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WILHELM PRULL: EIN LEBEN IM VERBORGENEN UND EIN TOD AUS VERZWEIFLUNG

In der Kurgartenstraße 89 in Travemünde wird ein vom Künstler Gunter Demnig gefertigter Stolperstein mit seiner Inschrift an einen jungen Mann erinnern, der am 6. März 1943 in Hamburg aufgrund des § 175 verhaftet wurde und sich nach zwei Tagen am 8. März 1943 in der dortigen Gestapozentrale das Leben nahm: Vor einem neuerlichen Verhör sprang er aus dem Fenster des Büros im 3. Stock des Stadthauses und erlag kurz darauf im Hamburger Hafenkrankenhaus seinen schweren Verletzungen.

Wilhelm Johannes Heinrich Prull war am 27.12.1910 in Zetel geboren. In dieser kleinen Gemeinde in Friesland verdiente sein Vater Heinrich als selbständiger Tischlermeister den Lebensunterhalt für seine Familie: Ehefrau Anne Sophie, geborene Bolling und die beiden Kinder, Tochter Grete und Sohn Willi. Als dieser acht Jahre alt war, verstarb die Mutter an Tuberkulose. Die Kinder wurden zunächst von Verwandten und später von einer Haushälterin betreut, bis ihr Vater 1924 erneut heiratete. Seine zweite Frau Marie, geborene Hibbeler, nahm sich liebe- und verständnisvoll der nun 13 und 15 jährigen Jugendlichen an und kümmerte sich um die beiden Stiefkinder wie um ihre beiden kleinen Töchter Hanna und Gerda. zerschmetterten Gliedern aber noch lebend auf dem Pflaster des Stadthaushofes liegen. Kurz nach der Einlieferung in das Hafenkrankenhaus ist er gestorben.“

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Eine Nichte Wilhelm Prulls geht seit einigen Jahren den Spuren ihres Onkels nach und hat eine sehr bewegende Website erstellt. Die Homosexualität Wilhelms war in der Familie offenbar nicht bekannt, zumindest sei niemals davon die Rede gewesen. Den kleinen Ort Zetel habe Wilhelm Prull vermutlich sehr bewusst früh verlassen, um freier leben zu können, ohne sich selbst oder Angehörige durch seine Beziehungen in Gefahr zu bringen. Vor allem in Hamburg, aber auch in anderen Orten gab es eine schwule Szene mit verschiedenen Treffpunkten. Zur Familie in Zetel stand Willi Prull in engem Kontakt, ebenso zu seiner älteren Schwester Grete, die inzwischen in Hamburg lebte.

Über viele Jahre seines Erwachsenenlebens ist nichts bekannt. Wo hat er nach dem Weggang aus Zetel gelebt? Wo hat er seine Ausbildung gemacht?

Anfang Mai 1940 meldete sich der nunmehr 29jährige Wilhelm Prull, aus Hamburg kommend, in LübeckTravemünde an. Dort hatte er eine Anstellung als Dekorateur und Verkäufer gefunden, im Geschäft für Manufakturwaren des Kaufmanns Wilhelm Friedrichsen, dem Eckhaus Rose 9 zur Vogteistraße. Wenige Schritte vom Laden entfernt bezog er seine Unterkunft als Untermieter beim Bootsmann Heinrich Schlichting in der Kurgartenstraße 89. Ein Vermerk auf seiner Meldekarte zum Wehrverhältnis besagt, dass er im November 1938 mit dem Wehrpass Nr. 10/108/1/2 als „begrenzt tauglich“ der „Ersatzreserve II, Eutin“ zugewiesen worden sei.

Eine Reihe von Fotos zeigen Wilhelm Prull in Travemünde oder anderen Seebädern, mal auf dem Weg zum Baden, meist aber modisch elegant gekleidet und Lebensfreude ausstrahlend. Wer mag diese Fotos gemacht haben? Wen lächelte er hinter der Kamera an?

Dem vorgesehenen Verhör Wilhelm Prulls im dritten Stock der Gestapozentrale am 8. März 1943 waren bereits Verhöre vorausgegangen, Verhöre, die mit Foltermaßnahmen verbunden gewesen sein dürften, um Geständnisse zu erzwingen. In einer solchen Befragung hatte Emanuel Quisthout den Namen von Wilhelm Prull genannt. Fürchtete Willi Prull, unter neuerlicher Folter ebenfalls Namen preiszugeben oder sich mit Geständnissen in weitere Schwierigkeiten zu bringen? Seine Ängste und seine Not lassen sich kaum erahnen. Es lässt sich nicht belegen, ob Wilhelm Prull tatsächlich bereits eine Vorstrafe aufgrund des §175 verbüßt hatte, wie er laut Polizeibericht gestanden habe soll. Auch der dort erhobene Vorwurf des Diebstahls ist nicht beweisbar: Eine Anzeige des Arbeitsgebers gab es offenbar nicht, und das Geld, das Wilhelm bei sich hatte, wurde später seinem Vater ausgehändigt. Heinrich Prull quittierte am 11. Mai 1943 die Aushändigung von 91,46 Reichsmark.

DER MENSCH IST ERST

WIRKLICH TOT, WENN NIEMAND

MEHR AN IHN DENKT.

BERTOLT BRECHT

Laut einer Akte der Kriminalpolizei im Hamburger Staatsarchiv (Polizeibehörde 331-5) wurde Wilhelm Prull am Samstag, den 6. März 1943 um 22 Uhr in einem Hotel im Stadtteil St. Georg verhaftet. Der in Elmshorn lebende junge Belgier Emanuel Quisthout (Jg.1922) hatte ihn in einem Verhör als homosexuellen Partner genannt. Im Bericht des Kriminalinspektors heißt es: „Am 8.3.1943 hat der Krim.Sekr. Herschelmann als Sachbearbeiter den festgenommenen Prull gegen 8.30 Uhr vom Polizeigewahrsam im Stadthaus zwecks Vernehmung pp. auf sein Dienstzimmer (Nr. 305 - III. Stock) gebracht. Von dort ist er durch einen Sprung auf das Fensterbrett und einen solchen in die Tiefe geflüchtet. Er blieb mit

Der Familie wurde mitgeteilt, dass ihr Sohn Selbstmord begangen habe, über die Umstände seines Todes allerdings erhielten Eltern und Schwestern keine Auskünfte. Am 17. März 1943 konnten sie Willi auf dem Neuen Friedhof in Zetel beerdigen. Im Sterberegister der Kirchengemeinde ist sein Tod mit einem falschen Geburtsjahr sowie dem Vermerk „Selbstmord“ handschriftlich eingetragen. „Das Ende seines kurzen Lebens wäre ein Aktenvermerk im Sterberegister seiner Heimatstadt Zetel: „Selbstmörder“, zu der Zeit sicher ein Makel, über den man nicht sprach und für seine Eltern und Geschwister eine furchtbare Tragödie.“, so heißt es auf der Website von Ingrid Stiehler. Sie schreibt weiter: „Fast 80 Jahre war der Familie nichts über sein trauriges Schicksal bekannt - alle Zeitzeugen sind bereits verstorben. Nur durch Zufall bin ich über den Stolperstein gestolpert, der ihm in Hamburg gewidmet wurde, weil er dort 1943 als Homosexueller denunziert, verfolgt, verhaftet wurde - und Verhör und Folter, nur durch einen Sprung in den Tod entfliehen konnte.“

www.erinnern-luebeck.de

Der Beitrag stützt sich im wesentlichen auf die Recherchen des Lübecker Historikers Christian Rathmer, die dieser 2018 / 2019 im Auftrag des Lübecker CSD e.V. als eine Vorstudie begonnen hat, und die intensive Spurensuche von Ingrid Stiehler, der Nichte Wilhelm Prulls: wilhelm-prull. weebly.com. Beide verweisen u.a. auf folgende Quellen: Staatsarchiv Hamburg, Bestand 331-5, Nr. 47/43, Rainer Hoffschild, Schwul-Lesbisches Archiv Hannover 2019, Bernhard Rosenkranz, Ulf Bollmann, Gottfried Lorenz, Homosexuellenverfolgung in Hamburg 1919-1969, Hamburg 2009, S. 246. Eine wichtige Quelle war zudem die Meldekarte aus Lübeck.