Ročenka 2004 - 2005

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Lothar Schultes: Das Relief der Geburt Christi aus Freistadt/Hlohovec

12. a–b Johannesschüssel aus Tajov. Um 1470(?). Banská Bystrica, Stredoslovenské múzeum. Fotos: Fotoarchív SNG – N. Gross

Einen eindeutigen Datierungshinweis gibt der, wohl vom selben Künstler stammende, 1478 bezeichnete Kruzifix der Stiftskirche von Melk.49 [Abb. 11] Dieses bisher weitgehend unbekannte Werk übertrifft die Wiener Figuren an Sensibilität und Empfindungskraft und wäre demnach wohl zu den eigenhändigen Arbeiten des Meisters zu zählen. Der zarte Körper, dessen Anatomie mit größter Feinheit wiedergegeben ist, entspricht weitgehend dem Gekreuzigten im Schrein des 1466 datierten Hochaltars von St. Jakob in Rothenburg ob der Tauber. Auch die Charakterisierung des Antlitzes und der Faltenstil des Lendentuchs stimmen weitestgehend überein. Die von Hartmut Scholz ausführlich begründete Zuschreibung des Rothenburger Gekreuzigten an Hans Kamensetzer lässt sich somit wohl auch auf den Kruzifix in Melk ausdehnen. Sie wird auch dadurch bestätigt, dass die zum Rothenburger Kruzifix gehörenden Engel mit jenen der Geburtsreliefs von Amsterdam und Hlohovec eng verwandt sind.50 Außerdem erinnern die überaus virtuos geschnitzten, frei flatternden Enden des Lendentuches beider Kruzifixe an die frei gearbeiteten Partien der so genannten „DürerMadonna“. Das edle Antlitz Christi entspricht in seiner Ausdruckskraft und Sensibitität darüber hinaus dem Johanneshaupt aus der Pfarrkirche von Tajov, das zu den bedeutendsten Exponaten der Preßburger Ausstellung zählte und von Homolka in die siebziger Jahre des 15. Jahrhunderts, nun aber um 1480 datiert wurde. [Abb. 12] Neuerdings nimmt Robert Suckale das Werk für den Meister der Nördlinger Hochaltarfiguren in Anspruch und schlägt eine dementsprechend frühere Entstehungszeit vor.51 Hingegen hat man für das Relief von Hlohovec und die Verkündigungsmaria von Veľký Biel sicher zu Recht

eine Entstehung in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts vermutet. Tatsächlich handelt es sich dabei verglichen mit den bisher besprochenen Werken um die reifste Leistung des Künstlers, für deren Ausführung die Zeit bis zu seinem 1487 erfolgten Tod vielleicht gerade noch ausreichte. Hält man sich die damalige politische Situation vor Augen, so ist es gut vorstellbar, dass Kamensetzer durch seine Tätigkeit beiderseits der politischen Fronten in Schwierigkeiten geriet. Gerne wüssten wir, was sich vor und während der Belagerung Wiens durch die Ungarn in seiner Werkstatt zugetragen hat. Jedenfalls dürfte die Lage für den Künstler nach der Flucht des Kaisers nach Graz und schließlich nach Linz immer prekärer geworden sein. Seit Jänner 1485 war Wien vom ungarischen Heer eingeschlossen. Hunger und Krankheiten rieben die verbliebene Bevölkerung auf. Bereits am 1. Juni konnte Matthias Corvinus seinen feierlichen Einzug halten, was für Kamensetzer 49

KOLLER, Manfred: Retabel und Skulpturen im Umkreis des Kefermarkter Altares – Befunde und Erhaltung. In: SCHULTES, Lothar (Hg.): Der Meister des Kefermarkter Altars. Die Ergebnisse des Linzer Symposions. Linz 1993, S. 141 f., Abb. 218; KOLLER, Manfred – PETSCHE, Christina: Drei Kruzifixe der Spätgotik aus Niederösterreich. In: Restauratorenblätter, 18, 1998, S. 143-145, Abb. 1-3. 50 SCHOLZ 1994 (zit. Anm. 2), S. 106 ff., Abb. 7 f., 12-14. 51 HOMOLKA 2001 (zit. Anm. 37), S. 61; BURAN (Hg.) 2003 (zit. Anm. 1), S. 711 f., Nr. 4.38, Farbabb. S. 380; SUCKALE, Robert: Der Meister der Nördlinger Hochaltarfiguren und Till Riemenschneider. Exemplarische Beiträge zum Verständnis ihrer Kunst. In: Opus Tessellatum. Modi und Grenzgänge der Kunstwissenschaft. Festschrift für Peter Cornelius Claussen. Hildesheim – Zürich – New York 2004, S. 327-332.

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