Komplex N°9 2016

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Die Qualität des Bestands In Bois-Le-Prêtre bei Paris wimmelt es nur so von Wohnbauten aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Der Ausdruck dieser Bauten entspricht deren Entstehungszeit: kantig, karg, zum grossen Teil aus vorgefertigten Betonelementen mit wenig Raum für Farbe. Schaut man genauer hin, erkennt man jedoch den typologischen Wert einiger dieser Gebäude. Da zeigen sich kluge Grundrisse, das geschickte Einbeziehen von Ausblicken und einfach verwendete Technologien im Sinn von trennbaren Systemen. Das Ganze konstruktiv robust erstellt und, einer damaligen zurückhaltenden Ökonomie folgend, staatlich oder privat finanziert. Die Atmosphäre spiegelt den Geist der Peripherie einer Grossstadt. Hier leben zwei Drittel aller Pariser. Sie fühlen sich in ihren Wohnungen wohl, man hat sich sozial innerhalb der dichten Grossbauten arrangiert, die Mieten halten ein verträgliches Niveau. Auch im Rahmen steter Erneuerungen kommen die Gebäude nach rund 50 Jahren Betrieb ins Alter. Die Wohnflächen sind für heutige Begriffe zu eng, die Standards der Innenausbauten überholt und die Hülle versagt, gemessen an den heute geforderten Energieleitbildern. Kurz, es ist Zeit für eine Veränderung. Diese Situation steht beispielhaft für so manche Wohn-, Gewerbe- oder Büroanlage mit Betriebszeiten zwischen 40 und 50 Jahren – auch in der Schweiz. Betrachten wir Alcatraz, Raymond Lopez’ 16-geschossigen Wohnturm von 1962 mit 96 Wohneinheiten in eben diesem Vorort von Paris. Mit der Zeit haben sich hier nicht nur die Anliegen der Bautechnik, der Energie und des Komforts verändert, sondern auch die Gesetzesgrundlagen, die dem steten Wachstum angepasst wurden. Auf derselben Parzelle ermöglichen heute höhere Ausnutzungsziffern verdichtetes Bauen und damit Spielraum für Spekulation. Im Rahmen einer bevorstehenden Sanierung kommt damit die Frage des Ersatzbaus auf den Tisch. Warum auf eine bestehende Bausubstanz eingehen, wenn sie denkmalpflegerisch wertlos und der Neubau auf die Erstellungskosten bezogen einfacher vorhersehbar ist? Umbauten bergen gemäss sogenannten Fachkreisen immer noch zu hohe finanzielle Risiken während der Umsetzung. Mit der Frage des Bestands wurden die französischen Architekten Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal zusammen mit Frédéric Druot im Jahr 2011 konfrontiert, als sie zu einem Studienauftrag in das besagte Bois-Le-Prêtre eingeladen wurden, um einen Vorschlag für einen Ersatzneubau mit höherer Ausnutzung zu präsentieren. In ihren Vorstudien beschäftigten sie sich mit dem Quartier, dem Ort, den Bewohnern und der Struktur des Bestands. Sie kamen zum Schluss, dass der Investor die Rechnung ohne den Wirt gemacht hatte und den bauökonomischen Abklärungen zugunsten eines Ersatzneubaus eine einseitige und kurzfristige Renditemaximierung zugrunde lag. Der Bestand besass für die Bewohner ein hohes Mass an identitätsstiftender


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