Susanne Lierman ''Vermehrung des Schweigens'' (Leseprobe)

Page 1





Susanne Liermann

Die Vermehrung des Schweigens Selbstbilder später DDR-Literatur

leipzig london


Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte der deutschen Ausgabe © 2012 Plöttner Verlag GmbH & Co. KG, Leipzig London 1. Auflage ISBN 978-3-86211-057-5 Umschlaggestaltung: Hagen Schied Lektorat: Hagen Schied Layout und Satz: Monique Beauvais Druck: Winterwork, Borsdorf www.ploettner-verlag.de


Inhalt

Die späte DDR-Literatur: Fragen und Voraussetzungen »Die Vermehrung des Schweigens« Die Texte Der historische Kontext

9 9 17 27

Stephan Hermlins Abendlicht 42 Dichtung und Leben 43 52 »Pfuhl der Verdammnis«: Dichtung im Sozialismus Die Schweigsamkeit der Literatur 56 62 Artistische Rückzugsgefechte – Zum politischen Sinn der Literatur Franz Fühmanns Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht Eine schonungslose Autobiographik Wider das Verdrängen – eine Aufgabe der Literatur Eine negative Anthropologie Autobiographische Schuld und literarische Sühne Die Implosion der Kritik in einem kulturpolitischen Essay Essayistik: »Über der Spanne zwischen dem Gewollten und dem Hervorgebrachten in Stücke gehn« Selbstverwerfungen Christa Wolfs Kassandra Literatur als »Richtspruch«: Auch eine Literaturontologie »Mit meiner Stimme sprechen«: Monologische Überwindung tragischer Muster in der Erzählung Die Erzählung als »Modell für eine Art Utopie« Kapitulationen

66 69 72 76 81 84 88 92 96 99 103 106 109


»Eine Poetik kann ich ihnen nicht bieten« - Die poetologische Diskussion Klandestinität

116 122

Gert Neumanns Elf Uhr Poetik einer Verweigerung »Ich war eines Tages dem Sprachbewußtsein begegnet« Verständliche Texte und ihre »Entwürdigung des Lesers« »Literatur-Calamitäten«

129

Bert Papenfuß-Goreks, Stefan Dörings und Jan Faktors Zoro in Skorne Ein Manifest der inoffiziellen Szene »[J]edes Gedicht ist unfähig«: Sinnsuspension und Grenzverletzungsrhetorik Pseudologie als Selbstbehauptung Die Kommunikation von Widersinn oder Die Kalamitäten einer zirkulären Öffentlichkeit

148

Hans Joachim Schädlichs Satzsuchung Zensur als »Stilschule« Satzsuchung als kleine Phänomenologie der DDR-Literatur Kritik?

175

Resümee

202

Bibliographie

212

132 135 139 141

151 155 160 164

178 183 194


Dank Das Buch ist die gekürzte und überarbeitete Fassung der 2011 an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichten Dissertation. Für die Betreuung danke ich meinem Doktorvater Prof. Rüdiger Steinlein, für die zweite Begutachtung Prof. Roland Berbig, für Kritik, Gespräche, Anregungen und Lektüren Gregor Ohlerich, Henning Wrage, Heiko Vosgerau, Stefanie Posch, Malte Kelm, Thomas Möbius, meinen Mitdoktorandinnen bei Prof. Steinlein für die stets ermunternden Treffen, der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für das Gewähren eines Promotionsstipendiums, meiner Familie und meinen Freunden für die vielfältige seelisch-moralische Unterstützung, ohnehin vielmals meinen Eltern, die mein Studium stets gefördert und unterstützt haben. Ohne all dies hätte die Arbeit nicht entstehen können.

7



Die späte DDR-Literatur: Fragen und Voraussetzungen

»Die Vermehrung des Schweigens« »Die Vermehrung des Schweigens« (ZS, 16)1 – das ist Bestandsaufnahme und Selbstbeschreibung der späten DDR-Literatur. Das titelgebende Zitat ist dem Text Zoro in Skorne entnommen, einer Art Manifest von drei jungen Autoren, Bert PapenfußGorek, Stefan Döring und Jan Faktor, die sich in den achtziger Jahren, dem Jahrzehnt des Untergangs der DDR, im inoffiziellen Rahmen Publikationsmöglichkeiten selbst schufen. Die Metapher des Schweigens begegnet jedoch nicht nur hier. In der späten DDR-Literatur wird verschiedentlich ein Schweigen benannt: In Gert Neumanns Elf Uhr gilt es als Form seiner »poetische[n] Existenz« (EU, 139); in Wolfs Kassandra ist es eins, »in das meine Stimme paßte« (K, 368). Das Schweigen wird explizit und implizit Klammer eines Selbstverständnisses später DDR-Literatur. 1  Nachweise

der ausgewählten Prosa sind im laufenden Text abgekürzt: A = Hermlin, Stephan: Abendlicht. Leipzig 1979. VF = Fühmann, Franz: Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht. In: Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht. Unter den Paranyas. Traum-Erzählungen- und Notate. Werke Bd. 7. Rostock 1993. S. 7–205. K = Wolf, Christa: Kassandra. Voraussetzungen einer Erzählung. Werke Bd. 7. München 2000. EU = Neumann, Gert: Elf Uhr. Rostock 1990. ZS = Papenfuß-Gorek, Bert/Faktor, Jan/Döring, Stefan: Zoro in Skorne. In: Vogel oder Käfig sein. Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften in der DDR 1979–1989. Hrsg. v. Klaus Michael und Thomas Wohlfahrt. Berlin 1991. S. 14–25. S = Schädlich, Hans Joachim: Satzsuchung. In: Versuchte Nähe. Hamburg 1977. S. 203–215.

9


Die Literatur fragt nun vielmals, was sie leisten kann und will. Sie fragt nach ihrem Ort, ihrer Relevanz. Es geht vielmals um ihren Gegenwartsbezug und um Poetologien: um Gestaltungsmöglichkeiten, um Ausdruck und Form. Dabei muss die Selbstbeschäftigung nicht auch thematisches Zentrum sein; Vorstellungen von Literatur grundieren auch die Texte, denen es vordergründig um anderes geht, in denen die entworfenen Bilder von Literatur eine bestimmte Funktion im Textzusammenhang haben. Die Selbstbefragungen, so unterschiedlich sie auch aussehen, tönen sich dabei allesamt äußerst skeptisch. Das Schweigen ist dafür nur ein Bild unter anderen: Wolfs Kassandra ist vor allem noch immer die unerhörte Seherin. Die Skepsis äußert sich nicht nur verschiedentlich, sondern betrifft auch alle Dimensionen von Literatur: Das Unerhörte etwa verlagert die Schwierigkeiten literarischer Kommunikation auf die Rezeption, ihr werden in zunehmend hermetischen Texten – Neumanns Elf Uhr ist einer davon – auch immense Hürden gebaut. Der literarische Ausdruck also kann ebenso zu einem verschwiegenen werden, wie das Verwehrende und Restriktive des diktatorischen Kontexts angesprochen sein konnte. Das Schweigen und auch das Unerhörte der Rede nehmen dabei in den Texten nicht vornehmlich Bezug auf die eingeschränkten Publikationsmöglichkeiten. Bei den hier versammelten Texten unternimmt das nur Franz Fühmann mit Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht. Der Essay entsteht im Zusammenhang mit Fühmanns editorischer Arbeit an einer ersten Auswahl von Trakl-Werken in der DDR, die dann argumentativ flankiert wurde. Nur die Hälfte der ausgewählten Texte konnte dabei überhaupt in DDR-Verlagen erscheinen. Hans Joachim Schädlichs

10


Satzsuchung und Neumanns Elf Uhr erscheinen ausschließlich in der BRD, Zoro in Skorne in der nur inoffiziellen Zeitschrift SCHADEN. Sie kann man als eine Art Manifestation dessen sehen, was Wolf mit ihrer Gestaltung der Kassandra, der Seherin, der niemand glaubt, beschreibt: dass sie unerhört bleiben (sollten). Die Texte selbst kommunizieren dabei zwar auch, aber kaum vordergründig ihre institutionellen Grenzen, etwa all die Mechanismen der Zensur, die nur bei Schädlich thematisiert werden. Diesen Autoren dürfte sich jedoch ganz besonders die Frage gestellt haben, was Literatur in einem diktatorischen Umfeld leisten kann und soll: Ihrer Literatur wurde keine Öffentlichkeit geboten; die Literatur gerade der inoffiziellen Szene ist eine in Nischen verdrängte, dort strengstens observierte und partiell verfolgte. Die Abkanzelung jedoch wird nicht Ziel der Kritik, nicht einmal Thema und dennoch Grundlage eines literarischen Selbstverständnisses, das dann einen begrifflichen Bezugspunkt im Schweigen hat. Im zunehmenden Kreisen der Literatur um sich selbst ist zunächst eine Abwendung von der Realität impliziert. Auch werden Literatur und Welt explizit nun vielmals gegeneinander ausgespielt; kein Zweifel besteht daran, dass Literatur überlegen erscheint. Sie wird dann zumeist mit existentiellem Ernst betrieben und noch immer mit hehren Aufgaben betraut. Gerade deswegen wendet sie sich von ihrem Kontext ab. In der ästhetischen Praxis jedoch begegnet dann immer wieder ein Kommunikationsparadox. Literatur wird zwar vielmals noch mit hohem Potential vorgestellt; sie wird ausformuliert als Träger verwehrter Möglichkeiten. Aber diese Ansprüche werden als fragile vorgeführt, gerade wo sie kaum mehr als kommunikabel gelten. Form- und Sprachfindungsstörungen

11


begegnen; sie leiten sich höchst unterschiedlich her, aber prägen alle hier behandelten Texte. Sie dürfen als symptomatische gelten: Jeder Text für sich gerät auf seine Weise nun zu einem latent verschwiegenen. Der negative Zeitbezug begründet zumeist das höchst Dilemmatische des Selbstverständnisses. Wo die Literatur mit der Realität nichts mehr zu tun haben will, verweigert sie sich auch praktisch und entzieht sich der schlichten Konsumption – ob nun mit generösen Selbstverwerfungen, einer ausformulierten Anti-Ästhetik oder einer praktisch hermetischen Literatur. Das Schweigen ist dann abstrakte Metapher für diese Diskrepanz zwischen einem Soll und dem Ist-Zustand, zwischen Aussagemöglichkeiten und Aussagewert. Eberhard Lämmert hat sie pragmatisch als Signum beherrschter Literatur ausgewiesen.2 Um diese beherrschte Literatur und ihr Selbstverständnis wird es gehen. Das Selbstverständnis hat, so wenig es von seinen Bedingungen selbst auch preisgeben mag, viel mit dem diktatorischen Kontext zu tun. In ihren mannigfaltigen, gerade auch poetologischen Selbstthematisierungen wird eine »Spannung zwischen ›Gleichschaltungs‹-Anspruch und sozialem Protestpotential«3 nachvollziehbar, die Schnell schon der Literatur der inneren Emigration zugewiesen hat. Die Selbstverortungen später DDR-Literatur – auch, wo sie rein formale sind – bezeugen und reagieren auf ein ähnliches Spannungsverhältnis. 2  Vgl. Lämmert, Eberhard: Beherrschte Literatur. Vom Elend des Schreibens unter Diktaturen. In: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozia­ lismus und DDR-Sozialismus. Hrsg. v. Günther Rüther. Paderborn 1997. S. 15–37, S. 26f. 3  Schnell, Ralf: Dichtung in finsteren Zeiten. Deutsche Literatur und Faschismus. Hamburg 1998, S. 121.

12


Die Selbstthematisierungen sind höchst unterschiedlich. Hier steht dann nicht vornehmlich eine Vergleichbarkeit der Texte im Vordergrund. Im Fokus auf Verbindendes ist das Interesse immer eher kultur- denn literaturhistorischer Art. Die unterschiedlichen Strategien haben einen gemeinsamen Problemhorizont und zeugen somit von der »zentripetalen Kraft des Gesamtsystems«,4 die Wrage für die Entwicklung der DDRLiteratur veranschlagt. Auch in der DDR werden also, wie Schnell für die Literatur während des Nationalsozialismus schreibt, »die Reaktionsformen selbst derjenigen«, die die Diktatur »bekämpften«,5 durch sie bestimmt. Die Texte dahingehend zu lesen, ist in der Frage nach einem Schreiben, nach Selbstbildern der Literatur in der DDR angelegt. Diese Zuspitzung auf eine Frage will dem einzelnen Text nicht restlos gerecht werden, sondern den gemeinsamen Pro­ blemhorizont aller hier behandelten Texte herauskristallisieren. Allein in ihrer Selbstbefragung werden die Texte tenden­tiell zu artistischen Rückzugsgefechten; schon dadurch erscheinen sie als Krisensymptom.6 Zudem wird die Literatur stets latent als potentielle oder virtuelle behandelt. Gerade wo sie sich – 4  Wrage, Henning: Die Zeit der Kunst. Literatur, Film und Fernsehen in der DDR der 1960er Jahre. Eine Kulturgeschichte in Beispielen. Heidelberg 2008, S. 25. 5  Schnell: Dichtung in finsteren Zeiten, a.a.O., S. 121. Lämmert aktualisiert die These, »daß Diktatur alle Kunst deformiert oder instrumentalisiert« auch für DDR-Literatur. Lämmert: Beherrschte Literatur, a.a.O., S. 36. Schon Emmerich erschien als »letzte Rache der Instanzen der Repression«, »daß es ihnen für lange Zeit gelingt, auch ihren Gegnern noch die Spielregeln zu oktroyieren.« Emmerich, Wolfgang: Status melancholicus. Zur Transformation der Utopie in vier Jahrzehnten. In: Die andere deutsche Literatur. Aufsätze zur Literatur aus der DDR. Opladen 1994. S. 175–189, S. 182. 6  Vgl. Schmeling, Manfred: Autothematische Dichtung als Konfrontation. Zur Systematik literarischer Selbstdarstellung. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Nr. 8/1978. S. 77­–97, S. 93.

13


wie insbesondere mit Wolfs Suche nach einem weiblichen Ausdruck – prospektiv gibt, akzentuiert sie (noch) Abwesendes. So tun sich vielfältige Spannungsfelder auf, auch aus den Zusammenhängen von Selbstbildern auf der einen und der ästhetischen Praxis der Texte auf der anderen Seite. Wo, wie in Wolfs Kassandra-Vorlesungen, ein poetologischer Diskurs geführt wird, wird diese Spannung thematisch. Damit sind konkrete Fragen vorformuliert, die die hermeneutischen Analysen in den Vordergrund rücken: die nach Literaturentwürfen und ihrer Bedeutung, ihrer Funktion im Textzusammenhang und ihrer Übersetzung sowohl in eine ästhetische Praxis wie in eine poetologische Diskussion. Mit dem Fokus auf Literaturbild und ästhetische Praxis stellt sich somit u.a. die Frage nach dem Preis, den es gekostet hat, einen zumal existentiell aufgeladenen literarischen Anspruch zu verteidigen. Im Vergleich mit der beherrschten Literatur zwischen 1933 und 1945 rechnet die DDR-Literatur die Verluste vor, thematisiert und demonstriert ihre Schwierigkeiten. Christa Wolfs Was bleibt7 hat diesbezüglich die Frage subtil beantwortet. In der Schilderung einer Lesung, in den vielen Fragen und Schwierigkeiten einer Autorschaftsfigur tritt ein Text nicht auf. Er bleibt auch bei der Lesung anonym. Was bleibt thematisiert das von Lämmert benannte Elend des Schreibens8 unter einer Diktatur, das die staatliche Einschränkung mit seinen Formen der Repression benennt, aber auch die paradoxale literarische Kommunikation in den wenigen verbleibenden Freiräumen. Nicht nur, dass das Schreiben mit Zweifeln über7  Wolf, Christa: Was bleibt. In: Sommerstück. Was bleibt. Werke Bd. 10. München 2001. S. 221–289. 8  Lämmert: Beherrschte Literatur, a.a.O.

14


häuft wird, auch das Publikum bei einer Lesung geht generös über den Text hinweg. Dass ein diktatorisches Bedingungsgefüge der Literatur nur bedingt zuträglich war, zeigt sich u.a. in dieser Unbestimmtheit, die weder Autorin, Erzählerin, noch das dargestellte Publikum aufheben; Was bleibt und mehr noch die Rezeption führten vor, dass Größe und Bedeutsamkeit von Literatur ohne sicht- resp. nachlesbares Fundament, damit fragil und spekulativ blieben. Der Text als bleibende Leerstelle ist ein drastisches Bild, das hier problemlos stehen konnte, da nun Bedingungen der Literatur in den Blick genommen wurden. In der Kritik – vielmehr am Zeitpunkt der Publikation denn an der Erzählung selbst – wurde das Fehlen eines solch systemkritischen Diskurses zuvor moniert. Damit begründete sich ein Werturteil, das vorherige Texte kaum weiter in den Blick zu nehmen gewillt war. Schaut man jedoch auf die Texte, kündigt sich bei Wolf schon seit Nachdenken über Christa T. ein wenn schon nicht elendes, dann doch schwieriges Schreiben an. Die Selbstthematisierung war der DDR-Literatur also keinesfalls neu. Christa Wolf datierte Was bleibt auf 1979/1989. Schon in den siebziger Jahren stehen in zahlreichen Texten Künstler und Künstlerfiguren im Zentrum, etwa in Anna Seghers Reisebegegnung (1973) und Wolfs Kein Ort. Nirgends (1977). Heym rückt in Collin (1979) und Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe (1970) Schriftstellerfiguren ins Zentrum, im König David Bericht (1972) einen Chronisten. Neben den Künstlern stehen verwandte Figuren. Monika Maron in Flugasche (1981) und Hermann Kant in Das Impressum (1972) wählen Journalisten als Protagonisten. Christa T. aus Wolfs Nachdenken über Christa T. (bereits 1968) ist ebenso Germanistin wie der Protagonist in Günter de Bruyns Preisverleihung (1973). In Kunerts Gast aus England (1973) steht ein Verlagslektor im Vorder-

15


grund. Schon diese Texte sind hintersinnige Aushandlungsprozesse, die nach dem fragen, was Literatur unter den gegebenen Bedingungen leisten kann und soll. Die Einflüsse werden, zunächst personifiziert in Typen, geschichtsimmanent ausgehandelt. Noch in Collin wird das Verhältnis von Literatur und Politik personifiziert und zugespitzt als ein Wettlauf auf Leben und Tod dargestellt. Diese Tendenz weist zurück bis in die sechziger Jahre und ist wohl symptomatisch für die Genese der DDR-Literatur. In Die Zeit der Kunst stellt Henning Wrage dar, wie der Bezug zum Kontext, zu den Versuchen »politischer Planbarkeit der Kultur«9 zu einer selbstreflexiven Wendung geführt hat. So entstehen vermehrt seit den siebziger Jahren essayistische Auseinandersetzungen mit Fragen der Literatur; gerade die Essayistik, das hält unter anderem Böthig fest, avanciert zu einer für die späte DDR-Literatur symptomatischen ästhetischen Praxis.10 Aber auch die narrativen Selbstreferenzen in der Prosa einer »nachholende[n] Modernisierung«11 nehmen zu. Wolf wendet sich dem Erzählen selbst zu, was sich paradigmatisch schon in einem Titel wie Nachdenken über Christa T. äußert. Bei Volker Braun nehmen Kommentierung des Erzählens und Selbstzitationen unaufhörlich zu. Kaum ein Text entsteht, der nicht, wie im Hinze-Kunze-Roman, eine Ebene einblendet, in der es 9  Wrage:

Die Zeit der Kunst, a.a.O., S. 359. Böthig schreibt zur späten DDR-Literatur: »In Anspruch und Realität war sie in weiten Teilen eine essayistische Poesie.« Böthig: Grammatik einer Landschaft, a.a.O., S. 72. Vgl. auch ausführlicher ebd., S. 13ff. und 91ff. Zur Signifikanz der Essayistik bei Wolf vgl. Theml, Katharina: Fortgesetzter Versuch. Zu einer Poetik des Essays in der Gegenwartsliteratur am Beispiel von Texten Christa Wolfs. Frankfurt am Main 2003. Zu Fühmann vgl. Krause, Stephan: Topographien des Unvollendbaren, a.a.O., S. 179ff. 11  Emmerich, Wolfgang: Schicksale der Moderne in der DDR. In: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Hrsg. v. Sabina Becker, Helmuth Kiesel und Robert Krause. Berlin, New York 2007. S. 419–434, S. 425. 10

16


um das Schreiben, um Literatur und ihre Möglichkeiten selbst geht. Wolfgang Emmerich hat auch die »Unberatenheit« und Unsicherheit erzählerischer Perspektiven, eine »Entorganisierung und Desintegration«12 der Fabel, das »Eindringen reflexiver Momente«13 als Momente später DDR-Prosa beschrieben; so sei sie, das hält schon Emmerich summarisch fest, »beim ›stummen Vorsichhinsprechen‹ angekommen«.14

12  Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Berlin 2000, S. 286. 13  Emmerich, Wolfgang: Der verlorene Faden. Probleme des Erzählens in den siebziger Jahren. In: Die andere deutsche Literatur, a.a.O. S. 46–78, S. 53. 14  »[…] das Batt der westlichen Erzählliteratur treffend diagnostiziert hat.« Ebd., S. 49.

17



Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.