sah mich nun um und entdeckte, dass die Tücher im Lindenbaum hängen geblieben waren, der relativ nah am Haus aber trotzdem auf dem Nachbargrundstück steht. Also ging ich hinunter um sie aufzusammeln. Glücklicherweise wohnen wir nur im 1. Obergeschoss, sodass die Geschirrtücher in den unteren Ästen hingen und ich leicht hinauf klettern konnte, um sie zu holen. Blick von der Linde aus auf unseren Balkon

Dabei entdeckte ich nun auch etwas anderes, das wohl von einem Balkon geweht wurde – Ein Kleid. Es war ein hübsches Sommerkleid, das auch mir gut gefallen hätte. Ich nahm es mit und dachte, ich mache einen Aushang im Treppenhaus um den Eigentümer zu finden. Hoffentlich wohnte sie auch in unserem Haus, was hätte ich sonst mit dem Kleid anstellen sollen? Schon am nächsten Tag klingelte es bei uns an der Tür. Maria stellte sich mit einem Kuchen in den Händen vor, fragte nach ihrem Kleid und bedankte sich. Ich bat sie natürlich herein und führte sie auf den Balkon, von dem


man einen guten Blick auf unsere Linde hat. Wir tranken Kaffee und aßen den Kuchen, der wirklich gut war. Wir verstanden uns auf Anhieb und plauderten über Gott und die Welt. Sie kam mir gar nicht wie eine Fremde vor. Eher wie ein lang verschollener Freund, den mir der Wind wieder gebracht hat. Sie erzählte, dass sie Gartenbau studiert hat und wusste auch einige interessante Dinge über die historische Bedeutung von Linden. Wusstet Ihr, dass der häufigste Name für Gasthäuser in Deutschland „Zur Linde“ ist? Oder dass die Linde als „mütterliche“ Baumpersönlichkeit gilt und so den Menschen ein Gefühl von Geborgenheit gibt? Ein schöner Zufall, dass gerade eine Linde uns zusammen gebracht hat. Auf ihrer Facebook-Seite zeigte Maria mir einige ihrer Arbeiten. Ich war beeindruckt von Ihrer Kreativität und der Vielseitigkeit von Gärten. Falls es euch interessiert, schaut doch selbst mal vorbei. Plötzlich kam Wind auf und die Zweige der Linde begannen zu rascheln. Sie schreckte auf und griff sofort nach Ihrem Kleid, welches Sie neben sich abge-

siehe auch: Doris Laudert: Mythos Baum Geschichte - Brauchtum - 40 Baumporträts. BLV, München 2003

Der Aushang, in dem ich die Hausbewohner nach dem Kleid fragte. A4-Blatt, kariert

Nahaufnahme einer Lindenfrucht


legt hatte, in Sorge der Wind könne es wieder mit sich reißen. Wir lachten beherzt. Kurz danach verabschiedeten wir uns voneinander. Sie bedankte sich nochmals für die Rettung Ihres Kleides und ich mich für den leckeren Kuchen. Seit diesem Tag sind wir gute Freunde geworden. Und jedes Mal, wenn ich auf dem Balkon stehe, schaue ich auf unsere Linde und denke an diesen Tag zurück. Dabei wird mir jedes Mal bewusst, dass diese Linde nicht nur ein einfacher Baum, sondern das Symbol für den Beginn unserer Freundschaft ist. Ort des Geschehens: Blick von unserem Balkon auf den Lindenbaum

Autor: Anja Benckenstein Quellen: Doris Laudert: Mythos Baum Geschichte - Brauchtum - 40 Baumporträts. BLV, München 2003 Zeitungsmeldung Gewitterguss in Leipzig: http://goo.gl/IKuKfB Marias FB-Seite: http://goo.gl/KR1Qnf Fotos: Anja Benckenstein


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90 × 85 × 1 mm Karton, bedruckt gefunden: Ludwigstraße 29/31, 20.03.2014

Als LehrerIn steht man täglich vor der großen Aufgabe, den SchülerInnen den Unterrichtsstoff auf eine verständliche, anschauliche und lebensnahe Weise zu vermitteln. Ziel des Mathematikunterrichtes ist es, bei den SchülerInnen für mathematische Sachverhalte tragfähige Vorstellungen aufzubauen.

Im letzten Wintersemester absolvierte ich mein fachspezifisches Praktikum SPS IV an einer Oberschule in Neustadt. Ich unterrichtete im Fach Mathematik die Klassenstufe 5 und 7. Die Klasse 5b war eine sehr ebhafte und heterogene Klasse mit 29 SchülerInnen. Im Bereich der Algebra wies ein Großteil der Klasse ein niedriges Leistungsniveau auf. Gravierende Schwierigkeiten bestanden darin, dem Unterrichtsgeschehen konzentriert zu folgen, fehlende Motivation, vereinzelte Foto: Fundstück einer Schülerin der Klasse 5b zu benachbarten Primzahlen

Integrationsschwierigkeiten und fehlende Grundvorstellungen des Zahlenraumes und der Grundrechenarten. Ich übernahm die Unterrichtseinheit zum Lernbereich 1 Natürliche Zahlen und sollte den Schülerinnen und Schülern Kenntnisse über die Teilbarkeit von natürlichen Zahlen und damit verbunden, die Lerninhalte Vielfache und Teiler, Mengenbegriff und Primzahlen vermitteln. Der Lehrplan für die Oberschule Sachsen gibt als Anmerkung zur Umsetzung den Hinweis auf das Vorwissen aus GS Kl. 3 LB2 und das Sieb des Eratosthenes. Primzahlen sind natürliche Zahlen mit einer besonderen Eigenschaft. Diese Zahlen sind größer als Eins und nur durch Eins und sich selbst 40


ganzzahlig teilbar. Bereits die antiken Griechen interessierten sich für die Primzahlen und entdeckten einige ihrer Eigenschaften. Obwohl sie über die Jahrhunderte stets einen großen Reiz auf die Menschen ausübten, sind bis heute viele, die Primzahlen betreffende, Fragen ungeklärt. Innerhalb sechs Unterrichtseinheiten erarbeitete ich die Teilbarkeit im Bereich der natürlichen Zahlen, die Primfaktorzerlegung, Eigenschaften von Primzahlen und besondere Beziehungen zwischen Primzahlen wie Glückliche-, Gute- und Benachbarte Primzahlen (in der Literatur auch unter dem Begriff Primzahlzwillinge bekannt). Während der Unterrichtseinheiten machte ich häufig die Erfahrung, dass die SchülerInnen große Schwierigkeiten hatten, neue formale Sachverhalte zu verstehen, da sie selbst keine Beziehung zum Unterrichtsgegenstand aufbauen konnten. Auch meine zahlreichen Beispiele aus Natur und Umwelt, Gegenbeispiele und Veranschaulichungen brachten nicht den gewünschten Erfolg. Als ich über der Unterrichtsplanung für die kommenden Einheiten saß, fiel mir der Roman von Yoko Ogawa „Das Geheimnis der Eulerschen Formel“ ein. Darin beschreibt die Haushälterin eines Mathematikprofessors ihre Beziehung zu Mathematik und Primzahlen wie folgt: „Ich fragte mich, warum ganz normale Ausdrücke, sobald sie in der Mathematik benutzt wurden, auf einmal diesen romantischen Klang hatten. Die Begriffe „Befreundete Zahlen“ oder „Zwillings-Primzahlen“ waren zwar klar definiert, aber zugleich klangen sie poetisch, wie aus einer Gedichtzeile entsprungen. In meiner Vorstellung waren sie immer irgendwie lebendig: Sie umarmten sich oder trugen dieselben Kleider oder standen Hand in Hand nebeneinander.“ An der Textstelle wurde mir bewusst, dass die Haushälterin eine persönliche Bindung zu den Phänomenen in der Mathematik entwickelt hat, die ihr half, abstrakte Sachverhalte besser zu verstehen. Ich erteilte in der nächsten Unterrichtseinheit den SchülerInnen die Hausaufgabe, in ihrer Umgebung nach Primzahlen zu forschen und diese Arbeit zu dokumentieren. Mir war es wichtig, dass die Lernenden erkannten, dass Mathematik sehr viel mit ihrem täglichen Alltag und ihrer Umwelt zu tun hat. Die SchülerInnen sollten lernen, sich selbst „ein Bild zu machen“ und somit eine abstrakte Theorie individuell veranschaulichen. Oft wird das Arbeiten auf der enaktiven Ebene (nach Bruner) übersprungen. Als Gründe werden Stoffdichte, Zeitdruck und der hohe Materialaufwand genannt. Enaktives Arbeiten ist aber für die Vorstellungsentwicklung und den Verständnisgewinn bei SchülerInnen enorm wichtig. Am darauf folgenden Tag sollten die SchülerInnen von ihrer Erkundung berichten und ihre Funde präsentieren. Ich war sehr erstaunt, über die Motivation in der Klasse und sah voller Freude in aufgeweckte, euphorische Kindergesichter, die es kaum abwarten konnten, ihr Erlebtes zu erzählen. Auf fast jeder Bank lagen Gegenstände mit aufgedruckten 41

Lochkamerafotografie des Fundstückes auf dem Campus der Universität Leipzig

Lochkamerafotografie des Fundstückes vor dem Seminargebäude der Ausbildungsstätte für Lehramtsstudenten


Zahlen, Skizzen, Zeichnungen und Bildern und Zahlenmaterial aus Neustadt. Marius, der sich sonst kaum am Unterrichtsgeschehen beteiligt hatte, berichtete voller stolz „Ich fand die Aufgabe am Anfang ganz schön krass. Alter, was bin ich gestern hin und her gelaufen. Zuerst fand ich gar nichts, aber nach einer Weile waren da überall Zahlen. An der Straßenbahn die Zahl 3 – eine Primzahl, an dem Schild vom Gemüsehändler stand 5 kg Kartoffeln. Auch die 5 ist eine Primzahl und meine Hausnummer die Zahl 43 auch, das habe ich mit Hilfe der Teilbarkeitsregeln, die wir behandelt haben, überprüft. Eine Schülerin, die ebenfalls in der Algebra große Schwierigkeiten hatte, meldete sich und ergänzt: „So bin ich auch vorgegangen. Also erst die Zahlen gesucht und dann probiert. Ich bin die Straßen abgelaufen und habe die Hausnummern genommen. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich immer nur auf der einen Straßenseite Primzahlen fand.“

Links Leseprobe zum Roman „Das Geheimnis der Eulerschen Formel“, Yoko Ogawa: http://www. aufbau-verlag.de/index. php/das-geheimnis-dereulerschen-formel.html Lehrplan der Oberschule Sachsen, Fach Mathematik: http://www.schule.sachsen. de/lpdb/web/downloads/ lp_ms_mathematik_2009. pdf?v2

Diese Erfahrung hatte ein Großteil der SchülerInnen gemacht. Antonio, ein sonst sehr schüchterner Junge, erklärt den anderen: „Das liegt daran, dass auf der einen Straßenseite alle Hausnummern gerade Zahlen sind und diese sind immer durch zwei teilbar.“ Ich war erstaunt über die Ergebnisse und die vielen Zusammenhänge, die die SchülerInnen mir hoch motiviert und selbstbewusst schilderten. „Wir haben sogar eine Beziehung zwischen Primzahlen gefunden, zwei benachbarte Primzahlen.“ rief Alysha. „Wir sind die Ludwigstraße abgelaufen, auch auf der Seite mit den ungeraden Hausnummern, da wohnen wir nämlich. Meine beste Freundin Cindy und ich. Sie wohnt in der Ludwigstraße 29, ich in der Ludwigstraße 31. Alter, ist das nicht gut, das sind nicht nur beides Primzahlen, sondern auch benachbarte Primzahlen! Das ist so cool; benachbarte Primzahlen sind zwei aufeinanderfolgende Primzahlen, deren Abstand 2 beträgt. Die kleinsten benachbarten Primzahlen sind (3;5), (5;7) und (11;13) haben Sie ja gesagt. Und 29 und 31 ergibt auch ein benachbartes Primzahlpaar.“ Dabei hielt sie stolz eine gebasteltes Türschild aus Karton hoch. Auf der einen Seite las man die Zahl 29 auf der anderen Seite die Zahl 31. Diese Stunde war für die SchülerInnen, aber auch für mich sehr nachhaltig und motivierend.

Autor Anna Elisabeth Börner Quellen Yoko Ogawa: Das Geheimnis der Eulerschen Formel. Berlin 2013 S.92. http://de.wikipedia.org/wiki/Primzahlzwillinge Fotos Anna Elisabeth Börner 42


Quartettkarte

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70 × 100 mm Karton, bedruckt gefunden: Kapellenstraße 6 23.09.2014

Das unvollständige Quartett »Meister Nadelöhr« ist mir bei meinem Wiedereinzug in Leipzig im September letzten Jahres in die Hände gefallen. Die ausgestellte Karte »E4« ist die einzige des Quartetts E, da die Karten »E1« bis »E3« fehlen.

Nach eineinhalb Jahren des Reisens und Lebens aus nur einem Rucksack war ich zu meiner Rückkehr von den Ansammlungen in meinem Zimmer schier überfordert. Sicherlich, ich hatte all dies selbst angesammelt, aber jetzt musste alles Unnütze raus. Doch was ist »Unnützes«? Wie trenne ich den Kitsch von den mir wertvollen Erinnerungsträgern? Oder viel mehr: brauche ich überhaupt Memorabilia, oder erinnere ich mich auch von allein an meine Kindheit und bestimmte Erlebnisse, Freunde und Nachbarn? Gleich als mir das Spiel in einem hellblauen Gefrierbeutel entgegen rutschte, erinnerte ich mich, dass dies ursprünglich die Karten meiner Mutter waren. Ich schaute sofort genauer hin und bemerkte, dass drei Karten fehlten. Wie das? Meine Mutter ist doch immer so sorgsam? Bei einem folgenden Elternbesuch, sprach ich meinen Fund am Kaffeetisch an und es folgte eine Erzählung, gezeichnet von vielen kindlichen Erinnerungen und mindestens genauso vielen Abschweifungen und Fotos, die ihren Ursprung nur ein paar Straßen von meinem heutigen Leipziger Wohnsitz haben. Hier einige Auszüge aus dem Gespräch: Vorderseite und Rückseite der Karte „E4“. Die Karten E1 bis E3 fehlen in diesem Quartettspiel.

Erinnerungen an Nachbarschaft »Hach, dass du das noch hast! Da erinnere ich mich noch gut dran, das war immer mein Lieblingsspiel. Eigentlich sind das ja die Figuren aus einer Fernsehsendung für Kinder, wo Märchen erzählt wurden und Pittiplatsch und so, die kennst du ja noch vom Sandmann. Aber wir hatten nie einen Fernseher, da musste ich später heimlich bei Tante Erna und Tante Else schauen, wenn die Oma gearbeitet hat. Ha! [lacht] Wie ich diese Karten geliebt habe! [...] Ach ja genau, wieso die unvollständig sind… Also, das Spiel habe ich von Elke und Evelin, die sind damals 44


als Kinder mit den Großeltern zu uns ins Haus gezogen. Wo genau die Elke und die Evelin herkamen weiß ich nicht mehr, aber die Mama war früh gestorben und mit dem Vater… ach daran kann ich mich nicht erinnern. Ich hab mich damals jedenfalls sehr gefreut endlich ein paar Mädchen im Haus zu haben… Du musst dir vorstellen, so toll wie heute sahen die Häuser damals nicht aus. Vieles war kaputt und zerfiel irgendwie, unsere Nachbarn hatten damals nicht mal ein richtiges Dach, es war alles mit Planen und Latten irgendwie abgedichtet. Wenn es dann geregnet hat… Oje, da mussten sogar wir Kinder mit ran und Eimer verteilen und auslehren, die das tropfende Wasser auffingen. Wenn ich mir das heute überlege… Ich glaub damals als Kinder war uns das nicht so bewusst, denn wir kannten es ja nicht anders. Aber wie gesagt, unser Viertel war eben einfach heruntergekommen, ständig kamen neue Leute und das waren ja auch nicht grad die Reichesten. Naja, Bahnhofsnähe eben. Immer ein Kommen und Gehen, alles in ständigem Wechsel. Das ist ja heute auch nicht anders, sehe ich ja, wenn wir dich besuchen. Naja und zum Spielen sind wir ja sowieso lieber raus gegangen, in den Hinterhof, da hatten wir Platz und haben keine Erwachsenen gestört.« Auslöser für Erinnerungen: Bilder aus Kindheit und Jugend in der Leipziger Neudtadt.

Erinnerungen an das Quartett »Ja, und die beiden [Evelin und Elke, Anm. d. A.] haben eben das Kartenspiel mitgebracht. Und ich habe es GELIEBT. Wirklich. Ich habe auch immer gebettelt auch so eins zu bekommen, aber leider hat das nicht mal zum Schulanfang geklappt. Dabei haben alle solche Karten bekommen. Ein Quartett mit Sandmann, wo man die Zeit lernen kann oder mit Vögeln, Früchten und Pilzen. Das waren so Lernquartetts. Du musst mal auf den Dachboden gucken, dein Vater hat sowas mitgebracht, da 45


Links Zur Geschichte der Leipziger Neustadt www.leipzig-lexikon.de/GEMEINDE/neustadt.htm Weitere Artikel zu Geschichte, Gebäuden, dem Leben der Kinder uvm. www.leipziger-steine.gmxhome.de/texte/nst-nsf.html Die DDR Kinderfernsehsendung Zu Besuch im Märchenland www.ddr-wissen.de/wiki/ ddr.pl?Zu_Besuch_im_ M%E4rchenland Über die ASS, die Altenburger Spielkartenfabrik die das Quartett ursprünglich produzierte www.cartamundi.com/de/ page/unser-unternehmen

liegt sicher noch mehr. Wir haben jedenfalls immer im Hof oder Garten gespielt und da war auch die Bärbel Liebold dabei, die wohnt jetzt weiter außerhalb. In der Schule waren wir auch bis zur Achten zusammen, auch im Hort. Dort wollte ich auch immer mit dem Quartett spielen. Aber irgendwann ist in der dritten Klasse, das weiß ich noch genau, die Schachtel und die Spielanleitung verschwunden. Oh Mann, da gab es vielleicht Ärger zu Hause. Ab da wurde das Spiel unter Verschluss genommen und spielen durften wir dann nur noch zu Hause.« Bloße Erinnerung oder nachhaltige Nachbarschaft? »Naja und dann waren wir ja irgendwann auch fertig mit der Schule. Da habe ich eine Lehre angefangen und Elke und Evelin sind weggegangen. Das war gar nicht toll, nach so vielen gemeinsamen Jahren. Und stell dir vor, da haben die mir als Erinnerung das Quartett geschenkt! Das war schon lustig. Aber spielen wollte ich zu der Zeit nicht mehr damit und da haben sich Bärbel, Elke und Evelin lachend eine Karte mitgenommen, als Erinnerung sozusagen… Ist schon erstaunlich, was an diesen Karten alles so für Erinnerungen dran hängen. Was heißt dranhängen, ich habe die Erinnerungen ja auch so, aber ab und zu ist etwas kleines, was einen zum Nachdenken bringt, gar nicht schlecht, oder?! Eigentlich etwas schade sogar, wenn ich diese ganzen Bilder hier so sehe, dass es keins gibt wo wir alle vier drauf zu sehen sind. Aber wann wurden denn damals schon groß Fotos gemacht… Und ob es Elke und Evelin wohl noch gibt?… Ha! [lacht] Guck! Hier ist sogar Bärbel drauf, die mit dem komischen Hut. Die Bärbel, die wohnt ja wie gesagt sogar in der Nähe, denn ich hab sie letztens im Laden gesehen. Ha, [grinst] da muss ich doch gleich mal Nachforschungen anstellen.«

Autorin Christina Stiehler Quellen Gespräch mit Steffi Stiehler vom 13.11.2013 Fotos Christina Stiehler Else Bernhard 46


Schl端ssel

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70 × 30 × 5 mm Metall gefunden: Hedwigstraße 7 19.04.2014

>>Man muß den Schlüssel finden, der alle Himmelstore, alle Gärten der Verzückung, öffnet. Und dieser Schlüssel ist deine Intuition.<< Peter blickt durch das Küchenfenster auf den Hof und beobachtet seine Tochter. Er ist froh, dass er seiner Intuition gefolgt ist.

Peter erinnert sich. Es war so dunkel im Hausflur, dass der Schlüssel neben der Kellertür nur schwer zu erkennen war. Er brauchte einen Hocker um an den Schlüssel zu gelangen. Die Tür zum Innenhof knarrte entsetzlich wenn er sie aufschloss. In den folgenden Jahren wurde die Tür morscher und ließ sich irgendwann nicht mehr aufsperren. Dies war bis dahin der einzig funktionierende Zugang zum Innenhof. Da kein Zutritt mehr möglich war verwahrloste dieser. Das Foto zeigt den ehemals verschlossenen Eingang zum Innenhof.

Im Jahr 2011 zog er mit seiner schwangeren Lebensgefährtin zurück in die Wohnung seiner verstorbenen Eltern. Beim Rundgang durch das Haus erinnerte er sich an die alte Tür zum Innenhof. Im Keller entdeckte er den verstaubten Schlüssel, der vergessen in der Ecke hing. Jedoch gelang es ihm nicht die Tür zu öffnen. In Absprache mit den Hausbewohnern wurde die Tür gewaltsam geöffnet. Bei der Begehung entstanden erste Ideen zur Neugestaltung und Nutzung des verwilderten Innenhofs. Auf der erstmalig stattfindenden Nachbarschaftsversammlung im Jahr 2012 wurde die Nachbarschaftsinitiative „Klingel mal“ gegründet. Als Symbol für die Initiative entschied sich die Hausgemeinschaft den von Peter wiederentdeckten 48


Schlüssel zu verwenden. Der gut erhaltene Schlüssel ist 7 cm lang und mit einer Gravur versehen. Die Buchstaben P, B und W sind zu erkennen. Ihre Bedeutung lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Um Geld für das Projekt zu sammeln, veranstalteten die Hausbewohner auf Flohmärkten Kuchenbasare und verkauften Trödel. Um anfallende Kosten während der Bauphase möglichst gering zu halten, übernahmen die Bewohner größtenteils die Aufgaben selbst. Der Innenhof wurde komplett entrümpelt und vom Wildwuchs der letzten Jahrzehnte befreit. Angedacht wurde eine Grünfläche, Spielmöglichkeiten für Kinder, eine Grillstation, ein Das Foto zeigt eine Nahaufnahme des Schlüssel an seinem ursprünglichem Fundort.

Platz zum Wäsche aufhängen und eine Gartennutzung. Im Zuge der Neugestaltung sollten Kommunikationsmöglichkeiten geschaffen werden, die ein Kennenlernen der Nachbarschaft ermöglichen. An dem Projekt beteiligte sich nicht nur die Hausgemeinschaft. Nach und nach stieg das Interesse der Hausbewohner angrenzender Wohnhäuser. Aufgrund dieser Entwicklung wurden zwei weitere Zugänge zum Innenhof eingeplant. Das Projekt sollte nicht nur eine Neugestaltung des Innenhofs anregen. Viel 49


Weiterführende Links zum Thema Informationen über Nachbarschaftpflege: http://www.nachbarschaftsverein-leipzig.de/nachbarschaftsverein-leipzig_ 1.php4?id=bv1

mehr stand zunehmend der Aufbau einer intensiven Nachbarschaft im Vordergrund. Kontakte knüpfen, seine Mitmenschen näher kennenlernen und das Nachbarschaftsgefühl zu stärken, war den Bewohnern wichtig geworden. Das Projekt wurde innerhalb von zwei Jahren realisiert. Ohne den Einsatz und Zusammenhalt der Hausgemeinschaften wäre dies nicht möglich gewesen. Am 28.05. 2014 erfolgte die offizielle Einweihung des neugestalteten Innenhofes, den An- und Bewohner stolz präsentierten. Es entstand eine großzügige Grünfläche mit Sitzmöglichkeiten. Ein kleiner Spielplatz mit Sandgrube wurde für die Kinder gebaut und grenzt an die Grillstation. Auf Wunsch einiger Bewohner wird ein kleiner Teil des Innenhofes zur Bepflanzung von Obst und Gemüse genutzt. In Anwesenheit der Presse erhielt jeder Haushalt einen Schlüssel, der den Zugang zum Innenhof, auch von nun zwei weiteren Hauseingängen, ermöglicht. Das Leipziger Blatt berichtete in ihrer Ausgabe über das Projekt. Der Schlüssel hängt heute hinter einem Glaskasten an seinem alten Platz.

Autor Lisa Paschmann Fotos Lisa Paschmann 50


Schr aube

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Ø 5 × 35 mm Metall schwarz lackiert gefunden: Leipzig, Neustadt 24. Mai 2014

»Es gibt kein zufälliges Treffen. Jeder Mensch in unserem Leben ist entweder ein Test, eine Strafe oder ein Geschenk.« Jeden Morgen wird der Alteingesessenen von einem Spruch auf dem Kalenderblatt seines Klages Kalenders begrüßt.

Gedanken eines Mieters ... »Und wieder zieht ein neuer Mieter ein. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass einer ausgezogen ist. Die Nachbarin hörte, dass es aus seiner ehemaligen Wohnung unangenehm gerochen haben soll. Den Vormieter mochte ich. Mit ihm konnte man sich unterhalten und er war unauffällig.« Erlebnisse eines Mieters ... Drei Tage später klingelte es an seiner Tür. Der neue Mieter wollte sich bei ihm einen Akkuschrauber borgen. In gebrochenem Deutsch versuchte er zu vermitteln, dass er einen Schrank aufbauen müsse und dafür einen Akkuschrauber benötigt. Skeptisch übergab der Alteingesessene seinen Akkuschrauber. Er wollte schließlich einen guten ersten Eindruck hinterlassen. Als die Tür wieder ins Schloss fiel, plagten ihn Gedanken über sein wertvolles Werkzeug. »Das ist mein einziger AkDas Foto zeigt einen Ausschnitt des wertvollen Werkzeuges des Alteingesessenen. Akkuschrauber der Marke FESTO Modell: CDD 9.6 ES

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kuschrauber. Ich weiß noch wie ich ihn bekam. Mein Vater schenkte ihn mir, als ich 18 Jahre alt wurde. Meine Eltern hatten sich damals eine neue Küche gegönnt und ich durfte stolz mit Hand anlegen. Dafür bekam ich ihn. Bisher konnte ich mich immer auf meinen Akkuschrauber verlassen. Und dabei ist er bestimmt schon über zehn Jahre alt. Als ich hier eingezogen bin und die neuen Möbel aufbauen musste, hat er mich nie im Stich gelassen. Was ich schon alles damit gebaut und repariert habe. Ob das jetzt eine gute Idee war diesem fremden Mann meinen Akkuschrauber zu borgen?« Es verging fast eine Woche. Endlich fasste der Alteingesessene Mut. Er wollte unter dem Vorwand, ihn selbst zu benötigen, um seine Herausgabe bitten. Da klingelte es an seiner Tür. Es war der neue Mieter. Er versuchte sich auf deutsch zu bedanken und überreichte dem Alteingesessenen neben dessen Akkuschrauber noch eine Packung Schrauben. Das Bild zeigt eine Nahaufnahme der Schraubenpackung. Es wurde mit einer selbstgebauten Lochkamera aufgenommen.

Schlussfolgerung eines Mieters ... »Da habe ich mir solche Sorgen um meinen Akkuschrauber gemacht! Dabei war es doch viel wichtiger, dass ich diesem Mann mit meinem Werkzeug helfen konnte. Hilfsbereitschaft sollte gegenüber jedem Menschen selbstverständlich sein.« Ihm wurde bewusst: »Es gibt kein zufälliges Treffen. Jeder Mensch in unserem Leben ist entweder ein Test, eine Strafe oder ein Geschenk.« 53


Idee eines Mieters ... Vier Wochen später hing eine Liste im Treppenhaus. Der Alteingesessene hatte allen Mietern im Haus von seiner Erkenntnis berichtet und so kam man gemeinsam auf die Idee, Dinge ,die man bereit ist auszuleihen, auf eine Liste zu setzen. Diese Liste war im Treppenhaus für alle zugänglich und konnte nach belieben ergänzt und geändert werden. Das Foto zeigt die Liste, die im Treppenhaus ausgehangen wurde.

Links Weiterführende Links zum Thema – Ausleihen statt kaufen von Gegenständen: http://www.leihdirwas.de http://hallo-mieten.de

Autor Tina Müller Fotos Tina Müller 54


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55 × 85 × 55 mm Glas, beschichtetes Metall, Papier, Honig gefunden: Lutherstraße 16c, 10.06.2014

Dieses Gläschen enthält den dicken, süßen Saft der Stadt Leipzig. Produziert wurde er von einem ganzen Volk der Gattung Apis mellifera urbana, der Stadthonigbiene, in Kooperation mit ihrem Halter, dem Stadtimker. Es handelt sich daher quasi um „Honig vom Balkon“.

Ich bin zu Besuch bei Kati in der Lutherstraße 16c. Wir wollen ein gemeinsames Studienprojekt besprechen und uns vorher mit einem ausgiebigen Frühstück stärken. Auf dem Tisch stehen bereits zahlreiche Leckereien. Das Honiggläschen fällt mir sofort ins Auge. Ich nehme es in die Hand und betrachte es genauer. Beklebt ist es mit einem selbstgemacht anmutenden Etikett, auf dem groß „Honig aus Leipzig“ und kleiner „Leipzig Neustadt“ geschrieben steht. Diese Aufschrift weckt mein Interesse. Die süße Leckerei in der Nahaufnahme

Ich frage sie, ob der Honig tatsächlich aus dem Stadtteil stammt. Mit leuchtenden Augen fordert sie mich auf, ihr zu folgen. Sie öffnet die Balkontür und geht hinaus. Etwas verwirrt folge ich ihr. Kati lacht und breitet die Arme aus: „Das sind meine Bienen und der Honig kommt von meinem Balkon.“ Ungläubig schaue ich sie an. Auf dem winzigen Balkon herrscht ein geschäftiges, summendes Treiben. Zahlreiche Bienen fliegen in eine am Geländer angebrachte Holzbox hinein und wieder heraus. Mir schwirren mindestens ebenso viele Fragen im Kopf herum, wie es dunkle kleine Punkte gibt, die hier durch die Luft sausen: „Kann jeder einfach Bienen halten? Bienenhaltung in einem Mietshaus - ist das erlaubt? Was sagen die Nachbarn dazu? Welche Pflege brauchen 56


Bienen? Wie oft wurde sie wohl schon gestochen? Warum macht sie das?“ Geduldig beantwortet mir Kati meine Fragen. Was ich über das Thema erfahre, überrascht mich: Die Stadt als geeigneter Lebensraum für Bienen Leipzig ist eine grüne Stadt. Zahlreiche Parks und Gartenanlagen prägen das Stadtbild. Doch auch auf Balkons, Vorgärten, Einige Beispiele für die blühende Vielfalt der Stadt

auf Verkehrsinseln, in Innenhöfen und auf verwilderten Grundstücken grünt und blüht es. Hunderte verschiedene Bäume und Blumen bieten den Bienen eine breite Vielfalt und stehen in starkem Kontrast zu im ländlichen Bereich häufig vorhandenen Monokulturen.

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Links Informationen zur Bienenhaltung auf dem Balkon: http://www.stadtbienen.org

Informationen zum Bienensterben: http://www.zeit. de/2007/22/Bienen

Imkervereine befürworten das Urban Beekeeping Auch die Imkervereine begrüßen die neue Form der Bienenhaltung, welche in den Medien vor allem als Urban Beekeeping oder Urban Imkering bezeichnet wird. Denn diese hatten vorher mit stetig schwindenden Mitgliederzahlen zu kämpfen. Die Imkerei hatte das Image eines Altmännerhobbies und wirkte daher nicht anziehend auf die Jugend. Der Nachwuchs fehlte. Was das für die Zukunft bedeutet, ist klar. Doch nicht nur die Imkerei, sondern - noch schlimmer - auch die Bienen waren existenziell bedroht. In vergangenen Jahren wurde in den Medien häufig über das große „Bienensterben“ aufgrund von Milbenbefall, drastischer Pestizidbelastung und zu wenig Nahrung berichtet. Bienen leisten durch ihre Bestäubung eine unschätzbare Arbeit. Wie bedeutend diese Leistung tatsächlich ist, lässt sich an der Prognose Albert Einsteins erkennen, der einst sagte: „Wenn die Biene einmal von der Erde verschwindet, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben. Keine Bienen mehr, keine Bestäubung mehr, keine Pflanzen mehr, keine Tiere mehr, kein Mensch mehr.“ Doch keine Angst. Mit dem Urban Beekeeping ist der erste Schritt in die richtige Richtung getan und die Untergangsstimmung ist größtenteils einem hoffnungsvollen Blick in die Zukunft gewichten. Urban Beekeeping: mehr als ein Trend Das Urban Beekeeping hat sich weltweit bereits in zahlreichen Städten angesiedelt und etabliert. Die Intention der Hobbyimker liegt dabei meistens nicht allein darin den beliebten Stadthonig zu gewinnen. Es handelt sich vielmehr um eine Bekenntnis zur Natur und regionalen Produkten. Für die Biene werden so neue Lebensräume geschaffen. Grundlegend herrscht eine Ausgewogenheit zwischen Geben und Nehmen - eine nachhaltige Nachbarschaft zwischen Menschen und Bienen. Und zuletzt erfahre, oder besser gesagt, genieße ich die Antwort auf meine dringendste Frage: „Wie schmeckt der Honig?“. Ich schraube das Gläschen auf und probiere einen Löffel des goldgelben Honigs. „Mhhhhhhh…!!!“ Autor Nadja Haupt Quellen http://gutezitate.com/zitat/229160 Fotos Nadja Haupt

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Trinkkarton 59


11 × 10 × 5 mm Karton, Kunststoff, Aluminium Fundort: Eisenbahnstraße, Haltestelle H.- Liebmann/Eisenbahnstr. gefunden am: 12.05.14

Ohne Saft, dafür mit Potential. Vielleicht demnächst ein Briefumschlag? Leider nein. Ungenutzt, da ausgestellt. Dieser Trinkkarton bleibt was er ist, kann jedoch verweisen, wie sinnvoll es ist Verpackungen zur Wiederverwertung zu sammeln.

Links http://goo.gl/1jL70H (Youtube: A little film about recycling by Tetra Pak)

Müll gibt es überall, Neustadt, Leipzig, Deutschland und in der ganzen Welt. Müll kann mehr als nur der Rest sein; wird nämlich zum Sekundärrohstoff. Aus Pappe, Plastik und Aluminium besteht sie, diese Safttüte samt Trinkhalm. Der Hauptbestandteil, die Pappe, könnte durch wässern und wälzen von den dünnen Schichten Plastik und Aluminium getrennt werden. Der entstandene Brei aus Zellstofffasern könnte dann in Artikel wie z.B. Umzugskartons umgewandelt werden. Das ist sehr nachhaltig, denn eine Papierfaser ist bis zu siebenmal recycelbar. Exkurs: Deutschland ist auf die Rohstoffe anderer Länder angewiesen und ist durch die Müllaufbereitungstechnik eigenständiger geworden und inoffizieller Spitzenreiter. Es kostet weniger Geld, Energie und CO2 wird auch gespart, rundum eine gute Idee die 1990 durch den „Grünen Punkt“ entstand. Was im gelben Sack landet wird heute jährlich zu 73% wiederverwertet. Das Fundstück verharrt jedoch auf seinem Sockel. Keine Metamorphose. Aus der Nachbarschaft, für die Nachbarschaft: Eine Erinnerung an die Nützlichkeit der Reste, wenn sie denn den richtigen Weg finden.

Müll liegt auf dem Boden. Leer und dreckig ist die Verpackung. Wer sie wohl hat fallen lassen?

Autor Hannah Greta Lanser Quellen http://www.recycling-fuer-deutschland.de http://www.tetrapak.com/de/umwelt 60


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119 × 38 × 12 mm Stahl gefunden: Meißner Straße 38, 04.05.2012

Dieser Schlüssel mit einigen Korosionsspuren auf der Oberfläche wurde in einer Wohnung in der Meißner Straße, nahe der Neustädter Kirche gefunden. Er hat einen Materialwert von einigen Cents und kann einen Schaden im vierstelligen Betrag verursachen. Es sei denn, man hat vertrauenswürdige Nachbarn.

Als ich meine Entdeckungstour rund um den Neustädter Markt begann, kam ich mir zunächst ein wenig orientierungslos vor. Wie ein Marktplatz sah es für mich nicht gerade aus. Schließlich erreichte ich die Heilig-Kreuz-Kirche und beschloss, hier erst einmal mein Fahrrad abzuschließen. Ich sah mich nach einem guten Stellplatz um und hörte auf einmal: „Hier links sind die Fahrradständer“. Eine ältere Dame, die ich nicht bemerkt hatte, saß auf einer Bank vor der Kirche. Sie lächelte freundlich. „Vielen Dank!“, antwortete ich und lächelte zurück. „Wohnen Sie hier?“ Sie bejahte und das war der Beginn einer wunderbaren Unterhaltung. Die Dame erzählte mir, dass sie schon seit mehr als 20 Jahren in einer Zweiraumwohnung der Meißner Straße wohnt. Diese konnten wir beide von unserer Bank aus sehen. Ich erzählte ihr von dem Kunstprojekt, welches der Anlass für meinen Besuch in der Gegend war. Das Thema „Nachhaltige Nachbarschaft“ weckte ihr Interesse. „Oh ja, das ist wirklich ein Glück, wenn man mit seinen Nachbarn auch nach so vielen Jahren noch gut auskommt. Ich habe viele Bewohner kommen und gehen sehen, aber nach der Sanierung meines Wohnhauses freue ich mich auch, den jüngeren Mietern ab und an zu begegnen. Sie bringen Leben ins Haus!“, fuhr sie fort. Schließlich kamen wir auf das Thema Einbrüche zu sprechen, die ja in dieser Gegend fortwährend in den Medien zu lesen sind. Das stimmte sie nachdenklich. Ihr selbst wäre noch nie so etwas passiert, aber sie kenne einige schlimme Geschichten aus der Nachbarschaft. Ich erzählte ihr, dass auch ich bereits kurz nach meinem Einzug damit schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Bei mir wurde damals im Keller eingebrochen, in dem ich auch unglücklicherweise meinen Zweitschlüssel der Wohnung deponiert hatte. Die Kellerdiebe hätten also auch fast meine Wohnung ausgeräumt, wenn ich das nicht rechtzeitig bemerkt hätte. Das Endprodukt war schließlich, dass ich das komplette Schließsystem des Hauses aus eigener Tasche bezahlen musste, denn eine Hausratversicherung hatte ich zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht. Sie sprach ihr Mitgefühl aus und vertraute mir an, dass sie ihren Zweitschlüssel einer guten Freundin zwei Häuser weiter gegeben hatte, die sie schon sehr lange kannte. Schließlich sprachen wir darüber, wie viel Vertrauen man doch einem Menschen schenkt, wenn man ihm seinen Wohnungsschlüssel übergibt. Ich kannte damals noch niemanden in Leipzig, dem ich meinen Schlüssel geben konnte. Und sie kennt ihre Freundin schon so lange, dass die vielen Geschichten, 62


die sich beide anvertraut hatten, im Vergleich zum Schlüssel einen viel größeren Vertrauensbeweis darstellten. Ich selbst hatte einmal gelesen, dass man seinen Zweitschlüssel sogar bei Firmen hinterlegen kann, die damit werben, dass man seinem Nachbarn nicht mehr trauen kann. Traurige Angelegenheit. Die ältere Dame fuhr fort, dass sie selbst auch schon für viele Menschen auf den Zweitschlüssel Acht geben sollte, von denen sogar einige bereits verstorben waren. Ob es Freunde, Verwandte oder sogar nur Nachbarn waren, spielte dabei keine Rolle. In der heutigen Zeit passiert es aber nur noch selten, dass Menschen ihren Bank vor der Heilig-KreuzKirche

Haus Nummer 38 der Meißner Straße

Schlüssel mit gehäkeltem Anhängerbändchen

Nachbarn den Wohnungsschlüssel übergeben. Bei meinen Recherchen zu diesem Thema fand ich eine Umfrage von „immowelt“, die Nachbarn mit Zweitschlüssel nur bei 13,4% in Deutschland angeben. Die Dame meinte, dass der Grund dafür darin lag, dass man früher stärker auf seine Nachbarn angewiesen war, als in der heutigen Zeit. Die Schwierigkeit, Kinder, Beruf und Haushalt unter einen Hut zu bekommen, führte dazu, dass Nachbarn damals unersetzlich waren. Den 63


Links Informationen zum Nachbarschaftsverhältnis früher und heute: http://http://www.reihenhaus.de/uploads/media/ Essay_Prof._Siebel_Nachbarschaft_01.pdf Umfrage der immowelt: http://presse.immowelt. de/pressemitteilungen/ artikel/artikel/ersatzschluessel-deutsche-vertrauen-ihren-nachbarn.html Werbung gegen das Vertrauen zu Nachbarn: http://berlinerzweitschluessel.de

Zweitschlüssel aufzubewahren war da nur das geringste. Auch auf die Kinder aufzupassen, das Aushelfen mit Lebensmitteln oder andere Gefälligkeiten waren Gang und Gebe. Sie erzählte weiter, dass ihre Nachbarn vielmehr ihre Freunde waren, denn aufgrund fehlender Fortbewegungsmöglichkeiten hatte sie den Arbeitsort gleich nahe dem Wohnort und beschäftigte sich somit ausschließlich mit den Menschen aus ihrer Umgebung. Heute kommt es nur noch selten vor, dass man seinen Nachbarn nach etwas Mehl fragt, geschweige denn ihm seinen Hausschlüssel anvertraut. Ich erklärte ihr, dass ich aufgrund unterschiedlicher Terminzeiten einige Bewohner meines Wohnhauses nie sehe, andere hingegen nur selten und so kurz, dass keine Gespräche entstehen könnten. „Heute gibt es ganz andere Arten der Kommunikation. Wenn man Redebedarf hat, ruft man Freunde oder Verwandte an und ist nicht mehr auf seine Nachbarn angewiesen. Wenn man jemanden braucht, der auf den Wohnungsschlüssel aufpasst, fährt man mit dem Auto zur guten Freundin im anderen Stadtteil. Außerdem hat man heute weniger Zeit für seine Mitmenschen. Die heutige Generation hetzt nur noch von einem Termin zum nächsten und der Mensch hat kaum mehr Zeit für sich selbst“, fasste sie zusammen. Ich sah auf meine Uhr. Lächelnd erklärte ich ihr, dass auch ich mich so langsam wieder auf mein Rad schwingen müsste. „Ich habe noch etwas für dich, warte hier kurz“, sagte sie freundlich und ging in ihr Wohnhaus. Einen Augenblick später kam sie wieder. Sie drückte mir einen alten Schlüssel in die Hand. Der Zweitschlüssel ihrer ersten Wohnung in Leipzig. Ich bedankte mich herzlich und machte mich auf den Weg. Der kühle Fahrtwind blies frische Luft durch meine Gedanken und ich wusste nun, dass ich viel mehr mit nach Hause nehmen würde, als diesen rostigen Schlüssel. Denn er würde mich immer an diese Unterhaltung erinnern.

Autor Marie Weber Fotos Marie Weber 64


Homepage http://studienart.gko.uni-leipzig.de/nachbarschaft Leitung Dr. Roland Meinel, Prof. Andreas Wendt Institut für Kunstpädagogik Ritterstraße 8 -11 04109 Leipzig studienart.gko.uni-leipzig.de Leipzig 2014



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