Veronika Rusch "Der Tod ist ein Tänzer"

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E EXKLUSIV E L E S E P RO B


© Diane von Schoen

ist Jahrgang 1968. Sie studierte Rechtswissenschaften und Italienisch in Passau und Rom und arbeitete als Anwältin in Verona, sowie in einer internationalen Anwaltskanzlei in München, bevor sie sich selbständig machte. Heute lebt sie als Schriftstellerin mit ihrer Familie in ihrem Heimatort in Oberbayern. Neben Romanen schreibt sie Theaterstücke für Erwachsene und Kinder sowie Dinner-Krimis. Für ihre Krimikurzgeschichte „Hochwasser“ erhielt sie 2009 den zweiten Preis im Agatha-Christie-Krimiwettbewerb.


Veronika Rusch · Der Tod ist ein Tänzer

Paris, Dezember 1925 Der Mann, der in der Galerie des Théâtre des ChampsElysées in der vordersten Reihe saß, war zutiefst angewidert von dem, was er sah. Seine rechte Hand, an der der kleine Finger und der Ringfinger fehlten, verkrampfte sich ruckartig zu einer Faust, und die sorgfältig manikürten Nägel der übrigen Finger gruben sich tief in die Handballen. Der Schmerz lenkte ihn kurzfristig ab, reichte jedoch nicht aus, um ihn zu beruhigen. Seit Beginn der Vorstellung unterdrückte er nur mit Mühe den Impuls, einfach aufzustehen und zu gehen. Doch er wollte seine Gastgeber nicht unnötig brüskieren. Das Ehepaar Amsinck, bei dem er logierte, hatte mehrmals betont, dass es nur aufgrund von guten Beziehungen überhaupt möglich gewesen sei, noch Karten für die Vorführung zu bekommen, und die beiden waren außerordentlich stolz darauf gewesen, ihn einladen zu dürfen. Er hatte sich keine Vorstellung gemacht, was ihn erwarten würde, inzwischen jedoch war er entsetzt. Die Dekadenz dieser Stadt war weiter fortgeschritten als vermutet, und die Amsincks hatten sich, obwohl Deutsche, ganz offenbar von dem Virus der sittenlosen Vergnügungssucht anstecken lassen. Jetzt flüsterte ihm Fritz Amsinck zu, dass die nächste Szene den Höhepunkt der gesamten Vorstellung darstellte. 3


Es wurde dunkel auf der großen, von goldenen Reliefs eingefassten Bühne, und die unmelodische, quäkende Negermusik, die ihn die ganze Zeit in den Ohren geschmerzt hatte, veränderte sich, Trommeln gewannen die Oberhand. Dann flammte ein einzelner Scheinwerfer auf, und ein kräftiger tiefschwarzer Wilder erschien. Nackt bis auf einen Lendenschurz und mit zahlreichen Perlenketten aum Bizeps, Knöchel und Brust geschmückt, ging er vornübergebückt und trug eine Frau mit sich. Sie lag quer auf seinem Rücken, rücklings ausgestreckt wie auf einer Sänfte und trug nichts am Leib außer ein paar zitternden Federn an Fuß- und Armgelenken und ein winziges, von Federn bedecktes Höschen. Ihre braune Haut glänzte im goldenen Licht des Scheinwerfers. Der Wilde setzte sie behutsam ab, und sie begann, zum Rhythmus der Trommeln zu tanzen. Der Mund des Mannes auf der Galerie wurde staubtrocken. Noch nie hatte er Derartiges gesehen. Mit jedem dunklen Trommelschlag, mit jeder obszönen Bewegung der Frau sank er tiefer in seinen Sessel. Mit einem Mal fiel ihm das Atmen schwer, und fast panisch lockerte er mit den verbliebenen Fingern seiner Rechten die Krawatte. Es war viel zu warm in dem Saal mit der prächtigen Glasrosette an der Decke. Doch obwohl er glaubte, vor Abscheu ohnmächtig werden zu müssen, hier, in diesem Sessel aus rotem Samt konnte er den Blick nicht von der Bühne abwenden. 4


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Am Ende der Darbietung blinzelte er, wie aus einem Albtraum erwacht. Langsam beruhigten sich seine Nerven, und sein Körper gehorchte ihm wieder. Die Tänzerin verbeugte sich vor dem frenetisch klatschenden Publikum und verteilte lachend Handküsschen, bevor sie hinter der Bühne verschwand, um gleich darauf, in einen glitzernden Umhang gehüllt, zurückzukommen und mit ihr der ganze Rest der Truppe von Wilden. Um ihn herum, auf den Galerien und im Parkett sprangen die Zuschauer auf und jubelten, warfen Rosen auf die Bühne und benahmen sich wie toll. Als Einziger im Saal blieb er sitzen, wie versteinert, die Hände im Schoß, die rechte Faust noch immer zuckend vor unterdrückter Wut. Während ihn der Jubel des Publikums umtoste, wuchs sein Hass ins Unermessliche. Er fixierte die schwarze Tänzerin aus zusammengekniffenen Augen. Im nächsten Monat würde sie nach Berlin kommen. Die Revue war bereits angekündigt, und die Vorstellung, dass sich die Berliner für diese schamlose Person ebenso zum Affen machen würden wie die Pariser, war ihm unerträglich. Er beugte sich nach vorne, den Kopf leicht schräg, wie in Lauerstellung, darauf konzentriert, den Gedanken weiterzuspinnen, während um ihn herum der Applaus noch einmal anschwoll und nach einer Zugabe verlangt wurde. In ihm reifte ein Plan. Er lachte laut auf, so berauscht war er von seiner Idee, doch sein Lachen ging in dem Lärm unter. 5


Niemand beachtete den reglos inmitten der applaudierenden Zuschauer sitzenden Mann, niemand sah ihm in die leblosen Augen, niemand bemerkte seine zuckende Faust, die scharfen Fingernägel, die jetzt, endlich, die Haut an seinem Handballen aufgerissen hatten. Niemand sah das Blut, das auf den Boden tropfte.

Paris, Januar 1926 Die junge Frau stand allein am Bahngleis. Es war früher Morgen, der Dampf der Lokomotiven stieg weiß und dicht wie Nebel in den klaren Winterhimmel, und die Morgensonne warf ihre Strahlen auf die Gleise. Wie verheißungsvolle Pfade in eine andere Welt verliefen sie zunächst nebeneinander, kreuzten sich dann scheinbar ohne erkennbare Ordnung und verloren sich schließlich in der Ferne, wo sich der Rauch der unzähligen Kamine der Stadt mit dem Dampf der Lokomotiven vereinte. Die junge Frau trug einen hellgrauen Wollmantel mit Pelzkragen sowie einen weichen Hut in der gleichen Farbe, der sich eng an ihren Kopf schmiegte und ihre Augen beschattete. Ihre Schuhe glänzten silbern, ebenso die Kette, die sie um den Hals trug. Ein Dienstmann mit einem Gepäckwagen voller Koffer und Hutschachteln stand ein wenig abseits und zündete sich eine Zigarette 6


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an. Dabei ließ er die junge Frau im hellgrauen Mantel nicht aus den Augen. Sie jedoch beachtete ihn nicht. Ihr Blick war auf die Gleise gerichtet, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Noch war der Zug nicht da, der sie nach Berlin bringen sollte, aber er würde jeden Moment kommen. »Berlin …« Sie flüsterte den so fremd und doch irgendwie vertraut klingenden Namen und wiederholte ihn zur Sicherheit noch ein paarmal, um ihn flüssig und so korrekt wie möglich aussprechen zu können. Ihr Ruf eilte der Stadt weit voraus. Seit einigen Jahren schon war Berlin in aller Munde. Während sich Paris auf ihrer Eleganz und ihrer Schönheit auszuruhen begann wie eine in die Jahre gekommene Diva, die sich ihrer Sache zu sicher war, war aus dem zu Boden gedrückten, besiegten Nachkriegsberlin nach allem, was man hörte, eine ernst zu nehmende Konkurrentin geworden. Hungrig griff sie nach der Krone der alternden Diva, hielt sie vermutlich schon in den Händen. Berlin hatte den Ruf einer wilden, leidenschaftlichen Stadt, die das Leben feierte wie keine andere in Europa, und genau das war es, was die junge Frau so in Vorfreude versetzte, beim Gedanken daran, diese Stadt zu erobern. Sie schloss die Augen und versuchte, sich vorzustellen, was sie erwartete. Wie würden die Gebäude und Straßen dort aussehen, die Lichter, die Cafés und Geschäfte und 7


natürlich die Bühne, auf der sie stehen würde? Versonnen strich sie über das silbrig schimmernde Band um ihren Hals und flüsterte: »Wir werden Spaß haben, Kiki, nicht wahr?« Es war ihre Entscheidung gewesen, einen Tag früher zu fahren als der Rest der Truppe. Sie waren alle überrascht gewesen, als sie verkündet hatte, allein vorzufahren, doch sie war standhaft geblieben. Aus irgendeinem Grund, der ihr selbst nicht ganz klar war, wollte sie die ersten Schritte in dieser neuen, fremden Stadt allein machen. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, als warte dort etwas auf sie. Und sie würde jede einzelne Meile der Fahrt dorthin genießen. Nein. Kilometer, verbesserte sie sich schnell. Sie war in Europa. Weit, weit weg von dem Ort, den sie vor sechs Jahren mit nichts als einem Paar Schuhen und dem Kleid, das sie am Leib trug, verlassen hatte. Doch noch immer packte sie an manchen Tagen unversehens die Furcht, wieder dorthin zurückkehren zu müssen. Eine plötzliche Angst, dass alles, was sie seither erlebt hatte, nichts als ein Traum gewesen sein könnte und sie in Wirklichkeit noch immer »Tumpie« war, ein mageres Mädchen von elf Jahren, das mitansehen musste, wie der Rauch über den Hütten am Fluss aufstieg, und das hörte, wie die Menschen um sie herum in Panik und Todesangst schrien. Sie vertrieb die Beklemmung mit einem geübten 8


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Lächeln, streifte ihre Furcht ab wie ein paar unerwartete Schneeflocken am Ärmel ihres Mantels und straffte die Schultern. Es war vorbei. Sie war in Paris, und jetzt würde sie Berlin erobern. Weiter, immer weiter. So weit weg wie möglich von dem Ort ihrer Kindheit. Es konnte nie weit genug sein. *** Der Zug fuhr schnaufend ein, und der Dienstmann warf seine Zigarette weg. Jetzt. Jetzt war seine Chance gekommen. Er trat auf die Dame in dem silbergrauen Mantel zu und räusperte sich. »Mademoiselle«, sagte er, und seine Stimme war so heiser, dass er sich ein zweites Mal räuspern musste. »Mademoiselle Baker …« Sie drehte sich um und musterte ihn mit einem Lächeln. »Ja, bitte?« Der Dienstmann schluckte. Sie war es tatsächlich. Stand direkt vor ihm. Mit diesem schönen Gesicht, den großen Augen, den fein geschwungenen Brauen und … diesem unglaublichen Lächeln, das er bisher nur von Fotos kannte. »Ich … ich wollte nur sagen …«, stotterte er und knetete seine Finger. »Ich … bewundere Sie, Mademoiselle Baker. Ja, das wollte ich sagen … Ich wünschte, Sie würden nicht weggehen.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Danke. Wie lieb von 9


Ihnen«, sagte sie. »Aber keine Sorge, ich komme wieder.« Der Mann nickte ernst. »Hoffentlich, Mademoiselle. Paris ist nicht mehr dasselbe ohne Sie.« Dann fiel sein Blick auf die breite silberne Kette, die sie um den Hals trug, und er erkannte, dass es keine Kette, sondern eine lebende Schlange war, die jetzt, wohl von den kreischenden Bremsen des einfahrenden Zuges geweckt, den Kopf hob. Er zuckte vor Schreck zurück, und Mademoiselle Baker lachte vergnügt. »Das ist Kiki, sie freut sich auch schon auf Berlin. Genau wie ich.« Sie strich der Schlange mit einem Finger zärtlich über den Kopf. Schon am Einsteigen, drehte sie sich noch einmal um und warf ihm übermütig eine Kusshand zu. »Au revoir, Monsieur! Vergessen Sie Kiki und mich nicht!« Nachdem die Koffer verstaut, die Passagiere eingestiegen und der Zug abgefahren war, stand der Dienstmann noch immer am Bahnsteig und sah auf die leeren Gleise hinaus. »Wie könnte ich das vergessen«, murmelte er kopfschüttelnd. »Eine Schlange. Und eine Kusshand. Das glaubt mir kein Mensch.« *** Josephine Bakers Abreise nach Berlin war noch von jemand anderem bemerkt worden, der etwas entfernt im Schatten einer Säule stand und die Begegnung zwischen 10


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der jungen Frau und dem Dienstmann genau beobachtet hatte. Jetzt, nachdem der Zug abgefahren war, zog er sich zurück und verließ eilig den Bahnhof. Auf der nahe gelegenen Post gab er ein Telegramm auf, dessen Text aus drei deutschen Wörtern bestand: SIE IST UNTERWEGS.   4 Tristan Nowak mochte keine Bahnhöfe, und das hatte einen triftigen Grund. Vom Anhalter Bahnhof war er losgefahren, vor zwölf Jahren, ein sechzehnjähriger Schuljunge, aufgekratzt wie auf dem Weg ins Sommerlager. »Heil dir im Siegerkranz«, hatten sie gesungen, er und seine künftigen Kameraden, markige Sprüche geklopft, so wie »jeder Stoß ein Franzos, jeder Schuss ein Russ«, und ihren Proviant geteilt. Und hier war er zusammen mit den anderen, die mit ihm zurückkehrten, vier Jahre später wieder ausgestiegen. Krank und abgemagert war er auf den Bahnsteig getreten, zögerlich, das Grauen des Krieges noch vor Augen. Es hatte sich in diesen vier Jahren in seine Hornhaut eingebrannt, sich ins Innerste hineingefressen wie ein bösartiger Parasit, der sich nicht mehr vertreiben ließ. Tristan erinnerte sich an seine Stiefel von damals, die die Bezeichnung kaum mehr verdient hatten, so zerfled11


dert waren sie gewesen. Mit den Riemen seines Tornisters hatte er die Sohlen notdürftig festgebunden. Socken hatte er schon lange keine mehr gehabt, hatte sie durchgelaufen oder zweckentfremdet, als notdürftiges Verbandszeug für verwundete Kameraden. Seine nackten Füße waren damals so wund gewesen, dass es ihm vorgekommen war, als seien sie mit dem harten Schuhleder verwachsen, und als er endlich die Stiefel ausziehen konnte, war die Haut in Fetzen am schrundigen Leder hängen geblieben. Die Erinnerung an den Schmerz meldete sich zurück, klopfte an wie ein ungebetener Gast, während er langsam durch die belebte Bahnhofshalle ging. Graues Winterlicht drang von oben durch die Glasfenster. Tristans Blick fiel immer wieder auf die zahlreichen Bettler. Sie strichen herum wie halb verhungerte Streunerkatzen, mit demütig aufgehaltener Hand, schäbig und scheu, immer auf der Hut. Oder sie kauerten reglos in den dunklen Ecken, nicht mehr als Lumpenhaufen, die niemand beachtete. Als er an einem Bettler in einem abgetragenen Offiziersmantel vorbeikam, blieb er stehen und drückte ihm ein paar Münzen in die ausgestreckte Hand. Der Mann bedankte sich mit einem stummen Nicken. Er hatte nur noch ein Bein und lehnte, auf eine Krücke gestützt, an einer der Säulen. Nur wenig älter als Tristan selbst, sah er aus, als würde er seit Kriegsende an diesem Platz stehen. 12


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Als sei er aus demselben Zug gestiegen, aus dem auch Tristan entkräftet gestolpert war, und einfach hiergeblieben, an diesem Bahnhof, auf ewig gefangen zwischen Abfahren und Ankommen. Eine Durchsage kündigte die zehnminütige Verspätung des Expresszuges aus Paris an. Mit gemischten Gefühlen reihte Tristan sich am Kopf des Bahnsteigs in die Riege der Wartenden ein. Und zum wiederholten Mal seit heute Morgen fragte er sich, wieso er diesen Auftrag nur angenommen hatte. *** Tristan hatte die Polizeiwache, auf der er nach einer Schlägerei die Nacht hatte verbringen müssen, kaum verlassen, als sein Onkel, Graf von Seidlitz, ihn eingeholt und gemeint hatte, etwas Wichtiges mit ihm besprechen zu müssen. »Aber ich nicht mit dir«, hatte Tristan ihn angeschnauzt und war einfach weitergegangen. Doch von Seidlitz hatte sich nicht abschütteln lassen, und so war Tristan mit ihm in eine unscheinbare Mokkadiele an der Friedrichstraße gegangen. Er hatte weder in das noble Auto steigen wollen, wie sein Onkel vorgeschlagen hatte, noch hatte er gewollt, dass ihn einer seiner Bekannten mit dem Grafen sah. Sobald sie sich in eine der abgeteilten Nischen gesetzt hatten, bestellte von Seidlitz zwei Mokka – »Einen ext13


rastark für den jungen Herrn« – und wandte sich dann an Tristan, der ihn ablehnend musterte. »Sagt dir der Name Josephine Baker etwas?« Tristan runzelte die Stirn. »Das ist irgend so eine Varietétänzerin, oder?« Seine Antwort schien von Seidlitz zu amüsieren. »Offenbar gehörst zu den wenigen Ahnungslosen in dieser Stadt, die nicht wissen, wer oder was sie tatsächlich ist.« Er schwieg, als ihre Getränke gebracht wurden. Nachdem sie beide einen Schluck von dem heißen, schwarzen Kaffee genommen hatten, fuhr er fort: »Josephine Baker ist nicht irgendeine Tänzerin, sondern ein Star. Sie ist erst neunzehn Jahre alt, und sie tanzt, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Seit sie mit ihrer Revue in Paris auftritt, liegt ihr die ganze Stadt zu Füßen«, schwärmte er und fügte dann hinzu: »Heute Abend kommt sie hier in Berlin an.« Tristan zuckte mit den Schultern. »Na und? Was geht mich das an?« »Viel, denn ich möchte, dass du auf sie aufpasst«, sagte von Seidlitz ernst. Tristan starrte ihn ungläubig an. »Ich soll Kindermädchen für eine Tänzerin spielen?«, fragte er schließlich und wusste nicht, ob er lachen oder wütend werden sollte. »Kindermädchen ist nicht das richtige Wort. Ich möchte, dass du die Verantwortung übernimmst für den 14


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Schutz und das Wohlergehen der jungen Dame während ihres Aufenthalts in der Stadt.« Tristan verzog angesichts der umständlichen Ausdrucksweise verächtlich das Gesicht. Kindermädchen blieb Kindermädchen, egal wie geschraubt man es formulierte. Der Graf hatte seine abschätzige Reaktion entweder nicht bemerkt oder bewusst ignoriert. Denn er sah sich erst um, dann beugte er sich vor und sagte leise: »Du weißt vermutlich, dass das heutzutage nicht mehr selbstverständlich ist. Josephine Baker tanzt nicht nur mehr oder weniger nackt, sie ist noch dazu dunkelhäutig, und beides zusammen passt vielen in der Stadt nicht.« Tristan nickte widerwillig. Er wusste, wovon von Seidlitz sprach. Von der zunehmend nationalistischen und rassistischen Stimmung in der Stadt. Hetzartikel in einschlägigen Zeitungen, Beleidigungen auf offener Straße, Schlägertruppen, die nachts durch die Vergnügungsviertel zogen, Veranstaltungen störten und wahllos Menschen verprügelten, die sie für nicht passend hielten. Eine dunkelhäutige, amerikanische Nackttänzerin fiel genau in diese Kategorie. Dennoch verstand er nicht, weshalb der Graf damit zu ihm kam. Sie hatten sich seit Jahren nicht gesehen, und wäre es nach Tristan gegangen, wäre es auch so geblieben. »Gibt es dafür nicht die Polizei?«, wehrte er ab, doch von Seidlitz schüttelte den Kopf. 15


»Es handelt sich um einen inoffiziellen Auftrag der Regierung, und ich bin überzeugt davon, dass du dafür der beste Mann bist. Wir haben Informationen über einen geplanten Anschlag und sind überzeugt, dass die junge Frau in großer Gefahr schwebt.« Als Tristan ungläubig schnaubte, fügte er rasch hinzu: »Ich wäre nicht zu dir gekommen, wenn es eine andere Lösung gäbe.« Nach diesem eher zweifelhaften Kompliment war Tristan versucht gewesen, einfach aufzustehen und zu gehen. Er war seinem Onkel nichts schuldig, im Gegenteil. Eigentlich hatte der Graf es verdient, eine verpasst zu bekommen, allein dafür, dass er es gewagt hatte, ihn um etwas zu bitten. Dennoch war Tristan nun hier am Bahnsteig und wartete auf diese sagenhafte Josephine Baker. Am Ende war es das Geld gewesen, das ihn umgestimmt hatte. Für die Summe, die die Regierung ihm für diesen »inoffiziellen« Auftrag bezahlen würde, hätte sein Freund Freddy leichten Herzens seine Großmutter verscherbelt. *** Als der Zug mit zehnminütiger Verspätung um 18.24 Uhr in den Anhalter Bahnhof einfuhr, hatte Josephine Mühe, still zu sitzen. Während sie durch die Vorstädte gefahren waren, vorbei an rußgeschwärzten Mietshäu16


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sern und Fabriken mit rauchenden Schloten, war ihr klar geworden, wie groß diese Stadt tatsächlich war. Berlin hatte erheblich mehr Einwohner als Paris und erschien ihr plötzlich sehr viel fremder als die französische Hauptstadt, die sie im letzten Jahr mit offenen Armen willkommen geheißen hatte. Ob ihre Entscheidung wirklich klug gewesen war, niemanden außer die Pensionswirtin über ihre frühere Ankunft informiert zu haben? Immerhin sprach sie kein Wort Deutsch. Würde sie sich überhaupt zurechtfinden? Sie hatte ja schon Mühe, Französisch zu lernen, auch wenn sie eifrig übte. Doch Deutsch erschien ihr noch um einiges schwieriger zu sein. Sie zog einen Zettel aus ihrer Handtasche, auf dem sie die Adresse der Pension notiert hatte, und versuchte, die fremd klingenden Wörter auszusprechen. Ihre Mutter kam ihr in den Sinn, wie sie verächtlich das Gesicht verzog und meinte: »Typisch Tumpie, immer erst nachdenken, wenn es zu spät ist.« Unwirsch schüttelte sie den Kopf und schob alle negativen Gedanken beiseite. Was machte es schon, wenn sie kein Deutsch sprach? Sie war hier, um zu tanzen, und diese Sprache war zum Glück auf der ganzen Welt gleich. Sie warf den Zettel in die Tasche zurück und holte ihren Taschenspiegel heraus. Als der Zug schnaufend und kreischend zum Stehen kam, legte sich Josephine Kiki, die die meiste Zeit zusammengerollt auf ihrem Schoß 17


geschlafen hatte, wieder um den Hals. Dann warf sie einen letzten Blick in den Spiegel, zog den Lippenstift nach, atmete einmal tief durch und verließ das Abteil. Der Bahnhof war beeindruckend groß und modern. Rundbögen aus rotem Backstein verliefen entlang der Bahnsteige, und darüber wölbte sich eine Kuppel aus Glas und Stahl. Überall waren Menschen. Aus dem Gewimmel auf dem Bahnsteig und der Ankunftshalle drangen fremde Wortfetzen zu ihr empor, die ebenso rätselhaft waren wie die Hinweisschilder. Immer wieder erklangen schroff und abgehackt deutsche Durchsagen aus den Lautsprechern. Josephine setzte ihr Lächeln auf, dieses Lächeln, das sie schon über so vieles, weitaus Schlimmeres als eine fremde Stadt getragen hatte, rückte ihren Hut zurecht und stieg dann anmutig die Metallstufen hinunter auf den Bahnsteig, mitten hinein in ihr kleines, ganz privates Abenteuer. Anfangs bemerkte sie es nicht, doch als sie sich einen Weg durch das Gedränge bahnte, fiel ihr auf, dass sie nur weiße Gesichter sah. Alle Menschen in dieser riesigen Bahnhofshalle waren weiß, auch die Kofferträger und Bediensteten. Natürlich erregte ihre schwarze, fünfundzwanzigköpfige Revuetruppe auch in Paris Aufsehen, wenn sie zusammen unterwegs waren. Aber dort gab es zahlreiche andere schwarze Musiker und Künstler, die 18


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Amerika den Rücken gekehrt hatten, weil sie die Repressalien und Demütigungen dort nicht mehr ertragen hatten. Josephine wusste nicht, ob es in Berlin ähnlich war. Immerhin hatte die Stadt den Ruf, ein Mekka für Künstler zu sein. Hier jedoch, auf dem Bahnhof, gab es nur Weiße. Sie spürte plötzlich, wie sie angestarrt wurde. Manche senkten den Blick, wenn sie sich ihnen zuwandte, andere aber glotzten einfach weiter, kümmerten sich nicht darum, ob sie ihre schamlose Neugier bemerkte. Als Josephine feststellte, dass aus manchen Blicken unverhohlene Feindseligkeit sprach, gefror das erwartungsvolle Lächeln auf ihrem Gesicht. Und waren nicht auch abfällige Bemerkungen aus dem allumfassenden Lärm herauszuhören? Leise gemurmelte Wörter, die sie nicht verstand, deren Bedeutung sie aber wohl begriff. Sie umfasste ihre Handtasche mit beiden Händen, als könne ihr der Notizzettel mit der Adresse darin Halt bieten, und zwang sich, langsam und selbstsicher weiterzugehen. Schritt für Schritt und mit unbeteiligtem Gesichtsausdruck schob sie sich an den Menschen vorbei, um zu den Gepäckwagen zu gelangen. Dort winkte sie nach einem der Dienstmänner, die herumstanden und auf Aufträge warteten. Als sie dem Träger ihren Koffer zeigte, der gerade ausgeladen wurde, drängelte sich ein Mann in ihre Richtung. 19


Er hatte ein kleines Oberlippenbärtchen, war recht beleibt und trug einen schäbigen Mantel. Jetzt schnauzte er den Gepäckträger an, der gerade Josephines Koffer auf seinen Handkarren wuchten wollte, und bedeutete ihm mit einer herrischen Geste zu warten. Josephine straffte die Schultern. Der Mann hatte einen Fotoapparat um den Hals hängen und Notizblock und Bleistift in der Hand, daher vermutete sie, dass es ein Journalist war. Offenbar war ihre frühere Ankunft nicht so geheim geblieben, wie sie gehofft hatte. Der Mann war ihr unsympathisch, und sie hatte keinerlei Bedürfnis, mit ihm zu sprechen. Sie sah sich um, überlegte, ob sie einfach im Gedränge verschwinden sollte, doch da sprach er sie bereits an. »Josephine Baker!« rief er laut, um dann in einem grauenhaften Englisch mit hartem, deutschem Akzent zu fordern: »Ehlers, vom Völkischen Kurier. Unsere Leser hätten ein paar Fragen an Sie!« Als die Umstehenden ihren Namen hörten, wurden sie aufmerksam und wandten sich ihnen zu. Noch immer war Josephine versucht, weiterzugehen und so zu tun, als ob sie nicht gemeint wäre, aber als einzige Schwarze weit und breit wäre dies wenig glaubwürdig. Daher fügte sie sich dem Unausweichlichem und wandte sich dem Mann zu. »Ja, bitte?«, fragte sie und spürte, wie um sie herum immer mehr Menschen stehen blieben. Es wurde aufge20


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regt getuschelt, und schnell bildete sich ein Kreis aus Neugierigen um sie und den Journalisten. »Sie beabsichtigen, hier bei uns in der Stadt aufzutreten?«, fragte der Mann und kniff seine eng stehenden blassblauen Augen zusammen. Josephine nickte. »Ja. Wir wurden für das Nelson-Theater engagiert.« »Engagiert, ja, mag sein!« Der Mann lachte verächtlich auf. »Aber glauben Sie wirklich, dass hier in Berlin jemand diesen Schmutz sehen will?« »Schmutz?« Josephine runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht …« »Ich hörte, Sie tanzen nackt! Wie ein Tier!« Bevor Josephine antworten konnte, fuhr der Journalist mit vor Empörung bebender Stimme fort: »Eine Schande ist das! Wir sind doch hier nicht in einem Negergral in Afrika!« Offenbar verstanden einige der zuhörenden Passanten Englisch, denn Josephine hörte, wie jemand laut klatschte, und einige nickten zustimmend. Die meisten jedoch starrten nur schweigend auf ihre Fußspitzen oder musterten sie verstohlen. Josephine hob das Kinn, lächelte und sah dem Journalisten dabei direkt in die Augen. »Wissen Sie, Mister, wie ich mir eine ideale Welt vorstelle? Es wäre eine Welt, in der alle Menschen nackt 21


leben könnten, genau wie im Paradies.« Sie musterte den feisten Mann provozierend langsam von oben bis unten. Als ihr Blick an seinem ausladenden Bauch angekommen war, fügte sie mit einer komischen Grimasse des Bedauerns hinzu: »Aber leider können sich nur sehr wenige Menschen nackt zeigen.« Der Journalist lief puterrot an, und als jemand in der Menschenmenge, die sie umgab, zu lachen begann, fielen andere mit ein. Josephine lächelte.

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Band 2 Ab Juni im Handel!

Band 3 Ab August im Handel!

ISBN 978-3-492-06241-1, € 12,99 (D), € 13,40 (AT)


EAN 4043725008254 ©freepik

Berlin 1926: An einem kalten Januartag treffen sie erstmals aufeinander: Tristan Nowak und Josephine Baker, die schillernde Tänzerin, die er vor einem Anschlag schützen soll. Zunächst glaubt Tristan nicht so recht an die Bedrohung. Er begleitet Josephine durch die Vergnügungswelt Berlins und verliebt sich gegen seinen Willen in die außergewöhnliche Frau. Doch die Gefahr ist real, und die Attentäter kommen immer näher … Historische Spannung um eine legendäre Figur – Josephine Baker: Tänzerin, Vordenkerin, Kämpferin!

piper.de


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