Ročenka 2004 - 2005

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Galéria – Ročenka SNG 2004–2005 Der Ausgangspunkt der Untersuchung der Stilgenese unserer Gruppe stellt die Lomnitzer Madonna dar, die ich für die älteste halte. Die Art der Darstellung der steif frontal sitzenden Jungfrau Maria mit den Beinen in paralleler Stellung mit einem in ihrem Schoß thronenden alterslosen Christus (sog. „Kleiner Erwachsene“) und die Gesamtform eines geschlossenen, die Struktur des menschlichen Körpers nicht berücksichtigenden Blockes nimmt für sich den Typ Sedes Sapientiae völlig in Anspruch. Die Produktion dieses Typus erreichte ihren Höhepunkt in der französischen Region Auvergne, wo in der zweiten Hälfte des 12. Jhs. die Transformation der bisherigen Tradition der freien Skulptur in Holz vollzogen wurde – im Sinne von Formalisierung und feierlicher symbolischen Darstellung des sakralen Themas. [Abb. 3] In Auvergne wurde aber dieser Typ in einer konsequent ornamentierten hierarchischen Form kanonisiert, die schwerlich den Weg zu unserem Schnitzer öffnen könnte. Die Änderungen – Verschiebung von Christus auf das linke Knie der Jungfrau Maria, wobei er nicht mehr von beiden Händen gehalten wird, und eine zweischichtige Kleidung mit einem offenen bzw. um die Beine asymetrisch gelegten Mantel – sind in der zweiten Hälfte des 12. Jhs. auch in anderen französischen Regionen sowie im Maasland und am Niederrhein zu finden. Z. B. die Madonna aus der Sammlung Bresset in Paris [Abb. 4] weist die besonderen Züge der Lomnitzer Madonna sowie der „Schütz Madonna“ auf, und zwar die Anwendung der zweischichtigen Draperie – feinere und schärfere am unteren Kleid, großzügigere und weichere am Mantel. Die Abwendung von der hieratischen Komposition mit Christus ist der Hauptachse ist meistens vom geänderten Schema der Draperie begleitet, die zu einem neuen Mittel der rhythmischen Belebung und Betonung der Stellung von Christus in der Komposition wird. Die Unterscheidung der Kleidungsschichten mit Hilfe der Drapierung – im rigiden Stil aus Auvergne kaum denkbar – zählt auch zu den Ausdrucksformen des Kölner Meisters der Madonna von Hoven (dessen Kreis sich in den 60er–80er Jahren des 12. Jhs. vom breiten Gebiet im Nordwesten Deutschlands bis zu Gotland verbreitete [Abb. 5]). Dem gekrönten, auf dem linken Knie der Madonna von Hoven thronenden Christus entspricht der antikisierende Typ der Kleider Christi von drei der vier Skulpturen unserer Gruppe. Zum Kreis der Madonna von Hoven zählt auch das Retabel in Oberpleis [Abb. 6], wo alle um die in der Mitte stehenden Madonna versammelte Figuren perückenartige Haare tragen, die überraschenderweise denen entsprechen, die die Besonderheit der Gruppe um die Lomnitzer Madonna mitbestimmen. Die breiten Gesichter der Engel erinnern dazu auffällig an die Lomnitzer Jungfrau Maria. Der obige Vergleich könnte den Eindruck erwecken, dass die Lomnitzer Madonna im Kontext der Skulptur des letzten Viertels des 12. Jhs. zwischen Mosel und Rhein nicht fremd vorgekommen wäre. Es gibt aber auch einen schwerwiegenden Grund, warum sie durch diesen Kontext nicht völlig erklärbar ist. Denn die Öffnung des Blockes zwischen umgürteten Körper und dem rechten Arm begegnet noch lange Zeit nach der Jahrhundertwende nicht, bei den hölzernen thronenden Madonnen ist er sogar noch in den 20er–30er Jahren des 13. Jahrhunderts ungewöhnlich. Allem Anschein nach machte die Schnitzerei in der Region zwischen Ile-deFrance und Köln am Rhein um die Jahrhundertwende und anfangs des 13. Jhs. große Änderungen durch. Ob wir bei ihrer Auslegung die Rolle der monumentalen Skulptur in Ile-deFrance (vor allem die Verzierung der Portale des Kreuzschiffes in Chartres) oder die Innovation der Goldschmiedekunst an der Maas (Didier) betonen oder sogar den Einfluss der englischen Bildhauer (Andersson, Suckale) in Betracht ziehen würden, bleibt klar, dass sie die Welt unseres Schnitzers nicht berührten. Bei Skulpturen wie Madonnen aus Oignies, Gassicourt oder Gaillac ist die Drapierung der unteren Kleider mit parallel gezeichneten Falten nur oberflächlich zu vergleichen, bei Madonna aus Saint-Omer [Abb. 7] findet sich die Öffnung des Blockes zwischen dem Arm und Körper. Doch dieses Element begegnet hier im Kontext einer Figur mit völlig anderer Aufbau: der Körper schält sich vom Mantel aus und bestimmt die die innere organische Struktur berücksichtigende Gesamtform der Skulptur. Bei der Lomnitzer Madonna tritt im Gegenteil die äußere Form in den Vordergrund, die den Eindruck erweckt, als ob der umgürtete Körper – die frühere Fülle und Geschlossenheit durchbrechend – in sie sekundär eingesetzt wäre. Meines Wissens kennt das 13. Jh. im Westen mit seiner starken Tendenz zur stilistischen Einheitlichkeit die Anwendung von mehreren Arten der Draperie an einer Skulptur nicht. Für die Skulptur der Alpenländer des 12. und anfangs des 13. Jhs. waren die Bindungen an Norditalien bestimmend. In der ersten Hälfte des 13. Jhs. begegneten die Künstler der lombardischen Schulung nur ausnahmsweise den auf die zeitgenössischen westlichen Werke reagierenden Kollegen. Ein solcher Fall scheint der Zyklus aus Wessobrunn in Oberbayern zu sein. Der Eingriff in die lombardische Stilgrundlage der Wende des 12. und 13. Jhs. wird hier entweder auf nordfranzösische Vorbilder oder auf den Einfluss des Meisters der Ecclesia aus zweiter Hand [Abb. 8] zurückgeführt. Die Modellierung des Körpers, der vom in parallelen Falten drapierten Kleid umgeschlungen ist, samt der Befreiung des Armes steht sicher dem Strassburger Meister näher als der selbe Teil der Lomnitzer Madonna, die dem rigiden Typus verpflichtet ist. Im Vergleich zu der Straßburger Skulptur sind in beiden Fällen die Falten weicher und einfacher modelliert und die Freiheit der Bewegung beschränkt. Der Wessobrunner Zyklus

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