ATLAS 07 deutsch

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und sie bewegt sich doch noch 67

Prozess beginnt? Wohl deshalb fand Papst Sylvester II. so leicht Gehör, als er den Weltuntergang auf den 31. Dezember 999 datierte. Die »tausend Jahre« schienen greifbar, eine Massenhysterie erfasste die christliche Welt. Die einen büßten verzweifelt ihre Sünden ab, die anderen ließen alle Hoffnung fahren und sündigten, als gäbe es kein Morgen. Als am 1. Janu­ ar trotzdem die Morgensonne aufging, zog sich Papst Sylvester glimpflich aus der Affäre: Er verkündete, allein seine Gebete hätten das Ende abgewendet. Die Furcht vor dem Untergang aber blieb akut. Rund um den Jahrtausendwechsel registrierten Chronisten allerorten eine rätselhafte Fülle von Erdbeben, Überschwemmungen, Feuersbrünsten und Himmelserscheinungen. Weil der Welt­ untergang vor der Tür stand? Oder weil jedes Naturereignis im Lichte des drohenden Endes wahrgenommen wurde? Die immer noch virulente Frage nach dem Wann mündete bald in eine neue Version: Nicht Christi Geburt war maßgeblich, son­ dern sein Todesjahr. Als dann 1033 auch noch eine Sonnen­ finsternis Europa verdunkelte, sahen »alle, welche die Er­ scheinung beobachteten, sogleich ein, dass dies nur das Ende einleiten könne«, wie der Benediktinermönch Rodulfus Gla­ ber schrieb. Halb aufatmend, halb bedauernd fügt er hinzu, dass wenig später der Himmel lachte und »zum tausendsten Jahrestag der Leiden unseres Herrn (…) sanfte Lüfte wehten«.

Kaum ein Jahrzehnt ohne angekündigten Untergang Das Jahr 1000 war verstrichen, das Jahr 1033 ebenso – und damit war es erst einmal Essig mit den Anhaltspunkten der Offenbarung. Europas Endzeitpropheten aber ließen sich nicht entmutigen, im Gegenteil: Die folgenden Jahrhunderte wurden die apokalyptischsten in der Geschichte des Konti­ nents. Propheten hatten Hochkonjunktur, kaum ein Jahrzehnt verging ohne angekündigten Untergang. Der italienische Abt Joachim von Fiore entwarf bald ein dreigeteiltes Geschichts­ modell, dem zufolge die Zeit vor Christi Geburt dem Vater gehört hatte, die Zeit nach seinem Tode dem Sohn, während der Eintritt in die Ära des Heiligen Geistes unmittelbar bevor­ stände: 1260 sollte es so weit sein. Die Idee war gut. Doch die Welt noch nicht bereit. Eins der bizarrsten Untergangsschauspiele fand zwei Jahr­ hunderte später in Münster statt, wo sich 1534 zwei junge, charismatische Holländer als Wiedergänger der biblischen Propheten Elia und Henoch ausgaben. Jan Matthijs und Jan Bockelson malten den Untergang so glaubhaft an die Wand, dass sich die gesamte 10.000-Einwohner-Stadt von ihrem Wahn infizieren ließ – zumal kurzerhand hingerichtet wurde, wer den Propheten widersprach. Schreiend rannten die Men­ schen durch die Straßen, Frauen rissen sich die Kleider vom Leib und fieberten hysterisch dem Ende entgegen. Noch als die Stadtmauern längst von Soldaten umstellt waren und Matthijs in Gefangenschaft geriet, hielt Bockelson sein Terror­ regime aufrecht. Er führte die Polygamie ein und heiratete 15 Frauen, für die er die letzten Lebensmittelvorräte requirier­ te. Während er sich bizarre Fantasiekostüme schneidern ließ,

wankten halb verhungerte Münsteraner durch leichenüber­ säte Straßen und nagten an Pflastersteinen. Erst die Stürmung der Stadt machte dem Spuk ein Ende. Bockelson wurde mit glühenden Eisen zu Tode gefoltert – und hatte die gespens­ tisch aktuelle Vorlage für jene charismatischen Sektenführer geliefert, die im 20. Jahrhundert ihre Jünger mit apokalypti­ schen Prophezeiungen zu ähnlich selbstmörderischem Gehor­ sam verführten. Endzeitvisionen inspirierten in Bockelsons Tagen auch die christlichen Kreuzzüge, bei denen die Muselmanen als Vor­ boten des Antichristen interpretiert wurden – ein Thema, das in den Weissagungen des französischen Apothekers Nostrada­ mus wiederkehrt. Sein berühmtestes Werk, die Prophezeiungen, erschien 1555 und bietet Endzeitmystikern bis heute eine unerschöpfliche Quelle für den immer wieder umdatierten Untergang – ähnlich übrigens wie die Schriften der Maya, in denen Altertums-Enthusiasten zuletzt 2012 todsichere Hin­ weise auf das Ende der Welt entdeckt zu haben glaubten. Den großen Paradigmenwechsel im apokalyptischen Den­ ken brachte, fast zeitgleich mit Nostradamus, die kopernikani­ sche Wende. Der Astronom Kopernikus und seine Nachfolger Kepler und Galilei versetzten die Welt aus dem Zentrum des Universums an dessen Rand – und nahmen Gott damit die Welt aus den Händen. Weil aber eine gottlose Welt auch gott­ los untergehen muss, wurde ihr Untergang von nun an ein endgültiger.

Wer sollte den Richterstuhl besetzen, als Gott ihn ­verlassen hatte? Die apokalyptische Fantasie blieb dabei zunächst inspiriert vom jüdisch-christlichen Gedanken einer finalen Reinigung, eines Weltgerichts, das das Alte zerstören würde, um Platz für das Neue zu schaffen. Aus dem Geiste der Apokalypse ent­ stand so: die Revolution. Denn wer sollte den Richterstuhl besetzen, als Gott ihn verlassen hatte? Der Mensch natürlich: um den Menschen zu retten und seinen Feind, den Menschen, zu richten. Denn glich nicht der Blutrausch der Gerechtigkeit, den in Frankreich Robespierre und Danton, den in Russland Lenin und Stalin entfesselten, tatsächlich dem Gemetzel der Offenbarung? »Wir erleben zur Zeit das Jüngste Gericht, ver­ ehrter Herr«, lässt Boris Pasternak in Doktor Schiwago den Revoluzzer Strelnikow sagen: »Das Schwert und das geflügelte Tier der Apokalypse beherrschen das Feld.« Radikaler noch ließ Hitler sein »Tausendjähriges Reich« anbrechen: Sein apokalyptischer Säuberungsfeldzug richtete sich ausgerechnet gegen das Volk Israel, dem die alttestamentarischen Unter­ gangsprophezeiungen einst privilegierten Zugang zur Ewig­ keit verheißen hatten. Parallel zu dieser Stoßrichtung entfachte die kopernikani­ sche Wende jene trostlosen Visionen, die heute unser Bild vom Ende prägen: die Furcht vor der Vernichtung des Men­ schen durch die Natur – oder durch den Menschen selbst. Die Welt war mit Kopernikus’ Hilfe Gottes Zugriff entzogen wor­ den, die Menschen hatten ihren Planeten eigenmächtig in den


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