Gesine Mielitz "Paradiescreme - Eine Freundschaft im geteilten Deutschland"

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Gesine Mielitz

PARADIESCREME EINE FREUNDSCHAFT IM GETEILTEN DEUTSCHLAND ROMAN

l eipzig


Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © 2014 Jonas Plöttner Verlag UG, Leipzig 1. Auflage ISBN 978-3-95537-148-7 E-Book 978-3-95537-157-9 Umschlagreihengestaltung: Maike Hohmeier, Hamburg Umschlag: Jonas Plöttner Satz: Martin Schotten Gesetzt in der Adobe Garamond Pro Druck: In der EU www.ploettner-verlag.de


F端r Inga


z u r au t o r i n

Gesine Mielitz wurde 1961 in Teheran geboren, wuchs im Schwarzwald auf und lebt heute in Hamburg. Dort studierte sie Musik und Germanistik, bevor sie nach Kanada und später nach Griechenland ging. Schreibend erkundet sie das Eigene und das Fremde, ihr erstes Buch veröffentlichte sie über Alltag und Abenteuer in Griechenland. Die DDR lernte sie durch zahlreiche Besuche kennen, als Jugendliche mit der Familie, später selbständig. Gesine Mielitz unterrichtet an einem Hamburger Gymnasium Musik, Deutsch, Darstellendes Spiel und Kreatives Schreiben. » Paradiescreme « ist ihre zweite Veröffentlichung.


zum buch

» Wenn ich schon nicht Betonfacharbeiterin werde und höchstpersönlich die Mauer einreiße, setze ich mich doch wenigstens mit dir aufs Kirchendach und piekse mit gesamtdeutschen Gesprächen ein paar Löcher in den antifaschistischen Schutzwall. « Anne lächelt verschwörerisch. Sina und Anne leben auf verschiedenen Seiten des Eisernen Vorhangs und werden in vielen gemeinsamen Sommerferien beste Freundinnen. Zwischen Alltagsbewältigung und Berufswahl, zwischen Ansprüchen der eigenen Väter und des » Vater Staat «, zwischen Anpassung und Auflehnung suchen die beiden Mädchen ihren eigenen Weg. Sie entdecken die erste Liebe und ihre Leidenschaft für die Musik, sie trampen kreuz und quer durch die DDR und träumen davon, gemeinsam die ganze Welt zu bereisen. Als Anne kurz vor der Wende unerwartet ein Visum für einen Westbesuch erhält, steht ihrer Freundschaft die größte Bewährungsprobe bevor. Doch der Roman handelt nicht nur von Freundschaft und Erwachsenwerden unter den ­Bedingungen gegensätzlicher politischer Systeme; er zeichnet auch das Portrait einer unkonventionellen westdeutschen Familie in der Endphase des Kalten Krieges und den ersten Jahren der Friedensbewegung. Er thematisiert die Beziehung zwischen ­Vätern und Töchtern ebenso wie den Prozess der Erinnerung – und nicht zuletzt zeigt er die Musik als einer der tiefsten Quellen von Lebendigkeit und Hoffnung. »­  ­Paradiescreme « bestätigt wieder einmal, dass Zeitgeschichte besonders lebendig wird, wenn sie in individuellen Einzel­ schicksalen Gestalt gewinnt. Ungewöhnlich ist die Perspektive einer westdeutschen Jugendlichen, deren naiv genaue Wahr­ nehmung besondere Einblicke eröffnet.


Inhalt

11 Kniefall auf dem Wickeltisch 17 Zuhause und Daheim 23 Im Auftrag der Väter 35 Im Auftrag des Herrn 39 Auf dem Pferdewagen durch die Vergangenheit 43 Magna Charta 47 Lebensträume 53 Schiffsschaukel 57 Revolutionäres Bewusstsein 63 Kleines zänkisches Volk an der Westgrenze der Sowjetunion 71 Lesetag 77 Ermutigung 83 Geht doch nach drüben ! 89 Spar deinen Wein nicht auf für morgen 97 Hoffnungsvoll romantisch 105 Ein Held der neuen Zeit 113 Warten bei Wenzel 123 Nachtgespräche 133 Die Welt durch leise Töne zu verändern 141 Der Stalker 151 Was wäre, wenn … 157 Kleiner Grenzverkehr 165 Picknick in der Hauptstadt 171 » für den, der sich zu träumen traut … « 181 Schmuggelware


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Per Anhalter durch die Mark Brandenburg Das Lamm, das sich fressen lässt … Hausbesetzung Schattenseiten Kartoffeln und Mohnfelder Liviu Rheinsberg Das Komma zwischen Bukarest und London Glück Thomas Gift Paradiescreme Dazwischen



Kniefall auf dem Wickeltisch

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ie Kiste ist so groß, dass der Vater fast dahinter verschwindet. » Kaninchen ! «, jubelt die Schwester, » da sind Kaninchen drin ! « » Telefunken «, liest Sina. » Das ist kein Telefunke, das ist ein Fernseher ! « Der Bruder weist auf eine Zeichnung an der Seitenwand. » Ein Fernseher für uns ? – Das erlaubt der Vater nie ! «, da ist Sina sich sicher. Im Fernsehen läuft meistens Schund. So nennt der Vater »  Daktari  «, »  Bonanza  « und die Zeichentrickfilme, die Sina heimlich bei ihren Schulfreundinnen sieht. Sina mag Schund. Wenn der Urwalddoktor von einem Raubtier angefallen wird, kneift sie die Augen zu. An der Musik kann sie hören, wann die Gefahr vorüber ist. Sobald alle gerettet sind, kehrt der Doktor mit seinem Jeep zu der blonden Frau zurück, die ihn auf der Veranda seiner Ranch erwartet, die Musik wird feierlich und Sina atmet auf. Schund ist verboten. Der Vater liest stattdessen » Räuber Hotzen­ plotz « vor. Sina mag Vorlesen, auch wenn sie für die Bücher der kleinen Geschwister schon ein bisschen zu groß ist. Spannender sind die Geschichten, die der Vater erzählt, wenn die Geschwister im Bett sind. Sie handeln von einem Kaiser, der verjagt wurde, von

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Arbeitern, die Gerechtigkeit wollten, von Anführern, die ihre Meinung sagten und dafür ins Gefängnis kamen. Fast immer kommt der Krieg darin vor, der Vater hat ihn selbst erlebt. Krieg ist das Schrecklichste, was man sich vorstellen kann ! Da nutzt es nichts, die Augen zuzukneifen oder sich zu denken: Das ist doch nur eine erfundene Geschichte. – » Das ist die deutsche Geschichte «, sagt der Vater, » und ihr müsst dafür sorgen, dass sie sich nicht wiederholt ! « Sina hat keine Vorstellung davon, wie sie das machen soll, aber sie verspricht dem Vater alles, wenn die Geschichte nur gut ausgeht, so wie » Daktari «. Ein einziges Mal nimmt der Vater alle Kinder mit zum Fernsehen bei den Nachbarn. Deren Wohnzimmer ist voller Leute, alle starren in das Schneegestöber auf der Mattscheibe. Ab und zu schwebt eine weiße Gestalt mit Kugelkopf durch das Geflimmer. Musik gibt es nicht, nur ein geheimnisvolles Rauschen und Piepsen, durch das unverständliche Wörter taumeln. Kein Wunder: Die Bilder und Töne kommen direkt vom Mond. Eine der Gestalten rammt eine amerikanische Flagge in den Boden. Die Stimme des deutschen Kommentators wird feierlich: » Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit … « Wieder erhebt sich vor Sina eine Geschichte, noch größer als die, von der der Vater abends erzählt. Bedrohlich scheint auch diese zu sein. Sina beginnt, von weißen Gespenstern zu träumen, die durch Schneegestöber schweben. Die Guten haben Apollo-Raketen, die Bösen Sputniks. Die sehen aus wie Nudeln. Wenn einer der Anführer den roten Knopf drückt, ist

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die Welt tot. Auch das weiß Sina aus den Fernsehern der Schulfreundinnen. Vielleicht ist es doch besser, wenn man eine solche Kiste nicht in der Wohnung hat ? Doch der Vater trägt den Karton in den Flur, ein schwerfälliger Telefunke mit Bart und Beinen. Sina weicht zurück und zwängt sich in die Ritze zwischen Schuhregal und Kellertür. » Wohin mit dem Ungetüm ? « Die Augen des Vaters lugen über den Kistenrand. Bei den meisten Leuten steht der Fernseher im Wohnzimmer, manche kaufen extra eine Schrankwand, damit er zur Geltung kommt. Das findet der Vater spießig. Er hat die enge Wohnung mit alten Bücherkisten und selbstgebauten Regalen möbliert. Nur auf dem Wickeltisch ist noch Platz. Stolz räumt die kleine Schwester die letzten Windeln weg. » Platz für den Fernseher, das Fenster zur Welt ! «, verkündet der Vater und steckt das Kabel in die Steckdose. Dann drückt er den weißen Knopf, das Gerät zischt und tausend Ameisen wimmeln über die Mattscheibe, ordnen sich zu einem wackeligen Bild, auf dem schemenhaft ein paar dunkle Gestalten sichtbar werden. Er dreht an der Antenne und eine der Gestalten löst sich aus der Gruppe, geht mit gesenktem Kopf über einen großen grauen Platz, kniet mitten auf dem Asphalt nieder. Wie Daktari oder wie ein Astronaut sieht sie nicht aus.

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» Seht euch das gut an, Kinder «, mahnt der Vater. » Dieses Bild wird später in allen Geschichtsbüchern zu finden sein: Damit beginnt eine große Entwicklung. « Gehorsam speichert die siebenjährige Tochter das Bild des knienden Mannes zusammen mit dem dozierenden Vater vor der Wickelkommode im Gedächtnis. Deutschland ist geteilt, das wissen die Kinder bereits. Zuhause, der Ort vieler lustiger aber auch heimwehgefärbter Geschichten, liegt in der unerreichbaren Ostzone, die eigentlich nicht mehr so heißen darf, sondern DDR genannt werden muss. Doch DDR ist ein farbloses Wort, es klingt in Sinas Ohren langweilig nach Radionachrichten, hohen Mauern und grau gestreiften Landkarten. Ostzone dagegen klingt nach Päckchen mit buntem Inhalt: nach Apfelsinen, Schokoladenstreuseln, Perlonstrümpfen und getrockneten Bananen. Außerdem nach der Großmutter und drei verrückten Tanten, die kurz vor dem Bau der Mauer rübergemacht haben; die netteste von ihnen kommt im blauen Käfer zu Besuch und wird Tante Osten genannt. Wenn Sina später ein Geschichtsbuch aufschlägt, in dem – wie der Vater es vorausgesehen hat – Willy Brandt beim Kniefall in Warschau abgebildet ist, erscheint immer zugleich das Bild des Vaters vor ihr, wie er mit aufgeregter Stimme erklärt, dass der kniende Mann die Ostverträge vorantreibt und damit einen kleinen Spalt im Eisernen Vorhang öffnet.

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Der Vater ist einer der ersten, die sich hindurchzwängen. Sina merkt es daran, dass die Butterstückchen, Marmeladentöpfchen und eingeschweißten Käseecken für den Kaufmannsladen ausbleiben. Die hat der Vater immer aus dem Flugzeug mitgebracht, wenn er zur Arbeit nach Berlin geflogen ist. Als DDR-Flüchtling hat er bisher Angst gehabt, durch die Ostzone zu fahren. Es gab Gerüchte, dass Republikflüchtlinge aus dem Zug geholt und eingesperrt oder in die Produktion gesteckt würden. Seitdem Willy Brandt im neuen Fernseher kniet oder Hände schüttelt und Verträge unterzeichnet, hat der Vater keine Angst mehr vor der Transitstrecke. Er fährt mit dem Zug nach Berlin und kehrt ohne Marmeladentöpfchen, dafür mit einem Pass voller bunter Stempel zurück. Von seinen Transit-Erfolgen ermutigt, beantragt der Vater ein Einreise-Visum für die DDR. Zur Sicherheit lässt er sich zunächst zu einem Kongress einladen und reist mit einer offiziellen Delegation in seine Heimatstadt. Bei der Ankunft bekommt er – wie alle Delegationsteilnehmer – einen persönlichen Begleiter als Stadtbilderklärer zugeteilt, damit er sich in seiner eigenen Stadt nicht verläuft, wie man ihm erklärt. Allerdings ist der Herr völlig ortsfremd – dafür umso anhänglicher, sodass der Vater zu einer List greifen muss, um ihn loszuwerden und sich in Ruhe nach seinen alten Freunden umzusehen. Als die Glocken der Klosterkirche läuten, beschließt er zum Gottesdienst zu gehen, und lädt seinen Begleiter freundlich ein

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mitzukommen. Doch der scheint die Kirche zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser, stolpert von einer Ausrede in die nächste und verspricht schließlich, vor dem Kloster zu warten. Nach dem Gottesdienst entwischt der Vater gemeinsam mit dem Pastor durch die Sakristei und findet sich ohne Beschatter im mittelalterlichen Klosterhof wieder. Dort steht ein Mann auf einem Baugerüst, erkennt die Stimme seines Schulfreundes, steigt herunter und lädt ihn ins Refektorium ein. Sie decken das Telefon mit ein paar Sofakissen ab und reden bis spät in die Nacht. Sie erinnern sich, lachen, weinen, blicken voller Besorgnis in die Zukunft und hecken schließlich ihren ganz persönlichen Plan zur Überwindung des Eisernen Vorhangs aus, in dem sie ihren achtjährigen Töchtern die Hauptrollen zuweisen. Sina gefällt diese Geschichte, die der Vater nach seiner Rückkehr mit immer wieder neuen Details erzählt: Der Vater spielt mit der Stasi Katz und Maus und sie soll mitspielen. Außerdem verspricht er ihr eine Freundin …

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Zuhause und Daheim

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enn sie groß ist, will Sina Schaffnerin werden. Sie sammelt Fahrkarten aus harter Pappe und stanzt mit einer Lederzange Löcher hinein. Obwohl der Vater andere Berufspläne für seine Tochter hat, bringt er ihr immer, wenn er mit der Bahn gefahren ist, seine Fahrkarten mit. Ein besonders wertvolles Exemplar ihrer Sammlung ist ein rosa Schnellzugzuschlag, ausgestellt in Weimar, gültig für Strecken bis 300 Kilometer, Preis drei Mark. Die Karte hat der Vater von seiner ersten Reise nach Hause mitgebracht. Zuhause, das ist die Kleinstadt S., in der er geboren und aufgewachsen ist, wo er seine Lehre gemacht und gearbeitet hat, bevor er in den Fünfzigerjahren rübergemacht hat, weil er unbedingt studieren wollte. Da der Vater nicht nur die Blicke seiner Kinder auf die Welt sorgfältig auswählt, sondern auch die Fixpunkte für ihr Leben bestimmt, ist S. auch Sinas Zuhause. Sie kennt dort alle Straßennamen und weiß genau, wie es sich anfühlt, an der Hand des Vaters die Torstraße entlangzuspazieren: über den Markt zur Breiten Straße, wo rechts hinter der Bäckerei unser Haus steht … In ihrer Fantasie umgibt sie die Stadt mit Rebhügeln und Schwarzwaldbergen. Flaches Land hat sie noch nie gesehen.

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In dem südbadischen Dorf, das der Vater als Ersatz für Zuhause gewählt hat, ist Sina daheim, ein süddeutsches Wort, das man zu Hause nicht benutzt. Von Daheim erzählt sie dem fremden Mädchen zu Hause in ihrem ersten Brief: » Bei uns ist gerade Fastnacht. Ich verkleide mich als Prinzessin. Meine Mutter hat mir einen rosa Rock mit weißem Tüll genäht. Aber es ist so kalt, dass ich immer einen Anorak anziehen muss, wenn ich verkleidet auf die Straße will. Mein Anorak ist braun und grün. Stell dir das mal vor ! So was trägt doch keine Prinzessin ! Mein Bruder geht als Mainzelmännchen, meine Schwester als Kaninchen, beide in braun-grünen Anoraks. Die haben wir in allen Größen geerbt. Auf der Straße ist es lustig, aber auch gefährlich. Die großen Jungen verkleiden sich als Dominos: Sie tragen Strumpfmasken und spitze, schwarze Hüte. Jeder von ihnen hat eine getrocknete Saublase, wie sie beim Schlachten übrigbleiben. Die blasen sie auf, füllen ein paar Steine hinein, die dann laut klappern, binden sie an einen Stock und versuchen, die kleineren Kinder damit zu hauen, wenn sie sie erwischen. Ich lass mich aber nicht erwischen, ich kenne alle Schlupflöcher in den Hecken und alle Schleichwege durch die Gärten … « Schreibend entdeckt Sina die Lust, von sich zu erzählen, in kleinen Geschichten ein Bild von sich zu entwerfen, das sie wie eine Flaschenpost den Wellen der bewegten Ost-West-Politik übergibt.

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Und sie entdeckt ihren Wunsch, dem übermächtigen Zuhause des Vaters etwas Eigenes gegenüberzustellen, dem unbekannten Mädchen zu zeigen: Schau, hier lebe ich ! Zuhause darf es nicht heißen, aber es gibt Weinberge, eine mittelalterliche Burg und badische Fasnet, es gibt kleine Geschwister, Freundinnen, ein Fahrrad und ein Cello. Hier bin ich daheim. Sina bringt den Brief zur Post und die Zeit des Wartens beginnt. Wenn sie aus der Schule kommt, sieht sie als erstes in den Briefkasten. » Das geht nicht so schnell «, sagt der Vater. » Ein Brief in die DDR ist mindestens acht Tage unterwegs. « » So lange ? « Sina stellt sich ihren Brief in einem Postsack vor, wie er im Gepäckwagen eines Zuges acht Tage und acht Nächte über die Schienen rollt. In der Zeit fährt die transsibirische Eisen­ bahn mindestens bis nach China. » Wie weit ist es eigentlich bis nach S. ? « Der Vater überlegt: » Ungefähr fünfhundert Kilometer. « In seinem Büro, Abteilung M, zweiter Stock links, hält MfS-Leutnant Gerd W. einen Umschlag mit Kinderschrift in den Dampf und entnimmt ihm ein paar Ansichtskarten, das Foto einer anorakvermummten Prinzessin und einen Karnevalsbrief. Er rätselt kopfschüttelnd, worin die verschlüsselte Botschaft der Prinzessin bestehen könnte, bevor er eine Karteikarte anlegt, den Brief in den Umschlag zurückschiebt und mit einem Klebestreifen mit der Aufschrift

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» Post der DDR « verschließt. » Solln die wenigstens wissen, dass wir sie beobachten. « Sechs Wochen später liegt endlich ein Brief für Sina im Kasten. Auf dem Umschlag kleben rote Briefmarken mit blaublusigen Jugendlichen: wallendes Haar unter dem Bauarbeiterhelm, in der Hand Stift und Schriftrolle: » X. Parlament der FDJ «. Hinter ihnen geht gelb gezackt die Sonne auf. Die Fotos in dem Umschlag sind grau dagegen, zeigen dunkle Klostergebäude, einen Platz mit alten Autos vor einer Kirche, das Denkmal eines Gelehrten, ein dünnes Kind vor einer Brandmauer. Mit den bunten FDJ-lern hat das Kind nichts gemeinsam. Sina betrachtet das dünne Kind auf dem Foto. Schüchtern steht es da, mit hängenden Armen und abgewendetem Blick, so als sei es ihm peinlich, fotografiert zu werden. Sina kann das verstehen. Sie lacht gern und hat, wie die Frau im Dorfladen sagt, ein Lächeln wie das Mädchen auf der Rotbäckchen-Reklame, aber wenn der Vater sagt: » Nu guck doch mal freundlich, bis das Foto fertig ist «, gelingt ihr das nie. Um ein gutes Bild von Sina zu erhalten, muss man sie in einem unbeobachteten ­Moment ablichten. Auf dem zweiten Foto sitzt Anne auf der Türschwelle eines uralten Hauses. Sie trägt eine Schlaghose mit aufgestickten Blumen, die sie etwas mutiger aussehen lässt. Glänzendes dunkles Haar hat sie und eine Frisur wie Mireille Mathieu.

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So einen Bubikopf hätte Sina auch gern, aber die Mutter erlaubt das nicht. Zöpfe sind praktisch – » und an Schlager­sänger­ innen orientieren wir uns schon gar nicht. « Anne hat es gut. Sie hat sogar einen eigenen Hund, der sich auf dem Foto schützend vor sie stellt und herausfordernd in die Kamera blickt. » Mein Hund heißt Tilly, und das verrät einiges über seinen Charakter «, schreibt Anne. Sina verrät das gar nichts. Vom Feldherrn Tilly, Heerführer im Dreißigjährigen Krieg, hat sie noch nie etwas gehört. Lernt man so was in der DDR in der Schule ? Oder von einem Vater, der alte Kirchen und Klöster renoviert ? » Wir haben einen Kater, der uns zugelaufen ist. Wir nennen ihn Tse Tung, weil er sich immer mit einem lang gezogenen Mao ! vorstellt «, schreibt Sina zurück. » Mein Vater findet den Namen nicht so gut, aber er hat trotzdem ein Foto von Tse Tung gemacht, auf dem er zusammen mit einem Igel Milch aus einem Schälchen trinkt. Das findet er nämlich gut, wenn Gegensätze sich nicht abstoßen, sondern anziehen. Das Foto schicke ich dir. « Diesmal muss Leutnant Gerd W. schmunzeln, als er Tse Tung und den Igel in den Umschlag zurückschiebt.

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Im Auftrag der Väter

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eimlich sehen Sina und ihr Bruder im neuen Fernseher die ZDF-Hitparade an. Auf dem Kirchweihfest wird es einen Schlagerwettbewerb geben, bei dem Kinder im Festzelt aktuelle Schlager singen und dafür von einer Jury Punkte bekommen, genau wie im Fernsehen. Als Preis hat die Sparkasse einen roten Riesenteddybären gestiftet. So gern Sina mit einem Mikrofon auf der Bühne stehen würde – auf die Idee, beim Wettbewerb mitzumachen, kommt sie gar nicht erst. Der Vater würde es sowieso nicht erlauben. Schlager sind mindestens so verboten wie » Daktari «. Die Erklärung ist einfach: Die Eltern misstrauen allem, was von der Mehrheit geliebt wird. Dahinter muss ein Manipulationsgedanke stehen, jemand, der das Volk verdummen will, damit er es für seine Zwecke missbrauchen kann. Das hatten wir doch schon einmal. Nie wieder schwimmen wir mit dem Strom ! Schon gar nicht, wenn es um Kultur geht. Es ist noch nicht lange her, dass eine ihrer verrückten Tanten eine Heintje-Schallplatte auf den Plattenteller gelegt, das Lied abgespielt und anschließend die Platte mit großer Geste in der Mitte durchgebrochen hat. Der Schock darüber steckt Sina noch in den Knochen: Musik ist doch etwas Lebendiges ! Eine Schallplatte zu zerbrechen, findet sie ungefähr so gemein,

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wie ein Aquarium zu zerschlagen, in dem ein lebendiger Fisch schwimmt. Was kann der Fisch dafür, was kann Heintje dafür, dass die Tante ihn nicht mag ? Aus Trotz gucken Sina und ihr Bruder Hitparade. Gerade singt Mireille Mathieu. Sina sieht sie sich genau an. Lackschwarzes Haar, Bubikopf-Frisur, dunkelbraune Mandel­ augen. –­ Was hat Anne für Augen ? Auf den Fotos ist das nicht zu erkennen. Ein Grund mehr, endlich mal hinzufahren und sie zu besuchen. » Einmal um die ganze Welt / und die Taschen voller Geld «, singt Karel Gott. Das gefällt dem Bruder. » Um die ganze Welt, stell dir mal vor: nach Amerika und Australien – oder wenigstens bis nach ­Italien. Drei aus meiner Klasse fahren im Sommer nach Italien ! « » Und wir fahren in die DDR. Da war sicher noch niemand aus deiner Klasse. « » Da will aber auch keiner hin ! Was sollen wir da ? « » Na, sehen, wo wir eigentlich zu Hause sind. Und meine Brieffreundin besuchen. « » Hat die einen Bruder ? « » Ja, aber der ist mindestens doppelt so alt wie du. Und beim Militär. « » Siehste ! Was soll ich da ? Ich bin hier daheim. Und in den ­Ferien will ich nach Italien. – Oder nach Hawaii ! «, fügt er hinzu, denn gerade tönt » Ich hab noch Sand in den Schuhen von Hawaii ! « aus dem Fernseher.

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Im Briefkasten liegt diesmal ein dicker brauner Umschlag mit fünf blassgrünen Briefmarken: fünfmal Karl Marx im Porträt, umgeben von modernen Plattenbauten. Das ergibt eine ganze Neubausiedlung. Der Vater entnimmt ihm die offiziellen Einladungen und Visa für die ganze Familie. » Ohne persönliche Einladung kann niemand ein Visum für die DDR beantragen «, erklärt er, » doch wenn ein DDR-Bürger Westbesuch einlädt, gerät er sofort ins Visier der Stasi – falls er es nicht sowieso schon ist. « » Und Annes Vater «, fragt Sina, » bekommt der auch Ärger, weil er uns einlädt ? « » Als Angestellter der Kirche hat er nicht mehr viel zu verlieren. Sein Sohn, Annes Bruder, wurde gerade von der Universität abgelehnt – und das, obwohl er sich zu drei Jahren Armeedienst verpflichtet hatte. Jetzt nimmt Peter keine Rücksichten mehr: › Mein einziges Privileg ist meine Narrenfreiheit ‹, hat er gesagt, › und mit der lade ich mir die Welt zu Gast ! ‹ « » Ach ja, die Gastgeschenke … « Der Vater entfaltet eine lange Liste. » Bitte mitbringen: Jeanshosen (Marke Levi’s) für Anne und ihren Bruder, zwei Tramperrucksäcke, zwei Schlafsäcke (Daunen), ein Paar Gummihandschuhe, eine Bademütze, Filzstifte (­Edding), Gelatine und Paradiescreme (Doktor Oetker). Etwas ratlos blicken sich die Eltern an. Sie haben gerechnet und gespart: 13 D-Mark Mindestumtausch pro Tag für jeden Erwachsenen, das sind für zwei Wochen 364 D-Mark, dazu

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kommen Visumsgebühren und Benzin. Fünfhundert Mark haben sie zusammengekratzt. Wenn sie alle Wünsche von der Liste erfüllen wollen, kostet das noch einmal genauso viel Geld. Niemand in der Familie trägt Levi’s-Jeans, es gibt billigere ohne Namen. Die Schlafsäcke, die der Vater im Schlussverkauf für seine Familie erstanden hat, sind aus einfachen Kunstdaunen und wärmen auch. Natürlich wollen die Eltern nicht knauserig sein oder ihre Gastgeber enttäuschen. Aber einen Kompromiss müssen sie machen. Die Jeans, die sie schließlich für Anne kaufen, sind nicht von Levi’s, aber sie haben einen weiten Schlag und orange­ rote Ziernähte in Herzform auf den Taschen. Solche hat Sina nicht. Sie hat überhaupt nur zwei Hosen, die sie abwechselnd trägt und, sobald sie zu klein sind, an ihren Bruder weitervererbt. Mädchenklamotten kommen da nicht infrage. Aber sie freut sich, dass sie wenigstens Anne schicke Jeans schenken darf. Der Vater hat ein schlechtes Gewissen. Sein Schulfreund in der DDR ahnt nichts davon. Die Werbung im Westfernsehen, aus der er die Markennamen kennt, zeigt nie, wie der Käufer die Jeans bezahlt. » Holt sie Euch, die neue Levi’s ! «, ruft der Cowboy und schwingt sich lachend auf sein Pferd. Voll beladen mit Kindern, Gepäck und Geschenken rumpelt der rote VW-Bus mit dem Atomkraft-Nein danke !-Aufkleber auf die Grenze zu. Kurz davor muss der Bruder seine Gitarre einpacken und die Schwester ihr Mickymaus-Heft, das sie eigentlich sowieso nicht haben sollte, in einen Papierkorb werfen.

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» Muss › Onkel Toms Hütte ‹ auch in den Müll ? «, fragt Sina. Der Vater überlegt einen Moment. » Nein, Onkel Tom gehört zur Arbeiterklasse, der darf mit. – Aber ihr seid am besten ganz still, bis wir die Kontrollen hinter uns haben. « Soldaten beobachten die heranrollenden Autos mit Feld­ stechern von ihren Wachtürmen aus, die Pässe werden genau kontrolliert, mit vielen bunten Stempeln versehen und durch eine lange Röhre entlang der Straße zum nächsten Posten geschickt, bewaffnete Männer mit Hunden umrunden das Auto, öffnen die Motorhaube, blicken forschend durchs Fenster. Die Kinder sehen brav geradeaus. Als einer der Uniformierten nach Schuss- und Stichwaffen fragt, muss Sina doch grinsen. » Der hält uns für Verbrecher ! «, flüstert sie dem Bruder zu. Der Soldat mustert sie misstrauisch: » Aussteigen, alles auspacken ! « Gemeinsam mit seinen Kollegen durchsucht er das Handschuhfach, die Schlafsäcke, den Proviantkorb, schließlich eine Tasche mit Büchern. Dabei sehen die Grenzer etwas ratlos aus, starren auf Titel, blättern ziellos vor- und rückwärts, betrachten Bilder, suchen nach imperialistischem Gedankengut. Aber woran erkennt man das ? Unschlüssig reichen sie einander die Bücher hin und her. Plötzlich blickt der Jüngste, ein pickeliger Junge mit spärlichem, blondem Bartflaum, auf: » Onkel Tom ? – Den hatten wir auch in der Schulbücherei. « Sein Vorgesetzter nimmt ihm das Buch aus der Hand, nickt, stopft es in die Tasche zurück. » Sie können weiterfahren. Gute Fahrt ! « Die Eltern atmen auf.

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Trotzdem wird es Mitternacht, bevor der alte Volkswagen endlich alle Schlaglöcher überwunden hat und durch das zinnenbewehrte Tor in die Stadt einfährt, die der Vater Zuhause nennt. Die meisten Straßenlaternen sind schon ausgeschaltet, nur im Nebengebäude des Klosters brennt noch Licht. Wie eine mittelalterliche Petrusfigur in ihrer Nische, so steht Vaters Schulfreund Peter in der Tür, einen schweren, geschmiedeten Schlüssel in der Hand. In dem Moment, in dem er den Schlüssel im Schloss des ehemaligen Dormitoriums dreht, öffnet er der zwölfjährigen Sina die Türen zu drei unbekannten Welten: zum Mittelalter, zur Kindheit des Vaters und zur DDR. Das Erste, was ihr auffällt, ist der Geruch: nach Torf, Schimmel, nach Ruß, Herbst, alten Menschen; darüber ein Hauch von Mottenpulver. Sina findet das in Ordnung. Vergangenheit riecht eben so. Wie DDR riecht, weiß sie noch nicht. Annes Familie wohnt im ehemaligen Priorat des Klosters, gegenüber vom Dormitorium, das als kirchliche Jugendherberge eingerichtet und mit eisernen Doppelbetten vollgestellt ist. Die Eltern tragen die schlafenden Geschwister aus dem Auto hinüber ins Mittelalter. Auch Anne schläft natürlich schon. Aber Sina darf einen kurzen Blick auf sie werfen. Auf Zehenspitzen schleicht sie in das dunkle Zimmer und beugt sich vorsichtig über das Bett. Anne liegt auf der Seite,

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