Ročenka 2004 - 2005

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Galéria – Ročenka SNG 2004–2005

6. Veit Stoß: Slakerscher Kruzifix, Detail. 1491. Krakau, Marienkirche. Repro: KAHSNITZ 1995–1996

Im Zentrum der Entwicklung zum Kruzifix als eine symbolisierte Harfe, steht hier die Vorbereitung der historischen Erzählung und Darstellung der Passion als ausgedehnter (extensus!) Zyklus. Die zuvor besprochene Allegorie – wie eine Harfe – wird durch die im Speculum Humanae Salvationes zu findende narratio zum Subtext. Wesentlich für diese Untersuchung ist das „fiktives Interview“ mit der Hl. Maria, das Anselm von Canter-

bury (1033–1109) zugeschrieben wird, jedoch wohl nach 1238 zu datieren ist und um 1300 ins Deutsch übertragen wurde, der Dialogus beatae Maria et Anselmi de passione Domini.11 Zur Kreuzigung befragt antwortet Maria: „Höre Anselm, was ich dir jetzt bericht, ist überaus beklagenswert, und keiner der Evangelisten hat es aufgeschrieben“; dann wird die Kreuzigung in allen Einzelheiten ausführlich beschrieben. Und hier taucht erstmals folgenreich für unsere Untersuchung eine Beschreibung des „Wie“ auf: „Postea pedes funibus traxerunt, et clavu acutissimum incutierbant, et adeo tensus fuit ut omnia ossa sua et membra apparerent, ita ut impleretur illud Psalmi...“12 Doch wie wurde Christus nun gekreuzigt? Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten der Kreuzannagelung. Erstmals beschrieben finden sie sich in den Meditationes Vitae Christi. Ein Text, der dem hl. Bonaventura zugeschrieben wird und wahrscheinlich um 1300 entstanden ist. Die eine Form liegend, oder – jacente cruce – vollzog sich folgendermaßen: Das Kreuz wird auf die Erde gelegt und Christus darüber ausgestreckt, dann werden seine Hände und Füße angenagelt und zuletzt wird das Kreuz aufgerichtet. Die andere Form der Annagelung an das stehende Kreuz – errecto cruce – findet sich in den Meditationes paralell neben der ersten und wird dort dem Leser zur Auswahl angeboten. Sie wird so beschrieben: Zunächst wird das Kreuz aufgerichtet, dann werden die Leitern zu den beiden Seiten des Querarms und eine mittlere zum Suppedaneum angestellt. Jesus wird gezwungen, die mittlere Leiter zu besteigen und seine Arme auszubreiten, die dann ebenso angenagelt werden wie seine Füße. Beiden Erzählungen ist gemeinsam, dass die Glieder des Gekreuzigten auseinandergezerrt werden, dass die Knochen seines Körpers hervortreten und die prophezeite Erfüllung von Psalm 21, 18 eintritt: „Sie haben alle meine Knochen gezählt.“ Mit der nun rasant fortschreitenden narrativen Ausschmückung, wir die Passionserzählung immer mehr in einen Rahmen eingebunden, der die Handhabe des Einzelnen mit ihr erleichtert. – Beispiel: Die einzelnen Abschnitte der Passion werden auf die Horen des Tages verteilt, man kann sie innerhalb eines (monastischen) Tagesablauf in Einzelbildern betrachten (visualisieren) und dabei meditieren.13 Rainer Haussherr hat bereits vorgeschlagen zu untersuchen, ob diese Verteilung der Passionsgeschichte auf die Gebetshoren, die für die Kreuzhoren in den Stundenbüchern von besonderer Bedeutung waren, auch für die Entstehung der Passionszyklen eine besondere Rolle spielten: Die Verbindung von bestimmten Erweiterungen der Passionsikonographie mit der

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Interrogatio sancti Anselmi de passione domini. In: Patrologia Latina. Series prima, P.L. 159, Sp. 271-290. Verfasserlexikon (2. Auflage, Hg. MIGNE, Jacques Paul), 1978, Sp. 373 ff (H. EGGERS). 12 Ibidem.

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